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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Erschütterndes Leid

NR. 26/2021 »Tötet sie« –

Afrikakorrespondent Fritz

Schaap traf Frauen aus der

Kriegsregion Tigray, ihre

Erzählungen und Erlebnisse

wird er nicht vergessen.

Es war eine Reise in eine Region

der Angst, voller Geschichten,

die uns Frauen in stickigen

Zimmern, an versteckten Orten

mit leisen, tränenerstickten

Stimmen erzählten. Geschichten

von Vergewaltigungen, so

grausam, dass auch ich keines

der Interviews ohne Tränen in

den Augen beendete. Die Frauen

erzählten, wie ihnen heiße

Eisenstäbe eingeführt wurden,

wie ganze Gruppen von Soldaten

über sie herfielen. Man

wolle ihre Blutlinie reinigen,

wurde ihnen gesagt. Eine Frau

konnte nicht mehr liegen vor

Schmerzen. »Ich brauche Hilfe«,

flehte sie uns an. Krankenschwestern

erzählten von Familien,

die gezwungen wurden zuzusehen,

während ihre Töchter

vergewaltigt wurden.

Die Uno ging im April von

mindestens 22 500 solcher Fälle

»You have to leave!«

NR. 45/2021 »Der gefährlichste

Rentner der Welt« – USA-Korrespondent

René Pfister ist bemüht,

Politik mit professioneller

Distanz zu betrachten. Bei einer

Kundgebung von Trump-Fans

aber war er mittendrin.

Dass ich auffiel, merkte ich

nach den ersten Schritten. Ich

trug ein weißes Hemd und Sakko

und setzte mich direkt vor

die Bühne – zwischen Männer,

die T-Shirts trugen, auf denen

stand: »Don’t blame me, I voted

for Trump«. Seit ich im Sommer

2019 in die USA kam, habe ich

Dutzende Veranstaltungen von

Trump-Fans besucht, nie habe

ich um meine Sicherheit gefürchtet.

Aber diese hier in Tampa,

Florida, war anders. Sie hieß

»Reopen America« und war

eine Art Open-Air-Gottesdienst

für Menschen, die glauben, dass

Trump der Wahlsieg gestohlen

worden ist. Journalisten durften

nicht hinein, weswegen ich mir

für 250 Dollar ein Ticket kaufte.

Neben mir saßen blonde Zwillinge,

um die 40, sie trugen Minikleider

in Stars-and-Stripes-

aus. Es sind monströse Zahlen,

hinter denen erschütterndes

Leid steht. All diese Menschen

können wir seit unserer Abreise

nicht mehr erreichen. Denn die

äthiopische Regierung hält eine

De-facto-Blockade von Tigray

aufrecht, und weder Telefonnoch

In ternetdienste funktionieren.

Nachdem tigrayische

Soldaten Zentral- und Osttigray

zurückerobert und die eritreischen

Truppen sich weitgehend

zurückzogen haben, gingen die

Berichte über Misshandlungen

zurück. Dass die Opfer ausreichend

behandelt werden, ist unwahrscheinlich.

Die medizinische

Infrastruktur in Tigray ist

zerstört. »Ich weiß nicht, was

die Zukunft bringen wird. Ich

sehe nur Hunger und Tod«, sagte

uns eine der Frauen. ​

Betende Frau in

Mekelle, Tigray

Optik. Wir plauderten, bis eine

der Schwestern fragte, ob ich

ein Fan »unseres Präsidenten«

sei. Sie meinte Trump, nicht Joe

Biden. »I’m not so sure about

that«, antwortete ich.

Daraufhin schlug die Stimmung

um. »I don’t want to sit

next to you! You have to leave!«,

kreischte die Frau. Als die Zuschauer

hinter mir begannen,

gegen meinen Stuhl zu treten,

blieb mir nichts anderes übrig,

als mich unter dem Gejohle der

Menge nach hinten zu verziehen.

Dann führte mich ein

Wachmann mit Sturmgewehr

zur Veranstaltungsmanagerin.

Sie fragte, ob ich Journalist sei.

Ich antwortete, dass sie dies

nichts angehe. Sie könne mich

nicht zwingen, sagte sie, aber

ihr Rat sei, schnell zu verschwinden

– was ich tat. Es war

das erste Mal, dass ich am eigenen

Leib spürte, wie es ist,

einem aufgepeitschten Mob gegenüberzustehen.

Ich war nicht

ernsthaft in Gefahr. Aber man

blickt anders auf Trump und

seine Fans, wenn man erlebt, wie

dünn der Firnis der Zivilisation

bei ihnen ist.

Daniel Etter / DER SPIEGEL

Tee und Torte

Der Pfau, er lebt

NR. 24/2021 »Die mutigen

Frauen von Minsk« – Knapp

1000 politische Gefangene

sitzen in Belarus in Haft. Korrespondentin

Christina Hebel

traf Frauen, die dennoch gegen

Machthaber Lukaschenko

protestieren.

Es ist schon spät an einem

Novemberabend in Minsk,

als Olesja fragt: »Nimmt man

uns in Deutschland überhaupt

noch wahr?« Ich bin gerade zurückgekommen

aus dem Grenzgebiet

nahe Grodno, wo ich mit

Flüchtlingen gesprochen habe.

Diktator Alexander Lukaschenko

hatte sie zu Tausenden mit

Touristenvisa ins Land locken

und an die Grenze schaffen lassen,

um Druck auf die EU auszuüben.

Nun hat Polen die

Grenze dichtgemacht.

Ich weiß nicht recht, was ich

antworten soll. Seit Monaten

habe ich das Gefühl, dass wir

Journalistinnen und Journalisten

nicht mehr hinterherkommen

bei den immer düster werdenden

Nachrichten aus Belarus

über Festnahmen von Regimekritikern.

Ich hatte Olesja und vier weitere

Aktivistinnen im Juni das

erste Mal getroffen. Damals

führten sie mich in ein verlassenes

Waldstück, wo wir unentdeckt

waren, und erzählten von

ihrem Protest. Sie sehen müder

aus als im Sommer, viele ihrer

Freunde sind ins Exil gegangen.

»Noch hat Lukaschenko uns

nicht zu Flüchtlingen gemacht,

wir bleiben«, ruft eine, die anderen

lachen. Es ist trotz allem

eine fröhliche Runde in dieser

Nacht, bei Torte und Tee. Sie

schenken mir eine schwarze

Tasse, die sich durch die Wärme

verfärbt. Zum Vorschein kommt

das Emblem der Opposition:

ein Reiter mit Schwert auf weißrot-weißem

Grund. Eine Partisanen-Sonderanfertigung.

Ich

solle sie nicht vergessen, bitten

die Frauen zum Abschied.

NR. 36/2021 »Das Wunder

von Yunnan« – Korrespondent

Georg Fahrion über einen

unerschrockenen Studenten, der

den Bau eines Staudamms in

China verhinderte

In China liegt die wahre Geschichte

oft ganz anders, als es

zunächst den Anschein hat.

Beim Grünen Pfau lauteten die

Meldungen etwa so: Aktivisten

klagen gegen Umweltzerstörung,

die Gerichte geben ihnen

recht, die Baufirma muss den

Staudamm einstampfen – ein

Beleg dafür, dass der chinesische

Rechtsstaat funktioniert.

Dass sich hinter dieser Oberfläche

aber eine ganz andere

Dynamik vollzogen hat, nämlich

offenbar der oberste Pekinger

Machtzirkel zugunsten des

Artenschutzes intervenierte,

erfuhren wir erst durch unsere

Recherchen vor Ort.

In anderen Ländern sind solche

Erkenntnisse Journalistenalltag,

in der Volksrepublik sind

sie ein Ausnahmefall. Denn viele

Chinesen vermeiden es, mit ausländischen

Journalisten zu reden.

Im Ranking der Pressefreiheit

liegt das Land auf Platz 177

von 180. Der Druck der Kommunistischen

Partei auf Gesprächspartner

ist seit dem Beginn

der Pandemie noch gestiegen.

Umso mehr freuten wir uns,

dass sich der Held der Geschichte

davon nicht einschüchtern

ließ. Gu Bojian entschloss sich,

mit uns durch Yunnan zu reisen,

an die Stätten seines Kampfes.

Ob er das Auto bemerkt hat, das

uns folgte, weiß ich nicht. Konsequenzen

hatte seine Redebereitschaft

für ihn nicht.

Gu schreibt in Shanghai seine

Doktorarbeit, die sich mit Schutzmaßnahmen

für den Grünen

Pfau befasst. Mittels Videokameras

beobachtet er die Vögel,

im Frühjahr sah er sogar ein frisch

geschlüpftes Pfauenküken.

Fahrion, Gu

Gilles Sabrie / DER SPIEGEL

Nr. 1 / 30.12.2021 DER SPIEGEL

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