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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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WIRTSCHAFT

»Das gesamte

Bodenrecht

muss neu

gedacht

werden.«

Stephan Reiß-

Schmidt, ehemaliger

Stadtdirektor

Berliner

Baustadtrat Schmidt:

Vorkaufsrecht

in großem Stil

angewandt

Marlene Garwisch / WELT / ullstein bild

Häuser nicht an den eigentlichen Interessenten

verkauft wurden, sondern

in den Besitz städtischer Gesellschaften,

Genossenschaften oder privater

Eigentümer übergingen. Und 1200-

mal konnte er Investoren unter Androhung

dieser Option dazu bringen,

sogenannte Abwendungsvereinbarungen

zu unterzeichnen. In diesen

erklären sich Eigentümer bereit,

Mietwohnungen nicht in Eigentumswohnungen

umzuwandeln oder luxuszusanieren.

Letzteres praktizieren Investoren

in Berlin häufig: Die Käufer modernisieren

aufwendig und legen einen

Teil der Kosten auf die Miete um. Die

Folge: Gentrifizierung.

»Wir gehen als Bezirk voran und

zeigen, was möglich ist«, sagt Schmidt

stolz. Er hat natürlich ebenfalls für

die Enteignung der Wohnungskonzerne

gestimmt. Seine Politik belege,

dass die Stadt vor profitgierigen Immobilienspekulanten

durchaus zu

retten sei. Kürzlich hat der selbst ernannte

»Stadtaktivist« ein Buch veröffentlicht,

in dem er seine Erfahrungen

schildert. Der Titel lautet: »Wir

holen uns die Stadt zurück.«

Bei einem Spaziergang zeigt er

auf dem Kreuzberger Mehringdamm

auf zwei direkt aneinandergrenzende

Wohnblöcke: Das eine

Wohnhaus habe die Stadt Investoren

überlassen müssen, mit den üblichen

Folgen: neue Stahlbalkone,

vergoldete Klingelschilder, 25 Euro

den Quadrat meter. Die Altmieter

seien ausgezogen.

Für das daran angrenzende Wohnhaus,

das ein wenig in die Jahre gekommen

ist, hat der Bezirk das Vorkaufsrecht

ausgeübt. »Hier kosten die

Mieten nicht einmal halb so viel«,

sagt Schmidt. Alle Altmieter seien

noch da.

Was er damit illustrieren möchte:

Ohne ihn würde es in seinem Kiez

nur so von goldenen Klingelschildern

wimmeln.

Schmidts Idylle ist allerdings akut

gefährdet. Anfang November schob

das Bundesverwaltungsgericht seiner

Praxis einen Riegel vor. Allein die

Befürchtung, ein Mehrfamilienhaus

könnte in Eigentumswohnungen aufgeteilt

werden, reicht dem Urteil zufolge

nicht aus, um ein Vorkaufsrecht

zu begründen.

Nach dem Fiasko um den Mietendeckel

die zweite Klatsche für die

Berliner Baupolitik. Die neue Bürgermeisterin

Franziska Giffey (SPD) ist

jedenfalls gewarnt, den Enteignungsvolksentscheid

will sie nicht in ein

Gesetz gießen: Berlin dürfe sich kein

weiteres negatives Urteil beim Bundesverfassungsgericht

holen. »Ich

kann nur vor zunehmenden Regulierungen

warnen«, sagt Andreas Mattner,

Präsident des Zentralen Immobilien

Ausschusses. »Denn damit

vertreiben wir Investoren aus den

Städten.«

Stephan Reiß-Schmidt war 20 Jahre

lang Stadtdirektor und Leiter der

Stadtentwicklungsplanung in München.

Er glaubt, dass es einen grundlegenden

Wandel in der Politik

braucht. Nur dann könnten gemeinwohlorientierte

Vermieter noch mit

Bauflächen versorgt werden; egal ob

in Berlin oder in München.

»Die Gesetze des freien Marktes

funktionieren beim Boden nicht«,

sagt er. Das zeige sich etwa bei Neubauten.

Der Bodenpreis mache dort

bis zu 80 Prozent der Kosten aus, deshalb

rentierten sich nur noch Luxuswohnungen.

Gerade für Genossenschaften

seien solche Projekte nicht

darstellbar.

»Das gesamte Bodenrecht muss

neu gedacht werden«, sagt er. Denn

hier liege die wahre Ursache des

Problems. Grund und Boden seien

keine normale Ware, die beliebig vermehrt

werden könnte. Es handle sich

vielmehr um ein Gemeingut wie Luft

und Wasser, das der Allgemeinheit

dienen sollte. Über die vom Finanzmarkt

getriebenen Baulandpreise

werde viel zu wenig gesprochen. Der

neue Koa litionsvertrag bringe da

wenig Entlastung, so Reiß-Schmidt.

»Die beschlossenen Maßnahmen

werden die Situation kaum entschärfen.«

Und wenn, dann brauchten

sie Jahre, bis sie ihre Wirkung entfalteten.

Er fordert Maßnahmen, »die sofort

wirken«. Etwa einen Bodenpreisdeckel,

der in überhitzten Märkten

Preissteigerungen bei Grundstücken

nur noch in Höhe der Lebenshaltungskosten

erlaubt. Oder die Einführung

eines sogenannten Planungswertausgleichs,

mit dem sich Wertsteigerungen

rausrechnen lassen, für

die der Eigentümer selbst nichts getan

hat. Beispielsweise, wenn eine Kommune

überhaupt erst Bauland ausweist.

»Das würde Bodenspekulation

unattraktiver machen«, sagt Reiß-

Schmidt. Die Einnahmen könnten

direkt in den geförderten Wohnungsbau

investiert werden.

Solche Forderungen sind nicht

neu. Hans-Jochen Vogel, einst Oberbürgermeister

in München und später

Justizminister, hatte bis zu seinem

Tod im Jahr 2020 für eine Bodenrechtsreform

gekämpft. Er konnte

sich damit in der SPD-Fraktion nicht

durchsetzen. Reiß-Schmidt und seine

Mitstreiter vom »Bündnis Bodenwende«

fordern nun eine Enquetekommission,

die Lösungsvorschläge auf

Bundesebene erarbeiten soll.

Auch das Land Berlin sucht sein

Heil inzwischen in einem Arbeitskreis.

Da der Volksentscheid kein

konkretes Gesetz zum Inhalt hatte,

ist die Regierung nicht gezwungen,

das Ergebnis umzusetzen. Bei den

Koalitionsverhandlungen zwischen

SPD, Grünen und Linken einigten

sich die in der Frage der Enteignung

zerstrit tenen Parteien erst einmal

darauf, eine Kommission zu bilden.

Sie soll in den ersten 100 Tagen entstehen

und rund ein Jahr später Ergebnisse

liefern.

Aktivistin Jenny Stupka befürchtet,

dass das Problem so lediglich verschleppt

wird. Mitte Dezember sitzt

sie auf einem Podium in der Berliner

Volksbühne. Das Thema: »Keine Enteignung

ist auch keine Lösung«. Der

Moderator hat »Das Kapital« von

Karl Marx dabei.

In der Fragerunde meldet sich eine

junge Frau aus dem Publikum: »Wie

sollen wir denn unseren Schwung behalten,

wenn es so langsam vorangeht?

Im Sommer waren wir so viele.

Jetzt holt uns der Alltag wieder ein.«

Stupka antwortet: »Wir müssen in

längeren Zeithorizonten arbeiten.

Uns noch besser vernetzen.« Sie träume

von einer Allianz: ruppige Berliner,

die die Schnauze voll haben, und

linke Aktivisten. Plätze besetzen,

demonstrieren, Druck machen. »Ziviler

Ungehorsam, aber mit Kaffee

und Kuchen.«

Die akute Wohnungsnot kann allerdings

auch das nicht lindern.

Henning Jauernig, Janne Knödler,

Michael Kröger

n

78 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021

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