DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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durch die sogenannte Sinterung. Dabei werden
die gemahlenen Rohstoffe zu kleinen
Kügelchen zusammengebacken. Doch der
Großteil des CO 2 wird direkt bei der Herstellung
im Hochofen freigesetzt. Eisen kommt
in der Natur meist nur in oxidierter Form vor,
mit Sauerstoff verbunden. Um Eisenerzen
den Sauerstoff zu entziehen, braucht es ein
sogenanntes Reduktionsmittel. Bislang ist das
überwiegend Kohlenstoff. In einem mehrstufigen
Prozess verbindet sich der Sauerstoff
aus dem Erz mit dem Kohlenstoff im Hochofen
zu CO 2 – und entweicht dann in die
Atmosphäre.
Dieser Prozess hat sich im Grunde seit der
Zeit der alten Hethiter, die vor mehr als
3000 Jahren wohl erstmals Metalle herstellten,
die dem heutigen Stahl ähneln, kaum
verändert. Damals nutzte man einfache Kohleöfen,
heute meist gigantische Hochöfen.
Und statt Holzkohle setzt die Industrie auf
weniger ruß- und schwefelhaltigen Koks –
allerdings wird schon bei der Produktion dieser
festen Klumpen Kohlendioxid freigesetzt.
Zusammen mit den Prozessen im Stahlwerk
entweichen am Ende je nach Schätzung pro
produzierter Tonne Stahl rund 1,8 Tonnen
Kohlendioxid in die Luft.
Den Herstellern ist das Problem bewusst.
Sie müssen angesichts verschärfter Klimavorgaben,
teurer CO 2-Zertifikate und gestiegener
Nachfrage nach klimafreundlichem Stahl ihr
Geschäft neu erfinden.
Nur ein paar Kilometer von Raabes Labor
betreibt Thyssenkrupp direkt am Rhein den
größten Standort Europas. Echte Ruhrpott-
Industrie-Stahlproduktion: von der Erzanlieferung
über die Koksherstellung, vom Hochofen
zum Stahlwerk, dann zum Walzwerk bis
hin zu fertigen, dünnen Blechen. Ein Teil
dieser Kette wird verschwinden.
Bis zum Jahr 2045 sollen die vier Hochöfen
erlöschen, dann will das Unternehmen klimaneutral
wirtschaften. »Dafür setzen wir auf
Direktreduktionsanlagen«, sagt Matthias
Weinberg, Leiter des Kompetenzcenters Metallurgie
bei Thyssenkrupp. Statt Koks wird
dabei Wasserstoff eingesetzt, denn der kann
den Sauerstoff aus Eisenerz binden – statt
Kohlendioxid entsteht dabei Wasserdampf.
Die erste Anlage soll 2024 fertiggestellt werden,
2030 die zweite. Dann, verspricht das
Unternehmen, wird der Kohlendioxidausstoß
um 30 Prozent niedriger sein als 2018.
Im neuen Prozess entsteht bei rund
1000 Grad aber kein glühendes Flüssigmetall,
sondern sogenannter Eisenschwamm. Weinberg
zeigt auf ein Glas mit grauen Kügelchen
auf seinem Schreibtisch. Würde man sie aufschneiden,
käme ihre poröse Struktur zum
Vorschein. Für grünen Stahl wird dieser Eisenschwamm
in einem Elektro-Ofen eingeschmolzen.
Dann geht es zurück in die konventionelle
Produktionskette.
Noch sind allerdings manche Fragen offen.
Etwa wo die Unmengen an grünem Wasserstoff
herkommen sollen, die für die Prozesse
benötigt werden. Seine Herstellung ist enorm
Saudi-Arabien soll Wasserstoff
für saubere Produktion
bei Thyssenkrupp liefern.
WISSEN
energieaufwendig, und nur, wenn dafür Strom
aus Wind- oder Solarenergie eingesetzt wird,
ist der Wunderstoff tatsächlich klimaneutral.
Thyssenkrupp selbst will nicht im großen
Stil zum Wasserstoffproduzenten werden. Gerade
hat der Konzern deswegen eine Kooperation
mit einem Projekt in Saudi-Arabien
bekannt gegeben, bei dem Wasserstoff über
Solarstrom erzeugt und dann nach Deutschland
gebracht werden soll. In der Übergangszeit
wird man in Duisburg die Direktreduktionsanlagen
wohl mit Erdgas speisen. Das Gas
lässt sich in ein Gemisch aus Wasserstoff und
Kohlenmonoxid umwandeln. Klimafreundlich
ist das nicht. Viele Stahlunternehmen gehen
ähnliche Wege und planen Investitionen in
Milliardenhöhe. Bei der Salzgitter AG sollen
ab 2022 so täglich 2,5 Tonnen Stahl produziert
werden, ein geringer Anteil an den rund 6 Millionen
Tonnen erzeugtem Rohstahl jährlich.
In Nordschweden läuft bereits eine Pilotanlage,
die wasserstoffreduzierten Eisenschwamm
herstellt. Das Projekt in Luleå, an
dem neben dem schwedischen Stahlkonzern
SSAB unter anderem auch der Energiekonzern
Vattenfall beteiligt ist, will jeden Schritt der
Stahlherstellung dekarbonisieren. Auch grünen
Wasserstoff will man in der Region produzieren.
Den Ökostrom für die dazu nötige
Elektrolyse sollen Windräder liefern. Im Sommer
meldeten die Schweden die ersten 100
Tonnen Öko-Eisenschwamm. 2026 will der
Konzern als erstes Industrieunternehmen weltweit
CO 2-freien Stahl auf den Markt bringen
und die Prozesse bis dahin weiter optimieren.
Allerdings hat das seinen Preis: »Wir gehen
davon aus, dass ein Auto um einen niedrigen
dreistelligen Eurobetrag teurer werden würde,
wenn der Stahl aus Direktreduktionsanlagen
stammt, die mit grünem Wasserstoff
arbeiten«, sagt auch Matthias Weinberg.
Die Direktreduktion ist zudem weniger
innovativ, als es scheint. Ähnliche Anlagen
machen schon seit Jahren rund fünf Prozent
der weltweiten Produktion aus. Auch elektrische
Lichtbogenöfen, die immens viel
Strom verbrauchen, werden schon verwendet,
etwa zum Einschmelzen von Stahlschrott.
Doch es geht auch anders. In Österreich
ist die Voestalpine, ein kleinerer Stahlproduzent,
an einem radikalen Projekt beteiligt. Es
lässt ahnen, wie die Anlage der Düsseldorfer
Forscher einmal aussehen könnte. In Donawitz
in der Steiermark steht ein mehr als zehn
Meter hoher Turm, in dessen Reaktorkammer
Eisenerz ebenfalls mit Wasserstoffplasma reduziert
wird. Allerdings zündet die Anlage
den Plasmastrahl mit einer Grafitelektrode.
Dabei entsteht zwar, anders im Labor von
Dierck Raabe, auch etwas CO 2. Die Grafitelektrode
hat dafür einen enormen Vorteil:
»In einem einzigen Prozessschritt wird im
Wasserstoffplasma, das an der Elektrodenspitze
brennt, Eisenerz direkt zu Stahl umgewandelt.
Ein elektrischer Einschmelzer in
Kombination mit Direktreduktion wird nicht
mehr benötigt«, sagt Johannes Schenk von
der Montanuniversität Leoben, einer der Projektleiter.
Das Verfahren habe ein enormes
Potenzial für eine komplett neue Verfahrensroute.
Der Rohstahl kann direkt durch Beimischung
von beispielsweise Chrom, Nickel
oder Mangan zu einer der rund 3500 Stahlsorten
veredelt werden.
Pro Charge benötigt ihr Plasmastahlwerk
30 Minuten – übrig bleiben neben rund
50 Kilo gramm Stahl ungefähr 40 Liter Wasser.
Bisher haben die Forscher nur einige Hundert
Kilogramm Eisenerz mit dem Verfahren verarbeitet.
»Noch zerschneiden wir die Stahlproben
nach den Versuchen für weitere Analysen
und Untersuchungen«, sagt Schenk. Er
schätzt, dass das Verfahren in 10 bis 15 Jahren
in industriellem Maßstab einsetzbar sein kann.
Andere Wissenschaftler verfolgen die Idee
einer Stahlindustrie, die ganz ohne heiße
Öfen auskommt. Sie setzen dabei auf die
Elektrolyse, angetrieben durch grünen Strom.
Daran wird beispielsweise an einer Pilotanlage
bei Metz in Frankreich geforscht. Dort
siedeln sich die Eisenatome an der Kathode
an, während an der Anode Sauerstoffbläschen
aufsteigen. Anschließend kann aus dem Eisen
Stahl hergestellt werden. Der Prozess soll dank
verhältnismäßig niedriger Temperaturen weniger
Energie als die konventionelle Stahlindustrie
verbrauchen, die CO 2-Emissionen
würden um 87 Prozent reduziert, heißt es.
Auch Boston Metal, ein US-Start-up, das
vom Massachusetts Institute of Technology
aus gegründet wurde, verfolgt ein ähnliches
Konzept, setzt aber auf hohe Temperaturen.
Ob solche Verfahren in der Lage sein werden,
den steigenden Stahlbedarf zu decken, darf
derzeit eher bezweifelt werden. Bis sie marktreif
sind, wird es ohnehin dauern.
Zeit braucht auch Raabes Wasserstoffplasma
reaktor noch. Für die erste Generation
der neuen Industrieanlagen kommt er wohl
zu spät. Der Wissenschaftler sucht derzeit
nach den idealen Bedingungen, unter denen
der Wasserstoff tief in das Erz eindringen
kann und das Eisenoxid schnell und so effizient
wie möglich reagiert.
Raabe will seinen Reaktor etwa auch mit
Rotschlamm füttern können, giftigem Abfall
aus der Aluminiumproduktion, der aber immer
noch einen guten Anteil Eisenoxid enthält.
Das Material wird oft in Deponien unter
freiem Himmel gelagert. Gelänge es, den Rotschlamm
für die Stahlproduktion zu verwenden,
könnte man zusätzlich ein Umweltproblem
lösen.
Für das kohlenstofffreie Eisen aus seinem
Reaktor hat er schon eine sehr sinnvolle Verwendung.
Zu Weihnachten wollte er seiner
Frau daraus Ohrringe anfertigen lassen.
Jörg Römer
n
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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