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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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NACHRUFE

Joan Didion, 87

Ohne sie wären mehrere Generationen amerikanischer und auch

einiger deutscher Autoren kaum denkbar gewesen. Vor allem ihre

beiden Essaysammlungen »Slouching Towards Bethlehem« von

1968 und »The White Album« von 1979 lieferten die Vorlage für

eine modernisierte Version des seit den frühen Sechzigerjahren in

den USA kursierenden New Journalism. Didion erweiterte die

ohnehin subjektiv geprägte Textform um eine psychologische und

emotionale Ebene, mit einem röntgenhaften Blick fürs Detail, vor

allem für das kompromittierende. Sie war in fünfter Generation

Kalifornierin, wie sie stets betonte, und darin lag auch ihre weltanschauliche

Erdung. Das goldene amerikanische Versprechen – kein

Ort stand dafür so wie Kalifornien. Es hieß, dort könnten Träume

wahr werden, und viele wurden es in Hollywood ja auch. Für einige

der Filme schrieb Didion zusammen mit ihrem Mann John Gregory

Dunne die Drehbücher. Andererseits verwies Didion immer

wieder auf die Risse, die das Bild durchzogen, sah das Chaos und

den Verfall, war skeptisch gegenüber Hippies oder der Frauenbewegung.

So schien sie den Konservativen manchmal näher als den

Beatniks, und bis zu ihrem Tod reklamierten die entgegengesetzten

ideologischen Lager Didion als eine der ihren. Später rückten in

Büchern wie »Das Jahr des Magischen Denkens« Verlust und

Älterwerden ins Zentrum ihrer teils schmerzvollen Betrachtungen.

Joan Didion starb am 23. Dezember in New York. OEH

Sarah Weddington, 76

Einer jungen Anwältin aus Texas verdanken die Amerikaner

einen der wichtigsten und umstrittensten Rechtssprüche der US-

Geschichte. 1973 entschied das höchste Verfassungsgericht in

dem Verfahren »Roe gegen Wade«, dass das Abtreibungsverbot

des Staates Texas verfassungswidrig sei. Es war Weddingtons

erstes Gerichtsverfahren, sie war erst 26 und vertrat eine Klägerin

unter dem Alias Jane Roe, die abtreiben wollte und deswegen

den Bezirksstaatsanwalt Henry Wade verklagte. Die Entscheidung

wurde damals weitgehend begrüßt, doch das Erstarken der christlichen

Rechten rückte später »Roe gegen Wade» in den Mittelpunkt

jahrzehntelangen erbitterten Streits. Erstmals könnte es

jetzt mit der durch Ex-Präsident Trump herbeigeführten konservativen

Mehrheit im Supreme Court rückgängig gemacht werden.

Sarah Weddington starb am 26. Dezember in Austin. OEH

Bridgemanimages.com

Desmond Tutu, 90

Apartheid sei Sünde, verkündigte

Desmond Tutu von der

Kanzel. Der streitbare Kirchenführer

war neben Nelson Mandela

der wirkmächtigste Aktivist

im Kampf gegen die Rassentrennung

in Südafrika. Er

klagte die Verbrechen des weißen

Unrechtsregimes an, rief zu

Sanktionen auf, stand den Opfern

staatlicher Gewaltexzesse

bei. Seine Anhänger verehrten

ihn als »Gewissen der Nation«.

Seine Widersacher nannten ihn

abschätzig »heiliger Terror«.

Aber die Regierung konnte ihn

nicht zum Schweigen bringen

wie so viele Freiheitskämpfer,

denn spätestens nach der Verleihung

des Friedensnobelpreises

1984 war Tutu weltberühmt

und unantastbar geworden. Der

Befreiungstheologe führte ein

Leben im Widerstand, als einfacher

Priester, als Generalsekretär

des nationalen Kirchenrats,

als anglikanischer Erzbischof

von Kapstadt. Er war Seelsorger,

Hirte, Mahner, ein radikaler

Christ, der die Vision von der

»Regenbogennation« entwarf,

einer friedlichen, multiethnischen

Gesellschaft. Tutu wurde

wie der Dalai Lama zu einer

weltweiten Projektionsfigur humanistischer

Werte. Auch nach

dem Ende der Apartheid blieb

er ein unbequemer Kleriker, der

die Korruption und den moralischen

Verfall der neuen schwarzen

Machtelite anprangerte.

Aber Tutu hatte bei allem alttestamentarischen

Zorn einen

mitreißenden Humor. Er erzählte

gern den Witz, wie er nach

seinem Tod irrtümlicherweise in

der Hölle landet und dort so

viel Ärger macht, dass der Teufel

entnervt an der Himmelspforte

Asyl beantragt. Desmond

Mpilo Tutu starb am 26. Dezember

in Kapstadt. ILL

Friedrich Stark / epd

Inge Jens, 94

Sie wurde berühmt als Arbeitsund

Lebensgefährtin eines

lauten, wirkmächtigen Intellektuellen,

was angesichts ihrer

eigenen schöpferischen Kraft

ungerecht war und tragisch wirken

konnte. »Frau Thomas

Mann. Das Leben der Katharina

Pringsheim«, hieß eines der

Bücher, das Inge Jens gemeinsam

mit ihrem Mann Walter

Jens veröffentlicht hat. Es war

das aus Briefen und Tagebucheinträgen

komponierte Porträt

einer selbstbewussten Frau

an der Seite eines Mannes mit

Stargebaren – und damit eine

Spiegelung ihrer eigenen Existenz.

Inge Jens wuchs in wohlhabenden

Verhältnissen in

Hamburg auf. Ihr Vater war

Chemiker und in einer Nachrichtenabteilung

der SS tätig, sie

selbst war im nationalsozialistischen

»Bund Deutscher Mädel«

engagiert. In Tübingen, wo sie

1949 Literaturwissen schaft

zu studieren begann, lernte sie

Walter Jens kennen. Während

ihr Mann als Autor, Redner und

Rhetorikprofessor zu einer prägenden

Gestalt des westdeutschen

Nachkriegskulturlebens

wurde, editierte Inge Jens wichtige

Briefwechsel und trat klug

und entschlossen als Kämpferin

der Friedensbewegung auf. Als

1991 der Irakkrieg begann, versteckte

das Ehepaar Jens zwei

desertierte US-Soldaten in

seinem Haus. Nachdem ihrem

Mann spät seine eigene Mitgliedschaft

in der NSDAP vorgehalten

wurde und er an Demenz

erkrankt war, stand Inge

Jens ihm bei – und schilderte

unter anderem in dem Buch

»Langsames Entschwinden«

(2016) die Entfremdung von

ihrem Gefährten, den »die

Krankheit zu einem anderen

Menschen gemacht« habe.

Inge Jens starb am 23. Dezember

in Tübingen. HOE

Volker Hinz / Volker Hinz / Stern / Picture Press

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

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