DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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Unionsparteien, die sonst gern bürgerliche
Werte betonen, bei der Amtsübergabe Anstand
vermissen ließ. Wer Wis sing in den Wochen
der Sondierungen und Koalitionsverhandlungen
begleitet hat, erfährt, dass sich
die Scheuer-Episode einreiht in eine lange
Serie von Erfahrungen, die er in den vergangenen
Jahren mit Vertreterinnen und Vertretern
von CDU und CSU gemacht hat.
Diese Begegnungen hatten einen entscheidenden
Anteil daran, dass Wis sing in
Rheinland-Pfalz als FDP-Landeschef eine
Ampelkoalition ins Leben rief und ihr am
Ende als FDP-Generalsekretär auf Bundesebene
zum Durchbruch verhalf. Nun wird er
als Minister für Digitales und Verkehr am
Dreikönigstreffen der Liberalen am 6. Januar
teilnehmen.
Als FDP-Chef Christian Lindner den promovierten
Juristen im August 2020 für den
Posten des Generalsekretärs vorschlug, waren
viele in der Partei überrascht, auch Wis sing
selbst. Er galt mit damals 50 Jahren nicht gerade
als Hoffnungsträger, er ist kein Mann der
großen Worte, manche halten ihn für einen
Langweiler.
Die Partei befand sich in keinem guten Zustand.
In den Umfragen schrammten die Liberalen
an der Fünfprozenthürde entlang und
mussten um den Wiedereinzug in den Bundestag
fürchten. Die Wahl des FDP-Manns
Thomas Kemmerich zum thüringischen Ministerpräsidenten
im Februar 2020 mit den
Stimmen der AfD hatte bei vielen Zweifel am
Kurs der Liberalen geweckt. Und Wis sings
Vorgängerin Linda Teuteberg wirkte überfordert.
Sie scheute klare Entscheidungen und
brachte ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
damit an den Rand der Verzweiflung.
Wis sing hingegen war in der Partei bekannt
als Freund schneller Entscheidungen. Der
Pfälzer hat das in seiner Zeit als Richter gelernt.
Damals vertrat er manchmal einen Kollegen,
der als Betreuungsrichter schwierige
Entscheidungen in einer psychiatrischen Klinik
treffen musste, zum Beispiel ob Patienten
fixiert oder künstlich ernährt werden durften.
Im Büro dieses Richterkollegen stapelten sich
die Akten. Wenn Wis sing für ihn einsprang,
ging es hingegen ganz schnell.
Er sei meistens in der Klinik aufgetaucht,
die vorbereiteten Beschlüsse samt Amtssiegel
schon unterm Arm, erzählt Wis sing. Dann
sah er sich den Patienten an, hörte dem Arzt
zu, entschied und unterschrieb den Beschluss.
»Ich wundere mich manchmal, wie viele Leute
in der Politik sind, die Angst vor Entscheidungen
haben«, sagt Wis sing. »Als Politiker
müssen Sie ständig entscheiden. Und auch
wenn Sie nichts entscheiden, ist das eine Entscheidung.«
Eine seiner ersten Entscheidungen als Generalsekretär
in spe war ein Tweet, der die
FDP in Aufregung versetzte. Wis sing distanzierte
sich da von der CDU, die den meisten
Liberalen noch als bevorzugter Partner galt.
»Die #CDU nach so langer Zeit abzulösen,
Aufbruchstimmung
»Welche Partei würden Sie wählen, wenn
am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre?«
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Juli
2020
Aug. 2020:
Volker Wissing wird als Generalsekretär
der FDP nominiert.
Jan.
2021
FDP
Sept.:
Bundestagswahl
Juli
Dez.
S ◆Quelle: Infratest dimap; Stand: 10. Dez.;
mehr als 1000 Befragte; die statistische Ungenauigkeit
der Umfragen liegt zwischen 2 und 3 Prozentpunkten
könnte ein wichtiges Signal des Aufbruchs für
unser Land sein«, twitterte er. Anlass war ein
SPIEGEL-Text, der spekulierte, dass ein
Ampel bündnis für den SPD-Kanzlerkandidaten
Olaf Scholz eine Machtoption sein
könnte.
In den meisten Umfragen lagen die Grünen
damals vor der SPD, eine Mehrheit für Scholz
schien unerreichbar. Als neuer Generalsekretär
sollte Wis sing Ruhe in die eigenen Reihen
bringen. Stattdessen erweckte er mit seiner
ersten prominenten Wortmeldung bei vielen
Liberalen den Verdacht, er wolle die Achse
der Partei nach links verschieben. »Der Tweet
war ein politischer Aufschlag, der sehr viele
Emotionen ausgelöst hat«, erinnert sich Wissing.
»Entscheidend war, damit anschließend
vernünftig umzugehen und sich nicht betont
in ein politisches Lager zu begeben.«
Wis sing ist in Wahrheit kein Linksliberaler.
Im Bundestag machte er sich zwischen 2004
und 2013 als Finanzpolitiker mit ordnungsrechtlichem
Kompass einen Namen. Er würde
damit wohl besser zu einem Friedrich Merz
als zu einem Olaf Scholz passen. Mit seinem
markanten Seitenscheitel gibt sich Wis sing
selbst eher konservativ.
Die Wahl des Finanzexperten mit Ampelerfahrung
sollte, so Lindners Kalkül, den Kurs
der Eigenständigkeit der FDP betonen. Programmatisch
waren, damals wie heute, die
Schnittmengen mit der Union größer, das
sieht Wis sing ebenso. Aber während Lindner
und die meisten anderen in der Parteispitze
»Ich wundere mich
manchmal,
wie viele Leute
in der Politik
sind, die Angst vor
Entscheidungen haben.«
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DEUTSCHLAND
sich auch kulturell der CDU näher fühlten,
hat sich der Pfälzer mit der Zeit von den Konservativen
entfremdet.
An einem Morgen Ende Oktober empfängt
Wis sing, damals Generalsekretär, in seinem
Büro im Hans-Dietrich-Genscher-Haus in
Berlin. Die Sondierungen sind abgeschlossen,
am nächsten Tag sollen die Koalitionsverhandlungen
beginnen, alles lief bislang nach
Plan. Es ist ein Erfolg der drei Generalsekretäre,
aber für Wis sing ist es auch eine Bestätigung,
dass er mit seinem politischen Instinkt
richtig lag.
»Ich hatte, auch durch meine Erfahrungen
in Rheinland-Pfalz, eine frühere und präzise
Analyse des Zustandes der CDU«, sagt er.
Eine Rolle spielte dabei die rheinland-pfälzische
CDU-Chefin Julia Klöckner, bis vor Kurzem
auch Bundeslandwirtschaftsministerin.
Sie hatte nach der Landtagswahl 2016 auf eine
Jamaikakoalition mit Wis sings FDP und den
Grünen gesetzt. Wis sing aber entschied sich
für die Ampel, er wurde Superminister für
Wirtschaft, Verkehr, Landwirtschaft, Weinbau
sowie Stellvertreter der Ministerpräsidentin
Malu Dreyer (SPD). Fortan geriet er mit
Klöckner und der Landes-CDU immer wieder
aneinander, besonderen Ärger gab es, als Wissing
dafür sorgte, dass sich Rheinland-Pfalz
bei der Abstimmung über Klöckners Düngemittelverordnung
enthielt.
Immer wieder habe er erlebt, so Wis sing,
dass CDU-Vertreter ein ziemlich lockeres Verhältnis
zur Wahrheit pflegten. Während der
Jamaikasondierungen 2017 habe er den damaligen
Kanzleramtschef Peter Altmaier gefragt,
ob man nicht doch den Solidaritätszuschlag
vollständig abschaffen könne, wie es
die FDP forderte. Auf keinen Fall, entgegnete
Altmaier. Später, in der Großen Koalition,
zeigte sich Altmaier als Wirtschaftsminister
dann als derjenige, der den Soli am liebsten
für alle abschaffen würde, aber an der SPD
scheitert.
Selbst während der Sondierungen versuchten
einige in der CDU, zwischen den Ampelparteien
Zwietracht zu sähen. Wis sing holt
sein Handy hervor und liest aus einer Whats-
App-Gruppe vor. Julia Klöckner habe sich
gemeldet, schreiben die Fachpolitiker, die
CDU-Politikerin habe gewarnt, dass Noch-
Finanzminister Olaf Scholz einen Angriff auf
die Landwirte plane. Er wolle die seit Langem
existierende Sonderregelung abschaffen, dass
Bauern unbürokratisch einen pauschalen Umsatzsteuersatz
zahlen dürfen, statt ihre Umsätze
exakt mit dem Finanzamt abrechnen zu
müssen.
Wis sing wusste von Scholz, die EU-Kommission
habe die Bundesrepublik wegen der
Bevorzugung der Bauern vor dem Europäischen
Gerichtshof verklagt. Wenn Deutschland
wie zu erwarten das Verfahren verlöre,
müssten die Landwirte rückwirkend die gesparten
Steuern an den Fiskus zurückzahlen.
Scholz wollte das Problem durch eine Gesetzesänderung
lösen, aber Klöckner stelle sich
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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