DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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KULTUR
Ideen um die Demokratie oder später
die Aufklärung. Hier entsteht über
die nationale Identität hinaus eine
Identifikation mit Europa als gemeinsamer
kultureller Raum. Die Frage ist
nur, wer bestimmt, was typisch europäisch
oder typisch afrikanisch sein
soll – und welche Funktion haben
solche Einordnungen? Um jemanden
abzuwerten? Um jemanden aufzuwerten?
SPIEGEL: Um herauszufinden, wie
jemand geprägt ist, würde die Frage
»Woher kommen Sie?« weiterführen.
In pluralistischen Kulturen wie den
USA steht die Frage »Where are you
from?« oft am Anfang eines Gesprächs
zwischen Fremden. In Ihrem
Fall würde man mit dieser Frage
herausfinden, dass die eine aus Westdeutschland
kommt und die andere
aus Ostdeutschland. Die Frage »Woher
kommen Sie?« würde man
schwarzen Deutschen aber heutzutage
nicht mehr stellen, damit es
nicht so wirkt, als sähe man sie nicht
als Deutsche an.
Ogette: Ich antworte auf die Frage
»Woher kommen Sie?« mit: »aus
Kreuzberg, vom Supermarkt, von der
Arbeit«. Und wenn sie dann weiterfragen
»Woher wirklich?«, antworte
ich Berlin oder Leipzig. Wenn die
Menschen sich dann damit zufriedengeben,
hätte ich kein Problem damit.
Aber wenn Menschen weiterfragen,
obwohl ich die Antwort bereits gegeben
habe, die ich geben möchte,
dann handelt es sich eher um eine
Projektion der fragenden Person, als
dass es um mich als Individuum geht.
SPIEGEL: Frau Ogette, Sie sind zunächst
in der DDR aufgewachsen und
später nach West-Berlin gekommen.
Gab es unterschiedliche Formen von
Rassismus in Ost und West?
Ogette: Also offiziell hieß es in der
DDR: Rassismus gibt es nicht, die
Brüder und Schwestern aus Afrika,
wie die Werkstudenten aus Tansania,
zu denen mein Vater gehörte, sind
willkommen. Aber es war unausgesprochen
klar, dass diese Brüder und
Schwestern nicht ebenbürtig sind. Ich
habe schlimme Rassismuserfahrungen
gemacht, vor allem in Kindergarten
und Schule. Aber ich wurde auch
sehr geliebt von meiner Familie, die
alles tat, um mich zu schützen. Im
Westen, in Kreuzberg, hatte ich dann
mehr schwarze Freundinnen. Das war
eine große Veränderung.
Denalane: Kreuzberg war aber nicht
nur offen und tolerant. Die Rassismuserfahrungen
in meiner Kindheit
* Susanne Beyer und Xaver von Cranach im
SPIEGEL-Hauptstadtbüro.
Ogette, Denalane,
SPIEGEL-Redakteurin
und -Redakteur*:
Ȁndert sich etwas
für Sie, wenn Sie
uns gegenübersitzen?«
Marzena Skubatz / DER SPIEGEL
habe ich allesamt dort machen müssen.
Ich bin aufgewachsen in einem
Hochhauskomplex am Gleisdreieck.
Da waren sehr viele Kinder, wir waren
oft draußen unterwegs, und das
Prinzip war leider allzu oft: Survival
of the fittest. Wenn nichts mehr gezogen
hat, dann wurde die ausländerfeindliche
Karte gespielt, die nicht
selten zu physischer Gewalt führte.
Auf dem Weg zur Schule lief ich an
unzähligen Häuserwänden vorbei,
auf denen »Ausländer raus« oder
»Türken raus« stand. In meiner
Kreuzberger Grundschule gab es diese
Klassen, in die nur türkisch- und
kurdischstämmige Kinder mit schlechten
Deutschkenntnissen kamen, um
dort von einer einzigen Lehrerin ausschließlich
auf Türkisch unterrichtet
zu werden. Das war extreme Ausgrenzung,
und diese Schüler waren
dadurch auf dem Schulhof isoliert.
SPIEGEL: Auf der diesjährigen Buchmesse
fühlten sich einige schwarze
Schriftstellerinnen und Schriftsteller
nicht willkommen, weil auch rechtsextreme
Verlage die Möglichkeit hatten,
einen Stand aufzubauen. Einige
schwarze Autorinnen blieben fern,
andere kamen. Die Autorin Jasmina
Kuhnke war nicht hingefahren und
gab ein Interview, in dem sie das begründete
und auch sagte, sie wolle
nicht von dem weißen Literaturkritiker
Denis Scheck rezensiert werden.
Nun ist es das Wesen der Literaturkritik,
dass Autoren sich nicht aussuchen
können, wer ihre Texte kritisiert.
Was sagen Sie zu Kuhnkes Haltung?
Denalane: Ich kenne das Interview
leider nicht, aber ich kann grundsätzlich
gut verstehen, dass man seine
Arbeit von jemandem rezensiert wissen
möchte, der sich im Kernthema
der Arbeit, die er bewerten soll, gut
auskennt.
SPIEGEL: Kritik kann zwar untergründig
oder unbewusst rassistisch begründet
sein, aber das muss nicht so
sein. Und man kann ja auch nicht
schwarze Künstlerinnen und Künstler
ausschließen, aus Sorge, als rassistisch
zu gelten
Denalane: Das stimmt. Aber hier haben
wir es mit einer anderen Ebene
zu tun. Wie rassismuskritisch ist ein
Rezensent, der ein Buch bespricht,
das sich mit Rassismus beschäftigt?
Das ist schon eine berechtigte Frage.
SPIEGEL: Reicht es, sich als Kritiker
auf Kennerschaft zu stützen, oder
spielt doch die Identität eine Rolle?
Muss ich als Kritikerin ähnliche Erfahrungen
haben wie die Künstlerin
oder der Künstler?
Denalane: Muss jemand Schwarz sein,
um meine Platte zu rezensieren?
Nein, natürlich nicht. Aber die Bereitschaft,
den eigenen Horizont zu erweitern
und sich zu sensibilisieren für
Themen, die man bis dahin vielleicht
noch nicht auf dem Schirm hatte, ist
essenziell, um ein präzises Urteil fällen
zu können. Wie oft aber saß ich
vor Journalist:innen, die denkbar
schlecht vorbereitet in Gespräche mit
mir gingen, um dann Rezensionen
über meine Alben zu veröffentlichen.
SPIEGEL: Frau Ogette, Sie haben vorhin
gesagt, dass Joy Denalanes Musik
Sie besonders angesprochen habe, als
Sie nach Westdeutschland kamen.
Was bedeutet sie Ihnen heute?
Ogette: Joy war damals meine imaginäre
große Schwester. Und heute ist
sie es im Realen. Das ist manchmal
noch unbegreiflich, aber sehr schön.
Bevor ich einen Workshop beginne,
höre ich immer Lieder, die mich
aufbauen, die Antirassismusarbeit
ist oft kräftezehrend. Ein Lied von
Joy gehört dazu: »Alles leuchtet«.
Das stärkt mich. Kannst du es mal
rezitieren?
Denalane: Hinter dem Spiegel, im leisesten
Laut, zwischen den Zeilen und
unter dem Staub, da ist etwas geblieben,
auf das du vertraust und das,
ohne zu zweifeln, an was Besseres
glaubt.
Ogette: Ich habe jetzt Gänsehaut.
Wenn ich mich ohnmächtig fühle, erschöpft
und dann dieses Lied höre,
weiß ich: Irgendwoher kommt das
Leuchten. Das gibt mir Kraft und
Stärke. Das klingt pathetisch. Aber
dafür bin ich Joy und ihrer Kunst
dankbar. Du machst nicht explizit Widerstandsmusik.
Aber natürlich ist
deine Musik im Widerständigen entstanden.
Das ist ein Erbe, eine Verbindung,
die an das Menschliche andockt.
Das berührt mich.
SPIEGEL: Frau Denalane, Frau Ogette,
wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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