Garten+Landschaft 3/2022
Schulhöfe
Schulhöfe
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MÄRZ <strong>2022</strong><br />
MAGAZIN FÜR LANDSCHAFTSARCHITEKTUR<br />
UND STADTPLANUNG<br />
SCHULE HEUTE:<br />
WENIGER GRENZEN,<br />
MEHR ABENTEUER!<br />
mit Projekten von<br />
Atelier LOIDL, hochC,<br />
Keller Damm Kollegen,<br />
Nomaji, TERRA.NOVA<br />
und TOPOTEK 1
EDITORIAL<br />
Die Stadt München möchte künftig mindestens zwei Schulhöfe (in<br />
der Innenstadt drei) pro Stadtbezirk an Nachmittagen, Wochenenden<br />
und Ferien für weitere Nutzer*innen öffnen. Das meldete die<br />
Süddeutsche Zeitung Ende dieses Januars. Ähnliches ließ der<br />
Kölner Stadtanzeiger für die Stadt Köln im November 2021<br />
verlauten und Sächsische.de im September 2020 für den Dresdner<br />
Stadtteil Striesen. Wirklich durchgesetzt hat sich die Idee aber<br />
bislang noch nicht. Kommunen und Schulen fürchten Vandalismus<br />
und schützen ihre Schulhöfe wie die Gartenzwerge: mit Zäunen<br />
und Videoüberwachung.<br />
Die Schule am See im österreichischen<br />
Hard von Baumschlager Hutter Partners<br />
und TERRA.NOVA wurde 2021 mit dem<br />
Deutschen Landschaftsarchitektur-Preis<br />
ausgezeichnet. Die Schulhofgestaltung<br />
definiert sich durch drei Innenhöfe.<br />
Auf unserem Cover zu sehen: der<br />
Hof „Wasser“.<br />
Sollte es nun in München tatsächlich so kommen – sollten Schulhöfe<br />
demnächst wirklich als Freizeiträume außerhalb der Schulzeiten<br />
von der breiten Stadtgesellschaft genutzt werden können,<br />
dann hätte die bayerische Landeshauptstadt definitiv einen sehr viel<br />
glücklicheren Landschaftsarchitekten mehr. Die Rede ist hier von<br />
Peter Wich, Gründer von TERRA.NOVA.<br />
„Mit dem Münchner Baureferat diskutieren wir seit Jahren die<br />
Themen rund um Grenzen, Zäune, Öffnung des öffentlichen Raumes<br />
von Schul höfen. Wir kommen aber keinen Millimeter weiter“, sagt<br />
Peter Wich uns im Gespräch Anfang Januar. Zäune und Grenzen<br />
seien alles andere als zukunftsweisend, so der Landschaftsarchitekt.<br />
Eine Schule müsse in Städtebau und Nutzung in ihr Umfeld<br />
eingewebt werden, stimmt ihm sein Kollege Carlo Baumschlager<br />
vom Architekturbüro Baumschlager Hutter Partners zu.<br />
Und die zwei müssen es wissen, oder? Zusammen setzten die Büros<br />
TERRA.NOVA und Baumschlager Hutter Partners das Ausnahmeprojekt<br />
„SCHULE AM SEE“ im österreichischen Hard um. Das Projekt<br />
wird als „Schule der Zukunft“ bezeichnet und wurde 2021 mit dem<br />
Deutschen Landschaftsarchitektur-Preis ausgezeichnet.<br />
Mehr zu dem Projekt<br />
im Aufmacherartikel<br />
ab Seite 12<br />
Die Projekte sind<br />
in Berlin, Köln,<br />
München und<br />
Sipoo, Finnland,<br />
entstanden.<br />
Nicht weniger als das ist aber auch das Thema der vorliegenden<br />
Ausgabe: die Schule der Zukunft und was es für ihre Gestaltung<br />
braucht. Gemeinsam mit Peter Wich und Carlo Baumschlager, aber<br />
auch mit Beispielen von ATELIER LOIDL, HOCHC, KELLER DAMM<br />
KOLLEGEN, NOMAJI LANDSCAPE ARCHITECTS UND TOPOTEK 1 stellen<br />
wir aktuelle Projekte moderner Schulhofgestaltung zur Diskussion.<br />
Was wir dabei lernen durften? Dass unsere These, Schulhöfe seien<br />
ähnlich wie Stadträume in den vergangenen Jahren viel komplexer<br />
geworden, so nicht ganz funktioniert – und dass an der CLUSTER-<br />
SCHULE künftig kein*e Planer*in mehr vorbeikommt. Wieso dem so<br />
ist, lesen Sie auf den folgenden Seiten. Wir wünschen viel Spaß!<br />
Mehr zur Clusterschule<br />
auch bei den<br />
Kolleg*innen von<br />
TOPOTEK 1<br />
(Seite 30).<br />
THERESA RAMISCH<br />
CHEFREDAKTION<br />
t.ramisch@georg-media.de<br />
Coverbild: Boris Storz<br />
3<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
INHALT<br />
AKTUELLES<br />
06 SNAPSHOTS<br />
11 MOMENTAUFNAHME<br />
„Ex it“ von Yoko Ono<br />
SCHULHÖFE<br />
Schule heute: weniger Grenzen, mehr Abenteuer!<br />
12 WAS DIE SCHULE DER ZUKUNFT KÖNNEN MUSS<br />
Theresa Ramisch sprach mit Baumschlager Hutter Partners und<br />
TERRA.NOVA über ihr Erfolgsprojekt „Schule am See“<br />
16 MEINE SCHULE, MEIN PARK, MEIN STADTTEIL<br />
Zum Projekt Bildungscampus Freiham von Keller Damm Kollegen<br />
22 EIN PAUSENHOF MACHT SCHULE<br />
Claus Herrmann über sein Projekt Grundschule Berlin-Mahlsdorf<br />
28 FORM FOLLOWS KIDS’ FICTION<br />
Kommentar von Susanne Hofmann, Die Baupiloten<br />
30 DIE HOHE SCHULE DER STADT<br />
Zur neuen Bildungslandschaft in der Kölner Innenstadt von TOPOTEK 1<br />
36 PATCHWORK AUS SPORT, KUNST UND NATUR<br />
Nomaji Landscape Architects aus Finnland stellen ihr<br />
Projekt Sipoonlahti-Schule vor<br />
40 „PAUSEN UND BEWEGUNG GEHÖREN ZUM LERNEN“<br />
Gespräch mit Dr. Michaela Sambanis, Neurowissenschaftlerin und<br />
Professorin an der Freien Universität Berlin<br />
44 VON SPIELTRIEB UND DIN-NORMEN<br />
Zum Projekt Europäische Schule in München von Atelier LOIDL<br />
STUDIO<br />
50 LÖSUNGEN<br />
In Bewegung – Spielgeräte<br />
58 PRAXIS<br />
Absolutes No-Go:<br />
ein Schulhof, der unterfordert<br />
RUBRIKEN<br />
61 Impressum<br />
61 Lieferquellen<br />
62 Stellenmarkt<br />
64 DGGL<br />
66 Sichtachse<br />
66 Vorschau<br />
Herausgeber:<br />
Deutsche Gesellschaft<br />
für Gartenkunst und<br />
Landschaftskultur e.V.<br />
(DGGL)<br />
Pariser Platz 6<br />
Allianz Forum<br />
10117 Berlin-Mitte<br />
www.dggl.org<br />
5<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
AUTORIN<br />
Theresa Ramisch<br />
studierte Stadtplanung<br />
in Erfurt und München<br />
mit Schwerpunkt auf<br />
Öffentlichkeitsbeteiligung<br />
und<br />
Kommunikation. Sie ist<br />
seit 2016 Redakteurin<br />
bei Georg Media und<br />
seit Januar 2021<br />
Chefredakteurin<br />
der G+L.<br />
WAS DIE<br />
SCHULE DER<br />
ZUKUNFT<br />
KÖNNEN<br />
MUSS<br />
In dem vorliegenden Heft stellen wir die These auf, dass ähnlich<br />
wie unsere Stadträume auch die Gestaltung von Schulen komplexer<br />
geworden ist. Spannend: Carlo Baumschlager von Baumschlager Hutter<br />
Partners und Peter Wich von TERRA.NOVA können das nicht bestätigen.<br />
Sie haben gemeinsam das Erfolgsprojekt „Schule am See“ im österreichischen<br />
Hard umgesetzt. Warum die These so nicht funktioniert, was<br />
ihrer Meinung nach ein erfolgreiches Schulprojekt ausmacht und welche<br />
Rolle hierbei der Typus der Clusterschule spielt, lesen Sie hier.<br />
THERESA RAMISCH<br />
INTERVIEWPARTNER<br />
Carlo Baumschlager<br />
gründete 2010<br />
gemeinsam mit Jesco<br />
Hutter das Architekturbüro<br />
Baumschlager<br />
Hutter Partners mit<br />
zwei Standorten in<br />
Dornbirn, Österreich,<br />
und Widnau, Schweiz.<br />
Mittlerweile unterhält<br />
Baumschlager Hutter<br />
Partners sechs<br />
Standorte in Dornbirn<br />
und Wien in Österreich,<br />
München in Deutschland,<br />
Heerbrugg,<br />
St. Gallen und Zürich<br />
in der Schweiz.<br />
Peter Wich studierte an<br />
der TU Berlin<br />
Landschafts planung<br />
und war anschließend<br />
für Gottfried und Anton<br />
Hansjakob Landschaftsarchitekten<br />
in München<br />
und Rainer Schmidt<br />
Landschaftsarchitekten<br />
und Stadtplaner in<br />
Berlin tätig. Peter Wich<br />
gründete 2000 das<br />
Landschaftsarchitekturbüro<br />
TERRA.NOVA<br />
in München.<br />
12<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
ARTIKEL ZUM TITELTHEMA<br />
Alle Fotos: Boris Storz<br />
Eine „Schule der Zukunft“ soll die Schule am See sein. Das<br />
wundert kaum, wenn man den Erfolg betrachtet, den das 2018<br />
fertig gestellte Schulbauprojekt von Baumschlager Hutter Partners<br />
und TERRA.NOVA bislang einheimsen konnte. Der Neubau nahm<br />
nicht nur den Deutschen Landschaftsarchitektur-Preis 2021 in der<br />
Kategorie „Sport, Spiel, Bewegung“ mit nach Hause, sondern erhielt<br />
zudem eine Nominierung beim österreichischen Staatspreis Architektur<br />
und Nachhaltigkeit 2019. Fragt man die zuständigen Planer Carlo<br />
Baumschlager und Peter Wich nach dem Erfolgsrezept des Projektes,<br />
dann findet sich das im Schulmodell der Voralberger Schule selbst. Der<br />
Typus der Cluster schule sei in Österreich und Deutschland noch<br />
selten, würde nun aber langsam mehr und mehr überzeugen, so<br />
Baumschlager im Gespräch mit G+L. Eine kurze Google-Recherche<br />
bestätigt das: Auf den ersten Blick findet man zur Clusterschule im<br />
Netz echt wenig. Man muss ein wenig graben – und das, obgleich<br />
Skandinavien und die Niederlande seit über zehn Jahren auf diese<br />
offenen Lernlandschaften setzen.<br />
CLUSTERSCHULE: EIN DREIECK ZWISCHEN<br />
SCHÜLER*INNEN, LEHRER*INNEN UND HAUS<br />
In einem interessanten Gespräch mit baunetz im Jahr 2019 definiert<br />
Barbara Pampe, Leiterin des Projektbereichs Pädagogische Architektur<br />
bei der Montag Stiftung Jugend und Gesellschaft, die Clusterschule als<br />
ein architektonisches Konzept, das aus der Pädagogik entstamme. In<br />
einer Clusterschule fasse man sowohl räumlich wie auch pädagogisch<br />
einzelne Einheiten zu einem größeren Bereich zusammen. Für eine<br />
Clusterschule bedeute dies, dass hier Lern- und Unterrichtsräume mit<br />
den zugehörigen Differenzierungs-, Aufenthalts- und Erholungsbereichen<br />
zu einer identifizierbaren Einheit zusammengefasst werden.<br />
Team-, Sanitär- und Lageräume sowie Garderoben müssten dabei<br />
ebenso mitgedacht werden, so Pampe. Es sei wichtig zu verstehen, dass<br />
hinter dieser architektonischen Idee ein klassenübergreifendes<br />
Organisationskonzept stehe. Das Cluster ermögliche pädagogische<br />
Flexibilität beim Wechsel der Lernformen und schaffe räumliche<br />
Synergien. Die Herausforderungen der Clusterschule im<br />
pädagogischen Alltag beständen darin, dass man immer als Team<br />
arbeiten müsse. Lehrer*innen seien als nicht mehr nur für eine<br />
Klasse zuständig, sondern Teil einer größeren Einheit, die sich auch<br />
organisatorisch abbilden müsse. Es gäbe in der Clusterschule keine<br />
Klassenlehrer*innen mehr. Hier lehre ein Team aus Lehrer*innen eine<br />
Gruppe von mehreren Klassen zusammen.<br />
Für Carlo Baumschlager definiert sich der Typus der Clusterschule<br />
zudem aus einem Dreieck zwischen Schüler*innen, Lehrer*innen und<br />
Haus: „In diesem Dreieck lernen die Schüler von den Lehrern, die<br />
Schüler von sich untereinander, und außerdem lernen Schüler und<br />
Lehrer gemeinsam vom Haus, der Architektur um sie herum.“<br />
FÜR EINE ZUKUNFT, DIE WIR NOCH NICHT KENNEN<br />
So viel zur Theorie. In der Praxis geht es laut Carlo Baumschlager um<br />
eine maximale Flexibilität der Schulbauarchitektur. Die Clusterschule<br />
und die pädagogische Form geben gemeinsam vor, dass es in der<br />
Schule selbst keine einzelnen Räume oder Klassenzimmer mehr im<br />
ursprünglichen Sinne gibt, sondern dass Lehrer*innen und<br />
Schüler*innen in der offenen Raumgestaltung als Teams funktionieren.<br />
„Der Fokus in der Clusterschule ist ein anderer, neuer. Jeden Morgen<br />
wird hier besprochen, womit man sich an dem Tag beschäftigt. Die<br />
Lehrer beobachten sehr genau die Stärken und Schwächen der<br />
einzelnen Schüler. Es gibt weniger Frontalunterreicht, sondern man<br />
arbeitet in Projekten, für die es wiederum ganz unterschiedliche<br />
Räume und Voraussetzungen braucht.“ Um so arbeiten zu können,<br />
müssten die Räume einer Clusterschule entsprechend veränderbar sein<br />
und sich unterschiedlichen Gruppengrößen anpassen können. Das<br />
pädagogische Konzept sei also alles andere als festgefahren. Es biete<br />
Platz für eine Zukunft, die wir noch nicht kennen. Die Aufgabe<br />
und Herausforderung der Planer*innen sei es, Möglichkeitsräume<br />
zu schaffen.<br />
WAS JEFF BEZOS UND DIE CLUSTERSCHULE GEMEIN HABEN<br />
Die Idee rühre aus der Montessoripädagogik, so Carlo Baumschlager.<br />
Das Bildungskonzept der Montessori-Schule beruht auf dem Bild des<br />
Kindes als „Baumeister seines Selbst“. Montessori-Schulen setzen<br />
deshalb auch viel auf einen offenen Unterricht und die Freiarbeit. Als<br />
Grundgedanke der Montessoripädagogik gilt die Aufforderung „Hilf<br />
mir, es selbst zu tun“. Es wird vielerorts als experimentell bezeichnet,<br />
muss aber auch immer wieder viel Kritik einstecken. In der Entwicklung<br />
der Methodik würde die wissenschaftliche Systematik fehlen, die<br />
Werke von Maria Montessori seien stark im Positivismus des 19. Jahrhunderts<br />
verankert, und ihre Ansätze seien aus heutiger entwicklungspsychologischen<br />
oder pädagogisch-psychologischen Sicht nicht tragbar.<br />
Fun Fact: Jeff Bezos, Heike Makatsch oder auch Friedensreich<br />
Hundertwasser waren Montessori-Schüler*innen.<br />
DER PLANUNGSPROZESS: AUFWENDIGER,<br />
ABER AUCH SPANNENDER<br />
Die Schule am See in Hard funktioniert also durch ihre besonders<br />
offene und flexible Struktur. Diese definiert aber nicht nur allein die<br />
architektonische Qualität des Innen- und Außenraumes, sondern auch<br />
die des kompletten Planungsprozesses, so Peter Wich von<br />
TERRA.NOVA. „Wir haben von Anfang an im Projekt sehr eng<br />
miteinander kommuniziert – wir Planer untereinander, aber auch wir<br />
Planer mit den Leuten vor Ort“, so Wich. Aus Deutschland sei er<br />
diese Form der direkten Kommunikation so nicht gewöhnt. Hierzulande<br />
gäbe es immer noch die übergeordneten Behörden oder Referate,<br />
die sich einschalteten und im direkten Austausch mit Lehrer*innen<br />
und Direktor*innen ständen. „In Hard fand das alles viel direkter statt,<br />
und deswegen war die Zusammenarbeit eine ganz andere. Wir<br />
konnten uns darauf konzentrieren, was entstehen soll, und fühlten uns<br />
nicht schon im Entwurfsprozess von Normen und Regularien<br />
gefangen“, so der Landschaftsarchitekt. Zusammen hätte man versucht,<br />
Lösungen zu finden, die dem Schultypus der Clusterschule gerecht<br />
werden. „Von Anfang an war klar, dass bei diesem Projekt Architektur<br />
und Landschaftsarchitektur Hand in Hand gehen müssen“, sagt Peter<br />
Wich. TERRA.NOVA habe schon viele Schulen in Deutschland<br />
realisiert, in diesen Projekten sei das jedoch alles separierter abgelaufen.<br />
Carlo Baumschlager sieht das genauso. Während bei früheren Projekten<br />
die Schulbauverordnung ohne Spielraum geregelt habe, wie Schulen<br />
aussehen sollten, habe man in Hard die Möglichkeit gehabt, anders zu<br />
planen. „Dadurch, dass das ganze System so neu war, war auch der<br />
Entwurfsprozess viel offener. Wir konnten zusammen mit Lehrern und<br />
Planern in einem großen Team entwickeln. Klar, das war aufwendiger,<br />
aber eben auch spannender und interessanter“, so Baumschlager. Das<br />
Projekt an sich hätte erfordert, dass man den Gestaltungsprozess anders<br />
anpackt, anders im Entwicklungsteam kommuniziert.<br />
DESWEGEN SOLLTEN PLANER*INNEN IHREN<br />
WERKZEUGKASTEN VOR ORT LASSEN<br />
Wenn man es jedoch genau betrachtet, definiert sich das Projekt in<br />
Hard also nicht nur durch eine offene Architektur und Kommunikation,<br />
sondern ebenso durch eine offene Planung. Denn auch wenn Carlo<br />
13<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
MEINE SCHULE,<br />
MEIN PARK,<br />
MEIN STADTTEIL<br />
Keller Damm Kollegen gewannen mit schürmann dettinger architekten 2015<br />
den Wettbewerb Bildungscampus Freiham in München. Ihr gemeinsamer Entwurf<br />
definierte einen Schulcampus, der sich zur Umgebung hin öffnet. Und<br />
dies nicht nur im räumlichen Sinn. Das Verlassen des Schulgeländes ist während<br />
der Pause in Freiham tatsächlich ausdrücklich erlaubt. Und auch außerhalb<br />
der Unterrichtszeiten nutzen vor allem Jugendliche den teils öffentlich<br />
zugänglichen Schulcampus – allerdings nicht gänzlich frei von Vandalismus.<br />
GESA LOSCHWITZ-HIMMEL<br />
Alle Fotos: Boris Storz<br />
16<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
BILDUNGSCAMPUS FREIHAM, KELLER DAMM KOLLEGEN, MÜNCHEN<br />
AUTORIN<br />
Gesa Loschwitz-Himmel<br />
ist Landschaftsarchitektin<br />
und<br />
freiberufliche Autorin.<br />
Blick über den<br />
Bildungscampus<br />
Freiham in München:<br />
Der Campus umfasst<br />
vier Schulen sowie<br />
einen öffentlichen<br />
Park und stellt<br />
zugleich das Entree<br />
zum neuen Stadtteil<br />
Freiham dar.<br />
Lernen in Clustern, gemeinsam genutzte<br />
Bereiche und Inklusion: 2015 verabschiedete<br />
der Münchner Stadtrat das<br />
Lernhauskonzept, das bei allen Neubauten<br />
und Sanierungen von Münchner Schulen<br />
umgesetzt werden soll. Große Schulen<br />
werden in überschaubare Einheiten für<br />
jeweils einige Jahrgangsstufen gegliedert –<br />
in Lernhäuser –, die jeweils Bereiche für<br />
individuelles oder gemeinsames Arbeiten,<br />
für Präsentationen oder einfach für Pausen<br />
und Entspannung bieten. Bis jetzt gibt es<br />
eine Handvoll solcher Neubauten in<br />
München. Eine dieser wenigen neuen<br />
Schulen ist der Bildungscampus Freiham,<br />
ein großer Komplex für vier Schulen und<br />
zugleich das Entree zum neuen Stadtteil,<br />
der in den kommenden Jahren im Westen<br />
von München für 25 000 Menschen<br />
entstehen wird.<br />
VON DER SCHULE INS NEUE<br />
STADTQUARTIER<br />
2015 entschieden die Architekten schürmann<br />
dettinger mit Keller Damm Kollegen<br />
den zweiphasigen Wettbewerb für sich:<br />
„Offen wie eine Stadt, zum Inbesitznehmen,<br />
zum Annehmen und zum Verändern“,<br />
schreiben die Architekten in ihrer Pressemitteilung<br />
zum Bildungscampus. Die<br />
Schule wird zum Teil des Quartiers, indem<br />
sie sich mit dem öffentlichen Raum<br />
verzahnt: dem zentralen öffentlichen Park,<br />
der sich in Ost-West-Richtung zwischen<br />
dem 2019 eröffneten Komplex aus fünfzügiger<br />
Grundschule und einem Förderzentrum<br />
mit 19 Klassen im Norden sowie<br />
einem sechszügigen Gymnasium und einer<br />
fünfzügigen Realschule im Süden entlangzieht.<br />
Im Osten befindet sich die sogenannte<br />
Campusmitte mit Mensa, Bibliothek<br />
und Sporthalle als Zentrum und zugleich<br />
über einen künftigen Quartiersplatz als<br />
Link zum Stadtteil.<br />
ÖFFENTLICHKEIT UND RÜCKZUG<br />
So massiv sich der Riegel des Schulkomplexes<br />
nach Süden zur vielbefahrenen<br />
Bodenseestraße zeigt, so offen zeigt er sich<br />
in seinem Inneren und zum öffentlichen<br />
Park hin. Offene Lernlandschaft ist das<br />
Schlagwort für die innere Organisation.<br />
Die Dachlandschaft mit<br />
Badminton-Kleinfeld ist<br />
bei den Schüler*innen<br />
der Realschule und<br />
des Gymnasiums<br />
sehr beliebt.<br />
17<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
EIN PAUSENHOF<br />
MACHT SCHULE<br />
Alle Fotos: hochC Landschaftsarchitekten, Marcus Witte<br />
22<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
GRUNDSCHULE MAHLSDORF, HOCHC, BERLIN<br />
AUTOR<br />
Uwe Rada, geboren<br />
1963, lebt in Berlin. Er<br />
ist Buchautor und seit<br />
1994 Redakteur für<br />
Stadtentwicklung bei<br />
der taz. Rada schreibt<br />
regelmäßig für G+L.<br />
hochC Landschaftsarchitekten planten<br />
die Außenanlagen der Grundschule in<br />
Berlin-Mahlsdorf. Anderthalb Jahre nach<br />
Fertigstellung besuchte der Landschaftsarchitekt<br />
Claus Herrmann sein Projekt<br />
erneut, und zwar zur Unterrichtspause.<br />
Denn erst bei vollem Betrieb zeigt sich,<br />
ob der Entwurf hält, was er versprach.<br />
UWE RADA<br />
Grüne Spielinseln<br />
gliedern die<br />
1,4 Hektar große<br />
Fläche. Ihre<br />
Anordnung richtet<br />
sich unter anderem an<br />
dem Altbaumbestand.<br />
Die Landschaftsarchitekt*innen<br />
integrierten jedoch<br />
nicht nur die<br />
Bestandsbäume,<br />
sondern auch viele<br />
Materialien des<br />
vorherigen Pausenhofs:<br />
zum Beispiel<br />
Sitzbänke, Tische und<br />
Spielhäuser.<br />
Es ist etwas anderes, ob die Neugestaltung<br />
eines Schulhofs von einer Fachjury bewertet<br />
wird oder von denen, die ihn nach seiner<br />
Realisierung nutzen, also den Schüler*innen.<br />
Für Claus Herrmann war es deshalb<br />
überaus spannend, in die Grundschule in<br />
Berlin-Mahlsdorf zurückzukehren, deren<br />
Schulhof sein Büro hochC Landschaftsarchitekten<br />
vor anderthalb Jahren gestaltet<br />
hat. In einer Unterrichtspause konnte<br />
sich Herrmann ein Bild davon machen, ob<br />
und wie sein Entwurf den täglichen<br />
Praxistest besteht.<br />
Er hat ihn mit Bravour bestanden. Die<br />
Schüler*innen tobten an einem kalten<br />
Morgen über die Spielinseln, hangelten sich<br />
am Klettergerüst entlang, hüpften über<br />
verschieden hohe Baumstümpfe oder<br />
stürmten, mit oder ohne Ball, über das<br />
Fußballfeld. „Es ist schön zu sehen, wie die<br />
Angebote angenommen werden“, freute sich<br />
Herrmann. Bestätigung gab es auch von der<br />
Hausmeisterin: „Wir sind sehr zufrieden.“<br />
INSELN IM PFLASTERMEER<br />
Zwei Jahre lang, von 2017 bis 2019, hatte<br />
die Umgestaltung des Schulhofes gedauert.<br />
Der Entwurf von hochC sollte das Schulgebäude<br />
aus dem Jahr 1937, das ein<br />
denkmalgeschütztes Ensemble mit der<br />
benachbarten Kreuzkirche bildet, die<br />
mobilen Unterrichtsräume von 1994 sowie<br />
einen Turnhallenneubau gestalterisch<br />
miteinander verbinden. Ganz bewusst hat<br />
sich Claus Herrmann für eine Insellösung<br />
entschieden. „Die Inseln sind Grünräume<br />
23<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
DIE HOHE<br />
SCHULE<br />
DER STADT<br />
Am nördlichen Rand der Kölner Innenstadt steht am Ende eines<br />
langen Planungsprozesses eine neue Bildungslandschaft. Das<br />
Zusammenspiel aus Gebäuden und Freiräumen macht das Projekt von<br />
TOPOTEK 1, gernot schulz und Nünninghof Landschafts architektur<br />
zu einem Teil der Stadt. Durchwoben von öffentlich zugänglichen<br />
Räumen und eng mit der angrenzenden Parkanlage verzahnt, ist das<br />
Ensemble ein Novum in vielerlei Hinsicht.<br />
JULIANE VON HAGEN<br />
AUTORIN<br />
Dr. Juliane von Hagen<br />
ist Stadtplanerin und<br />
-forscherin. Sie setzt<br />
sich seit Jahren mit<br />
öffentlichen Räumen<br />
auseinander; zunächst<br />
an verschiedenen<br />
Hochschulen und<br />
mittlerweile im<br />
eigenen Büro<br />
stadtforschen.de.<br />
Monochrome Klinkergebäude prägen das<br />
Erscheinungsbild eines neuen Lerncampus<br />
im Norden der Kölner Altstadt. Bildungslandschaft<br />
Altstadt Nord ist der offizielle<br />
Name dieses Projekts, das viele Jahre<br />
zahlreiche Akteur*innen auf Trab gehalten<br />
hat. Heute steht das von gernot schulz :<br />
architektur entworfene Bauensemble mit<br />
den von TOPOTEK 1 gestalteten Freiräumen<br />
für neue Herangehensweisen: Es steht<br />
für die Idee der Bildungsumgebung, in der<br />
die Heranwachsenden ihre Tage nicht mehr<br />
in abgeschotteten, funktionalen Kisten<br />
verbringen, sondern in einladenden,<br />
inspirierenden Innen- und Außenräumen.<br />
Es steht aber auch für die Idee von<br />
Schule und Kita, die „ein Stück der Stadt<br />
sind“, beschreibt Lorenz Dexler von<br />
TOPOTEK 1 das Projekt. Darüber hinaus<br />
steht das Ensemble für einen neuen Ansatz<br />
in Köln, der die im Krieg beschädigte<br />
Altstadt nicht nachzubauen versucht,<br />
sondern mit kreativer, qualitätsvoller<br />
Architektur spannende neue Gebäude und<br />
Freiräume schafft. In diesem Sinne<br />
überzeugt auch die Bildungslandschaft<br />
Altstadt Nord durch ein gelungenes<br />
Zusammenspiel von Hochbau- und<br />
Landschaftsarchitektur. Den Mittelpunkt<br />
Alle Fotos: Hanns Joosten<br />
30<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
BILDUNGSLANDSCHAFT ALTSTADT NORD, TOPOTEK 1, KÖLN<br />
Nördlich der Kölner<br />
Altstadt befindet sich<br />
die 2020 fertiggestellte<br />
Bildungslandschaft<br />
Altstadt Nord. Zu ihr<br />
gehören nicht nur die<br />
Neubauten, sondern<br />
auch die Bestandseinrichtungen.<br />
31<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
PATCHWORK AUS SPORT,<br />
KUNST UND NATUR<br />
Auf dem Schulhof der Sipoonlahti-Schule in Sipoo, Finnland,<br />
herrscht auch fern der regulären Schulzeiten reges Treiben. Die<br />
Landschaftsarchitekt*innen von Nomaji erneuerten im Rahmen eines<br />
Erweiterungsprojekts den Schulhof. Gemeinsam mit dem neuen Sportplatz<br />
bietet der Schulhof nun 1 200 Schüler*innen, aber auch den<br />
Bewohner*innen der Umgebung Platz für Bewegung und Aktivität.<br />
Eine Projektvorstellung aus einem Land, das mit seinem Schulsystem<br />
sogar PISA überzeugte.<br />
MARI ARILUOMA<br />
Alle Fotos: Kuviophoto / Martin Somechield<br />
36<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
SIPOONLAHTI-SCHULE, NOMAJI, FINNLAND<br />
AUTORIN<br />
Mari Ariluoma ist eine<br />
der vier Gründungspartner*innen<br />
von<br />
Nomaji Landscape<br />
Architects. Sie<br />
begeistert sich für<br />
naturbasierte<br />
Lösungen im Schulbau<br />
und möchte<br />
inspirierende<br />
Außenumgebungen<br />
für Menschen aller<br />
Altersgruppen<br />
entwickeln.<br />
Nomaji Landscape Architects sitzen in<br />
Helsinki, Finnland. Das Büro verantworteten<br />
von 2016 bis 2020 die Planung und Gestaltung<br />
des Pausenhofs der Sipoonlahti-Schule<br />
– in Kooperation mit den Architekt*innen<br />
von Rudanko+Kankkunen and AFKS<br />
(architecture). Dieses ist eines der größten<br />
Schulzentren Finnlands und liegt knapp<br />
30 Kilometer östlich von Helsinki. Die<br />
Anforderungen an die Neugestaltung waren<br />
klar: Der Schulhof sollte eine vielfältige<br />
Lernumgebung bieten, die Ziele des<br />
Lehrplans unterstützen, die Bewegung der<br />
Kinder fördern sowie Naturbeobachtungen<br />
und Kontakt zur Natur ermöglichen. Dank<br />
eines partizipativen Gestaltungsprozesses<br />
konnten die Wünsche und Bedürfnisse<br />
verschiedener Nutzer*innen Berücksichtigung<br />
finden. Das Endergebnis ist ein<br />
Hofbereich, den sowohl die Schule als auch<br />
die Anwohner*innen nutzen.<br />
VON KUNST, WISSENSCHAFT UND<br />
GESCHICHTEN<br />
Bild rechts: Die<br />
Sportflächen der<br />
Sipoonlahti- Schule:<br />
grüne, gelbe<br />
Vierecke und Kreise<br />
Der Entwurf hatte das Ziel, verschiedene<br />
Aktivitäten und Lernerfahrungen ins Freie<br />
zu verlagern und Räume für jedes Alter zu<br />
kreieren. Der Freiraum gliedert sich nach<br />
dem Gebäude und dem Baumbestand in<br />
drei verschiedene Höfe: den Kunsthof, den<br />
Wissenschaftshof und den Geschichtshof.<br />
Der Kunsthof ist wandelbar, inklusiv und<br />
regt zu neuen Ideen an. Die Kreativität wird<br />
durch Formen und Farben gefördert. Dort<br />
kann man musizieren, malen, im Sand<br />
spielen und Kunstwerke aufhängen. Die<br />
Gabionen im Hof enthalten recyceltes<br />
Material und spontane Vegetation. Im<br />
Innenhof gibt es einen „Bauhof“ („constraction<br />
yard“), in dem die Kinder bauen und<br />
spielen können.<br />
Im Wissenschaftshof sollen die Kinder<br />
forschen und beobachten. Durch die Mitte<br />
des Hofs schlängelt sich ein Bachlauf im<br />
Sand. Am Ende des Baches versickert das<br />
Wasser und steht der Vegetation zur<br />
Verfügung. Verschiedene Maßeinheiten<br />
werden mithilfe von Streifen aus Würfelsteinen<br />
dargestellt. Zudem können hier<br />
natürliche Materialien mithilfe von<br />
unterschiedlichen Formen und Strukturen<br />
erkundet werden, die das Lernen im Freien<br />
Der Schulhof im<br />
Überblick (oben):<br />
Wiesen, thematische<br />
Innenhöfe und<br />
Sportflächen<br />
mit Skulpturen zum<br />
Skaten (unten)<br />
37<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
Univ.-Prof. Dr. Michaela<br />
Sambanis ist Lehrstuhlinhaberin<br />
für die Didaktik<br />
des Englischen an der<br />
Freien Universität Berlin.<br />
Sie verbindet Neurowissenschaften<br />
mit Didaktik<br />
und Wissenschaft mit<br />
Praxis. Michaela<br />
Sambanis war selbst<br />
mehr als zehn Jahre lang<br />
als Lehrerin im<br />
Schuldienst und bildet,<br />
zunächst in Baden-<br />
Württemberg, seit 2011<br />
nun in Berlin, Lehrkräfte<br />
aus. In ihrem aktuellen<br />
Buch Make it work!<br />
(<strong>2022</strong>, Co-Autor: Maik<br />
Walter) geht sie unter<br />
anderem auf Erkennt nisse<br />
zur Wirkung von Farben<br />
und von Natur auf die<br />
Kreativität, die<br />
Fokussierungskapazitäten<br />
und die Stressbewältigung<br />
ein.<br />
„PAUSEN UND<br />
BEWEGUNG<br />
GEHÖREN<br />
ZUM LERNEN“<br />
Foto: Michaela Sambanis<br />
40<br />
GARTEN+<br />
LANDSCHAFT
SCHULHÖFE<br />
INTERVIEW MIT MICHAELA SAMBANIS<br />
Michaela Sambanis forscht an der Freien Universität Berlin zwischen den Bereichen Neurowissenschaften,<br />
Didaktik, Psychologie und Erziehungswissenschaften. Wir sprachen mit ihr und haben<br />
gefragt, was für das perfekte Lernen wichtig ist und was Planer*innen darüber wissen sollten.<br />
INTERVIEW: MAGDALENA SCHMIDKUNZ<br />
„Die adretten Kinder von heute, die reiten<br />
und zur Schule gefahren werden, halten<br />
nicht so viel aus“ – diese Meinung tat<br />
vor Kurzem die Literaturkritikerin Elke<br />
Heidenreich öffentlich kund. Behütete<br />
Kinder seien nicht mehr gut auf die<br />
Zukunft vor bereitet. Sie könnten keine<br />
Tiefe entwickeln, keine Widerstandsfähigkeit.<br />
Wie stehen Sie zu der Äußerung von<br />
Frau Heidenreich?<br />
Ich kenne den Zusammenhang nicht, aber<br />
ich habe spontan gleich zwei Gedanken<br />
dazu. Auf einer Metaebene zeigt es, dass<br />
man manchmal wirklich Dinge zugespitzt<br />
formulieren muss, damit sich Menschen<br />
an etwas stoßen, sich vielleicht konträr<br />
dazu verhalten und anfangen, über eine<br />
Sache nachzudenken.<br />
Inhaltlich triggern die Sätze bei mir den<br />
Gedanken, dass sich Kinder und Jugendliche<br />
gerade in Deutschland zu wenig<br />
bewegen. Das ist wirklich ein Risikofaktor;<br />
auch für die psychische Gesundheit und<br />
für die Widerstandskraft, die Elke Heidenreich<br />
anspricht. 2018 gab es eine groß<br />
angelegte Studie mit dem Titel „Active<br />
Healthy Kids Global Alliance“. Das<br />
Interessante: Sie haben Schulnoten an die<br />
verschiedenen Länder vergeben. Im<br />
Ergebnis bekam Deutschland mehrmals<br />
die Note vier minus und das für ganz<br />
zentrale Bereiche, nämlich für die körperliche<br />
Aktivität, sitzendes Verhalten und<br />
aktives Spielen. Und jetzt sitzen wir in der<br />
Pandemie und wissen, das ist alles noch<br />
viel schlimmer geworden.<br />
Was an der Studie aus 2018 aber auch interessant ist, und das führt<br />
uns nochmal zurück zu Elke Heidenreich, ist die Tatsache, dass<br />
ausgerechnet, oder man könnte sagen bezeichnenderweise, ein Land<br />
am besten abgeschnitten hat – das war Slowenien –, wo die Daten<br />
zeigen, ein ganz wesentlicher Faktor ist die aktive Schulwegbewältigung.<br />
Dort werden die Kinder eben seltener zur Schule<br />
gefahren. Das finde ich schon spannend, weil es uns zeigt, die<br />
Bewegung im Alltag, die sich ergibt und die man ermöglichen<br />
kann, durch Schulhof- oder Schulweggestaltung, diese Bewegung<br />
sollten wir fördern und nutzen. Bewegungsmangel ist nämlich<br />
nachweislich eine der häufigsten Todesursachen, auch schon im<br />
Kinder- und Jugendalter. Wir haben Zahlen von 2019, die<br />
Bewegungsmangel den Rang fünf als Todesursache zuweisen. Das<br />
finde ich schockierend. Das Problem ist, Bewegungsmangel ist ein<br />
mitwirkender Faktor an den drei häufigsten Todesursachen wie<br />
Herz-Kreislauf. Ich bin neulich auf eine aktuelle Publikation von<br />
Kinderärzt*innen gestoßen, die sagt, und ich zitiere kurz: Einer<br />
von vier Erwachsenen stirbt an Bewegungsmangel. Und drei von<br />
fünf Jugendlichen sind potenzielle Todeskandidaten aufgrund<br />
mangelnder körperlicher Aktivität dann im Erwachsenenalter. Das<br />
sind immense Zahlen. Im Schnitt bewegen sich 84 Prozent der<br />
jugendlichen Mädchen und 78 Prozent der jugendlichen Jungs zu<br />
wenig. Das ist ein großer Bereich, der alarmierend ist.<br />
Wie viel müssten wir uns bewegen? Sie meinten eben, in Slowenien<br />
seien vor allem die Alltagswege für die Bewegung der Kinder<br />
wichtig. Also wäre der tägliche Schulweg bereits ausreichend?<br />
Die Studien arbeiten meistens mit einem Summenwert. Er setzt sich<br />
aus allen Bewegungen zusammen, also das Gehen zum Bus, das<br />
Treppensteigen und so weiter. Wirklich, wirklich bedenklich wird es,<br />
wenn wir uns nicht wenigstens eine Stunde am Tag in Summe<br />
bewegen. Eine radikalere Regel hingegen besagt, dass wir uns für jede<br />
Stunde, die wir sitzend verbringen, eigentlich eine Stunde bewegen<br />
sollten. Im Alltag lässt sich das aber schwer umsetzen. Deshalb hat<br />
man das neu interpretiert und empfiehlt: für jede Stunde im Sitzen<br />
15 Minuten Bewegung. Das wäre immer noch viel.<br />
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GARTEN+<br />
LANDSCHAFT