DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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SPORT
ler Hermann Buhl erstmals bestiegen. Als
die Messners 1970 an den Berg kamen, ging
es darum, den Giganten über die 4500 Meter
hohe, fast senkrechte Rupalwand zu bezwingen.
Die Brüder gehörten zu einem Team
von Elitebergsteigern, das der Münchner
Arzt Karl Maria Herrligkoffer zusammengetrommelt
hatte. Wochenlang belagerte die
Mannschaft den Berg. Die Männer errichteten
Hochlager. Als die Expedition wegen
ungünstiger Witterung zu scheitern drohte,
machten sich Reinhold Messner, sein Bruder
Günther und der Allgäuer Bergfilmer Gerhard
Baur, der eine Dokumentation über
die Expedition drehte, noch einmal auf ins
Lager 5 in 7350 Meter Höhe. Sie wollten sich
für einen letzten Angriff auf den Gipfel vorbereiten.
Weil es in dieser Höhe keinen Funkkontakt
mit dem Basislager gab, hatte die Gruppe mit
Expeditionsleiter Herrligkoffer verabredet,
er solle eine blaue Leuchtrakete schießen zum
Zeichen für gute Bedingungen und eine rote,
wenn eine Schlechtwetterfront im Anmarsch
sei. Reinhold Messner hatte zudem eine persönliche
Absprache mit dem Chef der Mission
getroffen. Sollte schlechtes Wetter aufziehen,
würde er im Alleingang den Aufstieg wagen
wollen. Herrligkoffer, dem an einem Gipfeltriumph
gelegen war, hatte dem Plan zugestimmt.
Der Wetterbericht sagte gute Bedingungen
voraus. Im Basislager wurde jedoch irrtümlich
eine rote Leuchtrakete abgeschossen – für
Messner das Zeichen zum Start seines Soloversuchs.
Tödlicher Abstieg
Der Weg der Messner-Brüder über den Nanga Parbat
29. Juni
Bereich, in dem
Günther Messner
vermutlich bei
einem Lawinenabgang
ums
Leben kommt
S ◆Grafik, Karte: Open Street Map
28. Juni
Zweites Biwak in
ca. 6500 Meter Höhe
17. Juli 2005
Ungefährer
Leichenfundort
27. Juni
Erstes Biwak
27. Juni 1970
Die Brüder erreichen den
Gipfel in 8125 Meter Höhe
Diamirtal
Diamirflanke
Rupalwand
Nanga Parbat
Aufstiegsroute
Abstiegsroute
AFGHA-
NISTAN
PAKISTAN
INDIEN
CHINA
Google Earth
Am 27. Juni 1970 gegen drei Uhr morgens
brach er auf. Baur und Günther Messner sollten
die steilsten Passagen Richtung Gipfel mit
Seilen sichern, damit es Reinhold beim Abstieg
leichter haben würde.
Doch statt Fixseile zu legen, stieg Günther,
24, seinem Bruder kurz entschlossen nach.
Oberhalb einer Steilpassage, der Merklrinne,
holte er Reinhold ein. Obwohl die Messners
spät dran waren, kämpften sie sich durch dünne
Luft und tiefen Schnee zum höchsten
Punkt. Ein Fehler, wie Messner heute meint:
»Bergsteigerisch richtig wäre gewesen abzudrehen.
Aber wir dachten, wir schaffen es
rechtzeitig zurück ins Lager 5.«
Eine Stunde lang genossen sie ihr Gipfelglück.
Doch Günther zeigte Anzeichen von
Höhenkrankheit. Körperlich geschwächt,
habe der Bruder sich nicht mehr getraut, über
die steile Aufstiegsroute abzusteigen, so erzählt
es Messner.
Sie kletterten ab in eine Scharte am Gipfelgrat.
Kauernd und ohne Ausrüstung verbrachten
die Brüder eine bitterkalte Nacht in dem
Bereich, der »Todeszone« genannt wird, weil
nur noch wenig Sauerstoff ins Blut gelangt.
Die Messners befanden sich in einer
schwierigen Situation. Sie hatten kein Seil.
Um zu ihrer vorgesehenen Route zu gelangen,
hätten sie rund 120 Meter aufsteigen müssen.
»Unmöglich in unserem Zustand in dieser
Höhe«, sagt Messner.
Die Brüder machten sich daran, über die
weniger steile Diamirflanke des Nanga Parbat
nach Nordwesten hinabzuklettern. Reinhold
stieg voraus, um den Weg durch das lebensgefährliche
Labyrinth aus Fels- und haushohen
Eisabbrüchen zu finden. Nach einem
zweiten Lager verschüttete eine Eislawine
Günther. Messner wanderte verzweifelt, ausgezehrt
und halluzinierend weiter ins Tal, wo
Holzfäller ihn schließlich fanden.
Manche Schilderungen Messners wirken
bis heute konstruiert. Er unterstellte anderen
Expeditionsteilnehmern Gleichgültigkeit oder
gar stille Freude über das Drama der Brüder.
Und so kam es zu Verdächtigungen und
Schuldzuweisungen.
Über eine Situation auf dem Nanga Parbat
wurde besonders heftig debattiert. Am Morgen
nach dem ersten Biwak unterhalb des
Gipfels schrie Messner die Merklrinne hinab
um Hilfe. Nach einer Weile sah er die Bergkameraden
Felix Kuen und Peter Scholz zum
Gipfel aufsteigen. Als die Seilschaft keine
100 Meter unterhalb in der Rinne auftauchte,
riefen Messner und Kuen einander ein paar
Sätze zu. Der Österreicher erklärte später,
Reinhold habe nicht um Hilfe gebeten, sondern
gesagt, dass »alles in Ordnung« sei. Deshalb
seien er und sein Partner über eine Querung
aus der Wand ausgestiegen und weiter
Richtung Gipfel gezogen.
Wieso forderte Messner nicht energisch
Hilfe an?
Messner sagt, Kuen habe zweimal angesetzt,
die restlichen 100 Meter der Merkl rinne
zu ihm und Günther emporzusteigen, jedoch
abgebrochen, weil es lebensgefährlich war.
Um ein weiteres »waghalsiges Manöver«
Kuens zu verhindern, habe er dem Kameraden
signalisiert, dass er und Günther es allein
schaffen würden.
Expeditionsleiter Herrligkoffer spekulierte
nach der Rückkehr aus dem Himalaja, Günther
sei nicht beim Abstieg über die Diamirflanke,
sondern oben in der Scharte umgekommen.
2001 überwarf sich Messner mit der
Klettermannschaft. Er hielt den Kameraden
vor, seinerzeit keinen Rettungsversuch unternommen
zu haben. Dabei hatten sie Suchaktionen
gestartet.
Gerhard Baur, der mit den Messners die
Nacht vor ihrem Aufstieg im Lager 5 verbracht
hatte, reagierte fassungslos: »Es ist das,
was du sagst und wie du es sagst, wirklich
schlimm.«
Zwei Jahre später präsentierten die Expeditionsteilnehmer
Max von Kienlin und Hans
Saler beim Deutschen Alpenverein (DAV) in
München ihre Nanga-Parbat-Bücher mit
Mutmaßungen über den Hergang des Unglücks.
Eine lautete: Messner habe den angeschlagenen
Bruder allein gelassen in der
Todeszone, um nach dem geglückten Aufstieg
durch die höchste Steilwand der Erde auch
noch im Alleingang die erste Überschreitung
des Nanga Parbat zu schaffen, einen weiteren
Welt rekord.
Die Veranstaltung im DAV-Museum geriet
zur Abrechnung mit Messner – und sorgte für
Schlagzeilen. Hatte der Superstar der Berge
am Nanga Parbat den Bruder dem eigenen
Ehrgeiz geopfert?
106 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021