05.01.2022 Aufrufe

DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

SPORT

ler Hermann Buhl erstmals bestiegen. Als

die Messners 1970 an den Berg kamen, ging

es darum, den Giganten über die 4500 Meter

hohe, fast senkrechte Rupalwand zu bezwingen.

Die Brüder gehörten zu einem Team

von Elitebergsteigern, das der Münchner

Arzt Karl Maria Herrligkoffer zusammengetrommelt

hatte. Wochenlang belagerte die

Mannschaft den Berg. Die Männer errichteten

Hochlager. Als die Expedition wegen

ungünstiger Witterung zu scheitern drohte,

machten sich Reinhold Messner, sein Bruder

Günther und der Allgäuer Bergfilmer Gerhard

Baur, der eine Dokumentation über

die Expedition drehte, noch einmal auf ins

Lager 5 in 7350 Meter Höhe. Sie wollten sich

für einen letzten Angriff auf den Gipfel vorbereiten.

Weil es in dieser Höhe keinen Funkkontakt

mit dem Basislager gab, hatte die Gruppe mit

Expeditionsleiter Herrligkoffer verabredet,

er solle eine blaue Leuchtrakete schießen zum

Zeichen für gute Bedingungen und eine rote,

wenn eine Schlechtwetterfront im Anmarsch

sei. Reinhold Messner hatte zudem eine persönliche

Absprache mit dem Chef der Mission

getroffen. Sollte schlechtes Wetter aufziehen,

würde er im Alleingang den Aufstieg wagen

wollen. Herrligkoffer, dem an einem Gipfeltriumph

gelegen war, hatte dem Plan zugestimmt.

Der Wetterbericht sagte gute Bedingungen

voraus. Im Basislager wurde jedoch irrtümlich

eine rote Leuchtrakete abgeschossen – für

Messner das Zeichen zum Start seines Soloversuchs.

Tödlicher Abstieg

Der Weg der Messner-Brüder über den Nanga Parbat

29. Juni

Bereich, in dem

Günther Messner

vermutlich bei

einem Lawinenabgang

ums

Leben kommt

S ◆Grafik, Karte: Open Street Map

28. Juni

Zweites Biwak in

ca. 6500 Meter Höhe

17. Juli 2005

Ungefährer

Leichenfundort

27. Juni

Erstes Biwak

27. Juni 1970

Die Brüder erreichen den

Gipfel in 8125 Meter Höhe

Diamirtal

Diamirflanke

Rupalwand

Nanga Parbat

Aufstiegsroute

Abstiegsroute

AFGHA-

NISTAN

PAKISTAN

INDIEN

CHINA

Google Earth

Am 27. Juni 1970 gegen drei Uhr morgens

brach er auf. Baur und Günther Messner sollten

die steilsten Passagen Richtung Gipfel mit

Seilen sichern, damit es Reinhold beim Abstieg

leichter haben würde.

Doch statt Fixseile zu legen, stieg Günther,

24, seinem Bruder kurz entschlossen nach.

Oberhalb einer Steilpassage, der Merklrinne,

holte er Reinhold ein. Obwohl die Messners

spät dran waren, kämpften sie sich durch dünne

Luft und tiefen Schnee zum höchsten

Punkt. Ein Fehler, wie Messner heute meint:

»Bergsteigerisch richtig wäre gewesen abzudrehen.

Aber wir dachten, wir schaffen es

rechtzeitig zurück ins Lager 5.«

Eine Stunde lang genossen sie ihr Gipfelglück.

Doch Günther zeigte Anzeichen von

Höhenkrankheit. Körperlich geschwächt,

habe der Bruder sich nicht mehr getraut, über

die steile Aufstiegsroute abzusteigen, so erzählt

es Messner.

Sie kletterten ab in eine Scharte am Gipfelgrat.

Kauernd und ohne Ausrüstung verbrachten

die Brüder eine bitterkalte Nacht in dem

Bereich, der »Todeszone« genannt wird, weil

nur noch wenig Sauerstoff ins Blut gelangt.

Die Messners befanden sich in einer

schwierigen Situation. Sie hatten kein Seil.

Um zu ihrer vorgesehenen Route zu gelangen,

hätten sie rund 120 Meter aufsteigen müssen.

»Unmöglich in unserem Zustand in dieser

Höhe«, sagt Messner.

Die Brüder machten sich daran, über die

weniger steile Diamirflanke des Nanga Parbat

nach Nordwesten hinabzuklettern. Reinhold

stieg voraus, um den Weg durch das lebensgefährliche

Labyrinth aus Fels- und haushohen

Eisabbrüchen zu finden. Nach einem

zweiten Lager verschüttete eine Eislawine

Günther. Messner wanderte verzweifelt, ausgezehrt

und halluzinierend weiter ins Tal, wo

Holzfäller ihn schließlich fanden.

Manche Schilderungen Messners wirken

bis heute konstruiert. Er unterstellte anderen

Expeditionsteilnehmern Gleichgültigkeit oder

gar stille Freude über das Drama der Brüder.

Und so kam es zu Verdächtigungen und

Schuldzuweisungen.

Über eine Situation auf dem Nanga Parbat

wurde besonders heftig debattiert. Am Morgen

nach dem ersten Biwak unterhalb des

Gipfels schrie Messner die Merklrinne hinab

um Hilfe. Nach einer Weile sah er die Bergkameraden

Felix Kuen und Peter Scholz zum

Gipfel aufsteigen. Als die Seilschaft keine

100 Meter unterhalb in der Rinne auftauchte,

riefen Messner und Kuen einander ein paar

Sätze zu. Der Österreicher erklärte später,

Reinhold habe nicht um Hilfe gebeten, sondern

gesagt, dass »alles in Ordnung« sei. Deshalb

seien er und sein Partner über eine Querung

aus der Wand ausgestiegen und weiter

Richtung Gipfel gezogen.

Wieso forderte Messner nicht energisch

Hilfe an?

Messner sagt, Kuen habe zweimal angesetzt,

die restlichen 100 Meter der Merkl rinne

zu ihm und Günther emporzusteigen, jedoch

abgebrochen, weil es lebensgefährlich war.

Um ein weiteres »waghalsiges Manöver«

Kuens zu verhindern, habe er dem Kameraden

signalisiert, dass er und Günther es allein

schaffen würden.

Expeditionsleiter Herrligkoffer spekulierte

nach der Rückkehr aus dem Himalaja, Günther

sei nicht beim Abstieg über die Diamirflanke,

sondern oben in der Scharte umgekommen.

2001 überwarf sich Messner mit der

Klettermannschaft. Er hielt den Kameraden

vor, seinerzeit keinen Rettungsversuch unternommen

zu haben. Dabei hatten sie Suchaktionen

gestartet.

Gerhard Baur, der mit den Messners die

Nacht vor ihrem Aufstieg im Lager 5 verbracht

hatte, reagierte fassungslos: »Es ist das,

was du sagst und wie du es sagst, wirklich

schlimm.«

Zwei Jahre später präsentierten die Expeditionsteilnehmer

Max von Kienlin und Hans

Saler beim Deutschen Alpenverein (DAV) in

München ihre Nanga-Parbat-Bücher mit

Mutmaßungen über den Hergang des Unglücks.

Eine lautete: Messner habe den angeschlagenen

Bruder allein gelassen in der

Todeszone, um nach dem geglückten Aufstieg

durch die höchste Steilwand der Erde auch

noch im Alleingang die erste Überschreitung

des Nanga Parbat zu schaffen, einen weiteren

Welt rekord.

Die Veranstaltung im DAV-Museum geriet

zur Abrechnung mit Messner – und sorgte für

Schlagzeilen. Hatte der Superstar der Berge

am Nanga Parbat den Bruder dem eigenen

Ehrgeiz geopfert?

106 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!