DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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AUSLAND
mächtigsten Land der Welt, den Staat
überrennt?
Ein Jahr später sind die meisten
dieser Fragen noch immer nicht beantwortet.
Zwar hat das US-Repräsentantenhaus
einen Ausschuss eingesetzt,
der klären soll, warum es geschehen
konnte. Doch die Untersuchung
wird nur von einem Teil der
US-Politik getragen: Zwar setzt sich
neben den Demokraten auch die prominente
Republikanerin Liz Cheney,
Tochter des früheren US-Vizepräsidenten,
für umfassende Aufklärung
ein. Doch die meisten Republikaner
im Kongress lehnen den Untersuchungsausschuss
ab. Sie folgen damit
dem Willen der Menschen, die sie gewählt
haben: Ein Teil der amerikanischen
Gesellschaft verehrt Donald
Trump noch immer und glaubt, dass
Biden sich die Präsidentschaft ergaunert
habe. Für diese Menschen sind
die Aufständischen des 6. Januar
Helden.
Mehr als 700 Randalierer wurden
inzwischen angeklagt, die Vorwürfe
reichen vom illegalen Betreten des
Kapitols bis zu schwerer Körperverletzung.
Trotzdem tun viele Re publikaner
so, als wäre es kein Putschversuch
gewesen. Sondern ein
friedlicher Protest, der irgendwie missverstanden
wurde.
Für die Polizisten, die an jenem
Tag an vorderster Front kämpften,
fühlt es sich an wie Hohn. Manche
Beamte standen vielen Dutzend
Demonstranten allein gegenüber: Sie
wurden beschimpft, bedroht und körperlich
angegriffen. Nun will ein Teil
der Öffentlichkeit ihnen weismachen,
dass es diese Attacken nie gab.
Vier Beamte, die damals im Dienst
waren, haben sich seit dem 6. Januar
das Leben genommen – eine »außergewöhnlich
hohe Zahl«, wie John
Violanti, Professor an der State University
of New York at Buffalo, bestätigt.
Violanti forscht seit Jahrzehnten
zur psychischen Belastung von
Polizisten, eine solche Häufung an
Suiziden in so kurzer Zeit hat er selten
erlebt. Er erklärt sie mit der doppelten
Traumatisierung der Beamten.
»Einmal durch die Todesangst, die
sie erlebten. Und einmal durch die
mangelnde Unterstützung der Öffentlichkeit,
die sie jetzt erfahren.«
Harry Dunns Dienst geht am
6. Januar bis weit in die Nacht. Am
Morgen danach schiebt er wieder vor
dem Kapitol Wache. »Du kannst dir
als Polizist nicht einfach freinehmen«,
sagt er. »Wenn alle das tun, wer macht
dann die Arbeit?« Doch Dunn merkt,
wie der Angriff etwas in ihm zerbrochen
hat.
»Ich wurde
verletzt.
Ich brauche
Unterstützung.«
Harry Dunn
Polizist Dunn (l.) bei
Begehung des
Kapitols: Amerika
kann sich nicht
einmal einigen, ob
den Beamten
Dank gebührt oder
Verdammung
In den folgenden Tagen und Wochen
verliert Dunn den Glauben
an sein Land und die Lust am Leben.
Er sei kein Mensch mehr gewesen,
sagt er, sondern nur noch eine »leere,
depressive Hülle«. Schon einfache
Gespräche überfordern ihn, er
will Freunde und Familie nicht mehr
sehen. Dunn geht weiter zur Arbeit,
aber er ist dünnhäutig, gereizt. Auf
ein einfaches »Wie geht’s?«, so erzählt
er es, habe er mit einem wütenden
»Lass mich in Ruhe« geantwortet.
Vielen Kollegen scheint es ähnlich
zu gehen. Allein in der »Capitol
Police«, Dunns Einheit, quittieren
in den Monaten danach mehr als
130 Mitarbeiter ihren Dienst.
Nach den Anschlägen vom 11. September
2001 stellte sich eine ganze
Nation hinter die Polizisten und
Feuerwehrleute, die an jenem Tag im
Einsatz waren. Zwanzig Jahre später
kann sich Amerika nicht einmal darauf
einigen, ob der 6. Januar nun ein
Angriff auf die Demokratie war oder
eine friedvolle Demonstration. Ob
die Beamten, die das Kapitol beschützt
haben, dafür Dank verdienen.
Oder Verdammung.
Im Sommer 2021 wird Dunn gebeten,
vor dem Ausschuss auszusagen,
der die Ereignisse untersucht. Im
Zeugenstand erzählt er von der Menschenmenge,
die vor seinen Augen
anschwoll, und davon, wie er versuchte,
seine Kollegen aus der Masse
zu retten. Er berichtet von dem Rassismus,
der ihm entgegenschlug, und
von den dunklen Stunden, die er seitdem
durchlebt. Der Auftritt wird im
Fernsehen übertragen, einige Menschen
bedanken sich daraufhin bei
Dunn. Du bist ein Held, schreiben sie
auf Twitter, toll, dass du unser Land
beschützt.
Doch er bekommt auch Nachrichten,
die ihn noch tiefer ins Dunkel
ziehen. Trump-Anhänger nennen ihn
Alex Brandon / AP
einen »Lügner« und einen »Verräter«,
werfen Dunn vor, er habe seinen Eid
als Polizist gebrochen, weil er nicht
verhindert habe, dass Joe Biden Präsident
wurde. »Ich liebe mein Land«,
sagt Dunn. »Diese Dinge zu hören
hat mir wehgetan.«
Inzwischen helfe ihm ein Psychologe,
»anzuerkennen, dass es okay
ist zu sagen: Ich wurde verletzt. Ich
brauche Unterstützung.« Langsam,
sagt Dunn, werde er wieder »er
selbst«: Er trainiert im Fitnessstudio
und tobt mit seiner zehnjährigen
Tochter auf dem Spielplatz. Er
hat wieder begonnen, Whiskey zu
verkosten – ein Hobby von früher –,
und sich mit Freunden zum Essen zu
treffen.
Dunn versucht, nicht zu oft an das
Erlebte zu denken – aber es gelingt
ihm nicht. Die Kommission, die den
Angriff untersucht, fördert ständig
neue Erkenntnisse zutage. Zuletzt
kam heraus, dass Trumps Umfeld
früh Kontakt zu zentralen Demonstranten
pflegte und dass sein Sohn
versuchte, den Präsidenten dazu
zu bringen, den Sturm aufs Kapitol
zu stoppen. Der Stabschef von
Trump, Mark Meadows, hat dem
Ausschuss zwar Unterlagen übergeben,
weigerte sich aber, davor auszusagen,
weswegen ihm eine Anklage
droht.
Jede Enthüllung ist begleitet von
politischem Gezeter: Republikaner,
die sich weigern, die Kommission anzuerkennen;
Demokraten, die versuchen,
unkooperative Zeugen per
Gericht zur Aussage zu zwingen. »Oft
kann Aufklärung helfen, mit dem Erlebten
abzuschließen«, sagt der Polizei-Experte
John Violanti. »Aber so,
wie sie im Moment geschieht, verlängert
sie stattdessen das Trauma der
Polizisten.«
Doch auch ohne die Kommission
fiele es Harry Dunn schwer, den
6. Januar 2021 zu vergessen. Seit Monaten
häufen sich die Zeichen, dass
Donald Trump, der zum Angriff aufs
Kapitol aufrief, in die Politik zurückkehren
könnte: Berichten zufolge erwägt
Trump, sich für die Präsidentschaftswahl
im Jahr 2024 aufzustellen.
In vielen Teilen der USA ist er
noch immer so beliebt, dass er gewinnen
könnte. Trotz oder vielleicht sogar
wegen der Attacke auf Amerikas
Demokratie.
Harry Dunn hofft, irgendwann
wieder der Mensch zu sein, der er vor
dem 6. Januar war. Aber Amerika,
sagt er, werde nie mehr dasselbe Land
sein. »Ich verstehe nicht, was mit uns
passiert«, sagt Dunn. »Aber eines ist
sicher: Es ist noch nicht vorbei.« n
94 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021