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DER_SPIEGEL_30.12.21

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha- nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan- cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

n Politik und Gesellschaft stehen die Zeichen zum Jahresbeginn 2022 auf Neuanfang, und fürviele
gilt das auch im eigenen Leben. Ein Team um Titelautorin Susanne Beyer hat sich mit den Mecha-
nismen des Neustarts beschäftigt, mit den Risiken, Dramen, Schwierigkeiten, aber auch den Chan-
cen. Die Redakteurinnen und Redakteure beschreiben jene kulturellen Einflüsse, die den Blick auf
Anfänge prägen, und stellen Menschen vor, die den Neuanfang wagten und es nicht bereuen. Und
Barbara Hardinghaus traf auf der kanarischen Insel La Palma drei Frauen aus Deutschland, die sich
dort unabhängig voneinander ein neues Leben aufgebaut hatten – dann brach der Vulkan aus.

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Abgezähltes Lob

SPIEGEL.DE AM 10. SEPTEMBER

»Nichts zu lachen« – Redakteurin

Anna Clauß berichtete von

ei nem CSU-Parteitag kurz vor

der Bundestagswahl und überhörte

ein wichtiges Detail in

der Rede von CSU-Chef Markus

Söder.

Zwei Wochen vor der Bundestagswahl

sah es nicht gut aus

für die Union. Ein CSU-Parteitag

in der Nürnberger Messehalle

sollte den Kampfgeist der Parteimitglieder

wecken und Geschlossenheit

von CDU und CSU

demonstrieren. Am Freitagabend

um 22 Uhr erschien meine Zusammenfassung

des ersten von

zwei Parteitagstagen online.

Im Vorspann hieß es: »Mit Witzen

über die Frisuren der Grünen

und übers Gendern versucht

Markus Söder auf dem CSU-Parteitag

in Nürnberg, den Abwärtstrend

der Union zu stoppen.

Armin Laschet? Den erwähnt er

nur ein einziges Mal.«

Am Samstag um acht Uhr

weckte mich die SMS eines

CSU-Pressesprechers: »Es

stimmt einfach nicht, was Sie da

schreiben.« Was genau nicht

stimmte, teilte er mir nicht mit.

Dass etwas nicht stimmen konnte,

signalisierte mir auch ein TV-

Interview mit Markus Söder, in

dem er einer »Autorin«, bei der

es sich nur um mich handeln

konnte, »Fake News«-Verbreitung

vorwarf. Die Pressestelle

der CSU kontaktierte sogar die

SPIEGEL-Chefredaktion.

Der Grund für die Aufregung?

Markus Söder hatte Armin

Laschet in seiner 70-minütigen

Rede nicht nur zu Beginn

erwähnt, als er in die Halle rief:

»Für alle Journalisten zum Mitschreiben:

Wir wollen Armin

Clauß auf Wahlkampfabschlussveranstaltung

der CSU

Laschet als Kanzler.« Auch in

der 58. Minute hatte Söder Laschets

Vor- und Nachnamen

zweimal untergebracht. Offenbar

genau in dem Zeitfenster,

das ich für einen kurzen Gang

auf die Toilette im Kellergeschoss

der Messeanlage nutzte,

hatte Söder darum gebeten,

»Armin Laschet morgen einen

tollen Empfang« zu bereiten.

Gefolgt von den Worten: »Wir

stehen zu 100 Prozent hinter

unserem Kanzlerkandidaten

und wollen Armin Laschet im

Kanzleramt sehen.«

Faktenfehler werden beim

SPIEGEL online umgehend berichtigt,

das ist unser Anspruch.

Allerdings hielt ich die Einwände

der CSU für etwas kleinlich.

Kursive Anmerkungen am

Ende unserer Artikel machen

nachträgliche Änderungen für

Leser transparent. Unter meinem

Parteitagsbericht steht

nun: »In einer früheren Fassung

des Textes hieß es, Markus Söder

habe Armin Laschet in seiner

Rede nur ein einziges Mal erwähnt.

Tatsächlich hat er ihn

mindestens ein weiteres Mal erwähnt.

Wir haben die entsprechenden

Textstellen korrigiert.«

Haben die Medien und ich

durch meinen fehlerhaften Artikel

das schwierige Verhältnis

zwischen Markus Söder und

Armin Laschet womöglich zerrütteter

erscheinen lassen, als es

in Wahrheit war? Ein funktionierendes

Team waren sie

jedenfalls nicht. Lobende Worte,

die Söder für Laschet bei öffentlichen

Auftritten gefunden

haben mag, wirkten so schwach

dosiert, dass sie mich selten

überzeugten. Die verkorkste

Kandidatenkür der Union war

ein Grund für ihre Niederlage

bei der Bundestagswahl.

Privat

Irre Thesen

SPIEGEL-MORGEN-NEWSLETTER

VOM 8. MAI »Kein Scholz-Zug,

nirgends« – Markus Feldenkirchen,

Autor im Hauptstadt büro,

war sich sicher, dass Olaf Scholz

niemals Bundeskanzler werden

würde.

Journalisten wie ich, die nicht

in Delphi geboren wurden, taugen

nicht als Orakel. Das hat

mir das zurückliegende Wahljahr

endgültig gezeigt – vor allem

der Fall oder besser: der

Aufstieg eines gewissen Olaf

Scholz, dem weder ich noch das

Gros meiner Kollegen eine

Chance aufs Kanzleramt attestiert

hatten. Herzlichen Glückwunsch.

Seit dem 8. Dezember

ist Olaf Scholz Kanzler.

Seit dieser Bundestagswahl

habe ich mir vorgenommen,

künftig allenfalls noch Prognosen

über den Ausgang von Spielen

der Fußballbundesliga abzugeben.

Da glaube ich wenigstens,

mich auszukennen.

Bis zum Sommer des zu Ende

gehenden Jahres habe ich keinen

Pfifferling auf Olaf Scholz

gesetzt. Auf allen Kanälen, die

mir zur Verfügung stehen, habe

ich mit ernster Miene und innerer

Überzeugung erklärt, dass

Verbundenheit,

stärker als die Flut

SPIEGEL.DE AM 22. JULI »Mit

dem Wissen von heute hätten wir

evakuieren müssen« – Redakteur

Hubert Gude erlebte in Mayschoß

an der Ahr eine bemerkenswerte

Gemeinschaft.

Im Juli fuhr ich über eine

holprige Piste durch einen Wald

nach Mayschoß in der Eifel.

Das war der einzige Weg hinunter

in ein Dorf, von dem zum

großen Teil nur Trümmer übrig

geblieben waren. Ein paar

Tage zuvor hatte das Hochwasser

den rund 900 Bewohnern

die Bundesstraße, die Bahngleise,

den Strom und sogar das

Trinkwasser geraubt. Fünf Menschen

ertranken, kaum ein Haus

an der Ahr war heil geblieben.

Als ich durch die schlammbedeckten

Straßen stapfte,

wunderte ich mich bald über

diese Mayschoßer. Ich hörte

kaum Wehklagen. Leute, deren

Häuser heil geblieben waren,

kamen mit Schaufeln. Winzer

die Sache für Scholz gelaufen

sei. Dass seine Partei, die SPD,

einfach unten durch sei. Und

dass auch er, Scholz, nie und

nimmer das entscheidende Momentum

erzeugen könne.

Diese These vertrat ich in

SPIEGEL-Artikeln, in Kolumnen,

im Morgen-Newsletter, im

SPIEGEL-Leitartikel, im Gespräch

mit Freunden und in der

Talkshow von Markus Lanz.

Wir Journalisten in Berlin,

die von den Kollegen gern als

politische Beobachter befragt

werden, vertrauen in Wahrheit

viel zu selten unseren eigenen

Beobachtungen, sondern bauen

zu oft auf die vermeintlichen Erkenntnisse

irgendwelcher Umfrage-Klitschen.

Wenn ich selbst

bei solchen Befragungen mitmache,

behaupte ich meist, eine

AfD-wählende 95-jährige Frau

aus dem Allgäu zu sein. Ich habe

keine Ahnung, ob die solche

Manöver durchschauen und

trotzdem wissen, was ich wirklich

wählen würde.

Die Bundestagswahl 2021 ist

mir jedenfalls eine Lehre. Ich

halte fortan alles für möglich,

was theoretisch denkbar ist.

Selbst so irre Thesen wie die,

dass Olaf Scholz einmal Bundeskanzler

wird.

brachten Traktoren und Stromgeneratoren.

Alle packten an.

»Wie geht de Mam?«, fragte ein

Nachbar einen Mann, dessen

betagte Mutter nach der Katastrophe

ins Krankenhaus musste.

»Hier wartet keiner auf Hilfe

von außen«, sagte eine Frau, die

eine Notfallapotheke aufgebaut

hatte. »Wir Mayschoßer sind

für unseren Zusammenhalt bekannt.«

Abends saßen die Leute

aus dem Dorf, von der Freiwilligen

Feuerwehr und die Winzer

auf der Straße bei einem Bier

zusammen.

Diese Dorfgemeinschaft hat

mich beeindruckt und auch ein

wenig beschämt. Ich habe eine

tolle Familie und enge Freunde.

Aber als leidenschaftlicher

Großstädter mag ich es auch, in

die Anonymität der Masse einzutauchen.

Bei allem Mitgefühl

wegen der Zerstörung, die das

Hochwasser bei ihnen angerichtet

hat, habe ich die Menschen

in Mayschoß insgeheim beneidet.

Für eine Verbundenheit, die

keine Flut ihnen nehmen kann.

Nr. 1 / 30.12.2021

DER SPIEGEL

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