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Baumeister 5/2024

Wohnen von morgen

Wohnen von morgen

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B5<br />

B A U<br />

Mai 24<br />

4 194673 018502<br />

05<br />

D 18,50 €<br />

A,L 20,95 €<br />

CH 2 4 , 9 0 S F R<br />

121. JAHRGANG<br />

Das Architektur-<br />

Magazin<br />

MEISTER<br />

Wohnen<br />

von<br />

morgen


SEI UNSER<br />

TÜPFELCHEN<br />

AUF DEM ...<br />

i<br />

WERDE TRAINEE ODER WERKSTUDENT (M/W/D)<br />

IN DEN REDAKTIONEN VON BAUMEISTER, G+L,<br />

TOPOS, RESTAURO UND STEIN<br />

GEORG-MEDIA.DE/JOBS/


B5<br />

Editorial<br />

Liebe Leserin,<br />

lieber Leser,<br />

COVERFOTO: EDWARD BEIERLE<br />

wenn man in der heutigen Zeit ein Heft zum<br />

Thema Wohnen macht, dann möchte man<br />

vieles unterbringen. Nachdem uns in<br />

Deutschland definitiv Wohnraum fehlt und<br />

nicht nur die großen Metropolen aus allen<br />

Nähten platzen, braucht es Lösungen. Bedauerlicherweise<br />

kommen von Seiten der<br />

aktuellen Regierung scheinbar keine Impulse,<br />

die dem Wohnungsmangel etwas entgegensetzen<br />

sollen. Die Strategie, überzogen<br />

hohe Zahlen in den Raum zu werfen und sich<br />

dann im Schatten zu verstecken, hat auch in<br />

der Vergangenheit nicht bei allen Ministern<br />

funktioniert. Aber die nächste Wahl kommt<br />

bestimmt. Als Land und vor allem Gesellschaft<br />

verlieren wir dadurch jedoch wichtige<br />

Zeit und viele Möglichkeiten.<br />

Natürlich bremst uns die Baukrise aus, und<br />

natürlich ist die Baukrise im Wohnbaubereich<br />

am stärksten zu spüren. Doch Deutschland<br />

braucht mehr Wohnraum. Dieses Problem<br />

möchten wir im vorliegenden Heft keinesfalls<br />

ausklammern. Ebenso wenig wollen<br />

wir die Baukrise kleiner machen, als sie ist.<br />

In dem vorliegenden BAUMEISTER soll es jedoch<br />

um das Wohnen von morgen gehen.<br />

Daraus resultiert, dass wir unsere heutigen<br />

Probleme und Krisen in den Griff bekommen<br />

müssen. Wir brauchen mehr Wohnraum und<br />

nicht mehr so viele Büroflächen wie noch vor<br />

fünf Jahren. Trotzdem darf der eine Bereich<br />

den anderen nicht ausstechen, und der<br />

Druck muss auf die richtigen Stellen erhöht<br />

werden.<br />

Kaum zu meisternde bürokratische Hürden<br />

bremsen den Wohnungsbau neben zu hohen<br />

Kosten und zu wenig Baugrund aus. Dafür<br />

können weder die Bauindustrie noch der Architekt<br />

oder der Bauherr etwas. Nicht zuletzt<br />

im vorliegenden Heft wird klar, wir brauchen<br />

radikalere Lösungen auf politischer und europäischer<br />

Ebene. So kommen in dieser Ausgabe<br />

spannende und meist auch betroffene<br />

Personen zu Wort, die einen Blick in die<br />

Zukunft richten und Lösungsvorschläge formulieren,<br />

die uns dabei helfen, ein Wohnen<br />

von morgen zu realisieren. Wir spekulieren<br />

aber auch über die Rolle des Bads in zukünftigen<br />

Wohnungen und blicken auf wirklich<br />

einmalige Wohnbauprojekte, die bereits realisiert<br />

wurden.<br />

Wohnen muss schließlich für alle möglich<br />

sein. Nicht nur für eine wohlbetuchte Oberschicht,<br />

und aktuell sehen wir in Städten wie<br />

München und Berlin, dass Wohnen nicht für<br />

alle gleichermaßen möglich ist. Dazu kommt<br />

eine hohe Zahl von obdachlosen Menschen,<br />

und wir haben als Gesellschaft große Herausforderungen<br />

wie das Thema Altersarmut<br />

und alle weiteren Auswirkungen des demografischen<br />

Wandels vor der Brust. Wir können<br />

es uns also nicht mehr erlauben, auf andere<br />

Minister, Regierungen und Parteien zu warten.<br />

Es muss darum gehen, im Rahmen des<br />

Möglichen, einer Krisensituation wie der aktuellen<br />

so viel Einfallsreichtum und vor allem<br />

Mut wie möglich entgegenzusetzen. Dieser<br />

BAUMEISTER soll ermutigen und hoffentlich<br />

dabei helfen, neue Ansätze zu finden, die uns<br />

die Basis für das Wohnen von morgen heute<br />

bauen lassen.<br />

Ich hoffe, Ihnen sagt diese Ausgabe zu, und<br />

freue mich auf Feedback von Ihnen. Vergessen<br />

Sie bitte nicht, uns auch online unter<br />

www.baumeister.de sowie auf den sozialen<br />

Kanälen zu besuchen. Mit einer Anmeldung<br />

bei unserem Newsletter verpassen Sie dann<br />

definitiv nichts mehr. Egal wie, ich freue mich<br />

darauf, mit Ihnen in Kontakt zu treten.<br />

Herzlichst,<br />

Tobias Hager<br />

t.hager@georg-media.de<br />

@baumeister_architekturmagazin


Exponiert oder auch zurückgezogen<br />

wohnen in Berlin<br />

S. 64<br />

Ideen:<br />

30<br />

Wabenhaus<br />

in München<br />

48<br />

Wohnhochhaus<br />

in Wien<br />

Experimentelle Wohnform<br />

in München<br />

S. 30


64<br />

Baugruppe<br />

Kufu142<br />

in Berlin<br />

Inhalt<br />

Positionen:<br />

44<br />

Stefan Forster:<br />

Wenn der<br />

Wohnungsbau<br />

schmerzt ...<br />

29<br />

FOTO OBEN: LAURIAN GHINIȚOIU; LINKS: EDWARD BEIERLE; RECHTS: LUKAS SCHALLER<br />

88<br />

Quartier<br />

in Schwaz<br />

102<br />

Wohnblock-<br />

Sanierung<br />

in<br />

Brüssel<br />

RUBRIKEN<br />

60 KLEINE WERKE<br />

62 UNTERWEGS<br />

100 SONDERFÜHRUNG<br />

114 IMPRESSUM + VORSCHAU<br />

76<br />

Nidus: „Wir sind<br />

unsere eigene<br />

Zielgruppe“<br />

80<br />

Eine Nacht<br />

mit Mies<br />

Innerstädtische Reparatur.<br />

Neues Wohnen in der Altstadt Schwaz bei Innsbruck<br />

S. 88


44 Wohnen<br />

Wenn der Wohnungsbau<br />

schmerzt …<br />

Wir stecken in einer handfesten<br />

Baukrise. Zahlreiche Faktoren<br />

wie die Inflation, steigende Zinskosten,<br />

der Fachkräftemangel<br />

und vor allem die immer größer<br />

werdenden bürokratischen<br />

Hürden werden von vielen<br />

be troffenen Planern und Unternehmen<br />

als Ursachen angesprochen.<br />

Von politischer Seite kann<br />

man nur noch wenig erwarten –<br />

so scheint es zumindest –, und<br />

die Vorzeichen lassen auch noch<br />

nicht aufatmen. Doch Hoffnung<br />

gibt es selbst in dieser Situation.<br />

Text:<br />

Tobias Hager


Positionen<br />

45<br />

Die Stimmung im Wohnungsbau<br />

ist laut einer aktuellen ifo-Umfrage<br />

aus dem ersten Quartal<br />

<strong>2024</strong> besorgniserregend und hat<br />

einen historischen Tiefpunkt<br />

erreicht. Das Geschäftsklima ist<br />

von bereits schlechten minus<br />

56,9 Punkten auf desaströse und<br />

noch nie dagewesene minus<br />

59,0 Punkte gefallen. Spricht man<br />

mit In dustrieunternehmen, befinden<br />

sich viele bereits in partieller<br />

Kurzarbeit, und vor allem Unternehmen<br />

mit sehr hohen Energiekosten<br />

haben die Produktion stark<br />

oder komplett zurückgefahren.<br />

Spricht man mit Architekturbüros,<br />

die sich viel im Wohnungsbau<br />

engagierten, so hört man zum<br />

Teil noch Schlim meres – es<br />

müssen Stellen ab gebaut werden,<br />

weil die Projekte ausbleiben.<br />

Zentrale Herausforderungen<br />

und unerreichbare Ziele<br />

Zu den zentralen Herausforderungen<br />

zählt vor allem die immer<br />

weiter zurückgehende Nachfrage<br />

nach Wohnbauprojekten. Für<br />

viele Betroffene ist das Thema<br />

Bauland, welches in aller Regel<br />

nicht vorhanden ist, ein zentrales.<br />

Die sich häufig und nicht nachvollziehbar<br />

verändernden sowie<br />

verschärfenden Bauvorschriften<br />

scheinen eine weitere Erscheinung<br />

unserer Zeit zu sein. Natürlich<br />

tun sich Handwerksunternehmen<br />

auch schwer, Mitarbeiter<br />

zu finden, und so kommt es viel<br />

schneller zu kostenintensiven<br />

Verzögerungen.<br />

Die Bundesregierung hatte sich<br />

zuletzt lauthals das Ziel gesetzt,<br />

400.000 Wohnungen zu bauen.<br />

Natürlich vor allem, weil der<br />

Bedarf an Wohnraum nach wie<br />

vor hoch ist und in Städten wie<br />

beispielsweise München zu einem<br />

absoluten Kollaps führte. Dieses<br />

Ziel scheint unerreichbar, und<br />

neben den genannten Punkten<br />

ist der globale Rohstoffmangel<br />

ebenfalls ein schmerzhafter<br />

Faktor für unsere Bauindustrie.<br />

Vor allem Holz und Stahl sind<br />

nach wie vor knapp. Gekoppelt<br />

mit dem angesprochenen Fachkräftemangel,<br />

sind die Verzögerungen<br />

in Bauprojekten zum Teil<br />

erheblich, und die Arbeitskosten<br />

steigen.<br />

Jemand, der aus erster Hand von<br />

den Auswirkungen der Baukrise<br />

und vor allem der Situation im<br />

Wohnungsbau berichten kann,<br />

ist Stefan Forster. Er und sein Team<br />

gehören zu den führenden, auf<br />

den Wohnungsbau spezialisierten<br />

Büros in Deutschland. Im Büro<br />

Stefan Forster Architekten werden<br />

von der Mietwohnung bis<br />

zum Großblock alle Bereiche<br />

des Wohnungsbaus auf äußerst<br />

hohem Niveau umgesetzt.<br />

Zudem zählen der Umbau von<br />

Büro- und Verwaltungsgebäuden<br />

sowie die Transformation<br />

von Siedlungsstrukturen zu den<br />

Schwerpunkten des Büros.<br />

WEITER


48 Wohnen<br />

Die Architekten hatten für dieses Wiener Wohnhochhaus zahlreiche Sozialräume<br />

vorgeschlagen. Bemerkenswerterweise hat der Bauträger Strabag dieses Programm<br />

durchgezogen und keine Abstriche gemacht. Oben: Gemeinschaftsbüro<br />

im elften Stock


Ideen<br />

49<br />

Architekten:<br />

Querkraft Architekten<br />

Was ein<br />

Wohnhochhaus<br />

leisten kann<br />

Ganz unten ein<br />

Fitnessbereich, ganz<br />

oben ein Swimmingpool<br />

und dazwischen<br />

viele Angebote,<br />

die das Wohnen<br />

ergänzen. Sind solche<br />

Gemeinschafts- und<br />

Erlebnisräume bloß<br />

gut vermarktbare<br />

Gimmicks oder<br />

wichtig für die Hausgemeinschaft?<br />

Ein Realitätscheck<br />

Fotos:<br />

Christina Häusler<br />

Text:<br />

Franziska Leeb


50 Wohnen


Ideen<br />

51<br />

Links oben: Der große Saal im vierten Stock kann für Feierlichkeiten jedweder Art<br />

zu einem geringen Tarif gebucht werden. Dagegen stehen die meisten Gemeinschaftsräume<br />

wie etwa der Tischtennisraum oder die Boulderwand allen Eigentümerinnen<br />

und Mietern kostenlos zur Verfügung. Es ist allerdings notwendig geworden, dass sich<br />

Aktivgruppen um die einzelnen Räume kümmern.


56 Wohnen<br />

legenen Stadtentwicklungsgebiet auf dem ehemaligen<br />

Nordbahnhofgelände, wo ein neuer<br />

Stadtteil in absehbarer Zukunft fertiggebaut sein<br />

wird.<br />

Folgte die erste Phase der Entwicklung einem<br />

städtebaulichen Leitbild von Boris Podrecca und<br />

Heinz Tesar aus den frühen 1990er-Jahren, entschloss<br />

man sich 20 Jahre später für den nördlichen<br />

Teil zu einer Abkehr von der Struktur aus mit<br />

Punkthäusern und Zeilen bebauten orthogonalen<br />

Rasterfeldern. Nach dem von Bernd Vlay und Lina<br />

Streeruwitz sowie dem Landschaftsarchitekturbüro<br />

Agence Ter erarbeiteten Konzept konzentriert sich<br />

die Bebauung mit stark differenzierten Gebäudehöhen<br />

bis hin zum 100-Meter-Hochhaus an den<br />

Rändern und bildet den Rahmen für die „Freie Mitte“.<br />

Indem die Bebauung an den Rändern an die<br />

bestehende Infrastruktur andockt, ist nur etwa ein<br />

Siebtel der ansonsten notwendigen Straßeninfrastruktur<br />

vonnöten, hat man errechnet. Die eingesparten<br />

Kosten können für den Park mit teils ruderalem<br />

Landschaftscharakter in der Mitte verwendet<br />

werden. Ob diese Kalkulation aufgeht, wird<br />

man wohl erst in wenigen Jahren fair beurteilen<br />

können, wenn die Entwicklung der Stadt drumherum<br />

abgeschlossen sein wird.<br />

Ein so großes<br />

Wohnhaus braucht<br />

auch soziale<br />

Kontrolle. Das ist<br />

weniger eine Frage<br />

der Architektur<br />

als der Verwaltung,<br />

mehr eine der<br />

Software als der<br />

Hardware.<br />

Mit „Wohnen im Hochhaus“ assoziieren die einen<br />

Monotonie und Elend des Plattenbaus, die anderen<br />

haben Prestigereicheres im Sinn und denken<br />

an eine Eingangshalle mit Concierge und luxuriöse<br />

Apartments mit atemberaubender Aussicht.<br />

Das Wohnhochhaus „Taborama“ in Wien ist irgendwo<br />

dazwischen angesiedelt. Es liegt im zentral ge-<br />

Begrünte weiße Stapel<br />

Das nach seiner Lage am Straßenzug „Am<br />

Tabor“ benannte Hochhaus Taborama am<br />

südlichen Eingang zur Freien Mitte ist der<br />

erste fertiggestellte der insgesamt sechs<br />

Türme im Quartier. Nicht nur wegen seiner<br />

60 Meter Höhe sticht er hervor, sondern<br />

auch wegen seiner leichtfüßigen Ausstrahlung,<br />

die viel heiterer anmutet als die<br />

von Investorenlogik und Bauträgerpragmatik<br />

gezeichneten grauschattierten Blöcke<br />

im unmittelbaren Umfeld. An der östlichen<br />

Gebäudefront wird noch eine niedrigere<br />

Bebauung entlang der Hauptstraße<br />

des Quartiers, der Bruno-Marek-Allee, die<br />

Lücke schließen. Querkraft Architekten<br />

schichteten die Baumasse in unterschiedlich<br />

dimensionierte „Pakete“, so erscheint<br />

der Bau weniger dominant.<br />

Das oberste Segment springt zurück, um<br />

die Nachbarbauten möglichst wenig zu<br />

beschatten. Fassadenbegrünungen sind<br />

als Maßnahmen gegen Hitzeinseln in Wien<br />

zwar dezidiert erwünscht, in manchen Fällen<br />

sogar vorgeschrieben. Nicht jedoch<br />

bei Hochhäusern, wo das Grün Kollisionen<br />

mit dem Brandschutz verursacht. Daher<br />

wird aus großen Pflanztrögen entlang der<br />

geschossübergreifenden Stäbe nur in jeder<br />

zweiten Schicht ein grünes Kleid emporwachsen<br />

dürfen. Zwischen den vier weißen Stapeln liegen<br />

drei „Zäsurgeschosse“ mit umlaufender Balkonzone<br />

und schwarzer Fassade. Mit drei Metern<br />

beträgt ihre Raumhöhe etwas mehr als bei den anderen<br />

Geschossen. Im Wettbewerbsprojekt hatten<br />

die Architekten hier gewerbliche Nutzungen wie<br />

Arztpraxen und Büros sowie größere Terrassen an<br />

den Schmalseiten vorgeschlagen. Doch schon die<br />

Jury befand, dass eine Wohnnutzung nicht dem<br />

strukturellen und gestalterischen Konzept widerspräche.<br />

Gemeinschaft vertikal<br />

Im geförderten Wiener Mietwohnungsbau sind<br />

verpflichtend Kriterien der sozialen Nachhaltigkeit<br />

zu erfüllen. Während in diesem Marktsegment<br />

mittlerweile oft sehr kreativ programmierte Ge-


Ideen<br />

57<br />

meinschaftsflächen Usus sind, halten sich solche<br />

Angebote im durchschnittlichen freifinanzierten<br />

Eigentumswohnbau in Grenzen. Fitnessräume<br />

scheinen jedenfalls in Zeiten von Körperkult und<br />

Selbstoptimierungswahn überall ein Muss zu sein,<br />

einen recht großen gibt es auch im verglasten Erdgeschoss<br />

des Taborama.<br />

Wirklich spektakulär wird es aber erst darüber: Bis<br />

zum Sonnendeck mit Swimmingpool auf dem<br />

Dach sind über die ganze Höhe Gemeinschaftsräume<br />

verteilt. Meist zweigeschossig angelegt,<br />

dringt durch ihre Verglasungen Tageslicht in den<br />

Erschließungskern. Boulderraum, Yoga-Raum, die<br />

von der Bewohnerschaft mittlerweile gut bestückte<br />

Bibliothek, Heimarbeitsplätze, ein Mal- und Bastelzimmer<br />

und ein Tischtennisraum waren schon<br />

bei Bezug eingerichtet. Die Nutzungen für drei weitere<br />

Räume wurden, nachdem sich die Menschen<br />

eingelebt hatten, unter Moderation des Teams der<br />

Agentur „Wohnbund:consult“ erarbeitet: Ein Billardzimmer,<br />

eine Werkstatt und ein Kleinkinderspielraum<br />

kamen somit noch hinzu. All diese<br />

Räume stehen Bewohnerinnen und Bewohnern<br />

kostenlos zu Verfügung.<br />

Die Event-Lounge, der große Gemeinschaftsraum<br />

im vierten Stock, kann für Feierlichkeiten jedweder<br />

Art zu einem geringen Tarif gebucht werden,<br />

ebenso die Sauna. Um wohlfeile 25 Euro pro Nacht<br />

kann die Gästewohnung angemietet werden. Die<br />

Dachterrasse über dem dritten Obergeschoss ist<br />

mit Hochbeeten zum Selbstgärtnern bestückt. Bemerkenswert<br />

ist, dass Bauträger Strabag dieses<br />

Programm bis zum Schluss durchgezogen hat und<br />

bei den von den Architekten vorgeschlagenen Sozialräumen<br />

keine Abstriche gemacht hat. Holzböden,<br />

hochwertige Möbel, schicke Leuchten – auch<br />

die Ausstattung ist hochwertig. Die vom Künstler<br />

Ingo Nussbaumer farbig rhythmisierten und akzentuierten<br />

Wände der Gänge und Allgemeinflächen<br />

sind ein wichtiger Beitrag zum Ambiente.<br />

Ziemlich genau ein Jahr nach Bezug wirkt alles gut<br />

genutzt und auch gut in Schuss. Die Hausverwalterin<br />

hingegen beschreibt ihren Arbeitsalltag wegen<br />

der Vielzahl an Gemeinschaftsräumen als herausfordernd.<br />

Architekten hätten oft romantische Vorstellungen,<br />

weshalb sie empfehle, Hausverwaltungen<br />

bereits in der Planung mitsprechen zu lassen,<br />

um so manches vorprogrammierte Konflikt- und<br />

Schadenspotenzial von vornherein zu vermeiden.<br />

Etwa zur Hälfte werden die Wohnungen von den Eigentümern<br />

genutzt, bei der anderen Hälfte handelt<br />

es sich um vermietete Anlegerwohnungen.<br />

Das bringt mit sich, dass die einen sehr verantwortungsvoll<br />

mit dem Haus umgehen und sich an vereinbarte<br />

Regeln halten, während es Mietern, die<br />

weniger gut in der Hausgemeinschaft verankert<br />

sind, oft an Respekt mangle. Die soziale Begleitung<br />

seitens Wohnbund:consult sei jedenfalls eine<br />

sehr nützliche Sache und habe viele Konflikte abgefedert.<br />

Soziale Starthilfe<br />

Schon vor Fertigstellung erfolgte eine aktivierende<br />

Befragung der Bewohnerschaft, und es gab Infoveranstaltungen<br />

mit allen Projektbeteiligten, um<br />

über das Haus und seine Angebote zu informieren<br />

und bei Führungen durch das Viertel die Nachbarschaft<br />

kennenzulernen. Auf der Kommunikationsplattform<br />

Discord wurde ein Forum eingerichtet. So<br />

eine digitale Plattform berge viele Chancen, aber<br />

auch Risiken, gibt Wohnbund-Geschäftsführerin<br />

Daniela Fiedler zu. Wenn es irgendwann nicht mehr<br />

darum geht, das Zusammenleben zu organisieren,<br />

sondern sich über alles auszukotzen, könne es problematisch<br />

werden. Es funktioniere nun aber gut,<br />

und es haben sich Aktivgruppen gefunden, die<br />

sich um einzelne Räume kümmern. Die Soziologen<br />

haben geholfen, Nutzungsregeln aufzustellen, und<br />

gaben den Anschub zur Selbstorganisation und<br />

Starthilfe beim Urban Gardening.<br />

Es sei sehr schön und wichtig, dass es eine große<br />

Bewohnerschicht gäbe, die sich dem Haus zugehörig<br />

fühlt, es gäbe aber auch einige Erkenntnisse,<br />

die in weitere Strabag-Projekte einfließen: Die vielen<br />

gemeinschaftlichen Angebote seien ein wichtiger<br />

Mehrwert für die Hausgemeinschaft, man<br />

dürfe sie aber nicht sich selbst überlassen. Schließ-,<br />

Zutritts- und Buchungssysteme müssten akribischer<br />

durchdacht sein, sodass stets nachvollziehbar<br />

bleibt, wer welchen Raum wann genutzt hat.<br />

Damit wäre die Hemmschwelle, Räume unordentlich<br />

zu hinterlassen, höher als im Taborama, wo die<br />

nicht kostenpflichtigen Räume einfach mit dem<br />

Wohnungsschlüssel zugänglich sind. Damit die soziale<br />

Nachhaltigkeit gelingt, braucht es im Fall eines<br />

so großen Wohnhauses auch soziale Kontrolle.<br />

Das ist weniger eine Frage der Architektur als der<br />

Verwaltung, mehr eine der Software als der Hardware.<br />

Das architektonische Prinzip der vertikalen Stapelung<br />

von Gemeinschaftsräumen bringt jedenfalls<br />

auch mit sich, dass Nachbarschaft über Geschosse<br />

hinweg entstehen kann und Bewohner aus den<br />

unteren Geschossen sich auch in höheren Gefilden<br />

aufhalten dürfen. Spricht ja nichts dagegen,<br />

dass Errungenschaften aus dem genossenschaftlichen<br />

Wohnbau auch im freifinanzierten Bereich<br />

Einzug halten und nicht ausschließlich auf die Rendite<br />

geschielt wird.<br />

PLÄNE AUF DEN FOLGENDEN SEITEN


Ideen<br />

Die Altstadt<br />

weiterdenken<br />

89<br />

Passgenau wie<br />

ein Puzzlestück<br />

sitzt das neue<br />

Quartier im<br />

historisch<br />

gewachsenen<br />

Stadtgefüge<br />

von Schwaz bei<br />

Innsbruck.<br />

Die Architektin<br />

Silvia Boday<br />

webt die<br />

Altstadt weiter<br />

und übersetzt<br />

deren Qualitäten<br />

in eine<br />

atmosphärisch<br />

dichte, zeitgenössische<br />

Architektur.


90 Wohnen<br />

Öffentliche Funktionen und insgesamt 55 Wohnungen sind in den vier getrennten<br />

Baukörpern untergebracht. Die Fassaden stehen dicht an dicht – die Enge der Gassen<br />

erzeugt ein „Altstadtgefühl“.<br />

Rechts: Tief liegende Eichenfenster, flächenbündig sitzende Aluminiumfenster,<br />

Balkone und tief eingestülpte Loggien verstärken den fast skulpturalen Eindruck des<br />

Ensembles.


96<br />

Wohnen<br />

Eingeschriebene Stadtgeschichte<br />

Ein starker urbaner Charakter liegt der Stadt<br />

Schwaz, 30 Kilometer östlich von Innsbruck, sozusagen<br />

in den Genen. Die reichen Kupfer- und Silbervorkommen<br />

machten sie im 16. Jahrhundert zu<br />

einer der großen Bergbaumetropolen Europas und<br />

nach Wien zur zweitgrößten Stadt im Habsburgerreich.<br />

Die Mischung aus wohlhabenden Bürgern<br />

und Tausenden arbeitenden Knappen schlug sich<br />

auch im urbanen Gewebe nieder, in seinem dichten<br />

Altstadtgefüge, prächtigen Stadthäusern, einer<br />

mächtigen gotischen Kirche und genossenschaftlichen<br />

Arbeitersiedlungen. Auch hier stellen<br />

sich jedoch heute die allgegenwärtigen Fragen<br />

nach einer lebendigen Weiterentwicklung von<br />

Ortskernen, nach Gegenkonzepten zu den alternativ<br />

entstehenden gestaltlosen Einkaufszentren<br />

oder Wohnklötzen an der Peripherie.<br />

Die Bebauung des Quartiers am Raiffeisenplatz ist<br />

ein gutes Beispiel für ein solches funktionierendes<br />

Puzzlestück im innerstädtischen Kontext, das die<br />

Altstadt weiterwebt und deren Qualitäten und<br />

Raumatmosphären in unterschiedlichen Facetten<br />

Oben: Das Ensemble aus vier Volumen löst sich über eine große Hoffläche<br />

nach Osten auf, wo auch der Bestand lockerer und kleinteiliger wird.


Ideen<br />

97<br />

aufnimmt und in zeitgemäße Architektur übersetzt.<br />

Ausgangspunkt des Projekts war ein geladener<br />

Wettbewerb, den die Raiffeisen-Regionalbank<br />

Schwaz für die Bebauung dieses städtebaulich<br />

wertvollen Grundstücks ausgelobt hatte. Unmittelbar<br />

im historischen Stadtzentrum liegt es gleich<br />

hinter der ersten Häuserzeile des wichtigsten Straßenzugs<br />

und war bis vor Kurzem trotzdem reine<br />

Parkplatzfläche.<br />

Weniger Kubatur für mehr Qualität<br />

Die wichtigste Entscheidung traf die Innsbrucker<br />

Architektin Silvia Boday schon ganz zu Beginn: Sie<br />

schlug den Bauherren weniger Kubatur vor, als gefordert<br />

war, und pokerte damit hoch. Nur so waren<br />

ihrer Meinung nach eine angemessene Maßstäblichkeit<br />

und passende städtebauliche Körnung realisierbar.<br />

Das wurde offensichtlich von der Wettbewerbsjury<br />

verstanden, die ihr den Sieg zusprach.<br />

Die öffentlichen Funktionen und 55 Wohnungen<br />

sind nun in vier getrennten Baukörpern untergebracht,<br />

die sich in ihren Volumina an der Umgebung<br />

orientieren, nicht mächtiger sind als notwendig,<br />

aber dennoch Urbanität – und vor allem „Altstadtgefühl“<br />

– ausstrahlen, wie es die Architektin<br />

beschreibt.<br />

Der Topografie angepasst, entwickelt sich das Ensemble<br />

von der dichten, geschlossenen Verbauung<br />

an der Innsbrucker Straße die leichte Hanglage<br />

hinauf und löst sich über die große Hoffläche<br />

nach Osten hin auf, wo auch der Bestand lockerer<br />

und kleinteiliger wird. Blickt man vom öffentlichen<br />

Park nebenan auf die neuen Häuser, so zeigt sich<br />

eine auf- und abwandernde Dachlandschaft aus<br />

asymmetrischen Giebeln in unterschiedlichen Höhen,<br />

da und dort kerben sich kleine Terrassen wie<br />

Zahnlücken in die Dachkontur. Von hier lassen sich<br />

auch interessante Anleihen an die Umgebungsarchitektur<br />

beobachten: Die flachen Giebel, die Proportionen<br />

der Fenster, ihre weißen Faschen und<br />

die hölzernen Läden finden sich in den benachbarten<br />

Mehrfamilienhäusern wieder, die einst als<br />

genossenschaftliche Arbeiterhäuser der 1830 gegründeten<br />

Tabakfabrik errichtet wurden und eine<br />

eigene interessante Geschichte haben. Das Quartier<br />

verbindet also auf seine Weise die Typologie<br />

der Bürgerhäuser mit denen der Arbeiter. So richtig<br />

begreifen lässt sich dieses Projekt jedoch erst aus<br />

der Nähe, beim Durchwandern der zeitgenössisch-altstädtischen<br />

Gassensituationen.<br />

Zwischen den leicht gegeneinander verdrehten<br />

Baukörpern, in ihrem Grundriss verzogene Fünfecke,<br />

entstehen nämlich differenzierte Raumerlebnisse.<br />

Enge und Weite, schmale Gassen und<br />

sich öffnende Höfe erzeugen Spannung, die Fassaden<br />

stehen sich nah gegenüber, präzise Blickachsen<br />

geben Durchblicke zu Kulturdenkmälern der<br />

Umgebung frei. Insgesamt entsteht tatsächlich ein<br />

wohltuendes Altstadtfeeling, ein urbaner Raum in<br />

der richtigen Maßstäblichkeit, anders als bei vielen<br />

modernen Wohnbauten.<br />

Wesentlich mitgeprägt wird diese Atmosphäre von<br />

den lebendigen Fassaden des Ensembles. Sie sind<br />

nicht Oberflächengestaltung, sondern entwickeln<br />

sich nach einem stringenten System aus den Wohnungsgrundrissen<br />

heraus, von denen keiner wie<br />

der andere ist. Tief in der Fassade liegende Eichenfenster<br />

mit schrägen Leibungen für die Schlafzimmer,<br />

flächenbündig außen sitzende Aluminiumfenster<br />

für die Wohnräume, vorkragende Balkone<br />

und tief eingestülpte Loggien spielen mit der Mauertiefe<br />

und erzeugen einen fast skulpturalen Eindruck.<br />

Das alles wird von der sandfarbenen<br />

Putzoberfläche zusammengehalten, die in drei<br />

Varianten erscheint – gespachtelt, mit Besenstrich<br />

und als Kellenputz – und dadurch je nach Lichtverhältnissen,<br />

Wetter und Jahreszeit zwischen hellbraun,<br />

gelb und olivgrün changiert. Sie habe eine<br />

Nicht-Farbe gesucht, erklärt Silvia Boday, nichts<br />

Grelles, Hartes. Das Lindgrün der hölzernen Fensterläden<br />

kann als Hommage an das oxidierte Kupfer<br />

der Silberstadt gelesen werden und erinnert zugleich<br />

an mediterrane Dörfer.<br />

Individuelle Wohnungen zwischen<br />

edel und rau<br />

Im Inneren der Baukörper setzt sich die außen<br />

wahrgenommene Architekturhaltung konsequent<br />

fort. Die Wohnungen haben großteils zwischen 60<br />

und 90 Quadratmeter und differenzierte Grundrisse<br />

abseits der Norm mit spannenden Ausblicken in<br />

die Gassen und zu historischen Bauwerken der<br />

Umgebung. Die Materialität spielt sich zwischen<br />

edel und rau ab, gestaltet in Sichtbeton, Eiche und<br />

grünlichem Terrazzo. In den öffentlichen Erdgeschossen<br />

mit mehreren Arztpraxen und dem Kundencenter<br />

der Österreichischen Gesundheitskasse<br />

erzeugen raumhohe weiße Lamellen Diskretion,<br />

und das gut frequentierte Café zeigt, dass hier<br />

wirklich städtisches Leben stattfindet, in einem<br />

Quartier, das die historische Stadtstruktur weiterstrickt<br />

und deren Haptik, Lebendigkeit und Atmosphäre<br />

in die Gegenwart übersetzt.<br />

Zeitgenössische Altstadtgassen<br />

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