75 JAHRE DER SPIEGELauf ihn hielt, hat in mir viel ausgelöst.Fest sprach davon, »dass das Landohne ihn und sein Wirken ein anderesAussehen hätte«. Ein großes Wort. Ichhätte das nie ausgesprochen, es nichteinmal gedacht. Vielleicht war ich zudämlich, um Rudolfs Leistung zu begreifen.Ich habe die Rede gesternnoch einmal gelesen. Sie berührtmich. Zugleich ergeben sich für michneue Fragen.SPIEGEL: Nämlich?Villwock: Hatte Rudolf wirklich schonin jungen Jahren hehre Ziele? Hat ergehandelt aus Sorge, die Deutschenkönnten von der Verkommenheit derNazis noch so beeinflusst sein, dasssie nicht zu einer aufrechten Demokratiefähig sind? Oder ließ er sicheinfach treiben? Ich hielt ihn damalsnicht für einen Idealisten. AndereLeute in dem Alter wollen die Erdachseaufrichten, damit sie mehr Sonnebekommen. So sah ich ihn nicht.Vielleicht habe ich ihm unrecht getan,ich weiß es nicht.SPIEGEL: 1962 wurde Rudolf Augsteinverhaftet, es war der Beginn derSPIEGEL-Affäre. 103 Tage lang saßer in Untersuchungshaft. Auslöserwar ein Artikel im SPIEGEL, der diemangelhafte Ausrüstung der Bundeswehrbeschrieben hatte und die atomareStrategie von VerteidigungsministerFranz Josef Strauß infragestellte. Haben Sie Ihren Bruder imGefängnis besucht?Villwock: Das war nicht erlaubt. UnserBruder Josef, der ihn verteidigte, hieltden Kontakt.SPIEGEL: Hatten Sie Angst um Rudolf?Villwock: Nein, denn ich vertraute inden Rechtsstaat. Es war aber das ersteMal, dass Rudolf Angst hatte. DerSPIEGEL hatte in den Jahren zuvorimmer wieder gegen Strauß geschossen.Manchmal sagte ich: Rudolf, dubewegst dich auf dünnem Eis. Er tatdann so, als wüsste er nicht, was ichmeine. Strauß war sein Antipode,zugleich hat Rudolf ihn um seineMacht beneidet, ihn insgeheim sogarverehrt. Der Minister war mehrmalsbei ihm zu Hause, auch er saß aufJohn Jahrs Stühlen. Ich hielt Straußfür einen Widerling, war mir abersicher: Nur wegen eines Artikelswird Rudolf nichts passieren. Zunächstdachte ich sogar, die SPIEGEL-Affäre wäre für Rudolf eine Lachnummer.SPIEGEL: Obwohl ihm BundeskanzlerKonrad Adenauer Landesverrat vorwarf?* Mitarbeiterin Brigitte Wulzinger und RedakteurAlexander Kühn vor einem Augstein-Fotoin Hamburg.»Als erzum Haftprüfungsterminerschien,war ich erschüttert,wie fertigRudolfaussah.«Villwock, SPIEGEL-Team*Villwock: Ich dachte, wenn das einerwegsteckt, dann er. Meine Einschätzungwurde dadurch befeuert, dassJosef anfangs recht lustig erzählte, wieRudolf versucht hatte, Akten aus derRedaktion verschwinden zu lassen.Als er jedoch zum Haftprüfungsterminerschien, war ich erschüttert, wiefertig Rudolf aussah. Aus SPIEGEL-Sicht muss man allerdings sagen: Eshat sich gelohnt, dank der SPIEGEL-Affäre verdoppelte sich die Auflage.Mein Bruder sagte später, das hätte ersonst nie geschafft.SPIEGEL: Auf die Frage, ob er denSPIEGEL liebe, sagte er einmal:»Nein, das kann man von mir nichtverlangen!«Villwock: Es gab Zeiten, da fühlte ersich dem SPIEGEL nicht sonderlichverbunden.SPIEGEL: Der SPIEGEL war doch seinKind.Villwock: Er hing an diesem Magazinnicht, wie ein Vater es tut. Sonst hätteer nicht zwischendurch überlegt,den SPIEGEL zu verkaufen, als dieRedaktion ihm auf den Geist ging. Erhätte um 1960 herum nicht versucht,dem Magazinjournalismus zu entfliehendurch das Bemühen, eineWochenzeitung zu gründen. Und erhätte den SPIEGEL 1972 nicht schlagartigverlassen, um in die Politik zugehen, als FDP-Bundestagsabgeordneter.SPIEGEL: War das eine Midlife-Crisis,kurz vor seinem 50. Geburtstag?Villwock: Es war der Versuch, denMoment zu erhaschen, noch etwasanderes zu machen im Leben. AchGott, wenn er in seinem katholischenWahlkreis Paderborn mit Nonnenüber den Paragrafen 218 diskutierenmusste oder Bürgern mal eben eineUmgehungsstraße in Aussicht stellte –da habe ich mich schon ein bisschengeschämt. Rudolf war für die Politiknicht gemacht, er war kein Großsprecher,gab nie populistische Sätze vonDmitrij Leltschuk / DER SPIEGELsich. Einer, der so viel Verstand hattewie er, hätte das wissen müssen.SPIEGEL: Hatten Sie ihn gewarnt?Villwock: Oh nein, er war sehr empfindlich,was Kritik betraf. Ich habees nur zweimal gewagt, etwas infragezu stellen. Einmal, als mir ein Vortragvon ihm nicht gefiel, schon damit kamer schwer klar. Und dann im Jahr2000, als er den Ludwig-Börne-Preisfür sein Lebenswerk erhalten sollte.Rudolf wollte unbedingt nach Frankfurtreisen, um die Auszeichnung inder Paulskirche persönlich entgegenzunehmen,dabei war er bereits zukrank und auch zu weit weg vom logischenDenken. Ich bin mit seinemArzt zu ihm gefahren, um ihm dasauszureden. Er protestierte, notfallswerde er sich auf einer Trage hinbringenlassen. Dann bin ich zum SPIEGELund habe zu Aust gesagt: »Ihr müsstverhindern, dass er fährt.« Am Endehaben wir erreicht, dass die Veranstaltungfürs Erste abgesagt wurde.Danach dachte ich, er enterbt mich.SPIEGEL: Eingangs sagten Sie, dassSie mit dem SPIEGEL auch gelittenhaben. Wann denn zuletzt?Villwock: Im Großen natürlich, als Siedie Affäre hatten mit Herrn Relotiusund seinen erfundenen Reportagen.Und im Kleinen immer wieder. WennSie Larifarithemen im Heft haben, dieman auch überall anders lesen kann,wie diese Titelgeschichte Anfang desJahres, warum Haustiere uns glücklichmachen. Oder als Sie die Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbockerst in den Himmel lobten, vonwo Sie sie ein paar Wochen späterwieder herunterholen mussten. Beiwichtigen Themen vergleiche ich immer,wer sie besser aufbereitet: die»Zeit« oder Sie. Und freue mich,wenn Sie es sind.SPIEGEL: Würde Ihr Bruder denSPIEGEL, wie er heute ist, mögen?Villwock: Ich glaube, er sähe ihm zubunt aus. Andererseits war Rudolfauch froh, wenn jemand anders dasBlatt weiterentwickelte. Einmal sagteer selbstironisch, wenn es nach ihmginge, hätte der SPIEGEL immer nochdas Layout von 1947: viel Text, kleineBilder, alle in Schwarz-Weiß. Siesehen, auch darin war er widersprüchlich.SPIEGEL: Glauben Sie, dass Sie dasRätsel Rudolf Augstein noch lösenwerden?Villwock: Ich gehe nicht davon aus,zumal mir dafür nur noch begrenztZeit bleibt. Aber dass ich so sehr überihn grüble, zeigt mir zumindest eines:dass er mir nicht egal war.SPIEGEL: Frau Villwock, wir dankenIhnen für dieses Gespräch. n52 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
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