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48 FeinSinn<br />
<strong>Die</strong> Kunst des Überlebens<br />
„Mal sehen.“ dachte er sich. Dann nahm er die Schraube<br />
und drehte sie langsam in das dazugehörige Loch.<br />
Sie passte genau. Es gab zwar ein paar knirschende<br />
Geräusche, während er so drehte, aber sie passte.<br />
Sofort ging er ein paar Schritte zurück, um sein fertiges<br />
Werk zu betrachten. Es sah nicht nach dem aus was es<br />
hatte werden sollen, aber es sah nach etwas aus. Und das<br />
war schließlich die Hauptsache. Er nahm es in die Hand<br />
und drehte es vorsichtig. Sein Lebenswerk. 84 Jahre harte<br />
Arbeit und nun war es vollbracht. Es hatte Ecken, Kanten<br />
und Löcher. War weder rund noch eckig, weder glatt noch<br />
rau. 84 Jahre lang war es. Und hier schloss sich der Kreis.<br />
<strong>Die</strong> letzte Schraube verband Anfang und Ende.<br />
Alles in allem war es ordentlich, was er geleistet hatte.<br />
Na gut, die Teile der letzten Jahre waren nicht mehr so<br />
spannend und schön, wie die zuvor. Aber jedem Künstler<br />
gingen irgendwann einmal die Ideen aus. Und war nicht<br />
jeder Mensch ein Künstler oder jeder Mensch sollte dies<br />
wenigstens nachvollziehen können? Oder sogar mithelfen?<br />
Ein Lebenswerk sollte nie allein geschaffen werden.<br />
Er sah sich alles noch mal an. <strong>Die</strong> Kindheit. Größtenteils<br />
glücklich, in vielen Farben, zu Beginn noch völlig willkürlich<br />
gestaltet, dann irgendwann immer bewusster, zielstrebiger.<br />
<strong>Die</strong> Schule, vormittags Tristesse, nachmittags vor allem<br />
das Fußballtraining. Farbübergänge und Variationen<br />
der Pubertät, die vor Geschmacklosigkeit kaum zu<br />
überbieten waren. <strong>Die</strong> Knieverletzung, die ihn seine<br />
vielversprechenden Anfänge hatte aufgeben lassen,<br />
war <strong>als</strong> blutiger Riss zu sehen. Der Schulabschluss, die<br />
Ausbildung, beides eher graue Felder, die vernachlässigt<br />
worden waren.<br />
Da waren die Einflüsse von Beate gewesen. Das sah man<br />
ganz deutlich. <strong>Die</strong> kleinen Wellen, die Auf und Ab`s, die<br />
sie verursacht hatte. <strong>Die</strong> glücklichen Zeiten, wenn sie<br />
an irgendwelchen Seen lagen und die schlechten, kurz<br />
nachdem sie das Kind abgetrieben hatten, dass ihnen in<br />
ihr junges Leben springen wollte. Seinen ungeborenen<br />
Sohn fand er immer wieder in seinem Lebenswerk, eine<br />
dünne, schwarze Linie, die sich durchzog. Von Beate<br />
trennte er sich kurz nach der Abreibung. Monatelang war<br />
ihm nichts anderes eingefallen <strong>als</strong> etwas kantiges, raues<br />
mit großen Lagen darüber zu kleben, alles zu vertuschen.<br />
Aber dadurch sah man es nur noch deutlicher. Trotzdem<br />
war immer diese kleine, bunte Unternote, die Holger, sein<br />
bester Freund dam<strong>als</strong>, seinem Werk verliehen hatte, da.<br />
Sie zog sich durch all die Jahre der Arbeit hindurch.<br />
Arbeit, ja Arbeit, das war auch ein Punkt. Als Friseur hatte<br />
er angefangen. Das sah man. Am Anfang hatte er alles<br />
ganz dünn geschnitten. Er hatte vor Kreativität gesprüht.<br />
Dann hatte er sich verselbstständig, genau wie sein<br />
Werk. Das sah man auch. Es war erwachsener geworden,<br />
vernünftiger, bodenständiger, aber auch ängstlicher.<br />
Den gewaltigsten Einschnitt hatte jedoch Marie verursacht.<br />
Eine große Kerbe war in seiner Arbeit zu sehen. So<br />
deutlich wie nichts anders. <strong>Die</strong> wahre, die große Liebe.<br />
Dann sah man ihre erste Nacht zusammen, die Verlobung,<br />
den Hochzeitstag. Glückliche Kunst. Das war alles schon<br />
so lange her. Da war die Arbeit gerade mal 34 Jahre alt<br />
gewesen. Bist Mitte 50 war sie ruhiger geworden. Oft nur<br />
alltägliche, langweilige Stellen. Und trotzdem war es immer<br />
spannend. <strong>Die</strong> einzelnen, besonderen Tage, die bunt<br />
hervor stachen und mit Erinnerungen winkten.<br />
Voller Bewunderung strich er noch einmal über das<br />
Gemisch verschiedener Holz- und Metallarten. Über das<br />
Plastik, den Stoff, das Styropor und die Tapete. Dann<br />
schloss er die Augen. Als er sie wieder öffnete, fand er<br />
sich in seinem Bett wieder. Marie war über ihn gebeugt.<br />
Sie strich ihm durchs Haar. „Bald hast du es geschafft,<br />
Liebster.“ flüsterte sie in sein Ohr. „Ich weiß“, sagte er.<br />
„Es ist fertig. <strong>Die</strong> letzte Schraube hat gepasst.“<br />
Simeon Buß / Bild von Maiko Henning<br />
FeinSinn 49