DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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Ausland
Die Geschichten hinter den Geschichten –
der besondere Rückblick
Jenseits von Kabul
NR. 40/2021 »Der Landraub der Taliban« – Nach der Machtübernahme der Islamisten ist Christoph Reuter per
Bus durch afghanische Provinzen gereist, um die neue Unordnung im Land zu erleben und zu beschreiben.
D
iese
Geschichte handelt davon, wie
sich die Taliban in einem der abgelegensten
Winkel Afghanistans gemeinsam
mit einem brutalen Landbesitzer
Grundstücke unter den Nagel reißen wollten
– und wie es war, darüber zu berichten.
Die Taliban hatten nicht damit gerechnet,
dass einige Tausend Menschen in den
schwer zugänglichen Tälern sich wehren
würden. Auf Facebook. Hier kommt ein Ex-
Dorfschuldirektor ins Spiel: Ghulam Hazrat
Mohammadi. Er versammelte Menschen
für ein Protestvideo, schlug sich über
Schleichwege nach Kabul durch und startete
eine Social-Media-Kampagne. Wir Reporter
fanden Mohammadi, sprachen andere
Geflohene, brachen auf nach Daikundi.
Google Maps gibt 7:47 Stunden Fahrtzeit
von Kabul bis in die Provinzhauptstadt
an. Nur hat niemand Google Bescheid gegeben,
dass die Straße über weite Teile von
Erdrutschen weggerissen wurde. Auf der
Umgehungsstrecke kollabiert das Auto. Im
Schritttempo landen wir in einem Kaff,
tun selbst den Taliban am Posten leid, die
sich für die Straßen entschuldigen.
Im »Flying Coach«, einem hochgelegten
Kleinbus mit der gefühlten Motorleistung
eines Schützenpanzers, geht es weiter, am
Abend des zweiten Tages gelangen wir im
nächsten »Flying Coach« in der Dunkelheit
über kaum sichtbare Pisten zu den Dörfern.
Zum Sonnenaufgang vor einer spektakulären
Gebirgskulisse bricht die Achsfederung.
Einer der Männer rennt eine Bergkuppe
hoch, schafft es zu telefonieren, dann rast
ein Motorradfahrer heran, auf dem Gepäckträger
eine Blattfeder balancierend.
Die anschließende Geschichte über Willkür
und Vertreibung der Bauern trifft bei
der Taliban-Führung in Kabul auf einen
wunden Punkt: ihr Bemühen, sich dem
Westen als geläuterte Herrscher zu präsentieren.
Wider Erwarten erlässt einer der
obersten Taliban-Richter Wochen später ein
Dekret, dass die Enteignungen rückgängig
gemacht werden müssten.
Doch dann zeigt sich die neue Unordnung
Afghanistans: Die lokale Führung akzeptiert
zwar das Diktum, lässt die Geflohenen
zurückkehren, aber nur, um sie erneut
zu vertreiben. Der Grundbesitzer habe Einspruch
eingelegt. Mohammadi ist inzwischen
nach Iran geflohen, andere Bauern
protestieren weiter. Der Grundbesitzer ruft
beim SPIEGEL an: Wir sollten aufhören,
uns einzumischen. Er werde jeden Bauern
aus dessen Haus vertreiben, »und wenn
der und seine Kinder dann auf der Straße
erfrieren, haben sie das verdient!«
90 DER SPIEGEL Nr. 1 / 30.12.2021
Illustration: Sebastian Rether / DER SPIEGEL