05.01.2022 Aufrufe

DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

KULTUR

»Menschen sind oft nicht

gut genug informiert.«

Joy Denalane

rassismuskritisch denken zu lernen, bedeutet

auch, an einer besseren Welt mitarbeiten

zu können. Einer Welt, in der schwarze

Eltern zum Beispiel nicht mehr täglich Angst

haben müssen, dass ihre Kinder Rassismus

erleben.

SPIEGEL: Sorgen um ihre Kinder haben wohl

alle Eltern. Bei Ihnen hören wir da noch Angst

vor einer anderen Bedrohung heraus.

Ogette: Natürlich wurde George Floyd letztes

Jahr in den USA nicht aus Zufall von dem

Polizisten ermordet. Wir haben hier wie dort

eine Kultur, die schwarze junge Männer als

Bedrohung, als tendenziell schuldig sieht.

Und das beginnt schon früh. Aus dem »süßen

kleinen Schokobaby« wird dann eine gesellschaftliche

Bedrohung, und Menschen halten

die Handtasche fest. Das hat Konsequenzen.

Elternteil von schwarzen Kindern zu sein

bedeutet, dass ich das aushalten muss. Es ist

für Weiße nicht schön, sich negativen Gefühlen

zu stellen, aber es ist die einzige Möglichkeit,

damit Rassismus irgendwann weniger

wird. Und: Weiße Menschen haben die

Wahl, sich mit Rassismus auseinanderzusetzen

oder nicht. Das ist eines der größten Privilegien,

die Rassismus ihnen mitgegeben

hat. Schwarze Menschen und People of Color

haben diese Wahl nicht.

SPIEGEL: Schwarzsein gilt in der Popkultur

als cool. Die 32-jährige Autorin Alice Hasters

schreibt in ihrem Buch »Was weiße Menschen

nicht über Rassismus hören wollen

aber wissen sollten«, wie sie Anfang der Nullerjahre

gemerkt hat, dass die Superstars

beim Musiksender MTV oft schwarz waren.

Das sei für sie eine zwiespältige Erfahrung

gewesen. Einerseits gut, weil sie jetzt Identifikationsfiguren

hatte, andererseits seien da

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

»Aus dem ›Schokobaby‹

wird eine Bedrohung.«

Tupoka Ogette

Marzena Skubatz / DER SPIEGEL

Klischeebilder produziert worden. Wie haben

Sie das erlebt?

Denalane: Dieser plötzliche Wandel hat sich

stark auf mein Selbstbild ausgewirkt. Aber

nicht alles an der neu gewonnenen Aufmerksamkeit,

die ich nun genoss, war positiv.

Ogette: Bis ich neun Jahre alt war, bin ich in

der DDR aufgewachsen. Da war die MTV-

Kultur kein Thema. Dann bin ich nach West-

Berlin gekommen. Ich erinnere mich, dass ich

dann auf einer unbewussten Suche nach Identifikationsfiguren

war, aber das Bild von

schwarzen Menschen war tatsächlich amerikanisiert

– es waren US-Stars wie Eddie Murphy

oder Michael Jackson. Das war toll, aber

ich war eben keine US-Amerikanerin. Mir

fehlten auch weibliche Vorbilder und deutsche

Vorbilder. Als ich 12 oder 13 Jahre alt war,

hatte ich einen Verehrer, einen weißen Jungen,

der dann zu mir sagte: »Du bist gar nicht

wie die Mädchen auf MTV.« Also hatte auch

ich das Gefühl, dass ich die gesellschaftlichen

Vorstellungen vom Schwarzsein nicht bedienen

konnte. Ich habe dann in Leipzig studiert

und habe zum Beispiel die Musik von Joy

gehört. Das war ein Wendepunkt in meinem

Leben. Ich bin tagelang durch Leipzig gegangen

und habe ihre Lieder gesungen.

SPIEGEL: Frau Denalane, Sie sind in den Nullerjahren

nach Stuttgart gegangen und haben

dort mit der Band Freundeskreis zum Beispiel

das Lied »Mit Dir« aufgenommen. Max Herre,

Sänger von Freundeskreis und heute Ihr

Mann, ist Rapper, Produzent, und er ist weiß.

Was haben Sie dabei empfunden, dass Weiße

einen Musikstil übernahmen, der aus der

schwarzen Kultur kommt?

Denalane: Kulturelle Aneignung bedeutet die

Übernahme geistigen Eigentums, traditionellen

Wissens oder kultureller Artefakte einer

benachteiligten Gruppe durch Menschen, die

aus ihrer privilegierten Position heraus handeln

und dabei den Ursprung ihrer Inspiration

weder erwähnen, zum Beispiel in Interviews,

noch sie anderweitig am Erfolg teilhaben lassen.

Freundeskreis beziehungsweise die FK-

Allstars hatten in vielerlei Hinsicht eine Vorbildfunktion

in Sachen Gleichstellung und

Diskurs. Man rufe sich die Besetzung der

großartigen Performer in Erinnerung, die über

die Jahre mitgewirkt haben: Déborah, Cassandra

Steen, Brooke Russell, Gentleman,

Afrob, Sékou »The Ambassador«, Megaloh,

Max Herre und ich. Jeder war Teil der Gruppe

und stand trotzdem für sich beziehungsweise

seinen kulturellen Background. Wir alle

konnten diese Plattform für uns und unsere

Themen nutzen. Das war die Kraft und die

Besonderheit dieses losen Kollektivs.

SPIEGEL: Sie waren eine der Ersten, die

deutschsprachigen Soul gemacht haben. Was

hat Sie angeregt?

Denalane: Was ich musikalisch mache, hat

sehr viel mit der Plattensammlung meines

Vaters zu tun. Er hat Soul, Funk und Jazz gehört,

immer die neuesten Platten gekauft und

vorgespielt. Ich habe mich oft allein vor sein

Plattenregal gesetzt und die Scheiben aufgelegt,

dazu gesungen, die Texte mitgelesen

oder einfach zugehört.

SPIEGEL: Die schwarze Schriftstellerin Tsitsi

Dangarembga hat Ende Oktober den Friedenspreis

des Deutschen Buchhandels bekommen.

Die Laudatio hielt die Filmemacherin

Auma Obama, Halbschwester des früheren

US-Präsidenten Barack Obama. Beide

Frauen waren in Deutschland auf einer Filmhochschule.

In ihrer Laudatio sagte Obama,

das Gefühl der Fremdheit in Deutschland

habe geholfen, sich künstlerisch zu entwickeln,

weil sie in der Abgrenzung zu anderen

genauer erkennen konnte, wer sie ist und was

sie tun will. Fremdsein als Chance – was löst

dieser Gedanke bei Ihnen aus?

Ogette: Schwarz zu sein bedeutet nicht nur,

Rassismus zu erleben, sondern Teil einer Widerstandskultur

zu sein, die viel Schönes,

Wahrhaftiges hervorgebracht hat. An die

kann ich anknüpfen und mich darin wiederfinden:

durch Literatur, durch Musik, Tanz,

Kunst von schwarzen Menschen.

SPIEGEL: Stört es Sie, dass in Gesprächen über

Afrika der Kontinent oft wie ein Land behandelt

wird und Unterschiede zwischen den

einzelnen Ländern wegfallen?

Denalane: Ja, das stört mich sehr. Diese Menschen

sind oft nicht gut genug informiert und

zwingen dann anderen Gruppen oder Individuen

eurozentristische Sichtweisen und Meinungen

auf, die zum Teil stereotyp und diskriminierend

sind. Aber natürlich gibt es auf

dem afrikanischen Kontinent gemeinsame

Erfahrungen, die über Ländergrenzen hinausgehen.

Auch weiße Europäer suchen nach

ihren Gemeinsamkeiten und definieren sich

über ihre Errungenschaften. Beispiele dafür

sind die Philosophien seit der Antike, die

128 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!