DER_SPIEGEL_30.12.21
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.
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AUSLAND
Yuri Kochetkov / epa
Ukrainische Reservisten bei Übung nahe Kiew: »Warum ausgerechnet jetzt so ein Konflikt, wo der Feind vor den Toren steht?«
Terrorismus. Faktisch geht es um den Kauf
von Kohle aus Separatistengebieten im Donbass.
Poroschenko, der alle Vorwürfe abstreitet,
befindet sich im Ausland – und behauptet,
ihm sei aus dem Präsidentenamt signalisiert
worden, er solle besser dortbleiben.
Selenskyj hatte schon im Wahlkampf 2019
gegen Poroschenko verkündet, er werde den
Amtsinhaber wegen Korruption hinter Gitter
bringen, das gehörte zu seinem populistischen
Wahlprogramm. Dennoch wirkt der Zeitpunkt
des jüngsten Angriffs merkwürdig – als
scherte sich Selenskyj kein bisschen um die
Gefahren jenseits der Grenzen.
Was treibt ihn aber dann an? Selenskyj
selbst spricht von der »De-Oligarchisierung«,
also dem Kampf gegen den politischen Einfluss
weniger Reicher. Ein neues Gesetz definiert
erstmals, wer als Oligarch gilt (Kriterien
sind Einfluss auf Wirtschaft, Politik und Medien),
und sieht deren Eintragung in eine Art
Lobbyregister vor. Und Selenskyj hat neue
Instrumente entdeckt, die er gegen die Oligarchen
einsetzen kann – Sanktionen des
Nationalen Sicherheitsrats.
Manche vergleichen Selenskyjs autoritäres
Vorgehen schon mit dem des jungen Putin,
der ebenfalls Oligarchen zähmte, um seine
Macht auszubauen. Ihn imitiere Selenskyj,
behauptete dessen ehemaliger Stabschef Andrij
Bohdan. Allerdings handle es sich bloß
um eine »missglückte Parodie«.
Es gibt einen einfachen Grund dafür, dass
der Kampf gegen die Oligarchen für Selenskyj
derzeit Vorrang hat: Die Oligarchen kontrollieren
die wichtigsten TV-Kanäle der Ukraine,
und ohne das Fernsehen kann man sich als
Politiker nicht halten. Niemand weiß das besser
als Selenskyj, der aus der Welt der TV-
Unterhaltung in die Politik gekommen ist und
um sein Rating fürchtet, während ehemalige
Mitstreiter in Talkshows über ihn herziehen.
Auch Danyljuk kritisiert die Art, wie Selenskyj
sich mit den Oligarchen anlegt. Statt
das System bekämpfe der Präsident einzelne
Superreiche. Er agiere planlos und unvorhersehbar.
»Die Oligarchen bekämpfen ihn, weil
sie in ihm einen irrationalen chaotischen Jugendlichen
sehen, von dem man nicht weiß,
welchen Knopf er als nächsten drückt.«
Mitten in einer militärischen Bedrohungslage
befindet sich die Ukraine sozusagen im
Krieg mit sich selbst, kämpft der mächtigste
Politiker des Landes gegen den mächtigsten
Wirtschaftsboss und weitere Oligarchen.
Aber es gibt noch einen Grund, warum es
Selenskyj schwerfällt, sich zur Bedrohung aus
Russland zu äußern. Putin bedroht zwar Kiew,
aber er zielt auf den Westen. Moskau will mit
Washington über die Köpfe der Ukra iner hinweg
entscheiden, was mit der Ukraine geschieht.
Das Land und sein Präsident sind
nicht Subjekt, sondern Objekt. Es sei »eine
Ohrfeige« für Selenskyj gewesen, sagt Rudyk,
dass US-Präsident Joe Biden ihn erst zwei
Tage nach dem wichtigen Videogipfel mit Putin
Anfang Dezember angerufen habe, um ihn
über den Inhalt des Gesprächs zu informieren.
Am 10. Januar ist das nächste Gespräch
zwischen Biden und Putin geplant, womöglich
wieder in Genf, und gleich darauf ein
Treffen des Nato-Russland-Rates. Es wird um
die von Putin geforderten Sicherheitsgarantien
gehen. Moskau will unrealistisch viel:
den expliziten Ausschluss eines Nato-Beitritts
der Ukraine sowie ein Ende jedweder Militärkooperation
mit dem Land. Putin wünscht
sich die Ukraine sozusagen als neutralen Pufferstaat
– als hätte er nicht selbst mit der
Krim-Annexion 2014 die Mehrheit der Ukrainer
in die Arme des Westens gestoßen. Einer
Umfrage von Mitte Dezember zufolge sind
mittlerweile fast 60 Prozent der Ukrainer für
einen Nato-Beitritt.
Der von Moskau angestrebte große Deal
mit Washington ist höchst unwahrscheinlich.
Gerade erst hat der US-Senat Militärhilfe an
die Ukraine in Höhe von 300 Millionen Dollar
für das kommende Jahr gebilligt – dafür
bekäme man theoretisch rund 20 Panzer vom
Typ »Leopard 2«. Umgekehrt erwägt Russland
die Stationierung von Atomwaffen in Belarus,
einem direkten Nachbarstaat der EU und der
Nato. Dessen Diktator Alexander Lukaschenko
will offenbar einen Passus aus der Verfassung
entfernen, der sie verhindern könnte.
In der Ukraine fühlen sich derzeit viele wie
Spielfiguren in einem fremden Spiel. In Kiew
immerhin entwirft Bürgermeister Vitali
Klitschko schon Notfallpläne, es werden Luftschutzbunker
ausfindig gemacht und ein Stab
für die Territorialverteidigungskräfte eingerichtet,
eine Freiwilligentruppe. Vermutlich
werden die Bunker nicht gebraucht, aber es
ist immerhin ein Versuch, vom Objekt wieder
zum Subjekt zu werden. Und auch das westliche
Ausland soll sehen können, dass die
Ukrainer selbst etwas unternehmen, sagt Rudyk.
»Derzeit sitzen wir nämlich bloß da wie
ein Schüler, der mit seiner Mutter zum Schuldirektor
gerufen wurde und der schweigend
zuhört, wie die darüber reden, warum er seine
Hausarbeiten nicht gemacht hat.«
Christian Esch
n
Sergey Dolzhenko / epa
Nr. 1 / 30.12.2021
DER SPIEGEL
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