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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Verheizt auf

Station IOI-C

NR. 47/2021 »Wo die vierte

Welle bricht« – Redakteur

Tobias Großekemper kehrte

nach mehr als 20 Jahren für

drei Tage zurück in seinen alten

Beruf, die Krankenpflege. Er

zieht ein bitteres Fazit.

Mitte November, sechs Uhr

morgens in einer Umkleide des

Universitätskrankenhauses

Leipzig. Ich schlüpfe in einen

Kasack, die übliche Krankenhausuniform.

Und damit zurück

in ein Kapitel meines Lebens,

das ich für abgeschlossen gehalten

hatte: Krankenpflege.

Nach mehr als 20 Jahren

sind alle Erinnerungen sofort

wieder da. Der Krankenhausgeruch,

nach Reinigungsmittel.

Die Uhrzeit und die Dienstpläne.

Menschliche Schicksale

in Mehrbettzimmern.

Wenn ich erzähle, dass

meine erste berufliche Station

die Pflege war, reagiert mein

Gegenüber überrascht, aber

immer positiv. Als mache mich

das sozial kompetenter.

Ich ergriff den Beruf, weil ich

dachte, ich könnte damit überall

auf der Welt arbeiten und Kranken

ein wenig helfen.

Mir selbst gab der Beruf zu

wenig: zu wenig geregelte

Arbeitszeiten, zu wenig Perspektive

und auch zu wenig

Geld. 1999 wurde ich Journalist.

So viel zur Sozialkompetenz.

Jetzt also wieder im Kasack.

Drei Tage lang sollte ich auf

der Station IOI-C des Klinikums

mitlaufen, eine Intensivstation

für Coronapatienten.

Aufschreiben, was passiert, wie

Großekemper in

Leipziger Uniklinik

es dem Pflegepersonal geht.

Meine Pflegeausbildung half

mir, nicht gleich umzukippen,

als im dritten Zimmer, in das ich

hineinschaute, ein Mensch in

einem Leichensack lag.

Unvorbereitet war ich auf die

komplette Sinnlosigkeit des

Sterbens. Die, die es hart getroffen

hatte, waren in der Regel

ungeimpft. Lauter Skispringer

ohne Helm. Hatten die Wissenschaft

geleugnet und wären

jetzt, ohne sie, schon lange tot.

Und ohne die Pflegerinnen und

Pfleger, die sie versorgten, auch.

Vor mehr als 20 Jahren zeigten

sie uns in der Ausbildung,

was man alles gut machen kann,

wenn man Zeit hat als Pfleger.

Danach, auf den Stationen,

lernten wir, dass es diese Zeit

eigentlich nie gibt. Seitdem ist

die Situation für Pflegende nur

noch schlechter geworden, zu

wenig Geld, zu dünne Besetzung,

jeder weiß es, seit Jahren.

In der Universitätsklinik

Leipzig sah ich Pflegerinnen

und Pfleger eigentlich immerzu

rennen. Von Bett zu Bett. Aber

auch gegen eine Gesellschaft,

die draußen lebt, als gäbe es

kein Corona. Sie rannten dort

seit 20 Monaten. Ich dachte:

Sie werden verheizt. Wie es

ihnen geht, davon habe ich jetzt

eine Idee.

Ich glaube heute, nach den

Erfahrungen in der Uniklinik

Leipzig, dass dieses freundliche

Erstaunen, dass ich in den Jahren

davor auslöste, wenn ich erwähnte,

mal Pfleger gewesen zu

sein, nichts mit Anerkennung

sozialer Kompetenz zu tun hat.

Sondern mehr mit der ehrlichen

Überraschung, wie

man auf diesen Beruf überhaupt

noch kommen kann.

Sven Döring / DER SPIEGEL

Peter Jülich

Nächte voller Zweifel

NR. 22/2021 »Du Kinderschänder!«

– Redakteur Maik Großekathöfer

schrieb über einen

Erzieher, der bezichtigt wird,

Kinder sexuell missbraucht zu

haben.

Ein Journalist muss sich

manchmal festlegen: Wer lügt,

wer sagt die Wahrheit? Ein Text

kann wie ein Richterspruch

sein, was mir bei einer Recherche

in diesem Jahr schlaflose

Nächte bereitete.

Im Mai habe ich einen Artikel

über einen Erzieher recherchiert,

der ein Mädchen missbraucht

haben soll. Als die Ermittlungen

gegen ihn eingestellt

wurden, wurde er bedroht und

beleidigt. Die Generalstaatsanwaltschaft

Koblenz leitete Verfahren

ein unter anderem wegen

Verleumdung und öffentlicher

Aufforderung zum Mord.

Ich wollte beschreiben, wie ein

Mann zu Unrecht beschuldigt

wird, und verabredete mich mit

dem Erzieher und seinem Anwalt

zu einem Gespräch.

Dabei erfuhr ich, dass dem

Erzieher, der in dem Text das

Pseudonym Frank Müller trägt,

von drei weiteren Müttern

unterstellt wird, sich an ihren

Töchtern vergangen zu haben.

Müller beteuerte, er habe nichts

getan. Ich saß in der Anwaltskanzlei

und zweifelte zum

ersten Mal leise an ihm: so viele

unberechtigte Vorwürfe – ist

das möglich? Im Zug zurück nach

Hamburg las ich Dokumente

aus den Akten. Mal hielt ich

Müller für unschuldig, mal für

schuldig, dann wieder nicht.

Später verbrachte ich fünf

Tage mit ihm. Als ich seine

Wohnung betrat, sagte ich: »Ich

Müller

glaube erst mal gar nichts.« Ein

Spruch, den ich von einem der

Faktenprüfer geklaut hatte, die

alle Texte im SPIEGEL verifizieren.

Jeden Tag sprach ich stundenlang

mit Müller, las Whats­

App-Chats auf seinem Handy,

sprach mit der Staatsanwaltschaft,

las sein Tagebuch, sprach

mit seinem Arbeitgeber. Ich

stellte Müller unangenehme

Fragen, er beantwortete jede.

Im Hotel lag ich manchmal

nachts wach und überlegte, ob

ich zu leichtgläubig bin. Könnte

sein Tagebuch ein Fake sein?

Dann gab es Phasen, in denen

war ich mir sicher, dass hier ein

Mensch vernichtet wird.

Schließlich saß ich am

Schreibtisch vor einem leeren

Bildschirm und überlegte: Was

machst du daraus? Die Realität

ist immer störrisch, aber hier

ging es um etwas anderes. Irrtum

ist ein großer Feind der

Wahrheit. Ich hatte die Akten

ein zweites und drittes Mal gelesen,

war meine Aufzeichnungen

mehrfach durchgegangen.

Alles, was ich aufschreiben

wollte, ließ sich belegen, nun

musste ich mir ein Urteil bilden.

Ich kam zu dem Ergebnis, dass

Müller unschuldig ist, dass er

es sein muss, weil die Fakten für

ihn sprechen, weil man nachvollziehen

kann, wie ein Gerücht

das andere befeuerte, ein

Verdacht den nächsten auslöste.

Ich habe, hoffentlich, einen

Text geschrieben, dem man das

Nachdenken des Autors anmerkt.

Bei dem der Leser verstehen

kann, warum ich Müller

für ein Opfer halte. Anfang Dezember

hatte ich zuletzt mit

Frank Müller Kontakt. Die drei

noch offenen Verfahren sollen

demnächst eingestellt werden.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

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