Baumeister 5/2024

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96 Wohnen Eingeschriebene Stadtgeschichte Ein starker urbaner Charakter liegt der Stadt Schwaz, 30 Kilometer östlich von Innsbruck, sozusagen in den Genen. Die reichen Kupfer- und Silbervorkommen machten sie im 16. Jahrhundert zu einer der großen Bergbaumetropolen Europas und nach Wien zur zweitgrößten Stadt im Habsburgerreich. Die Mischung aus wohlhabenden Bürgern und Tausenden arbeitenden Knappen schlug sich auch im urbanen Gewebe nieder, in seinem dichten Altstadtgefüge, prächtigen Stadthäusern, einer mächtigen gotischen Kirche und genossenschaftlichen Arbeitersiedlungen. Auch hier stellen sich jedoch heute die allgegenwärtigen Fragen nach einer lebendigen Weiterentwicklung von Ortskernen, nach Gegenkonzepten zu den alternativ entstehenden gestaltlosen Einkaufszentren oder Wohnklötzen an der Peripherie. Die Bebauung des Quartiers am Raiffeisenplatz ist ein gutes Beispiel für ein solches funktionierendes Puzzlestück im innerstädtischen Kontext, das die Altstadt weiterwebt und deren Qualitäten und Raumatmosphären in unterschiedlichen Facetten Oben: Das Ensemble aus vier Volumen löst sich über eine große Hoffläche nach Osten auf, wo auch der Bestand lockerer und kleinteiliger wird.
Ideen 97 aufnimmt und in zeitgemäße Architektur übersetzt. Ausgangspunkt des Projekts war ein geladener Wettbewerb, den die Raiffeisen-Regionalbank Schwaz für die Bebauung dieses städtebaulich wertvollen Grundstücks ausgelobt hatte. Unmittelbar im historischen Stadtzentrum liegt es gleich hinter der ersten Häuserzeile des wichtigsten Straßenzugs und war bis vor Kurzem trotzdem reine Parkplatzfläche. Weniger Kubatur für mehr Qualität Die wichtigste Entscheidung traf die Innsbrucker Architektin Silvia Boday schon ganz zu Beginn: Sie schlug den Bauherren weniger Kubatur vor, als gefordert war, und pokerte damit hoch. Nur so waren ihrer Meinung nach eine angemessene Maßstäblichkeit und passende städtebauliche Körnung realisierbar. Das wurde offensichtlich von der Wettbewerbsjury verstanden, die ihr den Sieg zusprach. Die öffentlichen Funktionen und 55 Wohnungen sind nun in vier getrennten Baukörpern untergebracht, die sich in ihren Volumina an der Umgebung orientieren, nicht mächtiger sind als notwendig, aber dennoch Urbanität – und vor allem „Altstadtgefühl“ – ausstrahlen, wie es die Architektin beschreibt. Der Topografie angepasst, entwickelt sich das Ensemble von der dichten, geschlossenen Verbauung an der Innsbrucker Straße die leichte Hanglage hinauf und löst sich über die große Hoffläche nach Osten hin auf, wo auch der Bestand lockerer und kleinteiliger wird. Blickt man vom öffentlichen Park nebenan auf die neuen Häuser, so zeigt sich eine auf- und abwandernde Dachlandschaft aus asymmetrischen Giebeln in unterschiedlichen Höhen, da und dort kerben sich kleine Terrassen wie Zahnlücken in die Dachkontur. Von hier lassen sich auch interessante Anleihen an die Umgebungsarchitektur beobachten: Die flachen Giebel, die Proportionen der Fenster, ihre weißen Faschen und die hölzernen Läden finden sich in den benachbarten Mehrfamilienhäusern wieder, die einst als genossenschaftliche Arbeiterhäuser der 1830 gegründeten Tabakfabrik errichtet wurden und eine eigene interessante Geschichte haben. Das Quartier verbindet also auf seine Weise die Typologie der Bürgerhäuser mit denen der Arbeiter. So richtig begreifen lässt sich dieses Projekt jedoch erst aus der Nähe, beim Durchwandern der zeitgenössisch-altstädtischen Gassensituationen. Zwischen den leicht gegeneinander verdrehten Baukörpern, in ihrem Grundriss verzogene Fünfecke, entstehen nämlich differenzierte Raumerlebnisse. Enge und Weite, schmale Gassen und sich öffnende Höfe erzeugen Spannung, die Fassaden stehen sich nah gegenüber, präzise Blickachsen geben Durchblicke zu Kulturdenkmälern der Umgebung frei. Insgesamt entsteht tatsächlich ein wohltuendes Altstadtfeeling, ein urbaner Raum in der richtigen Maßstäblichkeit, anders als bei vielen modernen Wohnbauten. Wesentlich mitgeprägt wird diese Atmosphäre von den lebendigen Fassaden des Ensembles. Sie sind nicht Oberflächengestaltung, sondern entwickeln sich nach einem stringenten System aus den Wohnungsgrundrissen heraus, von denen keiner wie der andere ist. Tief in der Fassade liegende Eichenfenster mit schrägen Leibungen für die Schlafzimmer, flächenbündig außen sitzende Aluminiumfenster für die Wohnräume, vorkragende Balkone und tief eingestülpte Loggien spielen mit der Mauertiefe und erzeugen einen fast skulpturalen Eindruck. Das alles wird von der sandfarbenen Putzoberfläche zusammengehalten, die in drei Varianten erscheint – gespachtelt, mit Besenstrich und als Kellenputz – und dadurch je nach Lichtverhältnissen, Wetter und Jahreszeit zwischen hellbraun, gelb und olivgrün changiert. Sie habe eine Nicht-Farbe gesucht, erklärt Silvia Boday, nichts Grelles, Hartes. Das Lindgrün der hölzernen Fensterläden kann als Hommage an das oxidierte Kupfer der Silberstadt gelesen werden und erinnert zugleich an mediterrane Dörfer. Individuelle Wohnungen zwischen edel und rau Im Inneren der Baukörper setzt sich die außen wahrgenommene Architekturhaltung konsequent fort. Die Wohnungen haben großteils zwischen 60 und 90 Quadratmeter und differenzierte Grundrisse abseits der Norm mit spannenden Ausblicken in die Gassen und zu historischen Bauwerken der Umgebung. Die Materialität spielt sich zwischen edel und rau ab, gestaltet in Sichtbeton, Eiche und grünlichem Terrazzo. In den öffentlichen Erdgeschossen mit mehreren Arztpraxen und dem Kundencenter der Österreichischen Gesundheitskasse erzeugen raumhohe weiße Lamellen Diskretion, und das gut frequentierte Café zeigt, dass hier wirklich städtisches Leben stattfindet, in einem Quartier, das die historische Stadtstruktur weiterstrickt und deren Haptik, Lebendigkeit und Atmosphäre in die Gegenwart übersetzt. Zeitgenössische Altstadtgassen PLÄNE AUF DEN FOLGENDEN SEITEN
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