DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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TITEL
Loslassen zu verarbeiten. Der Mensch könne
Resilienz lernen, sagen Forscher. Manche Psychologen
und Ärztinnen sind der Meinung,
dass es wichtig sei, schon als Kind schwierige
Situationen zu durchleben, als Vorbereitung.
Die amerikanische Entwicklungspsychologin
Emmy Werner begann bereits 1955 daran
zu forschen, warum manche Menschen
resilienter sind als andere. »Selbstwirksamkeit«
lautet das Stichwort. Das Ergebnis ihrer
Langzeitstudie: Resilientere Menschen erkennen
die eigenen Bedürfnisse, sind selbstbewusst,
können Verantwortung übernehmen
und Ziele verfolgen, die sie als sinnvoll bewerten.
Und: Resiliente Menschen hatten in
der Kindheit meistens mindestens eine Vertrauensperson.
Selbst hinter dem kleinsten Vorhaben
steckt ein großes Sehnen: Letztlich geht es
immer darum, ein anderer Mensch zu werden.
Wer nicht sofort zur nächsten Zigarette greift,
sondern darum kämpft aufzuhören, ist schon
ein anderer geworden. Ein bisschen jedenfalls.
Wie aber ergeht es einem Menschen, der
das auf einer ganz anderen Ebene möchte?
Der sein Geschlecht anpassen möchte?
Da operative Geschlechtsangleichungen
heute medizinisch leichter möglich sind als je
zuvor und die Gesellschaft eine andere Toleranz
entwickelt hat, wagen wohl deutlich
mehr Menschen diesen Eingriff. Im Jahr 2020
wurden in deutschen Krankenhäusern 2155
operative Geschlechtsangleichungen durchgeführt,
2012 waren es noch 883.
Der Buchhändler, Autor, Blogger und Aktivist
Linus Giese, geboren 1986, hat sein
Coming-out als transgeschlechtlicher Mann
hinter sich. Er sagt einen Satz, der zu den
meisten Neuanfängen passt: »Es war kein
Aufbruch ins Glück, das sich sofort eingestellt
hat.« Sein neues Leben begann mit fünf Buchstaben.
Sie standen auf einem Pappbecher an
einem Mittwoch im Oktober 2017. In ihm: ein
Pumpkin Spice Latte. Auf ihm: schwarze Lettern,
geschrieben mit einem Filzstift. Als er
den Kaffee bestellte, hatte der Barista ihn
nach seinem Namen gefragt. Er nannte nicht
den Namen, der ihn bis dahin begleitete, seit
31 Jahren. Der in seinem Pass stand und auf
seiner Versichertenkarte. Er nannte nicht den
Namen einer Frau, sondern »Linus«.
Kurz danach machte er ein Foto des Bechers
und lud es auf Facebook hoch. Freundinnen,
Verwandte, Kollegen, auch seine Eltern
sollten es in den kommenden Stunden
und Tagen sehen. An diesem Tag im Oktober
begann für Linus Giese das öffentliche Leben
als transgeschlechtlicher Mann.
In den Wochen zuvor hatte er zum ersten
Mal in einer Herrenabteilung Kleidung gekauft.
Er hatte sich bei einem Herrenfriseur
zum ersten Mal einen Undercut schneiden
lassen. Hatte einem Freund zum ersten Mal
offenbart, dass er sich als transgeschlechtlicher
Mann fühlt. Und dann der Welt mitgeteilt,
dass er sich Linus nennt. Lauter erste Male.
Giese sagt, er habe damals gespürt, wie ihn
sein altes Leben einengte. Und wie ihn jeder
Schritt ins neue Leben glücklicher machte.
Begonnen hat dieser vierjährige Aufbruch
aber mit einem anderen Gefühl: Angst. Linus
Giese fragte sich, wie die Menschen, die ihn
kennen, wohl darauf reagieren würden.
Wenige Wochen nach seinem Coming-out
zog er von Hanau nach Berlin. Er hatte dort
einen Job als Buchhändler gefunden, seine
neuen Kollegen nannten ihn Linus. Doch manche
Kundinnen oder Kunden sprachen ihn
weiterhin als »Frau« an. Sie sahen ihn nicht
so, wie er gesehen werden wollte. »Das war
unheimlich schmerzhaft«, erinnert er sich.
Linus Giese merkte, wie er sich als transgeschlechtlicher
Mann immer wieder erklären
musste. Beim Arzt. Bei Behörden. Bei der
Post. Sein Personalausweis passte nicht mehr
zu dem Menschen, der er jetzt war.
Und dann schlug ihm noch dieser Hass entgegen.
Linus Giese hatte wenige Monate nach
seinem Coming-out begonnen, einen Blog
über sein Leben als transgeschlechtlicher
Mann zu schreiben. Für manche Menschen
im Internet wurde er damit zur Zielscheibe.
Er las Beleidigungen auf Twitter, Hasstiraden.
Fremde riefen bei seinem Arbeitgeber an, um
ihn bloßzustellen. Sie schickten Pakete an
seine Arbeitsstelle. Fanden seine Privatadresse
heraus und überklebten sein Klingelschild
mit seinem alten Namen. Einmal stand ein
Mann vor seiner Tür, 40 Minuten lang. Giese
zog daraufhin für vier Monate zu Freunden.
Er nennt das die »schrecklichen Seiten«
seines neuen Lebens. Giese hat über seine
Geschichte ein Buch geschrieben, 224 Seiten.
Linus Giese, 35
Der Blogger hat sein Coming-out als
transgeschlechtlicher Mann hinter
sich. Er sagt, das Glück habe sich nicht
sofort eingestellt. Der Aufbruch in ein
neues Leben habe vier Jahre gedauert.
Thomas Pirot / DER SPIEGEL
Damit transgeschlechtliche Personen wissen,
was sie erwartet, wenn sie öffentlich ihr Geschlecht
leben wollen. In der Fachsprache
heißt dieser Prozess »Transition«.
Anderthalb Jahre nach seinem Coming-out
ließ Linus Giese seinen Namen und sein Geschlecht
beim Standesamt offiziell ändern. Im
selben Monat bekam er die erste Testosteronspritze.
Weitere zwei Jahre vergingen, bis
Ärzte ihm seine Brüste entfernten.
Heute kann Linus Giese sagen. »Heute
führe ich das Leben, das ich mir wünsche.«
Nicht alle Menschen in seinem Umfeld sind
ihm dabei gefolgt. Zu manchen alten Freunden
brach der Kontakt ab. Einige konnten
den Weg nachvollziehen, den Linus Giese
ging. Am stärksten musste er sich überwinden,
mit seinen Eltern darüber zu sprechen.
Im vergangenen Jahr bekam er von seiner
Mutter ein Kissen geschenkt. Er hatte es schon
einmal überreicht bekommen, als Kind, mit
einer Stickerei: seinem alten Namen. Jetzt las
er einen neuen Namen auf dem Stoff: »Linus«
stand da.
Bei Olaf Scholz ist der Neuanfang längst nicht
so ausgeprägt. Nach Jahren des Hoffens, Bangens
und Wartens hat sich nur seine Funktionsbezeichnung
geändert, er ist das geworden,
was er so unbedingt hatte werden wollen:
Bundeskanzler. Auch bei ihm könnte der
Zauber des Neuen erst einmal überschattet
werden. Anders als der Chef des Robert Koch-
Instituts empfohlen hatte, verkündete Scholz
lediglich moderate Corona-Einschränkungen
über die Weihnachtsfeiertage. Sollte sich das
als Fehler herausstellen, wird er für einen
möglichen Zusammenbruch von Teilen der
Infrastruktur verantwortlich sein, weil zu viele
Leute gleichzeitig krank werden. Was für
ein Neuanfang.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier
hatte im vergangenen Jahr in seiner Weihnachtsansprache
versprochen: Wir sähen das
lang ersehnte Licht am Ende des Tunnels heller
werden. Alle dürften sich darauf freuen,
das nächste Weihnachten wieder im großen
Kreis zu feiern, mit Umarmungen und Gesang.
In diesem Jahr musste er einräumen,
dass es anders gekommen ist: »Seit bald zwei
Jahren bestimmt die Pandemie unser Leben,
hier und auf der ganzen Welt. Selten haben
wir so hautnah erfahren, wie gefährdet unser
menschliches Leben und wie unvorhersehbar
die Zukunft ist.« Diejenigen, deren Aufgabe
es nun sei, »Leib und Leben zu schützen«,
täten ihr Bestes: »Und sie alle gewinnen neue
Erkenntnisse, korrigieren Annahmen, die sich
als falsch erwiesen haben, und passen Maßnahmen
an. Menschen können irren, sie lernen
aber auch.« Auch so kann man auf einen
Neuanfang schauen.
Susanne Beyer, Anika Freier, Maik Großekathöfer,
Katharina Horban, Peter Maxwill, Christopher
Piltz, Hannes Schrader, Katja Thimm
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La Palma neu – dann bricht der Vulkan aus | 66
28 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021