DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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AUSLAND
Brent Stirton / Getty Images
tiert. Es gibt Videos davon, die so
schmerzhaft anzusehen sind, dass sie
mit einem Warnhinweis versehen
werden mussten.
Besonders verstört Dunn der Rassismus,
der ihm an diesem Tag entgegenschlägt.
Irgendwann findet er
sich in der Krypta des Kapitols wieder,
einer Halle mit Sandsteinsäulen und
Kronleuchtern. Dort stehen zwölf Statuen
von berühmten Ameri kanern:
Samuel Adams, einem Revolutionär,
Robert L. Li vingston, einem der Gründerväter
der Vereinigten Staaten. Als
Dunn dort ankommt, sieht der Raum
aus »wie eine Studentenparty«:
Demonstranten lehnen sich gegen die
Statuen, brüllen herum wie auf einem
Ver bindungstreffen. Mindestens einer
schwenkt eine Konföderiertenflagge,
ein Symbol für die angebliche »Überlegenheit
der weißen Rasse«.
Trump-Anhänger bei
Angriff auf das
Kapitol: Tausende
Demonstranten
stürmen auf das
Gebäude zu
»Ist das Amerika?
Wie zur
Hölle konnte
so etwas
passieren?«
Harry Dunn war Mitte zwanzig,
als er zur »Capitol Police« stieß. Er
hatte eigentlich Gesundheitswesen
studiert, aber als man ihm die Stelle
auf einer Jobmesse anbot, sagte er
auch zu, weil sie symbolisch bedeutsam
war: Das Kapitol war einst auch
von schwarzen Sklaven erbaut worden,
und Dunn sagt, ihm habe der
Gedanke gefallen, dass er – ein
Schwarzer – es nun schützen würde.
Dass er sehen musste, wie es am
6. Januar in die Hände von Rassisten
fiel, traf ihn tief.
Mehrfach, so erzählt es Dunn
heute, beschimpfen ihn Demonstranten
in jenen Stunden mit dem
N-Wort. »Noch nie hat mich jemand
so genannt, während ich eine Uniform
trug«, sagt Dunn. »Das zu erleben,
warf mich an einen dunklen
Ort.«
Es dauert etwa vier Stunden, bis
es der Polizei gelingt, die Randalierenden
aus dem Gebäude zu drängen:
Um 17.50 Uhr wird das Kapitol für
»sicher« erklärt. In den Minuten danach
setzt Dunn sich auf eine Bank
und wartet, bis sich das Adrenalin des
Tages verflüchtigt. Es macht der Erschöpfung
Platz – und der Traurigkeit.
Dunn kommen die Tränen, er
schluchzt, brüllt um sich, so erzählt
er es heute. »Ist das Amerika?«, habe
er geschrien. »Wie zur Hölle konnte
so etwas passieren?«
Dunn ist mit dieser Frage nicht allein:
Die halbe Welt blickt an diesem
Tag mit Schrecken auf die USA. Und
mit Erstaunen. Warum hat niemand
eine solche Menschenmasse vorhergesehen?
Wieso waren nur so wenige
Polizisten im Einsatz? Und wie ist es
möglich, dass ein wütender Mob, im
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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