KULTURAutorin Yanagihara in ihrem Apartment: Ein Orgasmus auf dem CoverNatalie Keyssar120 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
KULTURDas wahre ParadiesLITERATURSTARS Mit »Ein wenig Leben« gelang Hanya Yanagihara aus dem Nichtsein Weltbestseller über Freundschaft, Scham und Verrat. Ihr neuer Romansaugt wie ein Schwamm die Strömungen der Gegenwart auf. Von Claudia VoigtEine Woche vor dem Treffen mit derSchriftstellerin Hanya Yanagihara inihrer Wohnung in Soho, Manhattan,schickt die Agentin per Mail noch einige Informationen:die Adresse, wie der Fahrstuhlfunktioniert, und als letzter Satz steht dort:»No shoes in the apartment.« Die Schuheausziehen? Verbirgt sich hinter dieser Aufforderung– von der eigenen Agentin verschickt– die Starattitüde einer amerikanischenSchriftstellerin?Seit Yanagihara vor sechs Jahren den Roman»Ein wenig Leben« veröffentlichte, istsie ein Star, auch wenn dieses Wort im Literaturbetriebskeptisch betrachtet wird. InDeutschland erschien ihr 1000-Seiten-Werk2017, auf dem Cover ist das Gesicht einesMannes zu sehen, der zu schreien scheint;tatsächlich wurde er beim Orgasmus fotografiert.Das Bild war gut gewählt, es hat sichfast noch stärker eingeprägt als die Geschichtevon vier New Yorker Freunden, die Yanagiharain »Ein wenig Leben« erzählt, einervon ihnen hat schlimmste Missbrauchserfahrungenmachen müssen. »Ach, das Buch!«,so reagieren die meisten Leserinnen und Leser,wenn das Gespräch darauf kommt. Esverkaufte sich weltweit zweieinhalb MillionenMal. Erst nach diesem Erfolg wurde YanagiharasDebüt »Das Volk der Bäume« insDeutsche übersetzt.Anfang Januar nun erscheint ihr dritterRoman »Zum Paradies«, er kommt in denUSA und Europa zeitgleich in die Buchläden,was ein Indiz für den Wirbel ist, der um dieAutorin veranstaltet wird. »Zum Paradies«ist wieder fast 1000 Seiten lang geworden,doch der Roman unterscheidet sich in vielerleiWeise von dem Buch zuvor. Es geht zumBeispiel nicht um Missbrauch, so viel seischon mal verraten.Yanagiharas Wohnung liegt in einer dersechs, sieben Straßen, die dem New YorkerStadtteil Soho seinen legendären Ruf einbrachten:gusseiserne Fassaden, große Fensterflächen.Doch die Pandemie hat selbst indiesem teuren Viertel Spuren hinterlassen,zwischen den Boutiquen namhafter Labels gibtes einigen Leerstand. Zwar warten vormittagsum elf vor dem Chanel-Laden ein paar LeuteHanya Yanagihara: »Zum Paradies«. Aus dem Englischenvon Stephan Kleiner. Claassen; 896 Seiten; 30 Euro.in einer Schlange, aber das FeinkostgeschäftDean & DeLuca, das so vielen Filmen undSerien als Kulisse diente, gibt es nicht mehr.»Was ist Ihr Eindruck von New York?«,fragt Yanagihara. Ja, Covid habe der Stadtzugesetzt, aber seit sie 1995 herkam, gehöredas Gerede dazu, wie viel aufregender NewYork früher gewesen sei. »Es ist schwerer geworden,in der Stadt ein Mittelschichtslebenzu führen. Aber irgendwie hält die Romantikan, selbst jetzt kommen junge Leute, die sicheinen Namen machen wollen.«Der enge Fahrstuhl war scheppernd in denersten Stock gefahren, an der Wohnungstürwurden die Schuhe weisungsgemäß abgestreift.Die Schriftstellerin selbst bewegt sichsogar barfuß über den Dielenboden ihrerWohnung.Es ist ein etwa 60 Quadratmeter großesZimmer, in dem sie lebt, es wird von einemdeckenhohen Bücherregal in zwei Räumegeteilt. Was sich dahinter befindet, ist nichteinsehbar, zahlreiche Buchrücken verstellenden Blick. An der Wand gegenüber vom Regalhängen an die 40 Kunstwerke unterschiedlicherGröße – Fotos, Zeichnungen,Gemälde – eng gefügt vom Boden bis zurDecke. In dem Raum zwischen der Bücherundder Bilderwand befinden sich eine Küchenzeile– ein Esstisch mit Stühlen, überdenen bunte Decken liegen – und eine Sitzecke,zu der ein lederner Lounge Chair undein Sofa mit gemusterten Kissen gehören. Dererste Eindruck: Farbigkeit und eine auffälligePräsenz von Kultur und Schönheit.Es zählt zu den Besonderheiten von YanagiharasBüchern, dass Stil und Geschmackdarin viel Raum einnehmen, über lange Abschnittewerden die Lebenswelten der Protagonistenausgemalt. In »Ein wenig Leben«zum Beispiel konnte der Selbstverletzungswahndes Helden Jude noch so zerstörerischsein – es wurden auch die Badezimmerkachelnbeschrieben, auf denen er lag, währender sich tiefe Schnitte zufügte. Man kann diesenLeid und Schönheit sindoft ins Melodramatischeübersteigert.unbedingten Willen zum Ästhetizismus, dersich auch in Yanagiharas neuem Roman »ZumParadies« zeigt, manieriert finden. Sie nenntdie Amerikanerin Edith Wharton als einVorbild, die in den ersten Jahrzehnten des20. Jahrhunderts nach Europa zog, viel reisteund einen illustren Freundeskreis pflegte.Whartons Fähigkeit über visuelle Hinweisezu erzählen, findet Yanagihara beispielhaft.»Ich glaube, man kann den Leser die Stimmungund die Werte jener Menschen, überdie man schreibt, über Dinge und Objektespüren lassen.«Wenn man in Yanagiharas Wohnung sitzt,kommt einem zudem der Gedanke, dass dieeigenen vier Wände eben auch jener Ort sind,den man sich anders als den Rest der Weltnach eigenem Geschmack erschaffen kann.Er bietet Rückzug, Kontrolle, Schutz. Verstärktwird der Eindruck durch die heruntergezogenenRollos; draußen ist ein strahlenderDezembertag, doch das Apartment liegt imHalbdunkel. In der Küchenecke bereitet dieSchriftstellerin einen Lapsang-Souchong-Teezu. Dieser Tee wird in ihrem neuen Romanin einer Schlüsselszene serviert und vonjemandem, der die Sorte nicht mag, als»übermäßig rauchendes Holzfeuer in flüssigerForm« beschrieben. Sie brüht die geräuchertenBlätter mit Kennerschaft auf und serviertden Tee in hübschen Tonbechern – erschmeckt würzig, aber nicht zu schwer. Mituntergeschlagenen Beinen setzt sie sich dannzwischen die vielen farbigen Kissen auf ihrSofa. Eine professionelle Ausstrahlung umgibtsie: Das ist hier kein privates Treffen, ihr neuerRoman soll das Thema sein.»Zum Paradies« besteht aus drei Teilen,deren Handlungen nichts miteinander zutun haben. Sie spielen im Abstand von etwa100 Jahren im selben Haus am WashingtonSquare in New York, der Roman beginnt 1893,und der erste Teil heißt auch so: »WashingtonSquare«.Doch zuerst mal fällt auf, wie schwer diesesBuch ist, wie groß und leuchtend YanagiharasName auf dem schwarzen Cover steht.Die selbstbewusste Geste, mit der die Amerikanerinals Schriftstellerin auftritt, ist füreine Autorin noch immer ungewöhnlich. Diedicken Wälzer liefern ja meist Männer. DieÜberzeugung, sehr viel zu erzählen zu haben,gehört ihnen fast immer noch exklusiv. 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