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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Spanish Institute of Oceanograph / ddp

E

s hatte sich früh angekündigt,

schon um die Jahreswende

2017/18, mit vielen kleinen Beben

in wenigen Stunden. Der Anfang,

viele Jahre vor dem Ausbruch.

Katharina, Fotografin, geboren

1958 in Hersbruck bei Nürnberg,

wusste noch nicht, dass ein Vulkan

ihr Leben verändern würde, sie arbeitete

damals in einem Hotel bei Nürnberg

als Animateurin.

Barbara, Hebamme, geboren 1965

in Oranienburg, hatte wieder mal

alles aufgegeben. Sie hatte in der

Schweiz ihren Renault vollgepackt

und ein Ticket für die Fähre nach La

Palma gebucht. Silvester 2017/18 saß

sie in Montpellier in einem Airbnb-

Zimmer, allein am Fenster, vor ihr die

Nacht.

Carla, Künstlerin, geboren 1952 in

Hannover, war schon auf der Insel,

als der Vulkan sich vorbereitete. Sie

habe sich keine Sorgen gemacht,

ohnehin könnte man sagen, sie ist

unerschütterlich. Mit 54 Jahren hatte

sie Spanisch gelernt, erst »buenos

días«, dann »por favor«, und ein neues

Leben begonnen.

Drei deutsche Neuanfängerinnen.

Drei Frauen, die sich auf den Weg

gemacht hatten, um ein neues Leben

zu beginnen, auf La Palma, der

nordwestlichsten der Kanarischen

Inseln, 45,2 Kilometer lang, 27,3 Kilometer

breit, rund 86 000 Einwohner.

Eine Insel, die es nur gibt,

weil vor knapp zwei Millionen Jahren

ein Vulkan sie aus dem Meer

emporsteigen ließ.

Seit vielen Wochen leben die

drei nun mit der Lava, der Asche.

Anfang 2021 hatte der Cumbre Vieja,

der »Alte Gipfel«, erneut viele

kleine Erdbeben vorausgeschickt.

Am 19. September um 15.12 Uhr

Ortszeit brach er schließlich aus,

Asche regnete nieder, eine Lavafront

rollte mit mehr als zehn Metern pro

Stunde über Häuser. Explosionen

ließen Fensterscheiben brechen.

Ende September erreichte die Lava

den Atlantik.

Barbara Bresgott, die Hebamme,

lebt seit fast vier Jahren auf der

Insel. Sie trägt die grauen Haare

kurz, einen Ohrring rechts, und

steht an einem Abend Ende November,

mehr als zwei Monate nach dem

Beginn des Ausbruchs, am Haus

ihres Freundes Diego, wo sie Kisten

ins Auto packt. Avocados, Orangen,

Bananen.

Der Himmel hinter ihr ist rot eingefärbt

vom Licht der Lava, die unterhalb

des Hauses am Hang gegenüber

durch das Tal läuft. Die Bananenstauden

sind von Asche bedeckt.

Ladenbesitzer

in Los Llanos beim

Aschefegen: Die

Erde bebt bis

zu 200-mal am Tag

Soldaten

warfen an

Allerheiligen

von einem

Helikopter

aus Blumenblüten

auf

den

Friedhof.

Barbara steht in Tajuya, einem Teil

von El Paso. Auf der einen Seite La

Palma, wie man es kennt: hügelig,

kräftig, grün, beliebt bei Touristen, die

dort wandern, baden, selbst im Winter.

Auf der anderen Seite die Lava.

Ihr Blick geht über die Lava ins

schwarze Nichts, unter dem Häuser

liegen, Weiden, Felder und auch der

Campingplatz, der wie ein Zuhause

war.

Am 12. Januar 2018 hatte Barbara

La Palma erreicht, sie wusste zunächst

nicht, wo sie leben würde, wo

sie arbeiten würde, sie konnte die

Sprache nicht. Sie kellnerte im La

Pergola und zog ins Aridane-Tal an

der Westseite von La Palma. Es war

das am dichtesten besiedelte Tal der

Insel, dort lebten viele deutsche

Auswanderer. Heute ist es das am

schwersten betroffene Tal, 7000 Menschen

wurden evakuiert.

Die Erde hat sich hier neu sortiert,

an manchen Stellen bis zu 80 Meter

hoch aufgebaut, sie liegt in Wellen,

bildet flache Ausläufer, steile Wände.

Im November ist alles noch im

Werden, der Vulkan noch immer

aktiv, die Erde bebt bis zu 200-mal

am Tag, die Ursache der Beben liegt

bis zu 40 Kilometer tief unter der

Erdoberfläche, der Vulkan schießt

Schwefeldioxidfontänen aus, Zehntausende

Tonnen Gas am Tag.

Barbara sagt, sie habe schon kurz

nach dem Ausbruch die Idee gehabt,

den Menschen nach ihren Verlusten

zu helfen. Sie holte Bananen von

ihrem Freund Diego, der Bananenbauer

ist. Holte Seifen aus einem Laden

in Los Llanos, weil dorthin kaum

noch Kunden kommen. Holte Hefe,

Anna Tiessen / DER SPIEGEL

REPORTER

Chutneys, Milch von Sandra, die

einen Bioladen führte, den es nicht

mehr gibt. Heute hat sie 19 Kilogramm

Kartoffeln im Wagen, von

Sybille, die Physiotherapeutin ist und

einen Garten hat.

Barbara fährt gerade zum sechsten

Mal ihren kleinen mobilen Markt

um die Insel, macht fünf, sechs Stationen,

insgesamt 170 Kilometer

Strecke, um Waren zu denen zu bringen,

die gerade nur wenig haben. Sie

sagt, sie könne es nicht ertragen,

nichts zu tun.

Sie schließt die Heckklappe, lacht

Diego kurz an, es liegen kleine graue

Partikel auf ihrer Stirn, Asche auf ihrem

Haupt, Partikel aus feinstem Glas.

Nachdem sie auf die Insel gekommen

war, hatte sie eine Anzeige geschaltet:

»Deutsche Hebamme und

Sozialarbeiterin bietet Betreuung an«.

Sie wurde Lehrerin für schwer erziehbare

Kinder, half bei einer dementen

Frau, arbeitete als Altenpflegerin.

Ihr Leben sei schon immer in Bewegung

gewesen, sagt sie. Drei Kinder,

Trennung. Chor gegründet, Klavierunterricht

gegeben, Jugendklub

aufgemacht, städtische Angestellte in

Festanstellung, Weiterbildung, Sprechstundenhilfe,

wieder selbstständig,

wieder Hebamme, Expertin für Veränderung.

Ein Mensch auf der Suche.

Jemand, der Neuanfänge nicht scheut,

sondern sie zulässt.

Barbara sagt solche Sätze wie:

»Augen auf und durch!« Sie gründete

zu Beginn der Pandemie einen Gruppenchat,

lud Menschen ein, rief einen

Verein ins Leben. Sie schuf einen

Platz für die Vereinstreffen, mit

einem großen Tisch und Bänken

unter einem Maulbeerbaum, unten

im Aridane-Tal, mit Bar, Bambus,

hippiemäßig, auf dem Campingplatz.

All das liegt jetzt unter der Lava, als

wäre es nie gewesen.

Am Abend vor dem Ausbruch,

dem Samstag, hätten sie ihre erste

Party gefeiert, sagt Barbara, mit Musik,

Wein, Nüsschen, geviertelten

Eiern auf dem Salat. Diego spielte

Gitarre; da ruckelte die Erde schon

ordentlich, die Behörden warnten,

Gefahrenstatus »orange«.

Sie hätten gewusst, dass es wieder

losgehen würde, aber keiner habe es

so richtig geglaubt, sagt Barbara.

Carla Helga Culemann, die Künstlerin,

die schon lange hier ist, hat wilde

graue Locken, trägt ein rotes Tuch,

hat rote Lippen. Sie hat sich ein wenig

hübsch gemacht, Katastrophe hin

oder her.

Sie hatte auf dem Campingplatz

ihr Atelier und eine kleine Casita zum

Schlafen. Carla, die eh eher der re-

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

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