DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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KULTUR
»Menschen sind oft nicht
gut genug informiert.«
Joy Denalane
rassismuskritisch denken zu lernen, bedeutet
auch, an einer besseren Welt mitarbeiten
zu können. Einer Welt, in der schwarze
Eltern zum Beispiel nicht mehr täglich Angst
haben müssen, dass ihre Kinder Rassismus
erleben.
SPIEGEL: Sorgen um ihre Kinder haben wohl
alle Eltern. Bei Ihnen hören wir da noch Angst
vor einer anderen Bedrohung heraus.
Ogette: Natürlich wurde George Floyd letztes
Jahr in den USA nicht aus Zufall von dem
Polizisten ermordet. Wir haben hier wie dort
eine Kultur, die schwarze junge Männer als
Bedrohung, als tendenziell schuldig sieht.
Und das beginnt schon früh. Aus dem »süßen
kleinen Schokobaby« wird dann eine gesellschaftliche
Bedrohung, und Menschen halten
die Handtasche fest. Das hat Konsequenzen.
Elternteil von schwarzen Kindern zu sein
bedeutet, dass ich das aushalten muss. Es ist
für Weiße nicht schön, sich negativen Gefühlen
zu stellen, aber es ist die einzige Möglichkeit,
damit Rassismus irgendwann weniger
wird. Und: Weiße Menschen haben die
Wahl, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen
oder nicht. Das ist eines der größten Privilegien,
die Rassismus ihnen mitgegeben
hat. Schwarze Menschen und People of Color
haben diese Wahl nicht.
SPIEGEL: Schwarzsein gilt in der Popkultur
als cool. Die 32-jährige Autorin Alice Hasters
schreibt in ihrem Buch »Was weiße Menschen
nicht über Rassismus hören wollen
aber wissen sollten«, wie sie Anfang der Nullerjahre
gemerkt hat, dass die Superstars
beim Musiksender MTV oft schwarz waren.
Das sei für sie eine zwiespältige Erfahrung
gewesen. Einerseits gut, weil sie jetzt Identifikationsfiguren
hatte, andererseits seien da
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
»Aus dem ›Schokobaby‹
wird eine Bedrohung.«
Tupoka Ogette
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
Klischeebilder produziert worden. Wie haben
Sie das erlebt?
Denalane: Dieser plötzliche Wandel hat sich
stark auf mein Selbstbild ausgewirkt. Aber
nicht alles an der neu gewonnenen Aufmerksamkeit,
die ich nun genoss, war positiv.
Ogette: Bis ich neun Jahre alt war, bin ich in
der DDR aufgewachsen. Da war die MTV-
Kultur kein Thema. Dann bin ich nach West-
Berlin gekommen. Ich erinnere mich, dass ich
dann auf einer unbewussten Suche nach Identifikationsfiguren
war, aber das Bild von
schwarzen Menschen war tatsächlich amerikanisiert
– es waren US-Stars wie Eddie Murphy
oder Michael Jackson. Das war toll, aber
ich war eben keine US-Amerikanerin. Mir
fehlten auch weibliche Vorbilder und deutsche
Vorbilder. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war,
hatte ich einen Verehrer, einen weißen Jungen,
der dann zu mir sagte: »Du bist gar nicht
wie die Mädchen auf MTV.« Also hatte auch
ich das Gefühl, dass ich die gesellschaftlichen
Vorstellungen vom Schwarzsein nicht bedienen
konnte. Ich habe dann in Leipzig studiert
und habe zum Beispiel die Musik von Joy
gehört. Das war ein Wendepunkt in meinem
Leben. Ich bin tagelang durch Leipzig gegangen
und habe ihre Lieder gesungen.
SPIEGEL: Frau Denalane, Sie sind in den Nullerjahren
nach Stuttgart gegangen und haben
dort mit der Band Freundeskreis zum Beispiel
das Lied »Mit Dir« aufgenommen. Max Herre,
Sänger von Freundeskreis und heute Ihr
Mann, ist Rapper, Produzent, und er ist weiß.
Was haben Sie dabei empfunden, dass Weiße
einen Musikstil übernahmen, der aus der
schwarzen Kultur kommt?
Denalane: Kulturelle Aneignung bedeutet die
Übernahme geistigen Eigentums, traditionellen
Wissens oder kultureller Artefakte einer
benachteiligten Gruppe durch Menschen, die
aus ihrer privilegierten Position heraus handeln
und dabei den Ursprung ihrer Inspiration
weder erwähnen, zum Beispiel in Interviews,
noch sie anderweitig am Erfolg teilhaben lassen.
Freundeskreis beziehungsweise die FK-
Allstars hatten in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion
in Sachen Gleichstellung und
Diskurs. Man rufe sich die Besetzung der
großartigen Performer in Erinnerung, die über
die Jahre mitgewirkt haben: Déborah, Cassandra
Steen, Brooke Russell, Gentleman,
Afrob, Sékou »The Ambassador«, Megaloh,
Max Herre und ich. Jeder war Teil der Gruppe
und stand trotzdem für sich beziehungsweise
seinen kulturellen Background. Wir alle
konnten diese Plattform für uns und unsere
Themen nutzen. Das war die Kraft und die
Besonderheit dieses losen Kollektivs.
SPIEGEL: Sie waren eine der Ersten, die
deutschsprachigen Soul gemacht haben. Was
hat Sie angeregt?
Denalane: Was ich musikalisch mache, hat
sehr viel mit der Plattensammlung meines
Vaters zu tun. Er hat Soul, Funk und Jazz gehört,
immer die neuesten Platten gekauft und
vorgespielt. Ich habe mich oft allein vor sein
Plattenregal gesetzt und die Scheiben aufgelegt,
dazu gesungen, die Texte mitgelesen
oder einfach zugehört.
SPIEGEL: Die schwarze Schriftstellerin Tsitsi
Dangarembga hat Ende Oktober den Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels bekommen.
Die Laudatio hielt die Filmemacherin
Auma Obama, Halbschwester des früheren
US-Präsidenten Barack Obama. Beide
Frauen waren in Deutschland auf einer Filmhochschule.
In ihrer Laudatio sagte Obama,
das Gefühl der Fremdheit in Deutschland
habe geholfen, sich künstlerisch zu entwickeln,
weil sie in der Abgrenzung zu anderen
genauer erkennen konnte, wer sie ist und was
sie tun will. Fremdsein als Chance – was löst
dieser Gedanke bei Ihnen aus?
Ogette: Schwarz zu sein bedeutet nicht nur,
Rassismus zu erleben, sondern Teil einer Widerstandskultur
zu sein, die viel Schönes,
Wahrhaftiges hervorgebracht hat. An die
kann ich anknüpfen und mich darin wiederfinden:
durch Literatur, durch Musik, Tanz,
Kunst von schwarzen Menschen.
SPIEGEL: Stört es Sie, dass in Gesprächen über
Afrika der Kontinent oft wie ein Land behandelt
wird und Unterschiede zwischen den
einzelnen Ländern wegfallen?
Denalane: Ja, das stört mich sehr. Diese Menschen
sind oft nicht gut genug informiert und
zwingen dann anderen Gruppen oder Individuen
eurozentristische Sichtweisen und Meinungen
auf, die zum Teil stereotyp und diskriminierend
sind. Aber natürlich gibt es auf
dem afrikanischen Kontinent gemeinsame
Erfahrungen, die über Ländergrenzen hinausgehen.
Auch weiße Europäer suchen nach
ihren Gemeinsamkeiten und definieren sich
über ihre Errungenschaften. Beispiele dafür
sind die Philosophien seit der Antike, die
128 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021