E&W Dezember 2010 - GEW
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Erziehung<br />
undWissenschaft<br />
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft <strong>GEW</strong> 12/<strong>2010</strong><br />
Zehn Jahre PISA –<br />
Lesekompetenz<br />
in Deutschland
GASTKOMMENTAR<br />
Warum regt sich<br />
niemand auf?<br />
Vor knapp zehn Jahren entfachte die PISA-Studie<br />
in Deutschland eine Diskussion über die Leistungsfähigkeit<br />
des Bildungssystems, vergleichbar<br />
nur mit derjenigen in den 1960er-Jahren, die<br />
der Pädagoge Georg Picht mit seinem Begriff der<br />
„Bildungskatastrophe“ angezettelt bzw. auf den<br />
Punkt gebracht hatte. PISA hatte festgestellt,<br />
dass ein Viertel der Jugendlichen die Schule ohne<br />
ausreichende Grundbildung verlässt (PISA<br />
2001). Überraschend war dies wiederum nicht:<br />
Bereits 1996 hatte die OECD im International<br />
Adult Literacy Survey (IALS) ermittelt, dass in<br />
Deutschland 14,4 Prozent der Erwachsenen<br />
(zirka 7,7 Millionen!) lediglich das niedrigste<br />
Niveau der Lesekompetenz erreichten.<br />
Die 15-Jährigen des Jahres 2000 sind heute erwachsen.<br />
Jährlich haben seit damals<br />
bis heute zwischen 65 000<br />
und annähernd 80 000 Jugendliche<br />
ohne Hauptschulabschluss<br />
und mit höchstwahrscheinlich<br />
gravierenden Mängeln im Schreiben<br />
und Rechnen die Schule verlassen.<br />
Bei einer engen Definition<br />
ist davon auszugehen, dass<br />
heute in Deutschland etwa vier<br />
Millionen Menschen (fünf Prozent<br />
der Gesamtbevölkerung)<br />
Analphabeten sind.<br />
Doch was geschah mit den Jugendlichen<br />
von damals, der<br />
„PISA-Generation“? Was ist <strong>2010</strong> aus ihnen geworden?<br />
Warum fragt niemand danach, warum<br />
diskutiert das niemand (s. S. 9/10)?<br />
Wir wissen, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund<br />
seltener einen Ausbildungsplatz finden,<br />
ihr Anteil im dualen System rückläufig und<br />
ihre Abbrecherquote hoch ist. Und wir wissen,<br />
dass die Zahl der Arbeitsplätze für Ungelernte<br />
erheblich abnimmt. Bis heute ist fast die Hälfte<br />
aller Jobs, die es noch vor zehn Jahren für Menschen<br />
ohne Berufsabschluss gab, abgebaut. Wir<br />
wissen, dass wir es hier mit einer bedeutsamen<br />
Minderheit Erwachsener zu tun haben, die für<br />
berufliche und gesellschaftliche Teilnahme einer<br />
angemessenen Bildung bedürfen.<br />
Die Jugendlichen von damals sind heute zwar<br />
Adressatengruppen in der Erwachsenen- und Weiterbildung.<br />
Es ist aber hinreichend belegt, dass<br />
die Wahrscheinlichkeit der Teilnahme an einer<br />
Fortbildung mit dem Bildungsniveau steigt. Dies<br />
gilt sowohl für organisierte Weiterbildung als<br />
auch für informelle Bildung, und dies trifft auch<br />
auf andere Länder zu. Obwohl die Teilnahmequoten<br />
wieder seit einigen Jahren ansteigen (auch bei<br />
den Niedrigqualifizierten), vergrößert sich der Bil-<br />
2 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
dungsabstand zwischen Höher- und Geringerqualifizierten<br />
eher. Denn: Die Erkenntnis der PISA-<br />
Studie, dass das Verfehlen grundlegender Kompetenzen<br />
gleichsam sozial „vererbt“ wird, kann<br />
auch die Weiterbildung nicht aufheben. Die Hoffnung,<br />
hier könnten Nachteile aus dem Schulsystem<br />
kompensiert werden, hat sich bis heute nicht<br />
erfüllt.<br />
Dabei sind viele Aktivitäten erkennbar, diese Situation<br />
zu verbessern: Bildungsabschlüsse lassen<br />
sich nachholen bei Volkshochschulen, Abendschulen<br />
und Kollegs sowie Fernunterrichtsinstituten<br />
(etwa 180 000 Teilnehmende pro Jahr). Seit einigen<br />
Jahren werden auch informell erworbene<br />
Kompetenzen erfasst (z.B. im „Profilpass“) und<br />
verwertet. Projekte wie „Brücke von der Schule<br />
zur Ausbildung“, „Deutsch für Personen<br />
mit Migrationshintergrund“,<br />
„Elternweiterbildung“<br />
sind oft gute Ansätze, denen es jedoch<br />
an Förderung und systematischer<br />
Verbreitung fehlt.<br />
Vor allem mangelt es an einer<br />
verbindlichen Realität dessen,<br />
was mit dem Begriff „Lebenslanges<br />
Lernen“ gemeint ist – an einer<br />
systematischen Vernetzung<br />
Foto: ??????????????????<br />
der Bildungsbereiche, die den<br />
biografischen Lernweg beglei-<br />
Ekkehard Nuissl<br />
ten, unterstützen und ermöglichen:<br />
Kita, Schule, Berufliche Bildung,<br />
Hochschule, Weiterbildung. In solch einem<br />
vernetzten System könnte Weiterbildung<br />
wichtige Beiträge leisten: in der Elternbildung,<br />
der beruflichen Bildung, der Migrantenfortbildung,<br />
der Öffnung von Schule, der Fachdidaktik,<br />
dem Lernen am Arbeitsplatz und im sozialen<br />
Umfeld. Wenn unterschiedliche Bildungsbereiche<br />
sich aufeinander beziehen und über die Lernenden<br />
definieren, kann es auch nicht passieren,<br />
dass ganze Kohorten „vergessen“ werden.<br />
Man geht heute mit Blick auf ganz Europa davon<br />
aus, dass der Anteil der Menschen mit mangelnder<br />
Grundbildung perspektivisch bei einem Viertel<br />
der gesamten europäischen Bevölkerung<br />
liegt. Es wäre fatal, wenn man diese Gruppe immer<br />
wieder vernachlässigt. Und es wäre fatal,<br />
wenn sich das Bildungssystem nicht insgesamt<br />
verantwortlich für einen lebenswerten Alltag<br />
und Beruf dieser Menschen einsetzen würde.<br />
Und das möglicherweise wiederum, ohne dass<br />
sich jemand aufregt.<br />
Ekkehard Nuissl, wissenschaftlicher Direktor<br />
des Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung<br />
(DIE) und Professor für Erwachsenenbildung<br />
an der Universität Duisburg-Essen<br />
Prämie<br />
des Monats<br />
Seite 5<br />
Engagement kommt anderen zugute.<br />
Werben Sie im <strong>Dezember</strong> ein neues<br />
<strong>GEW</strong>-Mitglied und spenden Sie<br />
30 Euro für ein internationales<br />
Hilfsprojekt. Es danken Ihnen: die<br />
<strong>GEW</strong> und ein Mensch, der Unterstützung<br />
braucht!<br />
Impressum<br />
Erziehung und Wissenschaft<br />
Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung · 62. Jg.<br />
Herausgeber: Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft<br />
im Deutschen Gewerkschaftsbund.<br />
Vorsitzender: Ulrich Thöne.<br />
Redaktion: Ulf Rödde (verantwortlich),<br />
Helga Haas-Rietschel.<br />
Redaktionsassistenz: Renate Körner.<br />
Postanschrift der Redaktion:<br />
Reifenberger Straße 21, 60489 Frankfurt a. M.,<br />
Telefon (0 69) 7 89 73-0, Telefax (0 69) 7 89 73-202.<br />
Internet: www.gew.de<br />
Redaktionsschluss ist der 10. eines jeden Monats.<br />
Erziehung und Wissenschaft erscheint elfmal jährlich, jeweils<br />
am 5. des Monats mit Ausnahme der Sommerferien.<br />
Gestaltung: Werbeagentur Zimmermann,<br />
Heddernheimer Landstraße 144, 60439 Frankfurt<br />
Druck: apm AG, Kleyerstraße 3, 64295 Darmstadt.<br />
Für die Mitglieder ist der Bezugspreis im Mitgliedsbeitrag<br />
enthalten. Für Nichtmitglieder beträgt der Bezugspreis<br />
jährlich Euro 7,20 zuzüglich Euro 11,30 Zustellgebühr inkl.<br />
MwSt. Für die Mitglieder der Landesverbände Bayern,<br />
Berlin, Brandenburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern,<br />
Rheinland-Pfalz, Saar, Sachsen, Schleswig-Holstein und<br />
Thüringen werden die jeweiligen Landeszeitungen der<br />
E&W beigelegt. Für unverlangt eingesandte Manuskripte<br />
und Rezensionsexemplare wird keine Verantwortung<br />
übernommen. Die mit dem Namen des Verfassers gekennzeichneten<br />
Beiträge stellen nicht unbedingt die<br />
Meinung der Redaktion oder des Herausgebers dar.<br />
Verlag mit Anzeigenabteilung: Stamm Verlag GmbH,<br />
Goldammerweg 16, 45134 Essen,<br />
Verantwortlich für Anzeigen: Mathias Müller,<br />
Tel. (0201) 84300-0,Telefax (0201) 472590,<br />
anzeigen@stamm.de; www.erziehungundwissenschaft.de,<br />
gültige Anzeigenpreisliste Nr. 37 vom 1. 1. 2009,<br />
Anzeigenschluss ca. am 5. des Vormonats.<br />
E&W wird auf chlorfrei<br />
gebleichtem Papier gedruckt.<br />
ISSN 0342-0671
Zehn Jahre PISA – vor einer Dekade versetzte die erste<br />
PISA-Studie die Nation in Schockzustand. Nun liegt mit den<br />
Ergebnissen des PISA-Tests 2009, in dessen Zentrum erneut<br />
die Lesekompetenz steht, eine aktuelle Analyse unter dem<br />
Weihnachtsbaum der Kultusminister. Abzusehen ist: Frohe<br />
Botschaften werden darin kaum verkündet. Nach wie vor hat<br />
die Kultusministerkonferenz (KMK) ihre Hausaufgaben nur<br />
mangelhaft erledigt. Der größte Skandal des deutschen<br />
Schulsystems, die Abhängigkeit des Bildungserfolges von<br />
der sozialen Herkunft der Kinder, besteht weiterhin.<br />
Schwerpunkt PISA Seite 6 ff.<br />
Gastkommentar<br />
Warum regt sich niemand auf? Seite 2<br />
Impressum Seite 2<br />
Auf einen Blick Seite 4<br />
Titel: PISA<br />
1. Zehn Jahre PISA: Auf das falsche Pferd gesetzt Seite 6<br />
2. Interview mit Cordula Artelt:<br />
„Es liegt noch ein weiter Weg vor uns“ Seite 9<br />
3. Wo bleibt das Positive?<br />
Interpretations-Wirrwarr um die PISA-Daten Seite 11<br />
4. <strong>GEW</strong>-Mitgliederbefragung zur Lesekompetenz:<br />
„Viel geredet – wenig getan!“ Seite 12<br />
Bildungspolitik<br />
1. Ganztagsschulkongress: „Alle reden von ,Revolution‘“ Seite 13<br />
2. Interview mit Eckhard Klieme: „Ein Coach an jede Schule“ Seite 14<br />
3. Schulpsychologen: Warum weint ein Kind nach der Schule? Seite 18<br />
4. Deutschland verstößt gegen UN-Sozialpakt Seite 25<br />
Inklusion<br />
1. Interview mit Vernor Muñoz:<br />
„Deutschland braucht ein inklusives Bildungswesen!“ Seite 15<br />
2. <strong>GEW</strong>-Tagung „Profession braucht Inklusion“ Seite 17<br />
Dialog: Zeitschrift für Seniorinnen und Senioren Seite 19<br />
Foto: imago<br />
Liebe Leserin, lieber Leser!<br />
Wir wünschen Ihnen ein friedvolles und<br />
fröhliches, ein heiteres und besinnliches<br />
Weihnachtsfest – mit aufmerksamem und<br />
achtendem Blick für den Anderen.<br />
Möge das Jahr gut für Sie enden und 2011 mit<br />
Hoffnung und Zuversicht neu beginnen.<br />
Ihre E&W-Redaktion<br />
Gesellschaftspolitik<br />
1. Kommentar zum Integrationsgipfel: Angst und Ignoranz Seite 23<br />
2. Massiver Protest gegen Sozialabbau Seite 24<br />
3. <strong>GEW</strong>-Kommentar: „Für einen politischen Kurswechsel“ Seite 24<br />
Weiterbildung<br />
Herbstakademie: Was bringt Regionalisierung? Seite 26<br />
Internationales<br />
Interview mit Jucara Maria Dutra Vieira und Fátima Aparecida da Silva:<br />
„Wir wollen die Schulpflicht verlängern“ Seite 27<br />
Tarifpolitik<br />
1. Interview mit Werner Balfer:<br />
„Einkommenssituation verbessert“ Seite 28<br />
2. L-ego: Sondierungsgespräche vereinbart Seite 29<br />
3. Leserdebatte: Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit! Seite 30<br />
<strong>GEW</strong>-Intern<br />
1. Mitgliederservice Seite 32<br />
2. Immer noch ein Vorbild: Heinrich Rodenstein Seite 35<br />
3. Spendenaufruf: Hilfe für Burkina Faso Seite 35<br />
Leserforum Seite 36<br />
Diesmal Seite 40<br />
Titel: Werbeagentur Zimmermann<br />
Foto: zplusz<br />
Auf ein Wort ...<br />
Die<strong>GEW</strong>hatimvergangenen<br />
Jahr per Saldo über 6000 Mitglieder<br />
gewonnen. Auch <strong>2010</strong><br />
hat sich die positive Entwicklung<br />
fortgesetzt. Vor allem<br />
während der Tarifauseinandersetzungen<br />
sind viele Kolleginnen<br />
und Kollegen in die Bildungsgewerkschafteingetreten.<br />
Damit geben wir uns aber<br />
nicht zufrieden. Die Verhandlungen<br />
über die Länder-Entgeltordnung<br />
(L-ego) für Lehrkräfte,<br />
aber auch das Engagement für<br />
ein inklusives Bildungssystem<br />
erfordern eine starke <strong>GEW</strong>.<br />
Denn wir wollen diese Auseinandersetzungen<br />
gewinnen!<br />
Dafür brauchen wir Ihre, Deine<br />
Unterstützung. In den nächsten<br />
Monaten werden jeder Ausgabe<br />
der „Erziehung und Wissenschaft“<br />
zwei Flugblätter der Serie<br />
„Auf ein Wort, liebe Kollegin,<br />
lieber Kollege“ beigeheftet.<br />
Wir bitten alle Leserinnen<br />
und Leser, die Blätter herauszutrennen<br />
und über die Inhalte<br />
das persönliche Gespräch mit<br />
Kolleginnen und Kollegen am<br />
Arbeitsplatz oder im Bekanntenkreis<br />
zu suchen und diese<br />
für eine Mitgliedschaft in der<br />
<strong>GEW</strong> zu gewinnen.<br />
Herzlichen Dank für Ihre,<br />
Deine Unterstützung!<br />
Ulf Rödde, Redaktionsleiter der<br />
„Erziehung und Wissenschaft“<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 3
AUF EINEN BLICK<br />
Erziehung<br />
undWissenschaft<br />
Zeitschrift der Bildungsgewerkschaft <strong>GEW</strong> 7-8/<strong>2010</strong><br />
Stoppt Kinderarbeit!<br />
Schule ist der richtige Arbeitsplatz<br />
Rente mit 67: Schönfärberei<br />
DGB-Chef Michael Sommer hat sich dafür ausgesprochen, die<br />
Rentenbeiträge geringfügig zu erhöhen, um die Rente mit 67<br />
zu verhindern. Dies würde Arbeitgeber und Arbeitnehmer zusammen<br />
nur 0,6 Prozent mehr kosten, so Sommer. Der Rentenbeginn<br />
mit 67 Jahren sei für viele Beschäftigte selbst bei einer<br />
deutlichen Entspannung auf dem Arbeitsmarkt kaum zu<br />
erreichen und verschärfe die soziale Schieflage in Deutschland.<br />
Zu diesem Ergebnis kam der vierte Monitoring-Bericht<br />
des Netzwerks für eine gerechte Rente, zu dem die DGB-Gewerkschaften<br />
sowie Sozial- und Wohlfahrtsverbände gehören.<br />
Die Folgen seien gravierende Rentenkürzungen und eine drastische<br />
Zunahme der Altersarmut. „Die Fakten belegen, dass<br />
die Einführung der Rente mit 67 nicht zu vertreten ist. Wenn<br />
sich die Bundesregierung an die geltende Rechtslage hält,<br />
muss sie die Rente mit 67 in diesem Jahr stoppen oder zumindest<br />
auf Eis legen“, betonte DGB-Vorstandsmitglied Annelie<br />
Buntenbach. Sie forderte die Bundesregierung auf, die Situation<br />
nicht länger „zu verharmlosen“ und „schönzufärben“.<br />
<strong>GEW</strong>-Initiative gegen Kinderarbeit<br />
4 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Die <strong>GEW</strong> startet im April 2011 eine „Initiative gegen<br />
Kinderarbeit – für Bildung“ (s. E&W-Schwerpunkt „Kinderarbeit“,<br />
Ausgabe 7-8/<strong>2010</strong>). <strong>GEW</strong>-Vorsitzender Ulrich<br />
Thöne stellte das Projekt auf der Hauptvorstandssitzung<br />
im November in Göttingen vor. Die Initiative solle Teil<br />
einer internationalen gewerkschaftlichen Kampagne gegen<br />
Kinderarbeit werden, so Gastredner Fred van<br />
Leeuwen, Generalsekretär der Bildungsinternationale<br />
(BI). Die Welt dürfe nicht länger zusehen, wie noch immer<br />
über 200 Millionen Kinder nicht zur Schule gingen<br />
und dazu verdammt seien, „ihre Kindheit und Jugend<br />
auf Feldern, in Fabriken und in Ausbeutungsbetrieben<br />
zu verbringen“, mahnte van Leeuwen.<br />
Menschenrechtsverstöße in der Türkei<br />
Wieder sind türkische Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter<br />
einem exzessiv langen Strafverfahren ausgesetzt: Die<br />
Anklage wirft ihnen vor, Mitglied von Organisationen zu sein,<br />
die als PKK*-verdächtig gelten. Die Angeklagten, 31 Gewerkschafterinnen<br />
und Gewerkschafter von Kamu Emekçileri Sendikalari<br />
Konfederasyonu (KESK) und Egitim Sen, waren von Mai<br />
bis November 2009 in Untersuchungshaft. Seit der ersten Verhandlung<br />
im November 2009 ist mehr als ein Jahr vergangen.<br />
Das Ergebnis des letzten Verhandlungstages am 22. Oktober<br />
<strong>2010</strong> vor dem zehnten türkischen Strafgerichtshof in Izmir:<br />
Man hat lediglich den nächsten Gerichtstermin für Februar<br />
2011 angesetzt. Nicht nur die außerordentlich lange Zeit des<br />
Strafverfahrens erweckt den Eindruck der Prozessverschleppung.<br />
Die Anklage selbst steht auf mehr als wackeligen Beinen:<br />
Seit knapp einem Jahr sind die Beweismittel aus den angeforderten<br />
Akten gegen die angeklagten Gewerkschafter<br />
noch immer nicht beim Gericht in Izmir angekommen. Die<br />
halbjährige Untersuchungshaft und der nun knapp ein Jahr<br />
dauernde Gerichtsprozess zermürbt die Angeklagten – psychisch<br />
und physisch. Man untersagt ihnen auch, ins Ausland<br />
zu reisen. Dies betrifft beispielsweise Gülçin Isbert, die den<br />
Menschenrechtspreis (Egitim Sen – EI-Award) der Bildungsinternationale<br />
(BI) erhalten soll.<br />
* Kurdische Arbeiterpartei Partiya Karkerên Kurdiastan<br />
Foto: Privat<br />
Traumjob<br />
Erzieherin?<br />
Der Beruf der Erzieherin<br />
ist noch weit davon<br />
entfernt, ein Traumjob<br />
zu sein. Die Realität:<br />
geringer Verdienst, oft<br />
auf Hartz-IV-Niveau,<br />
schlechte Rahmenbedingungen.<br />
Die Folgen:<br />
Viele geben den<br />
Beruf schnell auf oder<br />
leiden unter chronischenBerufskrankheiten.<br />
„Der Anspruch an<br />
die Qualität frühkindlicher<br />
Bildung und die<br />
Bedingungen, unter de-<br />
nen Erzieherinnen gute Arbeit leisten sollen, klaffen meilenweit<br />
auseinander“, sagte <strong>GEW</strong>-Jugendhilfeexperte Norbert<br />
Hocke, als er in Berlin die Ergebnisse einer <strong>GEW</strong>-Studie zur beruflichen,<br />
familiären und ökonomischen Situation der Erzieherinnen<br />
und Kinderpfleger vorstellte. Laut <strong>GEW</strong>-Studie haben<br />
nur 50 Prozent der Erzieherinnen und 30 Prozent der Kinderpfleger<br />
eine Vollzeitstelle. Nur 49 Prozent der Fachkräfte<br />
unter 25 Jahren sind unbefristet eingestellt. Fast 20 Prozent der<br />
Berufsanfängerinnen sind mit einem Verdienst von unter 786<br />
Euro armutsgefährdet. Die <strong>GEW</strong> schlägt ein Vier-Punkte-Programm<br />
vor, um die Situation der Fachkräfte zu verbessern und<br />
den Bereich der sozialpädagogischen Berufe aufzuwerten.<br />
Nähere Infos unter: www.gew.de/Berufsbild_Erzieherin.html<br />
Dorothea Schäfer neue Chefin der <strong>GEW</strong> NRW<br />
Mit Dorothea Schäfer steht seit dem 20.<br />
November erstmals seit 30 Jahren wieder<br />
eine Frau an der Spitze der nordrhein-westfälischenBildungsgewerkschaft.<br />
Auf Schäfer entfielen bei der<br />
Wahl 96 Prozent der Stimmen. Die 56jährige<br />
Gesamtschullehrerin, seit 1993<br />
Mitglied im <strong>GEW</strong>-Landesvorstand, tritt<br />
die Nachfolge von Andreas Meyer-Lau-<br />
Dorothea Schäfer ber an, der im Oktober zum DGB-Bezirksvorsitzenden<br />
gewählt worden ist (s.<br />
E&W 10/<strong>2010</strong>). Schäfer will u.a. einen Stufenplan für kleinere<br />
Klassen durchsetzen.<br />
Thomas Lippmann bleibt im Amt<br />
Auf der Landesdelegiertenkonferenz der<br />
<strong>GEW</strong> Sachsen-Anhalt ist Thomas Lippmann<br />
Ende November als Landesvorsitzender<br />
bestätigt worden. Er erreichte bei<br />
der Wahl 95,4 Prozent der Stimmen. Der<br />
48-jährige Mathe- und Physiklehrer ist<br />
seit 1998 <strong>GEW</strong>-Landeschef. Lippmann<br />
engagierte sich in den vergangenen 15<br />
Jahren erfolgreich für tarifvertragliche<br />
Regelungen zur Arbeitsplatzsicherung<br />
der Lehrkräfte und pädagogischen Mitarbeiter.<br />
Jugendhilfe und Sozialarbeit<br />
Dr. Kirsten Fuchs-Rechlin,Technische Universität Dortmund –<br />
Arbeitsstelle Kinder- und Jugendhilfestatistik<br />
Die berufliche, familiäre<br />
und ökonomische Situation<br />
von Erzieherinnen<br />
und Kinderpflegerinnen<br />
Sonderauswertung des Mikrozensus<br />
Im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung der <strong>GEW</strong><br />
Gewerkschaft<br />
Erziehung und Wissenschaft<br />
Foto: Privat<br />
Thomas Lippmann
#<br />
Bitte in Druckschrift ausfüllen.<br />
Ihre Daten sind entsprechend den Bestimmungen des Bundesdatenschutzgesetzes geschützt.<br />
Antrag auf<br />
Mitgliedschaft<br />
Vorname/Name<br />
Straße/Nr.<br />
Land/PLZ/Ort<br />
Mitmachen lohnt sich...<br />
...mit jedem neu geworbenen <strong>GEW</strong>-Mitglied unternehmen Sie etwas gegen den Hunger in derWelt.<br />
Geburtsdatum/Nationalität<br />
Bisher gewerkschaftlich organisiert bei von bis (Monat/Jahr)<br />
Telefon Fax<br />
Jedes Mitglied der <strong>GEW</strong> ist verpflichtet, den satzungsgemäßen Beitrag zu entrichten und seine Zahlungen<br />
daraufhin regelmäßig zu überprüfen. Mit meiner Unterschrift auf diesem Antrag erkenne ich die<br />
Satzung der <strong>GEW</strong> an und ermächtige die <strong>GEW</strong> zugleich widerruflich, den von mir zu leistenden Mitgliedsbeitrag<br />
vierteljährlich von meinem Konto abzubuchen. Prämienberechtigt sind <strong>GEW</strong>-Mitglieder,<br />
die ein beitragzahlendes Mitglied werben. Der Landesverband Niedersachsen<br />
nimmt nicht an diesem Programm teil.<br />
Ort/Datum Unterschrift<br />
Daten desWerbers<br />
Ich habe die oben genannte Person als neues <strong>GEW</strong>-Mitglied geworben.<br />
Vorname/Name<br />
Straße/Nr.<br />
PLZ/Ort<br />
Prämie des Monats <strong>Dezember</strong><br />
Eine 30-Euro-Spende für internationale Organisationen<br />
(Bitte wählen Sie zwischen dem Heinrich-Rodenstein-Fonds der <strong>GEW</strong> und derWelthungerhilfe)<br />
Ihr Mitgliedsbeitrag:<br />
- BeamtInnen zahlen 0,75 Prozent der Besoldungsgruppe und -stufe, nach der sie besoldet werden.<br />
- Angestellte zahlen 0,7 Prozent der Entgeltgruppe und Stufe, nach der vergütet wird.<br />
- Der Mindestbeitrag beträgt immer 0,6 Prozent der untersten Stufe der Entgeltgruppe 1 des TVöD.<br />
- Arbeitslose zahlen ein Drittel des Mindestbeitrages.<br />
- Studierende zahlen einen Festbetrag von 2,50 Euro.<br />
- Mitglieder im Referendariat oder Praktikum zahlen einen Festbetrag von 4 Euro.<br />
- Mitglieder im Ruhestand zahlen 0,66 Prozent ihrer Ruhestandsbezüge.<br />
Weitere Informationen sind der Beitragsordnung zu entnehmen.<br />
E-Mail<br />
Berufsbezeichnung/-ziel beschäftigt seit Fachgruppe<br />
Name/Ort der Bank<br />
Kontonummer BLZ<br />
Tarif-/Besoldungsgebiet<br />
Tarif-/Besoldungsgruppe Stufe seit<br />
Bruttoeinkommen € monatlich (falls nicht öffentlicher Dienst)<br />
Betrieb/Dienststelle/Schule Träger des Betriebes/der Dienststelle/der Schule<br />
Straße/Nr.des Betriebes/der Dienststelle/der Schule PLZ/Ort<br />
<strong>GEW</strong>-Landesverband<br />
Telefon Fax<br />
E-Mail<br />
Spende für dieWelthungerhilfe<br />
Spende für den<br />
Heinrich-Rodenstein-Fonds der <strong>GEW</strong><br />
E+W-Prämie des<br />
Monats <strong>Dezember</strong> <strong>2010</strong>/Spende<br />
Beschäftigungsverhältnis<br />
Honorarkraft<br />
angestellt<br />
beamtet<br />
teilzeitbeschäftigt mit<br />
Prozent<br />
teilzeitbeschäftigt mit<br />
Std./Woche<br />
in Rente/pensioniert<br />
Altersteilzeit<br />
befristet bis<br />
arbeitslos<br />
beurlaubt ohne Bezüge<br />
im Studium<br />
in Elternzeit<br />
Referendariat/<br />
Berufspraktikum<br />
Sonstiges<br />
Bitte den Antrag<br />
vollständig ausfüllen<br />
und an folgende<br />
Adresse senden:<br />
Gewerkschaft<br />
Erziehung undWissenschaft<br />
Reifenberger Straße 21<br />
60489 Frankfurt a.M.<br />
Fax:069/78973-102<br />
Vielen Dank!<br />
Ihre <strong>GEW</strong>
6 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong>
Auf das falsche Pferd gesetzt<br />
Zehn Jahre PISA – eine Bilanz der KMK-Maßnahmen<br />
Als Reaktion auf den PISA-Schock<br />
beschlossen die Kultusminister im <strong>Dezember</strong><br />
2001, auf sieben Handlungsfeldern<br />
aktiv zu werden (s. Kasten).<br />
Unter dem Druck der öffentlichen<br />
Meinung und aufgrund massiver Kritik<br />
am schulpolitischen Föderalismus<br />
entschied sich die Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) für eine Blitz-Reaktion<br />
und die Methode „Schrotschuss“:<br />
Eine Kugel trifft schon ins Schwarze.<br />
Die sieben Handlungsfelder<br />
der KMK bieten von<br />
(fast) allem etwas: frühkindliche<br />
Bildung, Sprachförderung<br />
für Leistungsschwache,<br />
Qualitätsentwicklung, Entwicklung<br />
der Lehrerprofessionalität, Verzahnung<br />
von vorschulischer und schulischer<br />
Bildung und – hart umkämpft –<br />
Ausbau von Ganztagsangeboten.<br />
Tabu Schulstruktur<br />
Ein wichtiges Handlungsfeld fehlte allerdings:<br />
Die selektive Schulstruktur in<br />
Deutschland als eine wichtige Quelle<br />
der extremen sozialen Schieflage im<br />
deutschen Schulwesen wird in den<br />
Handlungsfeldern nicht einmal erwähnt.<br />
Die KMK hatte sich auf ein Tabu<br />
verständigt, um – wie es hieß – sich<br />
nicht in einer „politischen Schlammschlacht“<br />
zu verausgaben. Die Ironie<br />
der Verhältnisse will es nun, dass die<br />
Schulstrukturfrage heute – zehn Jahre<br />
nach der ersten PISA-Erhebung – selbst<br />
der CDU/CSU ein zentrales bildungspolitisches<br />
Thema ist.<br />
Was hat die KMK-Initiative erreicht?<br />
Zehn Jahre nach der ersten PISA-Erhebung<br />
und neun Jahre nach Veröffentlichung<br />
der ersten Ergebnisse muss eine<br />
Bilanz möglich sein. PISA 2009 hat<br />
Schülerinnen und Schüler getestet, deren<br />
gesamte Schulzeit in die PISA-Ära fiel.<br />
Leseförderung: wirkungslos<br />
Wie schon in 2000 steht bei PISA 2009<br />
Lesekompetenz im Fokus – die Ergebnisse<br />
sind vorhersehbar. Wie lässt sich<br />
das erklären?<br />
Die KMK hat mit dem Paradigmenwechsel<br />
zur ergebnisorientierten Steuerung<br />
auf das falsche Pferd gesetzt, statt sich auf<br />
direkte und schnell wirksame Maßnahmen<br />
zu konzentrieren. Vor allem: Es<br />
mangelt an gezielten und flächendeckenden<br />
Fortbildungsmaßnahmen für Lehrkräfte<br />
aller Schulformen und -stufen, um<br />
schwache Leserinnen und Leser zu erkennen.<br />
Es fehlt ebenso an entsprechenden<br />
Rahmenbedingungen und Konzepten,<br />
um umfassende Sprachfördermaßnahmen<br />
zu realisieren. „Untericht – Diagnose<br />
– Kompetenz“ (UDiKom), ein Kooperationsprojekt<br />
der KMK, wird im Frühjahr<br />
2011 beendet und kann erst dann<br />
von den Ländern eingesetzt werden (s.<br />
Kasten S. 8).<br />
Nur im frühkindlichen Bereich spielt<br />
Sprachförderung flächendeckend bisher<br />
eine Rolle – allerdings mit 16 (!) umstrittenen,<br />
testlastigen, unausgereiften Me-<br />
Die sieben Handlungsfelder der KMK<br />
thoden. Die Evaluation von drei gezielten<br />
Sprachförderkonzepten in Baden-<br />
Württemberg etwa hat ergeben, dass unmittelbare<br />
Effekte ausblieben.<br />
Ansonsten blühten – unsystematisch<br />
und zufällig gesät – viele bunte Blumen<br />
der Leseförderung. Die KMK hat als<br />
ihren Beitrag 2009 ein Kooperationsprojekt<br />
ProLesen beigesteuert, in dem sie auf<br />
93 Seiten Literaturhinweise und auf weiteren<br />
zwölf Links zu über 150 Initiativen<br />
und Projekten aus den Bundesländern<br />
1.Maßnahmen zur Verbesserung der Sprachkompetenz bereits im vorschulischen Bereich<br />
2.Maßnahmen zur besseren Verzahnung von vorschulischem Bereich und Grundschule mit dem Ziel einer frühzeitigen Einschulung<br />
3. Maßnahmen zur Verbesserung der Grundschulbildung und durchgängige Verbesserung der Lesekompetenz und des<br />
grundlegenden Verständnisses mathematischer und naturwissenschaftlicher Zusammenhänge<br />
4.Maßnahmen zur wirksamen Förderung bildungsbenachteiligter Kinder, insbesondere auch der Kinder und Jugendlichen<br />
mit Migrationshintergrund<br />
5.Maßnahmen zur konsequenten Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Unterricht und Schule auf der Grundlage<br />
verbindlicher Standards sowie einer ergebnisorientierten Evaluation<br />
6.Maßnahmen zur Verbesserung der Professionalität der Lehrertätigkeit, insbesondere im Hinblick auf diagnostische und<br />
methodische Kompetenz als Bestandteil systematischer Schulentwicklung<br />
7.Maßnahmen zum Ausbau von schulischen und außerschulischen Ganztagsangeboten mit dem Ziel erweiterter Bildungsund<br />
Fördermöglichkeiten, insbesondere für Schülerinnen und Schüler mit Bildungsdefiziten und besonderen Begabungen.<br />
http://www.kmk.org/no_cache/presse-und-aktuelles/pm2004/stellungnahme-der-kmk.html?sword_list[0]=sieben&sword_list[1]=<br />
handlungsfelder<br />
PISA<br />
Lesekompetenz<br />
steht im Zentrum<br />
von PISA 2009.<br />
Die Ergebnisse –<br />
bei Redaktionsschluss<br />
noch<br />
nicht bekannt –<br />
sind vorherzusehen:<br />
Die Maßnahmen,<br />
die Lesekompetenz<br />
zu<br />
verbessern,<br />
waren nicht ausreichend.<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 7<br />
Fotos: imago
PISA<br />
(und dem Ausland) zusammengetragen<br />
hat. ProLesen (s. Seiten 9/10) ist zwar eine<br />
Fundgrube für die wissenschaftliche<br />
Beschäftigung mit Themen, dürfte aber<br />
so gut wie keine Wirksamkeit in der<br />
Schulpraxis entfalten.<br />
FörMig (Förderung von Kindern und<br />
Jugendlichen mit Migrationshintergrund),<br />
das einzige umfassende und wissenschaftlich<br />
begleitete Projekt zur<br />
durchgängigen sprachlichen Förderung<br />
bildungsbenachteiligter Kinder und Jugendlicher,<br />
wurde im Zuge der Föderalismusreform<br />
als Bund-Länder-Kommission-Projekt<br />
abgewickelt. Beteiligt<br />
waren zehn Länder. Das Projekt hatte<br />
Mühe, sich weiter zu finanzieren.<br />
Teurer Paradigmenwechsel<br />
Das mit Abstand größte planerische<br />
und finanzielle Engagement steckte die<br />
KMK in der vergangenen Dekade in ein<br />
ergebnisorientiertes Steuerungssystem<br />
mit Qualitätssicherung und Bildungsberichterstattung,<br />
ein eigenes Institut für<br />
Qualität im Bildungswesen (IQB), in<br />
Bildungsstandards, Kompetenzmodelle<br />
und Vergleichsarbeiten. Dieser Paradigmenwechsel<br />
kostet die Länder jährlich<br />
Millionen, die vor allem in der Lehrerfortbildung<br />
fehlen.<br />
Die empirische Bildungsforschung in<br />
Deutschland hat seit PISA 2000 eine<br />
exorbitante Expansion erfahren. Das<br />
Wissen über Bildung nimmt zu, wissenschaftliche<br />
Erkenntnisse in pädagogische<br />
Praxis umzusetzen, bleibt hingegen<br />
einer überforderten Lehrerschaft überlassen.<br />
Unterstützungssysteme fehlen.<br />
Lehrkräfte werden mit den Ergebnissen<br />
der bundesweiten Vergleichsarbeiten direkt<br />
und unmittelbar konfrontiert. Sie<br />
erhalten aber in der Regel keine systematische<br />
Fortbildung in der Interpretation<br />
von Forschungsdaten, geschweige<br />
denn ausreichend Mittel und Hilfe, um<br />
angemessen handeln zu können.<br />
Als ein zentrales Problem in Deutschland<br />
hat PISA von Beginn an den sehr<br />
großen Anteil leistungsschwacher 15-<br />
Projekte der KMK<br />
8 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Länderübergreifende Projekte<br />
Jähriger dokumentiert. Dennoch haben<br />
die Kultusminister fast neun (!) Jahre gebraucht<br />
– bis zum 4. März <strong>2010</strong> –, um<br />
auf die anhaltenden Forderungen aus<br />
Wirtschaft und Wissenschaft mit einer<br />
„Förderstrategie für leistungsschwächere<br />
Schülerinnen und Schüler“ zu reagieren.<br />
Der Beschluss stellt zwar die individuelle<br />
Förderung ins Zentrum, reflektiert<br />
jedoch nicht deren Grenzen: Selektion,<br />
Segregation, unzureichende Rahmenbedingungen<br />
und mangelnde Lehrerqualifizierung.<br />
Die „Förderstrategie“ entpuppt sich bei<br />
genauerem Hinsehen als wohlfeile Absichtserklärung<br />
und Gemischtwarenladen.<br />
Es wird auf die gemeinsamen und<br />
länderübergreifenden KMK-Projekte (s.<br />
Kästen) hingewiesen, die sich größtenteils<br />
noch im Projektstadium befinden.<br />
Ehrenamtliche Helfer sollen für zusätzliche<br />
Lernzeit sorgen, Förderschulen<br />
den Hauptschulabschluss vergeben.<br />
Fakt ist: Nach Angaben der Lehrkräfte<br />
in der IGLU-Erhebung 2006 erhielten<br />
ungefähr zwei Drittel (!) leseschwacher<br />
und legasthenischer Grundschulkinder<br />
keine spezielle Lernförderung. Daran<br />
gemessen belegt die Förderstrategie<br />
überdeutlich die Unfähigkeit der Kultusminister,<br />
gesamtstaatliche Verantwortung<br />
zu übernehmen.<br />
Ein Erfolg – wenn auch mit Einschränkungen<br />
– ist nur das von der rot-grünen<br />
Bundesregierung unter Kanzler Gerhard<br />
● ProLesen – Auf dem Weg zur Leseschule<br />
● for.mat – Bereitstellung von Fortbildungskonzeptionen und -materialien zur kompetenz- bzw. standardbasierten<br />
Unterrichtsentwicklung<br />
● UDiKom – Aus- und Fortbildung der Lehrkräfte im Hinblick auf die Verbesserung der Diagnosefähigkeit<br />
als Voraussetzung für den Umgang mit Heterogenität und individuelle Förderung<br />
http://www.kmk.org/no_cache/presse-und-aktuelles/meldung/stellungnahme-der-kultusministerkonferenz-zuden-ergebnissen-des-laendervergleichs-von-iglu-2006.html?cHash=73930d7392&sword_list%5B0%5D=<br />
prolesen<br />
http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/<strong>2010</strong>/<strong>2010</strong>_03_04-Foerderstrategie-Leistungsschwaechere.pdf<br />
● SINUS-Transfer – Steigerung der Effizienz des mathematisch-naturwissenschaftlichen<br />
Unterrichts für die Sekundarstufe I<br />
● SINUS-Transfer Grundschule<br />
● FörMig – Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund<br />
● TransKiGs – Stärkung der Bildungs- und Erziehungsqualität in Kindertageseinrichtungen<br />
und Grundschule – Gestaltung des Übergangs<br />
http://sinus-transfer.uni-bayreuth.de/<br />
http://www.blk-foermig.uni-hamburg.de/<br />
http://www.transkigs.de/<br />
Schröder (SPD) den Konservativen abgetrotzte<br />
milliardenschwere Investitionsprogramm<br />
„Zukunft, Bildung und Betreuung“<br />
(IZBB). Quantitativ eine Erfolgsgeschichte,<br />
qualitativ noch immer<br />
ein Rohbau (s. Seiten 13/14 und E&W-<br />
Schwerpunkt 10/<strong>2010</strong>). Mittlerweile<br />
geht etwa ein Viertel der Schülerinnen<br />
und Schüler im Primar- und Sekundar-I-<br />
Bereich in eine Ganztagseinrichtung.<br />
Dass sich dieser Besuch positiv auf Sozialverhalten<br />
und Familienklima auswirkt,<br />
ist durchgängig nachzuweisen.<br />
Für Qualität und verbesserte Bildungschancen<br />
trifft das nicht zu. Die Investitionen<br />
in die Qualität pädagogischer<br />
Angebote waren bislang bei Weitem<br />
nicht ausreichend dafür, dass man bessere<br />
PISA-Ergebnisse erwarten konnte<br />
(www.projekt-steg.de).<br />
Alles in allem<br />
Alles in allem fällt die Bilanz ernüchternd<br />
aus: PISA hat zwar zu einem<br />
Boom empirischer Bildungsforschung<br />
und bildungspolitischer Sonntagsreden<br />
geführt. Der Paradigmenwechsel zur ergebnisorientierten<br />
Steuerung ist jedoch<br />
teuer und pädagogisch wirkungslos,<br />
wenn nicht sogar kontraproduktiv.<br />
Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit<br />
sind zwar Themen, aber keine<br />
Realität. Die Lehrerbildung hat man<br />
bislang sträflich vernachlässigt. Die<br />
KMK hat bewiesen, dass sie zur gesamtstaatlichen<br />
Übernahme bildungspolitischer<br />
Verantwortung nicht in der Lage<br />
ist, denn die Kluft wird nicht kleiner:<br />
weder zwischen den Schülerinnen und<br />
Schülern noch zwischen den Bundesländern.<br />
Die zentralen Herausforderungen<br />
bleiben und können wirksam nur in<br />
Kooperation von Bund, Ländern und<br />
Kommunen bearbeitet werden.<br />
Marianne Demmer, Leiterin des<br />
<strong>GEW</strong>-Organisationsbereichs Schule
„Es liegt noch ein<br />
weiter Weg vor uns“<br />
Interview mit Bildungsforscherin Cordula Artelt über Lesekompetenz<br />
E &W: Lesen gilt als Schlüsselkompetenz.<br />
Zu Recht?<br />
Cordula Artelt: Ja. Lesen ist funktional,<br />
dient dem Lernen, dem Wissenserwerb,<br />
der Weiterbildung, aber auch der Zerstreuung<br />
und der Fantasieentwicklung.<br />
Vor allem: Lesen erschließt ganze Lebensbereiche.<br />
E &W: Und wenn junge Menschen die Schule<br />
ohne entsprechende Lesekompetenz verlassen?<br />
Artelt: Wer mit schwacher Lesekompetenz<br />
die Schule verlässt, gerät in Gefahr,<br />
abgeschottet von sozialer, politischer<br />
und kultureller Teilhabe zu leben. Das<br />
kann zu einem Teufelskreis von Bildungs-<br />
und sozialer Armut führen.<br />
E &W: Wenn Lesen eine so fundamentale<br />
Schlüsselkompetenz auch für die Integration<br />
in den Arbeitsmarkt ist: Wieso hat es dann<br />
das deutsche Bildungssystem bisher nicht geschafft,<br />
die hohe Zahl 15-Jähriger (20 Prozent<br />
der Altersgruppe) zu senken, denen alle<br />
PISA-Studien ein mangelhaftes Grundwissen<br />
im Lesen und Rechnen attestierten?<br />
Artelt: Die Ursachen geringer Lesekompetenz<br />
können sehr unterschiedlich<br />
sein. Sie reichen von einer primär physiologisch<br />
bedingten Behinderung wie<br />
Lese-Rechtschreib-Schwäche über mangelnde<br />
Lesemotivation bis hin zu Defiziten<br />
im Wissen über einen angemessenen<br />
Umgang beim Lesen und Verstehen<br />
von Texten. Die Förderbedürfnisse von<br />
Schülerinnen und Schülern mit geringen<br />
Deutschkenntnissen sind noch einmal<br />
anders gelagert. Bislang gibt es wenig<br />
Maßnahmen, die sich intensiv<br />
schwacher Leser annehmen.<br />
E &W: Sie sprachen von der Motivation<br />
zum Lesen: Es ist ein Unterschied, ob Kinder<br />
in einem anregungsarmen Elternhaus aufwachsen<br />
oder in einem, in dem viel vorgelesen<br />
wird und Bücher zum Alltag gehören.<br />
Artelt: Ganz sicher. Die Familie ist einer<br />
der wichtigsten Orte für die Lesesozialisation.<br />
Der Stellenwert und die vielfältige<br />
Funktion des Lesens werden hier –<br />
ganz nebenbei – über familiäre Vorbilder<br />
und Modelle vermittelt. Solche Erfahrungen<br />
im Alltag sind zumindest bis<br />
zur Pubertät sehr prägend. Natürlich: Es<br />
gibt Kinder aus bildungsfernen Familien,<br />
die sich zu Viellesern entwickeln.<br />
Und nicht jeder Gymnasiallehrersohn<br />
wird zum begeisterten Leser. Aber der<br />
sozioökonomische Status und der Bildungsabschluss<br />
der Eltern spielen eine<br />
maßgebliche Rolle beim Leseerwerb,<br />
besonders bei der Entwicklung eines<br />
Selbstverständnisses als Leser bzw. der<br />
Lesemotivation.<br />
E &W: Wie stark hängt Lesekompetenz vom<br />
Spracherwerb ab?<br />
Artelt: Das Wissen über Sprache, der<br />
Wortschatz, ist zentral. Wenn ich z.B.<br />
versuche, einen Text mit vielen unbekannten<br />
Wörtern zu lesen, hilft mir<br />
auch der Wortkontext nicht mehr beim<br />
Entschlüsseln der Bedeutung. Lesen<br />
wird zum frustrierenden Erlebnis. Ein<br />
umfangreicher Wortschatz ist eine wesentliche<br />
Voraussetzung für verstehendes<br />
Lesen.<br />
E &W: Andere Industrieländer haben im<br />
Schnitt vier bis fünf Prozent schwache Leser.<br />
Was machen die besser?<br />
Artelt: Es existiert dort wohl ein stärkeres<br />
bildungspolitisches und pädagogisches<br />
Engagement, Leseschwächen zu<br />
beheben. Die skandinavischen Länder<br />
beispielsweise setzen Assistenzlehrkräfte<br />
für eine individuelle (Lese-)Förderung<br />
ein, andere Staaten bieten im Ganztag<br />
spezielle Programme zur Leseförderung<br />
an Nachmittagen an. In Deutschland<br />
scheinen manche Institutionen dagegen<br />
überzeugt zu sein, Leseförderung jenseits<br />
der Grundschule sei nicht notwendig<br />
oder aber allein Aufgabe der Eltern.<br />
Deshalb sehen sie sich offenbar zu keinem<br />
integrierten oder zusätzlichen institutionellen<br />
Förderungsangebot verpflichtet.<br />
E &W: Nach PISA 2003 erreichen zum<br />
Beispiel nur 50 Prozent der 15-jährigen<br />
Hauptschüler beim Lesen die Kompetenzstufe<br />
2. Heißt das, dass Lesekompetenz erheblich<br />
von der Schulform abhängig ist?<br />
Artelt: PISA betrachtet die Leistungsergebnisse<br />
im Querschnitt: Die Befunde<br />
sagen daher nicht wirklich etwas darü-<br />
ber aus, ob das selektive Schulsystem für<br />
ein schlechtes Leistungsniveau verantwortlich<br />
ist. Leistungsschwächere und<br />
-starke werden ja nach der Grundschulzeit<br />
bestimmten Schulformen zugeteilt.<br />
Ggf. bestehen die Unterschiede also<br />
schon zu diesem Zeitpunkt. Wir wissen<br />
auch nicht, ob die Unterrichtsqualität<br />
an einer Hauptschule mit Blick auf die<br />
Leseförderung wirklich schlechter ist.<br />
E &W: Wie kommt man in dieser Frage weiter?<br />
Artelt: Längsschnittuntersuchungen sind<br />
hier aussagekräftiger als die PISA-Daten –<br />
etwa Jürgen Baumerts Re-Analyse der Element-Studie<br />
(s. E&W 10/<strong>2010</strong>). Die wenigen<br />
Befunde, die es hierzu gibt, ergeben<br />
allerdings bei der Frage der Rolle der<br />
Schulformen für die Entwicklung von<br />
Lesekompetenzen kein eindeutiges<br />
Bild. Die Frage, ob individuelle und institutionelle<br />
Ursachen stärker für ein<br />
schlechtes Leistungsniveau verantwortlich<br />
sind, lässt sich noch nicht klar beantworten.<br />
E &W: Sehen Sie Chancen, dass sich der<br />
große Anteil leseschwächerer Schülerinnen<br />
und Schüler bald verringern lässt?<br />
Artelt: Da liegt noch ein weiter Weg vor<br />
uns! Nicht etwa deshalb, weil es zu wenig<br />
gute Konzepte der Förderung gibt,<br />
sondern weil diverse Hürden zu nehmen<br />
sind, bevor diese realisiert werden<br />
können. Vor allem, wenn es darum geht,<br />
länderübergreifende Maßnahmen umzusetzen.<br />
E &W: Aber die Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) hat bereits vor neun Jahren sieben<br />
Handlungsfelder beschlossen, unter anderem<br />
Maßnahmen zur durchgängigen Verbesserung<br />
der Sprach- und Lesekompetenz. Wieso<br />
haben wir dann immer noch einen langen<br />
Weg vor uns?<br />
Artelt: Es gibt durchaus auch KMK-<br />
Projekte zur Lese- und Sprachförderung<br />
(s. auch S. 7/8), z.B. das von Bayern koordinierte<br />
Projekt ProLesen. Es ist allerdings<br />
vergleichsweise spät gestartet,<br />
wird in den einzelnen Ländern unterschiedlich<br />
umgesetzt und eine Evaluation<br />
steht ebenfalls noch aus. Länder-<br />
Foto: Privat<br />
PISA<br />
Cordula Artelt<br />
lehrt empirische<br />
Bildungsforschung<br />
an der Uni<br />
Bamberg. Die Professorin<br />
ist Mitglied<br />
im PISA-<br />
Konsortium 2009.<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 9
Foto: imago<br />
PISA<br />
Die Familie ist einer der<br />
wichtigsten Orte für die<br />
Lesesozialisation. Der<br />
Stellenwert des Lesens<br />
wird über familiäre Vorbilder<br />
vermittelt. Solche Erfahrungen<br />
im Alltag sind<br />
zumindest bis zur Pubertät<br />
sehr prägend.<br />
übergreifende oder auch länderspezifische<br />
Programme, die sich auf die Gruppe<br />
schwacher Leser konzentrieren und<br />
hierbei systematisch Förderangebote<br />
nutzen, die in die Breite gehen, sind weiterhin<br />
rar.<br />
E &W: Sie haben von Hürden gesprochen –<br />
welche meinen Sie?<br />
Artelt: Administrative, bildungspolitische,<br />
teilweise eine gewisse Trägheit im<br />
Bildungssystem. Auch die Lehrerausbildung<br />
lässt sich nicht von heute auf morgen<br />
verändern.<br />
E &W: Sind die Leseschwachen der ersten<br />
PISA-Studie von 2000 heute die neuen<br />
funktionalen Analphabeten?<br />
Artelt: Die damals 15-Jährigen sind sicherlich<br />
nicht alle zu funktionalen Analphabeten<br />
geworden. PISA 2009 hat,<br />
um die Leseschwäche exakter erfassen<br />
zu können, bei der unteren Kompetenzstufe<br />
noch einmal differenziert, so dass<br />
wir nun präzisere Aussagen über das Leseniveau<br />
machen können. Über das Na-<br />
10 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
tionale Bildungspanel<br />
(NEPS) sind wir zudem<br />
bald in der Lage, Bildungsbiografien<br />
über längere<br />
Zeiträume zu verfolgen.<br />
Diese Studie ist jedoch<br />
erst gestartet.<br />
E &W: BeiPISAhabendie<br />
Mädchen beim Lesen besser<br />
abgeschnitten als die Jungen.<br />
Doch bei Untersuchungen der<br />
Lesekompetenzen am PC haben<br />
die Knaben die Nase<br />
vorn. Wieso?<br />
Artelt: Jungen und<br />
Mädchen bevorzugen bereits<br />
bei den Printmedien<br />
unterschiedliche Textsorten.<br />
In der aktuellen<br />
PISA-Studie findet man<br />
interessante Unterschiede,<br />
welche Art der Texte im<br />
Internet von Schülerinnen<br />
oder Schülern bevorzugt<br />
gelesen werden.<br />
PISA macht aber auch<br />
deutlich, dass die Gruppe<br />
der leseschwachen und<br />
wenig lesemotivierten Jungen<br />
– vor allem mit Migrationshintergrund<br />
– besonderer<br />
Aufmerksamkeit bedarf.<br />
E &W: Schule hat den Auftrag,<br />
herkunftsbedingte Nachteile<br />
auszugleichen. Haben<br />
die Kultusminister seit 2001<br />
geeignete Maßnahmen ergriffen?<br />
Artelt: Zumindest hat die KMK sich<br />
über gemeinsame Bildungsziele – die<br />
Bildungsstandards – verständigt. Das ist<br />
ein erster wichtiger Schritt.<br />
E &W: Das reicht doch nicht aus! Die Ländervergleichsstudie<br />
<strong>2010</strong> (s. E&W 9/<strong>2010</strong>)<br />
weist darauf hin, dass sich beim Leseverständnis<br />
die Neuntklässler in den drei sozial<br />
stärksten Gruppen von denen der drei ökonomisch<br />
schwächsten um 67 Testpunkte unterscheiden.<br />
Bei Schülern mit und ohne Migrationshintergrund<br />
liegt die Differenz bei 60<br />
Testpunkten. Wie interpretieren Sie das?<br />
Artelt: Es zeigt – und das belegen ja<br />
auch andere Studien –, dass wir in<br />
Deutschland eine äußerst starke Kopplung<br />
von sozioökonomischem Status<br />
(SES) und Migrationshintergrund haben.<br />
Betrachtet man lediglich den Migrationseffekt<br />
ohne den SES, rechnet also<br />
den Effekt des sozioökonomischen<br />
Status’ heraus, stellt man fest, dass kaum<br />
noch Leistungsunterschiede zwischen<br />
Schülerinnen und Schülern mit und oh-<br />
ne Mitgrationshintergrund bestehen.<br />
Leistungsunterschiede zeigen sich also<br />
vor allem in Abhängigkeit vom SES<br />
bzw. beim Bildungshintergrund. Diese<br />
großen Unterschiede sind nicht naturgegeben,<br />
sondern können auch – das<br />
zeigen uns andere Länder – erheblich<br />
kleiner sein.<br />
E &W: Wenn man die Leseergebnisse von<br />
PISA 2000 und die des Bundesländervergleichs<br />
von <strong>2010</strong> anschaut, fällt auf, dass<br />
Bayern und Baden-Württemberg, die bei den<br />
früheren PISA-Studien Spitzenreiter waren,<br />
heute in ihren aktuellen Leseleistungen stagnieren.<br />
Artelt: Die Testmethoden sind nicht<br />
identisch. Wir haben beim Ländervergleich<br />
die Bildungsstandards als wissenschaftliche<br />
Basis und nicht die Items des<br />
internationalen PISA-Tests, der auf<br />
funktionale Kompetenzen, auf „literacy“<br />
setzt. Unterschiedliche Testinstrumente<br />
führen entsprechend zu anderen<br />
Ergebnissen. Bedauerlich ist allerdings,<br />
dass Deutschland beim Bundesländervergleich<br />
nicht mehr an PISA teilnimmt.<br />
So fehlt die Kontinuität der international<br />
vergleichenden Befunde.<br />
E &W: Gibt es eine plausible Erklärung<br />
dafür, warum bei PISA Sachsen, Bayern<br />
und Baden-Württemberg immer die vorderen<br />
Plätze belegen, Berlin, Hamburg und<br />
Bremen aber ziemlich weit abgeschlagen<br />
sind?<br />
Artelt: Wenn ein Flächenland wie Bayern<br />
oder Baden-Württemberg Spitzenwerte<br />
erreicht, ist das noch kein eindeutiger<br />
Beleg dafür, dass das Bildungssystem<br />
besser ist. Stadtstaaten wie Bremen<br />
haben beispielweise eine andere Zusammensetzung<br />
der Bevölkerung.<br />
E &W: Das klingt so, als ob die Bildungsforschung<br />
im Nebel stochert. . . .<br />
Artelt: Das tut sie sicher nicht! Man<br />
muss sich aber der Grenzen der Aussagekraft<br />
einzelner Studien bewusst sein.<br />
Querschnittstudien lassen bestimmte<br />
Schlussfolgerungen einfach nicht zu.<br />
Im Rahmen von Längsschnittstudien<br />
lässt sich z.B. genauer feststellen, was<br />
sich in Abhängigkeit von bestimmten<br />
Maßnahmen verändert. Evaluationen<br />
von Fördermaßnahmen sind deshalb so<br />
wichtig, weil sie genau ermitteln: Das ist<br />
eine zentrale Stellschraube, an der gedreht<br />
werden muss, um Kompetenzen<br />
zu verbessern. Leider werden Maßnahmen<br />
viel zu selten evaluiert.<br />
Interview: Helga Haas-Rietschel,<br />
Redakteurin der<br />
„Erziehung & Wissenschaft“
Wo bleibt das Positive?<br />
Interpretations-Wirrwarr um die PISA-Daten<br />
Seit dem ersten PISA-Test 2000 streitet das deutsche<br />
Schulforscher-Konsortium mit den internationalen<br />
Bildungs-Analysten der OECD um die Interpretation<br />
der Daten. Nach deutscher Lesart geht<br />
es schon seit Jahren aufwärts. Doch aus internationaler<br />
Sicht fehlen für übertriebene deutsche Euphorie<br />
die Belege.<br />
Der Schock bei Veröffentlichung des ersten<br />
internationalen PISA-Tests im <strong>Dezember</strong><br />
2001 hat mit zwei lang gehegten<br />
Lebenslügen des deutschen gegliederten<br />
Schulsystems aufgeräumt: Erstens<br />
sind die Leistungen deutscher Schülerinnen<br />
und Schüler nicht „Weltspitze“ – wie zuvor<br />
von der Gymnasiallobby gern unterstellt –, sondern<br />
allenfalls Mittelmaß. Zweitens ist in Deutschland mit<br />
der frühen Selektion Zehnjähriger auf weiterführende<br />
Schulen die Abhängigkeit von sozialer Herkunft<br />
und Schulerfolg so groß wie in keinem anderen vergleichbaren<br />
Industriestaat. Konservative Lobeshymnen<br />
auf das angeblich „begabungsgerechte gegliederte<br />
Schulsystem“ sind seitdem deutlich leiser geworden.<br />
Aufwändige Konstruktion<br />
Die gescholtenen Kultusminister sind seitdem auf<br />
der Suche nach positiven Nachrichten. Während etwa<br />
Italien, Kanada und die Schweiz für Regionalanalysen<br />
ebenfalls das Know how der internationalen<br />
Bildungsforscher aus der Pariser OECD-Zentrale<br />
nutzen, hat die Bundesrepublik die aufwändige Konstruktion<br />
eines „Deutschen PISA-Konsortiums“ installiert.<br />
Auffällig unterscheiden sich in markanten<br />
Punkten die Interpretationen der selben Daten in<br />
den deutschen und internationalen Veröffentlichungen.<br />
Bereits bei Vorlage der zweiten internationalen PISA-<br />
Studie 2003 hat der deutsche PISA-Forscher Manfred<br />
Prenzel die nur marginalen Punktgewinne der Bundesrepublik<br />
im Leseverständnis und in Mathematik<br />
als „großen Sprung nach vorn“ gefeiert. Die internationalen<br />
OECD-Forscher sahen dagegen den vermeintlichen<br />
deutschen Aufstieg in Lesen und Rechnen<br />
drei Jahre nach dem ersten Test eher als Folge statistischer<br />
Fehlertoleranz denn als Ergebnis tatsächlicher<br />
Schulreformen.<br />
Zum regelrechten Eklat kam es bei der Veröffentlichung<br />
der PISA-Studie 2006. Die deutsche Seite hatte<br />
das bessere Abschneiden im Untersuchungsschwerpunkt<br />
Naturwissenschaften groß herausgestellt<br />
– was eine konservative Tageszeitung gar zur<br />
Schlagzeile „Deutschlands Schüler auf dem Weg zur<br />
Weltspitze“ veranlasste. Angesichts des 13. Platzes für<br />
den Wirtschaftsriesen Bundesrepublik im globalen<br />
Leistungsranking der immer wichtiger werdenden<br />
Naturwissenschaften doch eine arg gewagte These!<br />
Foto: imago<br />
PISA<br />
Als dann die OECD-Zentrale vorsichtig auf den veränderten<br />
und um Umweltwissen erweiterten naturwissenschaftlichen<br />
Aufgabenkatalog verwies, was<br />
den Schülern hierzulande offenbar entgegenkam,<br />
flogen die Fetzen – nicht nur hinter den Kulissen. Baden-Württemberg<br />
drohte offen mit einem PISA-Ausstieg<br />
der Bundesrepublik. Das ging den Kultusministern<br />
der anderen Bundesländer allerdings dann doch<br />
zu weit.<br />
Ständiger Methodenwechsel<br />
Kaum noch nachvollziehbar ist bei den deutschen<br />
PISA-Veröffentlichungen ein wahrer Interpretations-<br />
Wirrwarr und der ständige Methoden-Wechsel bei<br />
der wohl wichtigsten PISA-Botschaft, der fehlenden<br />
Chancengleichheit. Obwohl die Untersuchung für<br />
einen Vergleich über mehrere Jahre hinweg konzipiert<br />
ist, sind bisher mit jeder deutschen Veröffentlichung<br />
die sozialwissenschaftlichen Messkriterien<br />
verändert worden. Mal setzt man – abweichend von<br />
der internationalen Linie – einen selbst entwickelten<br />
deutschen Index ein, mal weist man neben der Lesekompetenz<br />
auch kognitive Fähigkeiten aus, dann<br />
mal wieder nicht. Sauber zu vergleichen ist das alles<br />
nicht. Es bleibt der Eindruck, dass so lange gerechnet<br />
werden soll, bis eine Tendenz zum Besseren erkennbar<br />
ist.<br />
Dabei wächst der öffentliche Druck. Nach PISA<br />
2006 kommentierte eine konservative Tageszeitung,<br />
man möchte doch bitte nicht ständig im „Ulbricht-<br />
Ton“ daran erinnert werden, dass das Gymnasium in<br />
Deutschland vorwiegend eine Schule der besseren<br />
Kreise sei.<br />
Max Loewe, Bildungsjournalist<br />
Nach Veröffentlichung des<br />
ersten PISA-Tests 2001:<br />
Konservative Lobeshymnen<br />
auf das angeblich „begabungsgerechte<br />
gegliederte<br />
Schulsystem“ sind deutlich<br />
leiser geworden.<br />
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12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 11
PISA<br />
„Viel geredet – wenig getan!“<br />
12 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
<strong>GEW</strong>-Mitgliederbefragung zur Entwicklung der Lesekompetenz seit 2001<br />
Seit dem PISA-Debakel 2001 gab es<br />
politisch viele gute Absichtserklärungen,<br />
die Kultusminister verabschiedeten<br />
einen Maßnahmenkatalog. Aber<br />
was ist davon im Schulalltag angekommen?<br />
Wie beurteilen Lehrkräfte<br />
die Situation vor Ort im Klassenzimmer?<br />
Vor Veröffentlichung der aktuellen<br />
PISA-Studie befragte die <strong>GEW</strong><br />
Mitglieder zur Praxis der Leseförderung.<br />
Die aktuelle PISA-Studie hat<br />
zum zweiten Mal den<br />
Schwerpunkt Lesekompetenz.<br />
Die schlechten Ergebnisse<br />
auf diesem Feld<br />
waren Teil des PISA-<br />
Schocks nach der Veröffentlichung der<br />
ersten Studie 2001. Lesekompetenz ist<br />
zentral für den schulischen Erfolg und<br />
die Chancen junger Menschen beim<br />
Übergang von Schule in Ausbildung.<br />
Seit PISA 2000 haben sich die deutschen<br />
Befunde nur geringfügig bis kaum<br />
verbessert. Neben aller Kritik am deutschen<br />
Schulsystem gab es in den Medien<br />
stets – mit jeder neuen Studie – politische<br />
Selbstbelobigungen wie „Deutschland<br />
schließt zur Spitze auf!“ oder „Wir<br />
sind auf dem richtigen Weg“. Aus der<br />
Praxis ist das selten zu hören. Der Ein-<br />
druck der <strong>GEW</strong>: Schulpolitik reagiert<br />
nicht konsequent und systematisch genug<br />
auf das Lese-Debakel (s. Seiten 8/9).<br />
„Unbefriedigend“<br />
Die Bildungsgewerkschaft wollte daher<br />
im Vorfeld der neuen PISA-Studie von<br />
ihren Mitgliedern wissen, wie sie die bildungspolitischen<br />
Anstrengungen zur<br />
Förderung der Lesekompetenz wahrgenommen<br />
haben, was an ihren Schulen<br />
nach der ersten PISA-Studie passiert ist,<br />
wie sie selbst fördern und wie gut sie sich<br />
auf den neuen PISA-Test vorbereitet<br />
fühlen. Im Auftrag der Max-Traeger-<br />
Stiftung wurden im April <strong>2010</strong> 1940 repräsentativ<br />
ausgewählte <strong>GEW</strong>-Mitglieder<br />
aus dem allgemein schulischen Bereich<br />
online befragt. Auf den Punkt gebracht:<br />
Lehrerinnen und Lehrer messen<br />
der Lesekompetenz höchste Bedeutung<br />
bei, nehmen aber die Situation der Leseförderung<br />
als unstrukturiert und unbefriedigend<br />
wahr. Rund ein Drittel der<br />
Kolleginnen und Kollegen ist außerdem<br />
skeptisch, was die Nützlichkeit der<br />
Maßnahmen betrifft. Weitere Ergebnisse<br />
im Einzelnen:<br />
Über zwei Drittel der Lehrkräfte attestieren<br />
der Lehreraus- und -fortbildung<br />
zum Thema Leseförderung erhebliche<br />
Mängel. 70 Prozent finden, dass es zu<br />
wenig Fortbildungsangebote gibt. Fast<br />
drei Viertel der Mitglieder bescheinigen<br />
der Ausbildung, dass die Lesekompetenz<br />
in der Sek-I und Sek-II so gut wie<br />
keine Rolle spielt.<br />
Vergleichsarbeiten werden für die Leseförderung<br />
mehrheitlich nicht genutzt.<br />
Die von der Kultusministerkonferenz<br />
(KMK) beschlossenen Bildungsstandards<br />
haben die meisten Schulen noch<br />
nicht erreicht.<br />
Die Ressourcen für individuelle Leseförderung<br />
schätzen Lehrkräfte als völlig<br />
ungenügend ein (siehe Schaubild). Dabei<br />
geht es sowohl um zeitliche, personelle<br />
und finanzielle Mängel wie auch<br />
um lückenhafte Lehrpläne und Stundentafeln.<br />
Die Aktivitäten der Kultusministerien<br />
wirken unkoordiniert und<br />
zufällig. Sie werden von sehr vielen<br />
Lehrkräften gar nicht wahrgenommen.<br />
Nur in Schleswig-Holstein kennt ein<br />
Gros der Pädagogen Leseförderprogramme<br />
des Kultusministeriums.<br />
Bei 152 offiziellen Leseförderprogrammen<br />
(37 bundes- und 115 länderweite)<br />
ist vor allem der letzte Befund erschreckend.<br />
Er spiegelt eine Aussage wider,<br />
der rund zwei Drittel der Lehrkräfte<br />
ganz oder eher zustimmten: „Es wird<br />
viel über die Verbesserung der Lesekompetenz<br />
geredet und geschrieben, aber<br />
wenig dafür getan.“<br />
Martina Schmerr, Referentin im<br />
<strong>GEW</strong>-Organisationsbereich Schule<br />
Die Befragten zu den Aktivitäten der Kultusminister<br />
Zustimmung % „stimme „stimme<br />
ganz zu“ ganz“ oder<br />
„stimme<br />
eher zu“<br />
Die zur Verfügung stehenden zeitlichen und<br />
personellen Ressourcen reichen überhaupt<br />
nicht aus, um gezielt zu fördern.<br />
55,52 89,77<br />
Ich kenne kein Leserförderprogramm, das vom<br />
Kultusministerium empfohlen wird.<br />
44,09 68,93<br />
Die Lehrpläne und Stundentafeln messen der<br />
Lesekompetenz zu wenig Bedeutung bei.<br />
32,33 74,13<br />
Die offiziellen Leseförderprogramme des Kultusministeriums<br />
sind gut bekannt gemacht worden.<br />
4,36 15,47<br />
Schaubild
Foto: imago<br />
BILDUNGSPOLITIK<br />
Alle reden von „Revolution“<br />
Ganztagsschulkongress – Lernkultur im Mittelpunkt<br />
Auf dem 7. Ganztagsschulkongress, den das Bundesbildungsministerium<br />
(BMBF) Mitte November<br />
in Berlin veranstaltet hat, ist über eine neue<br />
Lernkultur diskutiert worden. Doch die Frage, wer<br />
den quantitativen wie qualitativen Ausbau des<br />
Ganztags finanziert, blieb offen.<br />
Ganztagsschulen sind politisch populär<br />
(s. E&W-Schwerpunkt 10/<strong>2010</strong>). Bundesbildungsministerin<br />
Annette Schavan<br />
(CDU), der bayerische Kultusminister<br />
Ludwig Spaenle (CSU) und der ehemalige<br />
hessische Ministerpräsident Roland<br />
Koch (CDU), nun Vorsitzender des Stiftungsrates der<br />
Deutschen Kinder- und Jugendstiftung (DKJS),<br />
eröffneten den Ganztagsschulkongress. Noch 2003<br />
hätten die drei konservativen Politiker das von Rot-<br />
Grün gestartete Programm am liebsten verhindert.<br />
Sieben Jahre später priesen sie Ganztagsschulen als<br />
die Schulform des 21. Jahrhunderts.<br />
Das Thema Lernkultur stand im Zentrum des DKJS-<br />
Kongresses. Nur einen Tag zuvor war die Studie zur<br />
Entwicklung von Ganztagsschulen (StEG) erschienen.<br />
Die Ergebnisse zeigen, dass Ganztagsangebote<br />
pädagogischen Erwartungen der Eltern noch zu wenig<br />
gerecht werden (s. Interview S. 14).<br />
Nach dem erfolgreichen quantitativen Ausbau stehe<br />
nun die „Revolution der Lernkultur“ an, sagte Schavan.<br />
Eine „Revolution“ forderte auch die Schülerin<br />
Charlotte aus Dresden, die schon am Tag zuvor zum<br />
Vorbereitungstreffen der Schülerinnen und Schüler<br />
angereist war. Eine Revolution der Schule: „Die<br />
Schüler müssen bestimmen können, was im Unterricht<br />
gemacht wird, anstatt dass man ihnen die Themen<br />
vorsetzt. Wir müssen unseren Stundenplan<br />
selbst bestimmen können.“<br />
Vieles hat sich bewegt<br />
Viele der 1300 Pädagogen, Schüler und Eltern sind<br />
bereits dabei, Stundenpläne und Unterricht in ihren<br />
Gerät die Bewegung<br />
ins Stocken? Ganztagsschulen<br />
sorgen<br />
sich um ihre künftige<br />
Finanzierung.<br />
Ergebnisse der Studie zur Entwicklung<br />
von Ganztagsschulen<br />
(StEG)<br />
Der regelmäßige Besuch einer Ganztagsschule<br />
kann sich positiv auf Sozialverhalten und Lernfreude<br />
der Schülerinnen und Schüler auswirken.<br />
Das zeigt die dritte Studie zur Entwicklung von<br />
Ganztagsschulen (StEG). Deutlich wird auch,<br />
dass es dabei auf die Qualität der Schule und der<br />
Angebote ankommt. Und da haben viele Schulen<br />
noch Nachholbedarf. So sind Unterricht und<br />
Angebote insbesondere an Schulen der Sekundarstufe<br />
I inhaltlich wenig miteinander verknüpft.<br />
Über drei Erhebungen hinweg konnten die Wissenschaftler<br />
keinen positiven Trend feststellen.<br />
Verantwortlich für die Untersuchung waren das<br />
Deutsche Institut für Internationale Pädagogische<br />
Forschung (DIPF), das Deutsche Jugendinstitut<br />
(DJI), das Institut für Schulentwicklungsforschung<br />
(IfS) und die Universität Gießen. Die<br />
Autoren befragten zwischen 2005 und 2009<br />
mehr als 54500 Menschen aus 328 Schulen.<br />
www.projekt-steg.de A. L.<br />
Einrichtungen umzukrempeln. Der Leiter der Montessori-Grundschule<br />
in Greifswald, Nils Kleemann,<br />
hat die Arbeitspläne seines Kollegiums so geändert,<br />
dass alle Lehrkräfte eine 35-Stunden-Woche in der<br />
Schule verbringen. Ihren Unterricht könnten sie an<br />
den mit Laptops ausgestatten Lehrerarbeitsplätzen<br />
vorbereiten. Im Klassenzimmer unterrichteten<br />
grundsätzlich immer zwei Kollegen, berichtete Kleemann.<br />
Ein Weg, den mehr Schulen gehen sollten,<br />
meinte Eike Schulz vom Jugendamt Rostock: „Aber<br />
die Schulen müssen mutig sein.“<br />
Schulleiter und Berater von Ganztagsschulen trieb<br />
die Frage um, wie es weitergehen wird. Das Bauprogramm<br />
des Bundes ist 2009 ausgelaufen. Nun sind<br />
die Länder allein für Ausstattung, Inhalte<br />
und Personal verantwortlich.<br />
Anna Davis, Ganztagsschulberaterin<br />
der Berliner Serviceagentur, äußerte<br />
die Befürchtung, dass Ganztagsschulen,<br />
die in diesem Jahr gestartet sind,<br />
finanziell weniger Hilfe erhalten<br />
könnten. In Berlin etwa beträfe das alle<br />
zu Sekundarschulen fusionierten<br />
Real- und Hauptschulen.<br />
Doch konkrete Zusagen für eine Neuauflage<br />
des Ganztagsschulprogramms<br />
machte keiner der drei Politiker. So<br />
blieb die Sorge der Teilnehmenden,<br />
dass die Ganztagsschulbewegung ins<br />
Stocken geraten könnte, im Raum.<br />
Anna Lehmann, „taz“-Redakteurin<br />
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DE-ÖKO-005
BILDUNGSPOLITIK<br />
Foto: privat<br />
„Ein Coach an jede Schule“<br />
14 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Interview mit dem Bildungsforscher Eckhard Klieme über Ganztagsschulen<br />
Eckhard Klieme, Sprecher des StEG-<br />
Konsortiums (Studie zur Entwicklung<br />
von Ganztagsschulen), leitet den Bereich<br />
Bildungsqualität und Evaluation<br />
am Deutschen Institut für Internationale<br />
Pädagogische Forschung (DIPF). Er ist<br />
Leiter des wissenschaftlichen Konsortiums<br />
PISA 2009.<br />
Die dritte StEG-Studie zeigt, dass vor<br />
allem die Qualität der Ganztagsschulen<br />
weiterentwickelt werden muss. Das<br />
ist eine Frage der Personal- und Schulentwicklung<br />
(s. auch S. 13).<br />
E &W: Herr Klieme, Ganztagsschule wirkt<br />
sich positiv auf das Verhalten von Schülerinnen<br />
und Schülern aus, auch die Eltern fühlen<br />
sich entlastet. Aber die Leistungen der Kinder<br />
und Jugendlichen verbessern sich nicht.<br />
Sind Ganztagschulen pädagogisch gescheitert<br />
(s. E&W-Schwerpunkt 10/<strong>2010</strong>)?<br />
Eckhard Klieme: Nein, wir sehen, dass<br />
sich Ganztagsschule auch positiv auf die<br />
Lernzielorientierung, die Schulfreude<br />
und Noten auswirkt. Aber diese Effekte<br />
zeigen sich nur, wenn die Qualität der<br />
Schule stimmt.<br />
E &W: Was macht eine gute Ganztagsschule<br />
aus?<br />
Klieme: Die Beziehung zwischen Lehrenden,<br />
Betreuern und Schülern muss<br />
stimmen, damit die Heranwachsenden<br />
überhaupt bereit sind, Angebote zu nutzen.<br />
Wichtig ist außerdem, dass an der<br />
Schule individuelle Förderung ernst genommen<br />
wird, etwa durch unterschiedliche<br />
Aufgabenstellungen und zusätzliche<br />
Lernbegleitung bei einzelnen Jugendlichen.<br />
Ein dritter entscheidender<br />
Faktor ist die Qualität der Angebote. Sie<br />
müssen Schüler motivieren, sie müssen<br />
mit einbezogen und ernst genommen<br />
werden. Aber auch gute Strukturierung,<br />
Verständlichkeit und kognitive Herausforderung<br />
gehören dazu.<br />
E &W: Entscheidend ist also nicht, dass eine<br />
Schule viel anbietet, sondern was sie anbietet?<br />
Klieme: Unsere Studie hat gezeigt, dass<br />
die Vielfalt der Angebote nicht so relevant<br />
ist. Wenn man etwa Leistungen im<br />
Sprachbereich fördern will, muss man<br />
Schwerpunkte setzen. Wenn der Sprachlehrer<br />
dann noch ein echter Profi ist und<br />
eng mit der Deutschlehrerin zusammenarbeitet,<br />
gewinnt man an Qualität.<br />
Auf die kommt es an.<br />
E &W: Doch haben die Schulen seit dem<br />
Start des Programms kaum Fortschritte gemacht,<br />
Unterricht und Angebote zu verbinden.<br />
Ist das so kompliziert?<br />
Klieme: Die Verbindung von Angeboten<br />
und Unterricht ist kein pädagogisches<br />
Wunderwerk. In den Grundschulen ist sie<br />
sogar enger geworden, im Sekundarbereich<br />
nur an einzelnen Schulen. Ein wichtiger<br />
Schritt ist, dass die Schule ihre Lehrkräfte<br />
mehr einbindet in die Nachmittagsgestaltung.<br />
Und sie muss den Zeitablauf<br />
in der Woche so umgestalten, dass<br />
die Elemente verzahnt werden können.<br />
E &W: Das klingt so einfach. Wie kann die<br />
Politik die Schulen dabei unterstützen?<br />
Klieme: Dazu sagt unsere Studie erst<br />
einmal nichts, weil wir nur die Schulen<br />
selbst begleitet haben. Ich persönlich<br />
bin davon überzeugt, dass sich vor allem<br />
die Ausbildung der Pädagogen ändern<br />
muss, aber auch Arbeitszeitmodelle und<br />
Bezahlung. Ich finde es bewundernswert,<br />
wie in einigen Schulen Lehrkräfte,<br />
Erzieher und anderes pädagogisches<br />
Personal Hand in Hand arbeiten.<br />
E &W: Also muss sich nicht nur die Schule,<br />
sondern auch ihr Umfeld verändern?<br />
Klieme: Die Schulen müssen verlässliche<br />
Partner von außen reinholen. Daran<br />
arbeiten die Länder, beispielsweise indem<br />
sie Verträge mit Verbänden und der<br />
Jugendhilfe abschließen. Das Wichtigste:<br />
Die Menschen vor Ort müssen miteinander<br />
kommunizieren. Das setzt voraus,<br />
dass die pädagogischen Partner längerfristig<br />
beschäftigt sind und nicht ständig<br />
jemand Neues kommt. Wenn die<br />
pädagogischen Partner an Entscheidungen<br />
für den Ganztag beteiligt werden,<br />
entwickelt sich die Kooperation besser,<br />
die Verzahnung mit dem Unterricht wird<br />
enger. Das wirkt sich übrigens auch auf<br />
die Zufriedenheit der Eltern aus.<br />
E &W: Das Ganztagsschulprogramm ist<br />
seit 2009 beendet. Manche befürchten, dass<br />
die Entwicklung stockt. Teilen Sie die Besorgnis?<br />
Klieme: Ich glaube nicht, dass es zum<br />
Stillstand kommt. Aber es ist noch viel<br />
ungeklärt: Wer trägt die Investitionen für<br />
Baumaßnahmen an weiteren Schulen,<br />
wer trägt die Kosten für sozialpädagogisches<br />
Personal, wer finanziert pädagogische<br />
Weiterbildung und Beratung? Das<br />
sind Fragen, die zwischen Bund und<br />
Ländern noch nicht ausdiskutiert sind.<br />
E &W: Brauchen wir eine gemeinsame Aktion,<br />
brauchen wir ein zweites Ganztagsschulprogramm?<br />
Klieme: Aus unserer Studie folgt vor allem,<br />
dass man mehr tun muss, um die<br />
Qualität weiterzuentwickeln. Das ist<br />
letztlich eine Frage der Personal- und der<br />
Schulentwicklung. Man braucht Experten,<br />
die Schulen in Planungsprozessen<br />
beraten. Man braucht im optimalen Fall<br />
Experten, die in der Lage sind, Lehrkräfte<br />
zu coachen. Coaching ist eine der besten<br />
Methoden, um Unterricht zu verbessern.<br />
E &W: Ein Coach an jede Schule?<br />
Klieme: Das wäre ideal, wenn Pädagogen<br />
bei Bedarf eine professionelle Hilfe<br />
zur Seite gestellt würde, die mit ihnen<br />
arbeitet, den Unterricht besucht und<br />
Anregungen gibt. Man kann verstärkt<br />
Berater an jene Schulen entsenden, die<br />
einen besonderen Bedarf haben. Da gibt<br />
es bereits gute Modelle. Bremen etwa<br />
hat massiv in Fortbildung und Beratung<br />
investiert, um Schulen in so genannten<br />
Brennpunkten zu unterstützen. Man<br />
muss aber nicht immer Experten von<br />
außen einkaufen. Man kann Lehrkräfte<br />
einer Schule auch dazu bringen, mehr<br />
miteinander zu arbeiten.<br />
E &W: Wie?<br />
Klieme: Etwa indem Kolleginnen und<br />
Kollegen wechselseitig hospitieren. So<br />
bekommt man als Lehrkraft neue Ideen<br />
und kann sich unterstützt fühlen in einem<br />
guten Team.<br />
Interview: Anna Lehmann,<br />
„taz“-Redakteurin
Foto: Paul Schwarz<br />
INKLUSION<br />
„Deutschland braucht<br />
ein inklusives<br />
Bildungswesen!“<br />
Interview mit Vernor Muñoz<br />
Vernor Muñoz, UN-Sonderberichterstatter<br />
für das Recht auf Bildung<br />
Beim Kölner Kongress „Eine<br />
Schule für alle“ des Vereins „mittendrin<br />
e.V.“ sprach Prof. Vernor<br />
Muñoz aus Puerto Rico über<br />
„Deutschland und die UN-Behindertenrechtskonvention“.<br />
Am Rande der Tagung führte<br />
Paul Schwarz ein Gespräch mit<br />
Muñoz.<br />
E &W: Herr Muñoz, was fällt Ihnen<br />
ein, wenn Sie „deutsches Bildungssystem“<br />
hören?<br />
Vernor Muñoz: Der erste Gedanke<br />
ist der einer großen Herausforderung<br />
und Veränderung, die ganz<br />
langsam eingeleitet worden ist,<br />
ganz vorsichtig und etwas schüchtern,<br />
die sich aber beschleunigen<br />
wird.<br />
E &W: Konkret, welche Veränderungen<br />
sind das, auch mit Blick auf den<br />
internationalen Vergleich?<br />
Muñoz: Die Hauptherausforderung<br />
ist, ein inklusives Schulwesen<br />
zu schaffen. Damit meine ich<br />
nicht nur ein System, das auch allen<br />
behinderten Kindern und Jugendlichen<br />
offensteht, sondern eines,<br />
das zudem Migranten stärker<br />
fördert. Diese haben bisher in<br />
Deutschland große Schwierigkeiten,<br />
ihre Chancen wahrzunehmen.<br />
E &W: Deutschland hat die Reformpädagogik<br />
erfunden, dennoch hinken<br />
wir im internationalen Vergleich hinterher.<br />
Wie erklärt sich das?<br />
Muñoz: Menschen mit Migrationshintergrund,<br />
aber auch Deutsche,<br />
die in sozioökonomisch<br />
schwierigen Verhältnissen leben,<br />
sind bisher im Bildungssystem<br />
nicht so gefördert worden, wie es<br />
hätte sein sollen. Die Antworten,<br />
die das deutsche Schulsystem auf<br />
die Bedürfnisse dieser Gruppe gefunden<br />
hat, waren nicht richtig<br />
und angemessen. Die demografische<br />
Zusammensetzung in<br />
Deutschland wird sich in den<br />
nächsten 30 Jahren grundlegend<br />
verändern. Wenn man die Bevölkerungsgruppen,<br />
die bisher benachteiligt<br />
waren, nicht einbezieht<br />
und fördert, wenn man ihnen<br />
nicht die Chancen gibt, die sie verdienen<br />
und brauchen, könnte das<br />
in der Zukunft zu ernsthaften Problemen<br />
führen. Die Bildungsreform<br />
sollte sich nicht nur auf technische<br />
und pädagogische Aspekte<br />
konzentrieren, sondern auch auf<br />
den rechtlichen Anspruch, dass alle<br />
die gleichen Chancen erhalten.<br />
E &W: Was bedeutet das für die<br />
Struktur?<br />
Muñoz: In Deutschland gibt es eine<br />
Spaltung in der Bevölkerung.<br />
Die Kinder und Jugendlichen werden<br />
aufgeteilt und klassifiziert –<br />
und das zu einem frühen Zeitpunkt<br />
im Alter von zehn Jahren.<br />
Diese Auslese nehmen häufig<br />
Lehrkräfte vor, die nicht immer in<br />
der Lage sind, die Situation richtig<br />
einzuschätzen. Das deutsche<br />
Schulwesen basiert auf einem System,<br />
das eher teilt als zusammenführt,<br />
es spaltet die Gesellschaft.<br />
Die Grundschulstudie IGLU hat<br />
z.B. nachgewiesen, dass über 40<br />
Prozent der Klassifizierung der<br />
Kinder nicht „richtig“ war, dass die<br />
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12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 15
INKLUSION<br />
Literaturtipps<br />
s. auch: Hartmann,<br />
Michael:<br />
Die deutschen Spitzenmanager,<br />
in: Kursbuch Nr. 139,<br />
Die deutschen Eliten,<br />
S.97-109.<br />
Bildung und andere<br />
Privilegien,<br />
in: Kursbuch Nr. 143,<br />
Neidgesellschaft, März,<br />
S. 39-53.<br />
Eliten in Deutschland –<br />
Rekrutierungswege und<br />
Karrierepfade. In: Das<br />
Parlament, Politik und<br />
Zeitgeschichte 10, 2004,<br />
S. 17-21.<br />
Eliten und Macht in<br />
Europa. Ein internationaler<br />
Vergleich. Frankfurt<br />
a. Main, 2007.<br />
UN-Sonderberichterstatter<br />
Vernor Muñoz:<br />
„Auf meiner offiziellenUN-Mission<br />
nach Deutschland<br />
2006 habe<br />
ich bereits festgestellt,<br />
dass Kinder<br />
mit Migrationshintergrund<br />
in<br />
Hauptschulen<br />
über- und in Gymnasienunterrepräsentiert<br />
sind.<br />
Das zeigt, dass<br />
sie nicht die gleichenBildungschancen<br />
haben<br />
wie deutsche<br />
Kinder.“<br />
Foto: imago<br />
UN-Mission nach Deutschland 2006<br />
habe ich ja bereits festgestellt, dass Kinder<br />
mit Migrationshintergrund in<br />
Hauptschulen über- und in Gymnasien<br />
unterrepräsentiert sind. Das zeigt, dass<br />
sie nicht die gleichen Bildungschancen<br />
haben wie deutsche Kinder.<br />
E &W: Wir reden ständig von Globalisierung<br />
und übernehmen, was die Wirtschaft<br />
angeht, manches von anderen Ländern.<br />
Warum tut sich Deutschland so schwer, von<br />
anderen Staaten in Sachen Bildung zu lernen?<br />
Muñoz: Das Bildungswesen in<br />
Deutschland hat eine sehr alte, sehr<br />
feste Struktur, die bis heute die Ständeordnung<br />
des 19. Jahrhunderts widerspiegelt.<br />
Es ist sehr schwierig, diese Strukturen<br />
aufzubrechen und zu verändern.<br />
Dazu kommt, dass das Bildungssystem<br />
bestimmte Privilegien beinhaltet. Soviel<br />
ich weiß, gibt es keinen führenden Politiker,<br />
der Abgänger einer Hauptschule<br />
ist. Die meisten Politiker in Deutschland<br />
sind wohl Gymnasiasten gewesen.<br />
(Literaturhinweise s. Marginalspalte)<br />
E &W: Kommen wir zur inklusiven Schule.<br />
Welche Vorteile hat sie? Wir haben doch gute<br />
Förderschulen?<br />
Muñoz: Ein inklusives Schulsystem hat<br />
Vorteile für alle Beteiligten. Man lernt<br />
Solidarität, Gerechtigkeit, Menschenwürde.<br />
Dies gilt für die behinderten und<br />
nichtbehinderten Kinder. In einem Bildungssystem<br />
wie in Deutschland, in<br />
dem die Schule Auslese- und Zuteilungsfunktion<br />
hat, kann keine Gleichheit<br />
bestehen – aus Prinzip. Es ist<br />
pädagogisch richtig, allen das Recht zu<br />
geben, lange gemeinsam zu lernen –<br />
16 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
und in den Städten zusammenzuleben:<br />
Einheimische, Migranten, Anhänger<br />
verschiedener Religionen, Arme und<br />
Reiche, Behinderte. So sollte es auch in<br />
den Schulen sein.<br />
E &W: Gemeinsam lernen. Wie lange?<br />
Muñoz: Für die gesamte Schullaufbahn.<br />
E &W: Die Vereinten Nationen haben vor<br />
einem Jahr die Konvention über die Rechte<br />
von Menschen mit Behinderungen verabschiedet.<br />
Welche Beobachtungen machen Sie<br />
bei der Umsetzung?<br />
Muñoz: Die inklusive Bildung hinterfragt<br />
die historische Struktur im deutschen<br />
Schulwesen. Deshalb ist es nicht<br />
so einfach, Veränderungen umzusetzen.<br />
Ich spreche immer wieder mit Lehrkräften,<br />
die an dieser pädagogischen Revolution<br />
interessiert sind, aber nicht wissen,<br />
wo sie beginnen sollen. In den Entwicklungsländern<br />
sind die Klassen häufig<br />
sehr viel größer als in Europa: 40<br />
Schüler und mehr. Wenn man dort den<br />
Lehrkräften sagen würde, ihr seid verpflichtet,<br />
drei Kinder mit Down-Syndrom<br />
und zwei psychisch Behinderte<br />
aufzunehmen, könnten sie damit nicht<br />
umgehen. Sie wären völlig schockiert<br />
und de facto nicht darauf vorbereitet.<br />
Was mir aber sehr interessant und bewegend<br />
erscheint: Lehrkräfte, die mit einer<br />
solchen Situation konfrontiert sind, lösen<br />
diese in ihrer täglichen Schularbeit<br />
auch irgendwie. Es kommt ja auch hier<br />
vor, dass Lehrkräfte Schüler in ihre Klasse<br />
bekommen, die etwa die deutsche<br />
Sprache nicht beherrschen. Damit müssen<br />
sie dann auch umgehen. Freilich –<br />
auf das Engagement und den guten Wil-<br />
len der Lehrkräfte dürfen wir alleine<br />
nicht setzen. Es muss eine Politik, einen<br />
öffentlichen Willen geben und Pläne<br />
auf nationaler Ebene, die sich für Inklusion<br />
einsetzen. Natürlich braucht man<br />
dafür auch finanzielle Mittel.<br />
E &W: Wie hilfreich ist da das föderale System<br />
mit 16 Bundesländern?<br />
Muñoz: Deutschland ist nicht der einzige<br />
Staat, der über ein sehr kompliziertes<br />
Bildungswesen verfügt. Es gibt andere<br />
Länder, in denen es noch schwieriger ist.<br />
In der Bundesrepublik hat die Verwaltung<br />
des Schulwesens in der Vergangenheit<br />
ganz gut funktioniert. Trotzdem<br />
müsste die Bundesregierung bzw. der<br />
Bund etwas direkter eingreifen, um die<br />
Chancengleichheit im Bildungswesen<br />
voranzutreiben.<br />
E &W: Welche Empfehlungen würden Sie<br />
der deutschen Politik geben?<br />
Muñoz: Zuerst müssten Gesetze her,<br />
die für die Umsetzung der Konvention<br />
der Rechte behinderter Menschen sorgen.<br />
Man braucht eine Politik, die Übergangspläne<br />
erarbeitet, weg von einem<br />
System der Sonder- hin zu einem inklusiver<br />
Schulen. Natürlich sind auch die<br />
finanziellen Mittel für die Umsetzung<br />
notwendig. Zudem müssen die Eltern<br />
der behinderten Kinder und die Schüler<br />
größere Teilhabe erhalten. Sie sind einzubeziehen,<br />
wenn neue Methoden des<br />
Lernens und des gegenseitigen Miteinanders<br />
entwickelt werden. Sie brauchen<br />
eine neue und gerechtere Form der<br />
Bildung.<br />
Interview: Paul Schwarz,<br />
freier Journalist, Filmautor
Foto: dpa<br />
Das Thema „Inklusion“<br />
ist in der pädagogischen<br />
Ausbildung kaum verankert.<br />
Mehr als ein Label<br />
<strong>GEW</strong>-Tagung: „Profession braucht Inklusion“<br />
Auf der <strong>GEW</strong>-Tagung „Profession<br />
braucht Inklusion“ debattierten Ende<br />
Oktober rund 40 Pädagoginnen und<br />
Pädagogen, viele in der Erzieherausbildung<br />
tätig, in Fulda über ihr professionelles<br />
Selbstverständnis. Die Experten<br />
fassten zusammen, wie Inklusion<br />
in der pädagogischen Ausbildung verankert<br />
ist. Ergebnis: fast gar nicht –<br />
außer in Bildungsgängen, die „Inklusion“<br />
im Titel tragen.<br />
Im 13. Kinder- und Jugendbericht<br />
der Bundesregierung steht ein<br />
Satz, der an Deutlichkeit nichts zu<br />
wünschen übrig lässt: „Die Bundesregierung<br />
unterstützt den inklusiven<br />
Ansatz (...) nachdrücklich.“<br />
Dass die Realität an Schulen von<br />
einer „Perspektive, die keine Aussonderung<br />
akzeptiert“ weit entfernt ist, ist bekannt.<br />
Der frühkindlichen Bildung<br />
stellt die Kommission, die den Bericht<br />
erstellt hat, ein besseres Zeugnis aus.<br />
„Wenn überhaupt irgendwo Inklusion<br />
umgesetzt ist“, sagte ihr Vorsitzender<br />
Heiner Keupp, „dann bei den Kitas.“ Dabei<br />
ist auch das noch optimistisch.<br />
Denn obwohl acht von 16 Ländern ihre<br />
Curricula für die Erzieherausbildung<br />
seit 2005 überarbeitet haben, sprechen<br />
nur Berlin und Brandenburg von „Inklusion“.<br />
In allen anderen Ländern, erklärte<br />
Rolf Janssen, der für die Weiterbildungsinitiative<br />
Frühpädagogische Fachkräfte<br />
(WIFF) Rahmenpläne verglich,<br />
ist von „Integration“ die Rede. Schwerer<br />
noch mag wiegen, dass „Interkulturalität“<br />
und „Leben mit Behinderung“ nur<br />
in Hamburg, Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg<br />
als Querschnittsthemen<br />
behandelt werden. In manchen<br />
Ländern ist Integration bloß Wahlpflichtfach<br />
– oder nicht einmal das. In<br />
Nordrhein-Westfalen (NRW), das bundesweit<br />
jede vierte Erzieherin ausbildet,<br />
wird der Umgang mit Kindern mit Besonderheiten<br />
laut Janssens Synopse in<br />
der allgemeinen Ausbildung schlicht abgelehnt.<br />
Integratives Erziehen wird den<br />
Heilpädagogen in „multiprofessionellen<br />
Teams“ überlassen. Wie weit die Annahme,<br />
dass es von diesen genug gäbe,<br />
von der Realität entfernt ist, machte die<br />
stellvertretende baden-württembergische<br />
<strong>GEW</strong>-Vorsitzende Petra Kilian<br />
deutlich: „Es fehlt nicht nur an Ausbildung.<br />
Es fehlt auch an personellen Ressourcen.“<br />
Wie eine andere Ausbildung aussehen<br />
könnte, machen einige Hochschulen<br />
vor. In Fulda bereitet der berufsbegleitende<br />
Studiengang „Frühkindliche Inklusive<br />
Bildung“ die Studierenden acht<br />
Semester auf die Vielfalt in einer inklusiven<br />
Einrichtung vor. Bunt gemischt<br />
werden dabei bereits die Kommilitoninnen<br />
und Kommilitonen: Abiturienten,<br />
Erzieherinnen mit Berufserfahrung sowie<br />
Quereinsteiger studieren gemeinsam.<br />
Schon die Mischung, erläuterte<br />
Studiengangs-Leiterin Sabine Lingenauber,<br />
habe auch ein pädagogisches Ziel:<br />
„Wer in heterogenen Gruppen studiert,<br />
wird auch im Beruf besser damit umgehen<br />
können.“<br />
„Radikaler Umbau nötig“<br />
In Darmstadt gibt es das grundständige<br />
Vollstudium „Integrative Heilpädagogik/Inclusive<br />
Education“. In einem<br />
zehnsemestrigen Master-Studiengang –<br />
acht bis zum Bachelor – erörtern die<br />
Studierenden Grundlagen etwa von<br />
Theodor W. Adornos „Erziehung nach<br />
Auschwitz“ bis zu Theorien über aussondernde<br />
Strukturen in der Gesellschaft.<br />
Praktisches Highlight: Die Studierenden<br />
müssen in einem obligatorischen<br />
Auslandssemester in einer fremden<br />
Sprache ein inklusives Projekt umsetzen.<br />
Anne Dore Stein, Gründerin des<br />
Studiengangs: „In einer ungewohnten<br />
Umgebung, ganz konkret und im Detail<br />
zu sagen, warum z.B. alle gemeinsam<br />
lernen sollen, übt für die spätere Praxis<br />
in Deutschland ungemein.“ Die Absolventen<br />
des Studiengangs sollen Inklusion<br />
als „Wegbereiter, Brückenbauer, Katalysatoren“<br />
in den Einrichtungen vorantreiben.<br />
Allerdings, schränkt Stein<br />
sogleich ein: „Weit mehr als das Label<br />
‚Inklusion‘ benötigt das deutsche Bildungssystem<br />
einen radikalen Umbau.“<br />
Der ist, darauf wurde in Fulda immer<br />
wieder verwiesen, jedoch noch in weiter<br />
Ferne.<br />
<strong>GEW</strong>-Schulexpertin Marianne Demmer<br />
stellte klar, warum Profession nicht nur<br />
Inklusion braucht – sondern Inklusion<br />
auch Profession. Nur eine gute Ausbildung<br />
könne die Sorgen der Pädagoginnen<br />
und Pädagogen zerstreuen, mit<br />
„Anderen“ – ob Kinder mit Behinderungen,<br />
Verhaltensauffälligkeiten oder<br />
Migrationshintergrund – nicht angemessen<br />
umgehen zu können. Erst dann,<br />
so Demmer, ließe sich „wissenschaftlich<br />
längst widerlegten Mythen“ der Nährboden<br />
entziehen: „Inklusion bremst<br />
nicht die Leistungsstärkeren. Und in homogenen<br />
Gruppen lernt man nicht besser.“<br />
Jeannette Goddar, freie Journalistin<br />
INKLUSION<br />
Der Studiengang<br />
„Frühkindliche<br />
Inklusive Bildung“ an<br />
der Hochschule Fulda:<br />
www.fruehkindlicheinklusive-bildung.de<br />
Der Studiengang IntegrativeHeilpädagogik/Inclusive<br />
Education<br />
an der Evangelischen<br />
Fachhochschule Darmstadt:heilpaedagogik.efhd.de/heilpaedagogik_<br />
ba_start.php<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 17
BILDUNGSPOLITIK<br />
Warum weint ein Kind nach der Schule?<br />
Der Arbeitsalltag von Schulpsychologen hat sich geändert<br />
Warum weint ein Kind immer, wenn<br />
es aus der Schule kommt? Wie geht<br />
man im Unterricht mit einem ständigen<br />
Störer um? Wie hilft man einer gemobbten<br />
Schülerin? Fälle, bei denen<br />
man im Schulalltag oft die Hilfe und<br />
Unterstützung von Schulpsychologen<br />
braucht. Das Dilemma: Es gibt immer<br />
noch viel zu wenige für viel zu viele<br />
Schülerinnen und Schüler.<br />
Köln-Dellbrück ist kein Problemstadtteil,<br />
sondern ein<br />
ruhiger, fast dörflicher Vorort.<br />
Ellen Glanz-Born, die<br />
Schulpsychologin, kommt<br />
gerade aus dem Unterricht.<br />
15 Schulen hat sie zu betreuen. Einmal<br />
im Monat ist sie hier, um das Verhalten<br />
der Kinder zu beobachten, deren Eltern<br />
sie um Rat gefragt haben. „Warum weint<br />
mein Kind immer, wenn es aus der<br />
Schule kommt?“ „Meine Tochter hat<br />
solche Schwierigkeiten mit dem Rechnen.<br />
Ist das Dyskalkulie?“ Die Eltern erwarten<br />
häufig von ihr eindeutige Diagnosen<br />
– in der Illusion, das sei schon<br />
eine Lösung ihrer Probleme, meint<br />
Glanz-Born.<br />
Sie will die gängigen Vorurteile gegenüber<br />
Schulpsychologen widerlegen.<br />
Nein, sie teste nicht nur Kinder auf<br />
Schulreife, Hoch- oder Tiefbegabung,<br />
ADHS oder sonstige Verhaltensauffälligkeiten.<br />
Die erfahrene Psychologin<br />
hält mehr von ausführlichen Gesprächen.<br />
Denn oft sind es Beziehungsprobleme<br />
zwischen Eltern und Kindern,<br />
zu Lehrkräften oder Mitschülern,<br />
wenn es um Leistungsversagen geht. Die<br />
Psychologin nimmt sich viel Zeit für Eltern<br />
und Kinder. Sie sitzt auch nicht nur<br />
in ihrer Beratungsstelle, sondern ist in<br />
15 Schulen unterwegs, sieht sich Unterricht<br />
an, berät und bildet Pädagogen<br />
fort. Und sie kommt zu Elternabenden,<br />
wenn man sie darum bittet. Zum Beispiel,<br />
um etwas über die Probleme beim<br />
Schulwechsel zu erzählen oder um Eltern<br />
und Lehrende zu beraten, wenn<br />
diese einen Verhaltenskodex für die<br />
Schule entwerfen.<br />
Lernversagen, Leistungsschwächen, Aufmerksamkeitsstörungen,<br />
Mobbing –<br />
diese Probleme und Fragen sind der Alltag<br />
der 18 Kölner Schulpsychologen. Jeder<br />
von ihnen hat rund 6000 Schülerinnen<br />
und Schüler zu betreuen. Das ist<br />
Foto: imago<br />
18 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
schon eine relativ günstige Relation.<br />
Besser schneiden nur die Stadtstaaten<br />
ab. Berlin erreicht als einziges Bundesland<br />
ein Verhältnis von gut 5000 Schülerinnen<br />
und Schülern auf eine Psychologin,<br />
einen Psychologen. Das ist die<br />
Zielmarke, die die Bund-Länder-Kommission<br />
für Bildungsplanung (BLK)<br />
1974 beschlossen hatte. Davon ist man<br />
noch heute weit entfernt. 2008 gab es in<br />
Deutschland für 16500 Kinder einen<br />
Schulpsychologen. Nur in China sei die<br />
Relation noch schlechter, wie der Psychologe<br />
Rainer Dollase in einem Gutachten<br />
für die <strong>GEW</strong> Niedersachsen* feststellte.<br />
Italien und Albanien können<br />
sich einen Psychologen für etwa 500<br />
Kinder leisten, die USA einen für je<br />
1000 Schülerinnen und Schüler. In Niedersachsen<br />
dagegen hat ein Psychologe<br />
über 28 000 Kinder und Jugendliche zu<br />
betreuen.<br />
„Eigentlich müsste es für tausend Schüler<br />
einen Psychologen geben“, ist Stefan<br />
Drewes, Vorsitzender der Sektion Schulpsychologie<br />
im Bundesverband Deutscher<br />
Psychologen (BDP) und Leiter des<br />
schulpsychologischen Dienstes in Düsseldorf,<br />
überzeugt. In den frühen 1970er-<br />
Jahren etwa hatten alle Gesamtschulen in<br />
Nordrhein-Westfalen (NRW) einen eigenen<br />
Schulpsychologen. Der Vorteil: Das<br />
Angebot war im wahrsten Sinne des Wortes<br />
niedrigschwellig. Schüler und Lehrkräfte<br />
konnten in der Pause vorbeikommen.<br />
Dass die letzte CDU/FDP-Landesregierung<br />
diese schulinternen Stellen gestrichen<br />
hat, war eine der Maßnahmen,<br />
mit denen sie den Gesamtschulen das Leben<br />
erschweren wollte.<br />
Drewes hält allerdings nichts davon,<br />
Schulpsychologen ins Kollegium einzu-<br />
binden. „Der Schulpsychologe braucht<br />
ein Stück Abstand, er muss von außen<br />
auf das System gucken können“, sagt er.<br />
Es erleichtere Eltern und Kindern den<br />
Zugang, wenn der Psychologe nicht<br />
zum Kollegium gehöre.<br />
Das Arbeitsfeld des Psychologen habe<br />
sich gewandelt, berichtet der BDP-Vorsitzende.<br />
Statt nur Einzelfallhilfe böten<br />
die Schulpsychologen heute mehr Beratung<br />
und Unterstützung für Lehrerinnen<br />
und Lehrer an. Drewes: „Wir brauchen<br />
Sozialpädagogen und Psychologen,<br />
die die Lehrkräfte im Unterrichtsalltag<br />
unterstützen. Die müssen wissen,<br />
welchen Schulpsychologen sie anrufen<br />
können, der ihnen in schwierigen Situationen<br />
zur Seite steht.“<br />
Eine neutrale Position außerhalb der<br />
Schulhierarchie habe der Akzeptanz der<br />
Schulpsychologen genützt, bestätigt<br />
auch Wolfgang Ehinger, Schulpsychologe<br />
in Tübingen und Vorsitzender des badenwürttembergischen<br />
Verbands der Schulpsychologen.<br />
In seinem Bundesland sind<br />
die Planstellen für Schulpsychologen seit<br />
2007 nahezu verdoppelt worden – nicht<br />
zuletzt eine Folge der Amokläufe. Ehinger<br />
befürchtet allerdings, dass die Position<br />
der Psychologen als unabhängige<br />
Berater eingeschränkt werden könnte,<br />
wenn man diese in die Strukturen der<br />
Schulaufsichtsbehörden einbinde.<br />
Fest steht: Arbeitsumfang und Aufgaben<br />
der Schulpsychologen wachsen.<br />
Aber nicht, weil die Krisen- und Katastrophenfälle<br />
häufiger geworden sind.<br />
Sondern, so Drewes, weil der alltägliche<br />
Druck auf die Schüler, etwa durch die<br />
verkürzte gymnasiale Schulzeit (G 8),<br />
zunehme.<br />
Karl-Heinz Heinemann, freier Journalist<br />
* Rainer Dollase: Situation<br />
der Schulpsychologie<br />
in Deutschland und<br />
in Niedersachsen im internationalen<br />
Vergleich,<br />
Februar <strong>2010</strong>, Gutachten<br />
im Auftrag der Max-<br />
Traeger-Stiftung der<br />
<strong>GEW</strong> (www.gew-nds.de/<br />
Aktuell/archiv_jan_10/<br />
Situation_der_<br />
Schulpsychologie_in_<br />
Deutschland_und_<br />
Niedersachsen.pdf)<br />
Warum ist ein<br />
Kind traurig,<br />
wenn es von der<br />
Schule nach Hause<br />
kommt? Wird<br />
es gemobbt? Hat<br />
es Angst vor Versagen?<br />
Eltern und<br />
Lehrkräfte sind in<br />
solchen Fällen oft<br />
ratlos. Helfen<br />
können Schulpsychologen.
Dialog<br />
Lebensformen und Beziehungen im Alter<br />
Allein leben – nicht einsam<br />
Die Lebensstile werden bunter:<br />
Ältere Menschen leben öfter<br />
allein – und zwar nicht nur nach<br />
dem Tod des Partners oder der<br />
Partnerin. Es gibt mehr Scheidungen,<br />
mehr Alleinstehende<br />
und Kinderlose.Viele sortieren<br />
deshalb ihre sozialen Beziehungen<br />
neu, beugen bewusst Isolation<br />
und Einsamkeit im Alter<br />
vor. Das erfordert Initiative und<br />
Engagement.<br />
Lebensqualität, Hilfe in kritischen<br />
Lebenslagen: Dafür wünschen sich<br />
die meisten Menschen bis ins<br />
hohe Alter hinein stabile soziale Beziehungen<br />
– in der Familie und im Freun-<br />
deskreis. Doch unsere Zeit sei von gegenläufigen<br />
Tendenzen geprägt, häufiger<br />
brächen schlecht gepflegte Kontakte und<br />
Freundschaften im Alter weg, erklärt<br />
Prof. Ansgar Thiel. Als Gründe nennt er<br />
die Belastungen der modernen Arbeitswelt,<br />
die geforderte große Mobilität mit<br />
Umzügen, Dienstreisen und beruflicher<br />
Verfügbarkeit. „In jungen Jahren verausgaben<br />
sich viele Menschen am Arbeitsplatz.<br />
Darüber zerbrechen Freundschaften,<br />
Hobbygruppen und familiäre Bezüge“,<br />
stellt der Wissenschaftler fest. Isolation<br />
werde gerade von „sehr aktiven<br />
Machern“ umso schmerzlicher erfahren,<br />
sobald sie den Ruhestand erreichten.<br />
Das gelte nicht nur für Singles, sondern<br />
auch für verheiratete Männer. Die stell-<br />
Cartoon: Brecheis<br />
ten nämlich zuhause verwundert fest:<br />
„Meine Frau ist ständig auf Achse, trifft<br />
ihren Bekanntenkreis und geht ihren<br />
Hobbys nach – und ich habe nichts zu<br />
tun!“ Frauen sind unter anderem aufgrund<br />
ihrer höheren Lebenserwartung<br />
häufiger als Männer im Alter alleinstehend;<br />
aber sie sind in der Regel besser sozial<br />
vernetzt und aktiver.<br />
Thiel hat das Leben von Ruheständlern<br />
untersucht und bietet Seminare für Betroffene<br />
und Übungsleiter an – mit Tipps,<br />
den Alltag im Alter zu bewältigen. Dabei<br />
fällt ihm auf: „Für die heutigen Älteren,<br />
die körperlich fit und geistig rege sind,<br />
gibt es kaum adäquate Freizeitangebote,<br />
wenn sie nach dem Beruf wieder im Gemeinschaftsleben<br />
Fuß fassen wollen.“<br />
4/<strong>2010</strong><br />
Inhalt<br />
Titel<br />
Lebensformen und<br />
Beziehungen im Alter:<br />
Allein leben –<br />
nicht einsam<br />
Seite 1– 2<br />
Interviews:<br />
Freundschaften<br />
pflegen<br />
Keinesfalls ins<br />
„Altengetto“<br />
Seite 3<br />
Sozial integriert –<br />
auch ohne Familie:<br />
Mehr Miteinander!<br />
Seite 4<br />
In Kürze<br />
Zwischen Pflege<br />
und Beruf<br />
Pflegezeit schöngeredet<br />
Seite 4<br />
Dialog 4/10 1
2<br />
*Bundesministerium<br />
für Familie, Senioren,<br />
Frauen und Jugend<br />
(BMFSFJ): Altern im<br />
Wandel. Zentrale<br />
Ergebnisse des<br />
Deutschen Alterssurveys(DEAS).Veröffentlicht<br />
am<br />
8. September <strong>2010</strong>.<br />
www.bmfsfj.de<br />
(Pfad: Ältere Menschen,<br />
Suchbegriff<br />
DEAS).<br />
** Statistisches Bundesamt<br />
(Destatis):<br />
Frauen und Männer<br />
in verschiedenen<br />
Lebensphasen.<br />
Destatis-Broschüre<br />
Wiesbaden,<br />
30. September<br />
<strong>2010</strong>.<br />
Informationen zum<br />
Seminarangebot<br />
für Ältere und für<br />
Multiplikatoren<br />
unter: www.projektruhestand.de.<br />
Dialog 4/10<br />
Titel<br />
Weder Vereine noch kommerzielle Angebote<br />
könnten vernachlässigte Sozialstrukturen<br />
ersetzen.<br />
Instabile Kontakte<br />
Ungünstige Befunde, zumal zwei aktuelle<br />
Veröffentlichungen den Trend zum<br />
Single-Leben der Älteren bestätigen:<br />
eine Langzeitstudie des Bundesfamilienministeriums<br />
(BMFSFJ) und eine Broschüre<br />
des Statistischen Bundesamts<br />
(Destatis).<br />
• Die Studie „Altern im Wandel“* bilanziert:<br />
Das Leben älterer Menschen wird<br />
bunter, aber auch sozial „zerbrechlicher“.<br />
Zunehmend brauchen Partnerund<br />
Kinderlose mehr Unterstützungsquellen<br />
jenseits der Familie – und die<br />
Kraft zur Selbsthilfe.<br />
• Destatis veröffentlichte Zahlen für das<br />
Jahr 2009 über Alleinstehende der Generation<br />
60plus**: Danach lebten 18<br />
Prozent der Männer und 40 Prozent<br />
der Frauen in Privathaushalten allein.<br />
Mit dem Alter steigt diese Quote: Ab<br />
85 Jahren lebten 36 Prozent der Männer<br />
allein – und 74 Prozent der Frauen.<br />
Der Trend: Familiäre Bande werden<br />
brüchiger und die Scheidungsrate steigt –<br />
sogar im Rentenalter.<br />
Lebensstil finden<br />
Aus diesen Ergebnissen folgert Thiel:<br />
Die Menschen brauchen Kompetenzen<br />
und Strategien, um sozial eingebunden<br />
– und glücklich! – alt zu werden: „Ältere,<br />
die allein leben, müssen sich rechtzeitig<br />
organisieren, Kontakte aufbauen<br />
Buchtipps<br />
Mathias Irle: Älterwerden für Anfänger.<br />
Das Alter als unbekanntes Terrain wird<br />
in Gesprächen mit Fachleuten und Betroffenen<br />
ausgeleuchtet.<br />
rororo, 288 Seiten, 19,95 Euro.<br />
Eckart Hammer: Männer altern anders.<br />
Der Ruhestand ist da, die Kinder sind<br />
aus dem Haus: Freiräume und Orien-<br />
Prof. Ansgar Thiel lehrt Sozial- und<br />
Gesundheitswissenschaft des Sports<br />
an der Universität Tübingen.<br />
Er ist Direktor des Instituts für Sportwissenschaften.<br />
und persönliche Lebensstile entwickeln“,<br />
so Thiel. Er fordert, dass Vereine<br />
und Verbände über passgenaue<br />
Freizeitangebote für die neuen Alten<br />
nachdenken. Egal, ob jemand in eine<br />
Wohngemeinschaft ziehe, allein lebe<br />
oder im betreuten Wohnen: Soziale<br />
Verankerung sei so wichtig wie die Luft<br />
zum Atmen.<br />
Egal ob Büchernarren, Klassikliebhaber,<br />
Hobbyköche oder Rockmusikfans: Wie<br />
man seine freie Zeit bevorzugt gestalten<br />
will, man müsse Menschen mit Schnittmengen<br />
suchen und ansprechen, resümiert<br />
der Wissenschaftler. Zur sozialen<br />
Fitness im Alter gehöre der Mumm, auf<br />
andere zuzugehen, und eine ehrliche<br />
Bilanz: Bin ich isoliert? Habe ich belastbare<br />
Freundschaften? Trauere ich<br />
vernachlässigten Hobbys nach? Wie<br />
komme ich an Gleichgesinnte heran?<br />
„Wer sich öffnet, kann mit anderen die<br />
Welt erobern“, sagt Thiel. Doch der Bekanntenkreis<br />
sollte sich nicht auf funktionale<br />
Gruppen beschränken – also auf<br />
tierung für Männer jenseits der 50.<br />
Herder, 224 Seiten, 9,95 Euro.<br />
Janine Berg-Peer: Sieben Schritte zur<br />
neuen Liebe. Auch jenseits der 30 gibt<br />
es genug Singles, aber zu Hause vor<br />
dem Fernseher trifft man weder nette<br />
Frauen noch nette Männer.<br />
rororo, 265 Seiten, 8,95 Euro.<br />
Foto: privat<br />
Sport, Ehrenamt oder ein Hobby.<br />
Wichtig sei, gemeinsame Rituale zu finden:<br />
den Kneipenbummel, Tanzen, Kochen<br />
oder den Spieleabend. Freizeit<br />
sollte Spaß machen und Sinn stiften.<br />
Enge Freundschaften, betont der Forscher,<br />
seien auch in einer Lebenskrise<br />
stabil und strapazierfähig.<br />
Rückzug oder Offensive?<br />
Studien belegen: Ältere Menschen mit<br />
niedrigerem Bildungsniveau orientieren<br />
sich vorwiegend auf ihre Familie, Kinder<br />
und Enkelkinder sowie den privaten<br />
Rückzug. Besser Gebildete setzen verstärkt<br />
auf externe Kontakte, Erlebnisse,<br />
Reisen, Kunst und Kultur – mit einer Tendenz,<br />
enge Familienbande zu vernachlässigen.<br />
Allerdings können vergangene, schlechte<br />
Erfahrungen soziale Bindungen behindern<br />
– mit Ängsten und vielen Aber-<br />
Einwänden. Denn bei neuen Kontakten<br />
bleiben Enttäuschungen nicht aus. Aber<br />
es besteht auch eine Chance: Bei der<br />
privaten Neuorientierung jene Bedürfnisse<br />
in den Blick nehmen, die früher zu<br />
kurz kamen.<br />
Fest steht: Wer Einsamkeit im Alter verhindern<br />
möchte, kommt um neue Wege<br />
zu alltagstauglichen, stabilen sozialen<br />
Netzen nicht herum. „Zum sozialen Leben<br />
gehören Kompromisse und das bewusste<br />
Gestalten einer Lebensform oder<br />
eines Lebensstils“, betont Thiel. Der römische<br />
Philosoph Cicero sagte einst:<br />
„Man muss viele Scheffel Salz zusammen<br />
essen, damit die Freundschaft erfüllt ist.“<br />
Beate Eberhardt, freie Journalistin<br />
Verena Kast: Loslassen und sich selber<br />
finden. Die Ablösung von den Kindern<br />
gehört für Eltern zu den schwierigen<br />
Herausforderungen – lebenslang.<br />
Herder, 128 Seiten, sieben Euro.
Das Leben neu justieren<br />
Freundschaften pflegen<br />
Renate Oehler (54) lebt in einer<br />
Fernbeziehung. In den vergangenen<br />
Jahren hat die kinderlose<br />
Förderlehrerin aus Aschaffenburg<br />
ihr Leben neu justiert. Sie ging<br />
von der Frage aus:Was will ich<br />
anders haben, was tut mir gut?<br />
Dialog:Wie stellen Sie sich<br />
ihren Ruhestand vor?<br />
Renate Oehler: Bisher verlief mein Leben<br />
eher unkonventionell: Ich habe 14<br />
Jahre in einer Wohngemeinschaft mit<br />
einer Freundin und deren Tochter gelebt.<br />
Das war eine schöne Erfahrung,<br />
aber eine Alterswohngemeinschaft wäre<br />
mir zu eng. Ich brauche mehr Freiraum.<br />
Dialog:Wie setzen Sie das um?<br />
Renate Oehler: Ich lebe allein, bin<br />
aber sehr aktiv – beruflich, ehrenamtlich<br />
und privat, also viel unter Menschen.<br />
Vor ein paar Jahren ist mir klar geworden,<br />
dass mir eine zentrale Lebensressource<br />
fehlt. Ich hatte private Freundschaften<br />
vernachlässigt, der Beruf und meine<br />
<strong>GEW</strong>-Ehrenämter hatten mich fest im<br />
Griff. Freundschaften sind aber nicht<br />
dasselbe wie berufliche und politische<br />
Kontakte; man teilt ein Stück Privatheit<br />
mit denen, die man gerne hat.<br />
Dialog:Was haben Sie verändert?<br />
Renate Oehler: Ich ziehe Grenzen, halte<br />
mir mindestens zwei Wochenenden im<br />
Monat frei und achte auf mein Wohlbefinden<br />
und auf Aktivitäten, die ein Gegengewicht<br />
zur politischen Arbeit bilden.<br />
Die politischen und beruflichen Kontakte<br />
sind mir weiterhin wichtig, aber jetzt ist<br />
alles besser dosiert. Außerdem lebe ich<br />
seit zehn Jahren eine glückliche Wochenendbeziehung,<br />
mein Freund wohnt 65<br />
Kilometer entfernt. Wir erledigen unter<br />
der Woche die Alltagspflichten, damit<br />
Neustart im Wohnprojekt<br />
Keinesfalls ins „Altengetto“<br />
Gemeinsam statt einsam wollte<br />
die pensionierte alleinstehende<br />
Lehrerin Marlies Beitz (63)<br />
ihren Lebensabend verbringen –<br />
und auf keinen Fall im „Altengetto“<br />
landen.<br />
Dialog:Wie kamen Sie zum<br />
Wohnprojekt Wabe?<br />
Marlies Beitz: Als alleinerziehende<br />
Mutter habe ich mich jahrzehntelang<br />
auf den Beruf als Existenzgrundlage<br />
und auf meine Tochter konzentriert.<br />
Erst als sie auszog, habe ich gemerkt,<br />
wie isoliert ich war. Zum Glück ist mir<br />
der Neuanfang gelungen, ich suchte<br />
Kontakt zu Gleichgesinnten. Meine<br />
Ziele waren eine neue Wohnsituation,<br />
Teilhabe am normalen Leben und viele<br />
soziale Kontakte. Das ist mir im Stuttgarter<br />
Wabe-Haus gelungen.<br />
Dialog:Wie sieht das konkret aus?<br />
Marlies Beitz: Mit dem Wabe-Verein<br />
und einer neuen Wohnbaugenossenschaft<br />
haben wir eines von mehreren<br />
Gemeinschaftshäusern realisiert, dazu<br />
gab es Wohnbauförderung von Stadt<br />
und Land. Vor neun Jahren sind wir mit<br />
20 Erwachsenen und 15 Kindern in das<br />
Genossenschaftsprojekt eingezogen, die<br />
Erwachsenen waren zwischen 30 und 70<br />
Jahren alt. Jede Partei hat eine abgeschlossene<br />
Wohnung, alle sind gemeinsam<br />
aktiv. Das Haus liegt in einer Randlage,<br />
wie ein Dorf in der Stadt, mit guter<br />
Verkehrsanbindung. Ich komme also<br />
überall hin.<br />
Dialog: Haben sich Ihre Erwartungen<br />
erfüllt?<br />
Marlies Beitz: Das verläuft von Person<br />
zu Person recht unterschiedlich. Gegen-<br />
Titel<br />
wir die Wochenenden genießen können<br />
– ein schönes Arrangement.<br />
Dialog: Ist die gemeinsame<br />
Wohnung eine Zukunftsperspektive?<br />
Renate Oehler: Ich sage nicht grundsätzlich<br />
nein. Aber momentan sind wir<br />
beide in unserem Lebensumfeld verwurzelt:<br />
Bei mir sind das der Beruf,<br />
Freunde, Ehrenämter und eine nette<br />
Hausgemeinschaft. Es würde mir schwerfallen,<br />
das aufzugeben.<br />
Dialog:Also keine neuen Pläne?<br />
Renate Oehler: Der Ruhestand stellt<br />
neue Anforderungen, Freundschaften<br />
wiederzubeleben war ein erster Schritt.<br />
Es gibt in meinem Hinterkopf die Fiktion,<br />
mit meinem Partner in der Nähe<br />
von Freunden zu leben – oder in einer<br />
engagierten Hausgemeinschaft. Aber<br />
zunächst arbeite ich noch einige Jahre.<br />
seitige Hilfe ist selbstverständlich, man<br />
kann jederzeit jeden im Wohnprojekt<br />
um Rat fragen oder um Unterstützung<br />
bitten. Es gibt Senioren, die haben ihre<br />
Wahlfamilie gefunden, sind Babysitter<br />
und nehmen am Familienleben teil.<br />
Aber letztlich steht sich die Hausgemeinschaft<br />
doch nicht so nahe, wie ich<br />
erwartet hatte. Das war schon eine<br />
Ernüchterung. Zumindest die Älteren<br />
haben ein reges Miteinander entwickelt,<br />
auch zu den Bewohnern der Nachbarhäuser.<br />
Das Wichtigste: Wir leben nicht<br />
in einem Altengetto, Gleichgesinnte<br />
sind gut untereinander vernetzt. Meine<br />
Tochter lebt mit ihrer Familie in Norddeutschland<br />
– und braucht sich keine<br />
Sorgen um mich zu machen.<br />
Interviews:<br />
Beate Eberhardt, freie Journalistin<br />
Renate Oehler<br />
Marlies Beitz<br />
Foto: privat Foto: privat<br />
Dialog 4/10 3
Impressum<br />
Herausgeber:<br />
Gewerkschaft<br />
Erziehung und Wissenschaft<br />
Hauptvorstand,<br />
Postfach 90 04 09<br />
60444 Frankfurt/M.<br />
Tel.: (069) 7 89 73-0<br />
Fax: (069) 7 89 73-2 01<br />
E-Mail: info@gew.de<br />
Internet: www.gew.de<br />
Redaktion:<br />
Ulf Rödde (verantwortlich),<br />
Anne Jenter, Helga Haas-Rietschel,<br />
Beate Eberhardt, Frauke Gützkow<br />
Gestaltung:<br />
Werbeagentur Zimmermann<br />
GmbH, Frankfurt/M.<br />
Druck:<br />
apm AG, Darmstadt<br />
4<br />
Neue Wohnformen,<br />
Initiativen, Projekte<br />
und traditionelle<br />
Angebote wie Betreutes<br />
Wohnen<br />
oder Altenwohnanlagen<br />
– bundesweiteInformationen<br />
bei: den Sozialämtern<br />
und<br />
Wohnungsbaugesellschaften<br />
der<br />
Städte, den Wohlfahrtsverbänden.<br />
Lesetipp:<br />
Studie zum lesbischen<br />
Leben im<br />
Alter, Lebenssituation<br />
und spezifische<br />
Bedürfnisse.<br />
Forschungsgruppe<br />
„Lesben im Alter“;<br />
Fachhochschule<br />
Frankfurt am Main<br />
(2007).<br />
Link zum<br />
Download:<br />
http://www.gffz.de/<br />
data/downloads/<br />
107176/Lesbische-<br />
FrauenimAlter.pdf.<br />
Dialog 4/10<br />
Kurz und wichtig<br />
Sozial integriert – auch ohne Familie<br />
Mehr Miteinander!<br />
Die Babyboomer kommen<br />
in die Jahre. Die<br />
geburtenstarken Jahrgänge<br />
der 1950er- und<br />
-60er-Jahre brechen<br />
stärker als andere Vorgängergenerationen<br />
Anne Jenter mit traditionellen Lebensformen.Partnerschaften<br />
werden schneller gelöst und wieder<br />
geschlossen, Paare leben ohne Trauschein<br />
oder bewusst an unterschiedlichen<br />
Orten. Vor 15 Jahren waren 83 Prozent<br />
der 40- bis 54-Jährigen verheiratet, heute<br />
sind es 70 Prozent. Auch die Kinderlosigkeit<br />
steigt in dieser Altersgruppe an. Jede<br />
dritte Ehe wird geschieden – und mittlerweile<br />
trifft das auch langjährige Ehen.<br />
„Leerstelle“ füllen<br />
Emotionalen und praktischen Beistand<br />
leistete früher die Familie. Zumindest<br />
war das die Erwartung. Mit größerer Mobilität<br />
und zunehmender räumlicher Distanz<br />
zwischen Kindern und Eltern nehmen<br />
praktische Hilfen in der Familie ab.<br />
Bei 20 Prozent Alleinstehenden in der<br />
zweiten Lebenshälfte zeichnet sich zudem<br />
ab: Mehr externer Beistand ist gefragt.<br />
Dabei geht es nicht vorrangig um<br />
hochbetagte, hilfebedürftige Seniorinnen<br />
und Senioren, die auf Haushaltsassistenz<br />
In Kürze<br />
Foto: privat<br />
Zwischen Pflege und Beruf<br />
Senioren sind die am schnellsten wachsende<br />
Altersgruppe in Europa: Ende<br />
2009 waren von rund 82 Millionen<br />
Deutschen fast 20 Millionen 65 Jahre<br />
und älter. Nach Angaben des Statistischen<br />
Bundesamtes (Destatis) stieg die<br />
Zahl älterer Menschen seit 1990 um<br />
rund 42 Prozent.<br />
Erhöhter Pflegebedarf ist daher absehbar:<br />
Aus Kostengründen favorisiert der<br />
Staat die ambulante Pflegeversorgung<br />
zuhause, doch mangelhafte Vereinbarkeit<br />
von Beruf und Pflege ist für berufs-<br />
oder Pflege angewiesen sind. Vielmehr<br />
steht menschliches Miteinander bereits<br />
in der mittleren Altersphase im Vordergrund:<br />
Wer steht mir bei, wenn es mir<br />
mies geht? Wem kann ich mich anvertrauen?<br />
Gut 30 Prozent der Menschen<br />
verlassen sich heute auf Nachbarn und<br />
Freundschaften, wenn sie in eine Krise geraten<br />
– das gilt in stärkerem Maße für<br />
Frauen. Aber viele Alleinstehende sagen<br />
auch: Ich habe kaum emotionalen Rückhalt<br />
und fühle mich einsam.<br />
Was tun?<br />
Hilfebedürftige Ältere werden auch in<br />
Zukunft formelle Unterstützung für<br />
Pflege oder Haushalt nachfragen, sofern<br />
ihre finanzielle Lage es erlaubt. Nachdenklich<br />
stimmt die Aussage von Prof.<br />
Ansgar Thiel (s. Dialog Seite 1), dass es<br />
kaum Angebote für die „jungen Alten“<br />
gebe, um ein gemeinschaftliches Miteinander<br />
und persönliche Nähe zu erleben.<br />
Daran zeigt sich zweierlei:<br />
• Gewerkschaften müssen lernen: Private<br />
soziale Verankerung ist so wichtig wie<br />
die Luft zum Atmen. Sie haben eine gesellschaftliche<br />
Verantwortung, soziale<br />
Kontakte, Treffpunkte und Gemeinschaft<br />
unter ihren Mitgliedern zu<br />
fördern.<br />
• Wer es in jungen Jahren nicht gelernt<br />
tätige Angehörige ein Problem: Das internationale<br />
Kooperationsprojekt „Carers@Work<br />
– Angehörige zwischen<br />
Pflege und Beruf“ untersucht aus Sicht<br />
der Betroffenen und der Arbeitgeber<br />
Strategien für eine bessere Vereinbarkeit:<br />
weitere Infos über das von der<br />
Volkswagenstiftung geförderte Projekt<br />
unter:<br />
www.carersatwork.tu-dortmund.de<br />
Pflegezeit schöngeredet<br />
Bei dem aktuellen Deutschen Alterssurvey<br />
„Altern im Wandel“ lobte Bundes-<br />
hat, ein lebendiges soziales Umfeld<br />
aufzubauen und zu erhalten, braucht<br />
im Alter Hilfe und Anregungen. Seminarangebote<br />
für Alleinstehende, die<br />
Anleitungen und Rat geben, sind daher<br />
unerlässlich.<br />
Lebensstile wandeln sich – mit alternativen<br />
Lebensformen jenseits von Ehe und<br />
Familie. Doch Einsamkeit und Isolation<br />
nehmen oft aufgrund großer Arbeitsbelastungen<br />
zu. Was können Politik und Gewerkschaften<br />
tun? Strukturelle Voraussetzungen<br />
sind zu schaffen, um Abschottung<br />
im Alter aufzubrechen – etwa in Form<br />
neuer Wohnmodelle: Mehrgenerationenhäuser,<br />
Wohnprojekte mit Eigeninitiative.<br />
Darüber hinaus sind Kompetenzen – etwa<br />
über gewerkschaftliche Weiterbildungsangebote<br />
– für ein sozial erfülltes Miteinander<br />
zu fördern.<br />
Gespannt darf man sein, ob der neue Altenbericht<br />
der Bundesregierung dazu etwas<br />
zu bieten hat. Die wissenschaftlichen<br />
Befunde nötigen Politik, nicht nur allgemein<br />
über den demografischen Wandel zu<br />
reden. Sie muss die qualitativen Sprünge<br />
der Lebenslagen im Alter auch aufgreifen<br />
und für den Alltag Lösungen anbieten.<br />
Anne Jenter, Leiterin des<br />
<strong>GEW</strong>-Arbeitsbereichs Frauenpolitik<br />
familienministerin Kristina Schröder<br />
(CDU) die große Pflegebereitschaft in<br />
den Familien. Die Bundestagsfraktion<br />
Bündnis 90/Die Grünen kritisierte hingegen<br />
zunehmende Mobilität sowie<br />
veränderte Familien- und Lebensformen.<br />
Diese passten nicht zum Modell<br />
der Angehörigenpflege. Betroffene meisterten<br />
ihre Lage oft im Spagat und<br />
brächten Opfer – mit Teilzeitarbeit oder<br />
Berufsaufgabe. Unterstützung und Entlastung<br />
für pflegende Angehörige seien<br />
dringend zu verbessern. (Deutscher Alterssurvey,<br />
s. Seite 2, Marginalspalte)
Foto: Privat<br />
Foto: dpa Angst<br />
und Ignoranz<br />
Kommentar zum vierten Berliner Integrationsgipfel<br />
Es war ein<br />
merkwürdiges<br />
Interview, das<br />
die Leser im<br />
NiederbayerischenausgerechnetamTag<br />
des vierten Integrationsgipfels<br />
lesen durften.„Eigentlich“,<br />
sagte Bun-<br />
Jeannette Goddar deskanzlerin<br />
Angela Merkel<br />
(CDU) der Passauer<br />
Neuen Presse, sei Deutschland<br />
kein Einwanderungsland. „Eigentlich“<br />
nämlich sei es das „nur zwischen den<br />
1950er-Jahren und 1973“ gewesen:<br />
„Damals fehlten Arbeitskräfte und<br />
man warb gezielt um Gastarbeiter.“ Danach<br />
seien „nur noch“ Familienangehörige,<br />
Flüchtlinge und Asylbewerber<br />
zugezogen.<br />
Uneigentlich kamen am 3. November<br />
115 Vertreter aus Bundes- wie Länderministerien,<br />
Parteien, Wirtschaft und<br />
Medien mit Migrantenorganisationen<br />
zusammen, um über Integration in einem<br />
Land zu reden, in dem jeder Fünfte<br />
einen Migrationshintergrund hat.<br />
Und in dem nicht vier Millionen Gastarbeiter<br />
– sondern seit 1954 mehr als 31<br />
Millionen Menschen zugezogen sind.<br />
Nicht alle blieben, viele gingen wieder.<br />
Zu behaupten, Deutschland sei kein<br />
Einwanderungsland, ist eine ziemlich<br />
steile These. Wie auch, was die Bundeskanzlerin<br />
kurz zuvor den jungen<br />
Christdemokraten auf deren Bundestreffen<br />
zugerufen hatte: „Multikulti“<br />
sei „gescheitert“!<br />
Was soll diese diffamierende Bemer-<br />
Same procedure as every year: Auch<br />
der vierte Integrationsgipfel tat nur,<br />
was er immer getan hat: ankündigen.<br />
kung angesichts der Vielfalt in<br />
Deutschland wohl bedeuten? Ein Hinweis,<br />
dass das Miteinander von Menschen<br />
aus 180 Nationen kein ganzjähriger<br />
Salsa ist? Das wäre banal. Auch als<br />
Verweis auf eine Zeit, in der man dachte,<br />
„jetzt machen wir hier mal Multikulti<br />
und leben so nebeneinander her<br />
und freuen uns übereinander“ (Merkel),<br />
taugt die Behauptung kaum.<br />
Schon deswegen, weil sie historisch<br />
falsch ist.<br />
„Wir feiern das nicht. Wir stellen es nur<br />
fest“, schrieb schon einer der ersten,<br />
der in Deutschland überhaupt über die<br />
multikulturelle Gesellschaft redete.<br />
Und: „Sie (die multikulturelle Gesellschaft,<br />
Anm.d.Red.) hat zwei Seiten:<br />
eine vorteilhafte und eine, die Angst<br />
macht. Von beiden muss gesprochen<br />
werden.“ Der Verfasser: Daniel Cohn-<br />
Bendit (Grüne, heute für Frankreichs<br />
Grüne im Europaparlament), damals<br />
Leiter des Amtes für multikulturelle<br />
Angelegenheiten in Frankfurt am<br />
Main. 1993, also sechs Jahre bevor Roland<br />
Koch als selbsternannter „Anwalt<br />
des Volkes“ mit einer beispiellos skrupellosen<br />
Kampagne gegen die Einwanderungsgesellschaft<br />
Wahlkampf machte<br />
und hessischer CDU-Ministerpräsident<br />
wurde.<br />
Und es war dieselbe Zeit, in der sich die<br />
rot-grüne Koalition nach sage und<br />
schreibe 45 Jahren Zuwanderung ins<br />
Stammbuch geschrieben hatte, diese<br />
gesetzlich regeln zu wollen. Vier Jahre<br />
lang bewegten das Zuwanderungsgesetz<br />
ebenso wie die nach dem 11. September<br />
2001 eingeführten neuen Sicherheitsgesetze<br />
die Republik – jeder<br />
einzelne Absatz hart umkämpft; nahezu<br />
keiner davon am Ende zur Zufrie-<br />
denheit der Migrantenvertreter verabschiedet.<br />
Es war auch dieselbe Zeit, in<br />
der die erste PISA-Studie darauf aufmerksam<br />
machte, dass der statistische<br />
15-Jährige mit Migrationshintergrund<br />
seinem „herkunftsdeutschen“ Klassenkameraden<br />
in seinen Kompetenzen<br />
um zwei Jahre hinterherhinkt. PISA<br />
2001 wies allerdings auch darauf hin:<br />
Das muss nicht so sein – andere Industrieländer<br />
können es besser.<br />
Heute und somit 55 Jahre nach Beginn<br />
der gesteuerten Zuwanderung hätte eine<br />
Bundesregierung also Dringenderes<br />
zu tun, als sich in monoethnischen<br />
Träumereien einer Leitkultur-Debatte<br />
zu verlieren. Fakt ist: Die Bildungssituation<br />
in vielen Migrantenfamilien ist<br />
dramatisch: Schüler nichtdeutscher<br />
Herkunft brechen doppelt so häufig<br />
die Schule ab und machen nur halb so<br />
oft eine Ausbildung. Und während an<br />
Hauptschulen mehr als jeder zweite<br />
Schüler einer Zuwandererfamilie entstammt,<br />
ist es an Gymnasien nur jeder<br />
vierte. In den Innenstädten nehmen<br />
die Fluchtreflexe der Mittelschicht –<br />
der türkischen wie der deutschen – zu.<br />
Wer will schon sein Kind an einer<br />
Schule wissen, die für das heterogene<br />
Klassenzimmer nicht ausgestattet ist<br />
und deren Lehrkräfte auf die komplexe<br />
mehrsprachige Realität nicht vorbereitet<br />
werden?<br />
All dem zum Trotz tat aber auch der<br />
vierte Integrationsgipfel nur, was er immer<br />
getan hat: Ankündigen – dieses<br />
Mal die Fortschreibung des „Nationalen<br />
Integrationsplans“* von 2007 in einen<br />
„Aktionsplan“** bis 2012. Mit ihm<br />
soll, so vage blieb es dann auch, die Integration<br />
durch „Ziel- und Zeitvorgaben“<br />
beschleunigt werden. Die Bundeskanzlerinsicherte<br />
außerdem zu, bis<br />
2015 allen Migranten<br />
einen Integrationskursanzubieten.<br />
Bis dahin sind<br />
es 60 Jahre seit dem<br />
ersten Vertrag über<br />
den Zuzug dringend<br />
benötigter Arbeitskräfte<br />
aus dem<br />
Ausland.<br />
Jeannette Goddar,<br />
freie Journalistin<br />
GESELLSCHAFTSPOLITIK<br />
* www.bundesregierung.de/<br />
Content/DE/Archiv16/<br />
Artikel/2007/07/Anlage/<br />
2007-10-18-nationaler-integrationsplan,property=<br />
publicationFile.pdf<br />
**www.bundesregierung<br />
.de/nn_1272/Content/<br />
DE/Pressemitteilungen/<br />
BPA/<strong>2010</strong>/11/<strong>2010</strong>-11-<br />
03-ib-integrations<br />
gipfel.html<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 23
GESELLSCHAFTSPOLITIK<br />
* Das Steuerkonzept<br />
der<br />
Bildungsgewerkschaft<br />
finden Sie<br />
auf der <strong>GEW</strong>-<br />
Website unter:<br />
www.gew.de/Bina<br />
ries/Binary65845<br />
/<strong>2010</strong>_10_26_<br />
<strong>GEW</strong>-Steuer<br />
konzept.pdf<br />
Massiver<br />
Protest<br />
gegen<br />
Sozialabbau<br />
DGB macht Druck<br />
Unter dem Motto „Gerechtigkeit ist<br />
etwas anderes“ haben im Oktober und<br />
November weit über 100 000 Menschen<br />
für mehr soziale Gerechtigkeit demonstriert<br />
und von der Bundesregierung<br />
einen Kurswechsel in der Sozialpolitik<br />
verlangt (s. <strong>GEW</strong>-Kommentar).<br />
Der DGB und die Mitgliedsgewerkschaften<br />
hatten im<br />
Rahmen der Herbstaktionen<br />
bundesweit in vielen<br />
Städten zu Protesten aufgerufen.<br />
Hauptforderungen<br />
waren gerechte Löhne, ein solidarisches<br />
Gesundheitssystem, Verzicht auf die<br />
Rente mit 67, starke öffentliche Leistungen<br />
sowie qualifizierte Bildung und<br />
Ausbildung. Die größte Kundgebung<br />
fand mit 45 000 Menschen in Stuttgart<br />
statt. In Nürnberg demonstrierten mehr<br />
als 30000 Menschen für mehr soziale<br />
Gerechtigkeit. Auch in Nordrhein-<br />
Westfalen folgten Tausende dem DGB-<br />
Aufruf und protestierten gegen die ungerechte<br />
Sozial- und Wirtschaftspolitik<br />
von Schwarz-Gelb. „Unten belasten<br />
und oben entlasten – das ist der falsche<br />
Weg“, betonte ver.di-Chef Frank Bsirske<br />
in Dortmund. In Kiel forderte DGB-<br />
Vorsitzender Michael Sommer die Regierenden<br />
auf, ihren unsozialen Kurs aufzugeben<br />
und sich nicht länger zum<br />
„willfährigen Helfershelfer der Interessen<br />
der Arbeitgeber und Besitzenden“<br />
zu machen. In Richtung Bundesregierung<br />
warnte Sommer: „Sparpakete,<br />
Schonung der Vermögenden und Verursacher<br />
der Krise, massive und einseitige<br />
Belastungen der gesetzlich Krankenversicherten,<br />
drohende Altersarmut und<br />
Arbeit zu Hungerlöhnen bringen die<br />
Beschäftigten nicht nur in Rage, sondern<br />
auch auf die Straße.“ Schwarz-<br />
Gelb müsse endlich die soziale Schieflage<br />
korrigieren, verlangte der DGB-<br />
Chef, mindestens die Rente mit 67 auf<br />
Eis legen und die Leiharbeit sozial regulieren.<br />
hari<br />
24 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Foto: Kay Herschelmann<br />
Foto: dpa<br />
„Für einen politischen Kurswechsel“<br />
<strong>GEW</strong>-Kommentar zu den DGB-Herbstaktionen<br />
Die <strong>GEW</strong> begrüßte,<br />
dass ihre Kernforderung<br />
bei den<br />
DGB-Herbstaktionen<br />
„Qualifizierte<br />
Bildung und Ausbildung!“<br />
eine herausragende<br />
Rolle<br />
gespielt hat. Die<br />
Bildungsgewerkschaft<br />
war mit<br />
Ulrich Thöne<br />
ihren Themen auf<br />
allen gewerkschaftlichen Ebenen präsent<br />
– und das ist gut so.<br />
Mit ihren Aktionen haben die Gewerkschafterinnen<br />
und Gewerkschafter mehr<br />
soziale Gerechtigkeit eingefordert. Sie<br />
wollen einen Kurswechsel in der Politik.<br />
Der wird mit jedem Tag dringender, an<br />
dem uns die schwarz-gelbe Bundesregierung<br />
in die falsche Richtung lenkt.<br />
Wichtig ist – und das sollten wir im Kopf<br />
behalten: Das gemeinsame Tun steht im<br />
Vordergrund. Die <strong>GEW</strong> kocht kein eigenes<br />
Süppchen. Die Parolen, unter denen<br />
sich <strong>GEW</strong>ler im Herbst an DGB-Demonstrationen<br />
beteiligt haben, gelten<br />
auch für das eigene gewerkschaftliche<br />
Handeln.<br />
Die Forderung „Gleiches Geld für gleichwertige<br />
Arbeit“ wird die <strong>GEW</strong> in den anstehenden<br />
Tarifauseinandersetzungen leiten<br />
und beflügeln.<br />
Auf „Starke öffentliche Leistungen“ zielt<br />
auch das Steuerkonzept der <strong>GEW</strong> * (s.<br />
Marginalspalte), das sie nun erst recht offensiv<br />
vertreten wird. Pädagoginnen und<br />
Pädagogen schwärmen nicht von der „Bildungsrepublik<br />
Deutschland“, ohne die<br />
Konsequenzen mitzubedenken, sie wollen,<br />
dass diese finanzierbar ist. Dazu<br />
macht die <strong>GEW</strong> konkrete Vorschläge,<br />
zeigt Instrumente und Wege auf, wo die<br />
vorerst erforderlichen 40 bis 50 Milliarden<br />
Euro jährlich, die als zusätzliche Investitionen<br />
für bessere Bildung nötig<br />
sind, herkommen sollen. Fest steht: Das<br />
Ziel, in allen Bundesländern die Ausgaben<br />
für Bildung deutlich zu erhöhen, ist<br />
nicht unrealistisch, wenn man die richtigen<br />
politischen Entscheidungen trifft.<br />
Klar ist: Der Bildungsbereich braucht<br />
mehr Geld, nicht die Zocker der Banken!<br />
„Gutes Auskommen im Alter“ – ein weiteres<br />
Motto des Aktionsherbstes – ist<br />
auch für die <strong>GEW</strong> handlungsleitend.<br />
Denn: Die Basis für ein solides Auskommen<br />
der Älteren ist und bleibt, dass die<br />
nachwachsenden Generationen möglichst<br />
gut ausgebildet sind und mit hoher<br />
Leistungskraft für den wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Fortschritt sorgen<br />
können. Doch davon sind wir angesichts<br />
von 5,5 Millionen Arbeitsuchenden (und<br />
nicht etwa 2,9 wie uns das Bundesarbeitsministerium<br />
vorgaukelt) und zirka 1,45<br />
Millionen jungen Menschen zwischen 20<br />
und 29 Jahren ohne abgeschlossene Berufsausbildung,<br />
weit entfernt. Diese sind<br />
Opfer des selektiven deutschen Schulsystems<br />
und der mangelnden Ausbildungsbereitschaft<br />
der Unternehmen.<br />
Die Bildungsgewerkschaft fordert deshalb<br />
einen freien Zugang zur Bildung vom Elementar-<br />
über den Schul- und Hochschulbis<br />
zum Weiterbildungsbereich. Der<br />
<strong>GEW</strong>-Arbeitsschwerpunkt „Kampf dem<br />
pädagogischen Fachkräftemangel“ ist daher<br />
auch keine Klientelpolitik, sondern<br />
soll die aktuelle Diskussion vom Kopf auf<br />
die Füße stellen. Fakt ist: Nur mit personell<br />
besser ausgestatteten Kitas und Schulen<br />
kann die Zukunftsfähigkeit unserer<br />
Gesellschaft gewährleistet werden.<br />
Auch wenn jetzt Weihnachten vor der Tür<br />
steht: Die Parolen aus dem heißen Herbst<br />
der Gewerkschaften sind für die <strong>GEW</strong><br />
kein Wunschzettel an das Christkind und<br />
auch keine „Frohe Botschaft“, sondern<br />
ein bleibender Arbeitsauftrag für das neue<br />
Jahr.<br />
Ulrich Thöne, <strong>GEW</strong>-Vorsitzender
Foto: imago<br />
Deutschland verstößt<br />
gegen UN-Sozialpakt<br />
<strong>GEW</strong> legt Vereinten Nationen in Genf Alternativbericht vor<br />
Die Bundesrepublik Deutschland verletzt<br />
den von ihr ratifizierten Internationalen<br />
Pakt für wirtschaftliche, soziale<br />
und kulturelle Rechte (UN-Sozialpakt).<br />
Das ist das Ergebnis des<br />
Alternativberichts, den die <strong>GEW</strong> den<br />
Vereinten Nationen vorgelegt hat.*<br />
Am 22. November hat sich der für die<br />
Überwachung des Sozialpakts zuständige<br />
UN-Ausschuss in Genf mit dem<br />
offiziellen Staatenbericht der Bundesregierung<br />
und dem <strong>GEW</strong>-Alternativbericht<br />
befasst.<br />
Nach Artikel 13 sind die Unterzeichnerstaaten<br />
des UN-<br />
Sozialpakts verpflichtet,<br />
„den Hochschulunterricht<br />
auf jede geeignete Weise,<br />
insbesondere durch allmähliche<br />
Einführung der Unentgeltlichkeit,<br />
jedermann gleichermaßen entsprechend<br />
seinen Fähigkeiten zugänglich“<br />
zu machen. Tatsächlich spielt sich<br />
in Deutschland das Gegenteil ab. In<br />
fünf Bundesländern, in denen mehr als<br />
die Hälfte aller Studierenden bundes-<br />
Ein Ausschuss der Vereinten Nationen in Genf, der<br />
die Umsetzung des UN-Sozialpakts überwacht, hat<br />
sich Ende November erstmals mit dem offiziellen<br />
Staatenbericht der Bundesregierung und dem <strong>GEW</strong>-<br />
Alternativbericht befasst. Die <strong>GEW</strong> präsentierte<br />
dem Gremium klare Verstöße gegen den Pakt.<br />
weit eingeschrieben ist, werden schon<br />
ab dem ersten Semester allgemeine Studiengebühren<br />
erhoben – aus Sicht der<br />
<strong>GEW</strong> ein klarer Verstoß gegen den Pakt.<br />
Auch aufgrund der Konsequenzen: Gebühren<br />
schrecken Studienberechtigte<br />
nachweislich vom Studium ab, in besonderem<br />
Maße junge Frauen.<br />
Standards ausgehebelt<br />
Schon 2001 hatte der UN-Ausschuss bei<br />
seiner Beratung zur Umsetzung des<br />
UN-Sozialpakts in Deutschland die<br />
Verwaltungsgebühren in Höhe von 50<br />
Euro beanstandet. Insofern nahm er<br />
sehr aufmerksam zur Kenntnis, dass<br />
sich die Bundesrepublik seitdem noch<br />
weiter vom Grundsatz des unentgeltlichen<br />
Studiums entfernt hat. Nach der<br />
Philosophie des UN-Sozialpakts dürfen<br />
einmal erreichte menschenrechtliche<br />
Standards nicht wieder in Frage gestellt<br />
werden.<br />
Auch die Kritik der <strong>GEW</strong>, dass die Bundesregierung<br />
in ihrer offiziellen Stellungnahme<br />
den Bericht des UN-Sonderberichterstatters<br />
Vernor Muñoz (s. Interview<br />
S. 15/16) aus dem Jahr 2007 mit keinem<br />
Wort erwähnt habe, stieß in Genf<br />
auf Interesse. Nach seinem Deutsch-<br />
landbesuch hatte Muñoz den selektiven<br />
und teilweise diskriminierenden Charakter<br />
des deutschen Schulsystems<br />
bemängelt. Der <strong>GEW</strong>-Alternativbericht<br />
weist nach, dass das mehrgliedrige<br />
Schulsystem Kinder aus Familien mit<br />
geringem Einkommen und/oder Migraionshintergrund<br />
benachteiligt sowie<br />
Schülerinnen und Schülern mit Behinderungen<br />
gleiche Bildungschancen in<br />
einer inklusiven Schule verwehrt.<br />
Weiterer Kritikpunkt: der Mangel an<br />
Kindertagesstätten, vor allem in den alten<br />
Ländern. Die <strong>GEW</strong> berichtete, dass<br />
es für Kinder, die jünger als drei Jahre<br />
sind, keine ausreichende Versorgung gebe:<br />
Die Betreuungsquote liege bei lediglich<br />
20 Prozent, in den alten Bundesländern<br />
bei 15 Prozent.<br />
Auch beim Streikrecht – siehe Artikel 8<br />
des Pakts – für Beamtinnen und Beamte<br />
wies die <strong>GEW</strong>-Delegation darauf hin,<br />
dass keine Fortschritte erzielt worden<br />
seien – obwohl der UN-Ausschuss bereits<br />
2001 das deutsche Beamtenstreikverbot<br />
angeprangert hatte. Die <strong>GEW</strong>-<br />
Daten belegen eine unveränderte Verbotspraxis<br />
in Deutschland: Verbeamtete<br />
Lehrkräfte werden diszipliniert, wenn<br />
sie ihr Streikrecht in Anspruch nehmen.<br />
Berichterstatter für Deutschland im<br />
UN-Ausschuss ist der Kameruner Clemens<br />
Atangana. Gemeinsam mit seinen<br />
Kolleginnen und Kollegen wird er für<br />
die Bundesregierung eine Liste mit Fragen<br />
zur Umsetzung des Sozialpakts in<br />
Deutschland erarbeiten. Im Mai 2011<br />
wird das Gremium in einer abschließenden<br />
Beratung ein Resümee ziehen und<br />
Empfehlungen an die Bundesregierung<br />
aussprechen.<br />
Andreas Keller, Leiter des <strong>GEW</strong>-Organisationsbereichs<br />
Hochschule und Forschung<br />
BILDUNGSPOLITIK<br />
Templiner Manifest:<br />
Follow-Up-Kongress in Berlin<br />
* Den Bericht haben die<br />
<strong>GEW</strong>-Vorstandsbereiche<br />
Angestellten- und<br />
Beamtenpolitik, Frauenpolitik,<br />
Schule sowie<br />
Hochschule und Forschung<br />
gemeinsam<br />
erarbeitet.<br />
Der vollständige Alternativbericht<br />
der <strong>GEW</strong><br />
und weiterführende Informationen<br />
sind im Internet<br />
verfügbar:<br />
www.gew.de/<strong>GEW</strong>_<br />
Deutschland_verletzt_<br />
voelkerrechtlich_<br />
verbrieftes_Recht_auf_<br />
Bildung.html.<br />
Im September hat die <strong>GEW</strong> das „Templiner Manifest“ als<br />
Ergebnis ihrer Wissenschaftskonferenz „Traumjob Wissenschaft?“<br />
vorgestellt. Mehr als 3500 Unterzeichnerinnen<br />
und Unterzeichner machen sich inzwischen für die zehn<br />
Eckpunkte zur Reform von<br />
Berufwegen und Personalstruktur<br />
in Hochschule und<br />
Forschung stark (Stand: Mitte<br />
November). Am 21. Januar<br />
2011 wird in Berlin ein Follow-Up-Kongress zum „Templiner<br />
Manifest“ stattfinden. Motto: „Gute Forschung und<br />
Lehre – gute Arbeit: zwei Seiten einer Medaille“. Weitere<br />
Informationen, auch zu den zahlreichen dezentralen Diskussionsveranstaltungen,<br />
finden Sie im Internet unter:<br />
www.templiner-manifest.de.<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 25
WEITERBILDUNG<br />
Am Ort der deutschen<br />
Klassik,<br />
Weimar, diskutierte<br />
die <strong>GEW</strong><br />
das Für und Wider<br />
einer Kommunalisierung<br />
in der Bildung.<br />
Klar ist nur<br />
eins: Es bedeutet<br />
nicht, dass automatisch<br />
mehr<br />
Ressourcen zur<br />
Verfügung stehen.<br />
Was bringt Regionalisierung?<br />
26 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Herbstakademie: zusätzliche Bildungsaufgaben und die Finanznot der Städte<br />
Welche Chancen und Risiken bestehen,<br />
wenn lebenslanges Lernen auf<br />
kommunaler Ebene neu organisiert<br />
wird? Damit haben sich rund 50<br />
Fachleute aus Erwachsenenbildung,<br />
Parteien, Ministerium, Kommunen<br />
und Wissenschaft beschäftigt, die am<br />
5. und 6. November die Weimarer<br />
Herbstakademie besuchten. Gastgeber<br />
waren der <strong>GEW</strong>-Hauptvorstand und<br />
der gewerkschaftsnahe Bildungsträger<br />
„Arbeit und Leben Thüringen“.<br />
Referate und Diskussion<br />
drehten sich vor allem um<br />
„Lernen vor Ort“. Ein Projekt,<br />
das die gesamten Bildungsangebote<br />
in einer<br />
Kommune, einschließlich<br />
der Weiterbildung, vernetzen und fördern<br />
will. Staatliche Einrichtungen werden<br />
ebenso erfasst wie private und freigemeinnützige<br />
Träger. An „Lernen vor<br />
Ort“ beteiligen sich bundesweit 40 Städte<br />
und Kreise. Bund und Europäischer<br />
Sozialfonds finanzieren das Projekt mit<br />
60 Millionen Euro. Der Startschuss fiel<br />
im Herbst 2009.<br />
Foto: imago<br />
Torsten Haß von der Volkshochschule<br />
(VHS) Erfurt erläuterte zunächst, was<br />
„Lernen vor Ort“ in der thüringischen<br />
Landeshauptstadt bereits angestoßen<br />
hat. So schuf die Stadt ein Amt für Bildung.<br />
Zudem habe „Lernen vor Ort“<br />
rund 530 örtliche Bildungsträger angeschrieben<br />
und nach deren Angeboten<br />
gefragt. Das Ergebnis fließe in einen<br />
„Bildungsplan“ für Erfurt ein. Der habe<br />
auch das Ziel, überflüssige Strukturen<br />
abzubauen. „Brauche ich wirklich den<br />
fünften Träger für Integrationskurse?“,<br />
so Haß.<br />
Warum überhaupt Kommunalisierung<br />
von Bildung? Uwe Rossbach, Leiter von<br />
Arbeit und Leben Thüringen, verwies<br />
auf das Beispiel der Schulen. Die „entwickeln<br />
sich auseinander“, so Rossbach.<br />
„Schulen in Problemvierteln sollten<br />
mehr Stellen bekommen.“ Doch auf<br />
Länderebene sei das „kaum zu steuern“.<br />
Einzelne Kommunen in Thüringen forderten<br />
deshalb, „auch die personelle<br />
Verantwortung für die Lehrkräfte zu bekommen“.<br />
Kein Allheilmittel<br />
Wissenschaftler betonen jedoch, dass<br />
Kommunalisierung kein Allheilmittel<br />
darstellt. „Es ist klar, dass über eine Regionalisierung<br />
nicht automatisch mehr<br />
Ressourcen zur Verfügung stehen“, so<br />
Professor Horst Weishaupt vom Deutschen<br />
Institut für Internationale Pädagogische<br />
Forschung (DIPF). Kommunalisierung<br />
müsse eingebettet sein „in die<br />
bildungspolitische Gesamtverantwortung<br />
des Staates“. Andernfalls bestehe<br />
„die Gefahr der Zersplitterung“. Zu diesem<br />
Schluss kommt ein Gutachten des<br />
Bremerhavener Professors Wolfgang<br />
Weiß, erstellt im Auftrag der Max-Traeger-Stiftung.<br />
Kontrovers diskutierten Fachleute und<br />
Gewerkschafter auch das Thema Stiftungen.<br />
Rund 120 Stiftungen sind bei<br />
„Lernen vor Ort“ mit im Boot, darunter<br />
große, unternehmensnahe wie Bertelsmann-Stiftung<br />
und Alfred Krupp von<br />
Bohlen und Halbach-Stiftung, aber<br />
auch lokale Bürgerstiftungen.<br />
Andreas Räuber, Projektleiter von „Lernen<br />
vor Ort“ im nordthüringischen<br />
Kyffhäuserkreis, begrüßte deren Teilnahme.<br />
„Die können an vielen Stellen<br />
unkompliziert an die Dinge herangehen“,<br />
sagte Räuber, „weil sie nicht an die<br />
Kommunalverwaltung gebunden sind.“<br />
Uwe Rossbach erinnerte daran, dass Ministerien<br />
und Verwaltungen verschlankt<br />
worden seien. „Dort gibt es nicht mehr<br />
die notwendige Kompetenz.“ Deshalb<br />
verlasse sich die kommunale Verwaltung<br />
zu sehr auf Einrichtungen wie die<br />
Bertelsmann-Stiftung.<br />
Dass Stiftungen nicht nur ihr Wissen<br />
und ihre Kontakte, sondern auch ihre<br />
Weltsicht einbringen, sei „Teil eines viel<br />
breiteren Prozesses“. Das befürchtet Rosemarie<br />
Hein, Bundestagsabgeordnete<br />
der LINKEN aus Magdeburg. „Die<br />
Bundesregierung“, so Hein, „hat zunehmend<br />
die private Bereitstellung von Bildung<br />
im Kopf.“ Das aber führe zu<br />
„prekären Beschäftigungsverhältnissen“.<br />
„Lernen vor Ort“ endet spätestens 2014.<br />
Und was wird dann aus den Strukturen,<br />
die derzeit in Städten und Kreisen entstehen?<br />
Ein <strong>GEW</strong>-Kollege sieht die Gefahr,<br />
„dass man den Kommunen den<br />
Schwarzen Peter zuschieben wird“. Das<br />
heißt: Sie müssten die Folgekosten alleine<br />
aufbringen.<br />
Das 60-Millionen-Budget von „Lernen<br />
vor Ort“ sei allenfalls „ein Tropfen auf<br />
den heißen Stein“, betonte <strong>GEW</strong>-Vorstandsmitglied<br />
Stephanie Odenwald. Seit<br />
2002 seien in der Weiterbildung durch<br />
rot-grüne Regierungspolitik 40 000 Arbeitsplätze<br />
zerstört worden. Wer hier<br />
Defizite beseitigen wolle, so die Gewerkschafterin,<br />
„muss ganz andere Methoden<br />
ergreifen – weniger pädagogische,<br />
sondern politische“. Ein Satz, für<br />
den es in Weimar lauten Applaus gab.<br />
Matthias Holland-Letz, freier Journalist<br />
„Weimarer Aufruf“<br />
Die Teilnehmenden der Herbstakademie<br />
verabschiedeten den „Weimarer<br />
Aufruf für Mindestlohn in der Weiterbildung“.<br />
Damit protestierten sie gegen<br />
Bundesarbeitsministerin Ursula<br />
von der Leyen (CDU). Diese hatte es<br />
abgelehnt, den Branchentarifvertrag<br />
in der Weiterbildung für allgemeinverbindlich<br />
zu erklären (s. E&W<br />
11/<strong>2010</strong>). Der Weg zum Mindestlohn<br />
bleibt damit versperrt. H.-L.<br />
Weimarer Aufruf für Mindeslohn in<br />
der Weiterbildung unter www.gew.de/<br />
Weimarer_Aufruf.html
Foto: Tina Fritsche<br />
Jucara Maria Dutra Vieira (links) und Fátima Aparecida da Silva<br />
Wir wollen die<br />
Schulpflicht verlängern<br />
InterviewmitJucaraMariaDutraVieiraundFátimaAparecidadaSilva<br />
E &W: Welchen Einfluss hat die BildungsgewerkschaftConfederacaoNacionaldosTrabalhadores<br />
na Educacao (CNTE) in Brasilien?<br />
Jucara Maria Dutra Vieira: Es gibt in<br />
Brasilien fünf Organisationen im Bildungsbereich.<br />
Die CNTE ist mit einer<br />
Million Mitgliedern die größte. Es gibt<br />
etwa zweieinhalb Millionen Lehrkräfte<br />
in Brasilien. Unsere Kolleginnen und<br />
Kollegen kommen aus allen Bundesstaaten,<br />
sie arbeiten in der frühkindlichen<br />
Erziehung und als Lehrkräfte in<br />
den städtischen und bundesstaatlichen<br />
Schulen. Der Bildungsbereich ist eine<br />
große Herausforderung: Denn was die<br />
brasilianische Gesellschaft am stärksten<br />
behindert, im Demokratieprozess voranzukommen,<br />
ist immer noch der<br />
Mangel an Bildung.<br />
E &W: Was sind die drängendsten Probleme?<br />
Fátima Aparecida da Silva: Das föderale<br />
System verzögert viele wichtige Prozesse.<br />
Unter der jetzigen sozialistischen<br />
Regierung haben wir zwar viele Änderungen<br />
angeschoben. Aber letztlich lie-<br />
CNTE zu Besuch in<br />
Deutschland<br />
Jucara Maria Dutra Vieira und Fátima<br />
Aparecida da Silva sind im Vorstand<br />
der brasilianischen Lehrergewerkschaft<br />
CNTE (Confederacao Nacional<br />
dos Trabalhadores na Educacao).<br />
Auf Einladung des DGB-Bildungswerkes<br />
nahmen die Gewerkschafterinnen<br />
an dem jährlich stattfindenden<br />
deutsch-brasilianischen Gewerkschaftstreffen<br />
in Hattingen/Ruhr<br />
vom 12. bis 14. November teil. Sie besuchten<br />
außerdem die <strong>GEW</strong> in<br />
Hamburg und Berlin. T. F.<br />
gen die bildungspolitischen Entscheidungen<br />
bei den Bundesstaaten und den<br />
Stadtverwaltungen, die die Vorlagen<br />
nicht immer umsetzen. Zum Beispiel<br />
hat die Regierung ein Mindestlohngesetz<br />
für Lehrkräfte verabschiedet, aber<br />
nicht alle Bundesstaaten realisieren es.<br />
Ein weiteres Problem: Das aus Bundesmitteln<br />
finanzierte große Lehrerausbildungsprogramm<br />
wird aus parteipolitischen<br />
Gründen nicht in allen Bundesstaaten<br />
angewandt. Weil gewisse Regionen<br />
das Ausbildungsprogramm blockieren,<br />
haben wir in den Klassenzimmern<br />
immer noch Pädagogen, die die staatliche<br />
Prüfung nicht absolviert haben. Sie<br />
sind nicht voll ausgebildet und im<br />
Grunde nicht befähigt, an einer staatlichen<br />
Schule zu unterrichten.<br />
E &W: Sind die Gewerkschaften während<br />
Lulas Präsidentschaft stärker geworden?<br />
Vieira: Es geht ja nicht nur um die Anzahl<br />
der Mitglieder. Es ist viel wichtiger,<br />
was wir gesellschaftlich erreichen. Mit<br />
der Regierung Lulas ist es gelungen, eine<br />
Kultur des Dialogs zu entwickeln. Das<br />
hat die Gesellschaft demokratisiert.<br />
Zum Beispiel gab es im nationalen Bereich<br />
des Bildungswesens ein Dialogverfahren,<br />
das alle einbezogen hat: Schülerinnen<br />
und Schüler, Studierende, Eltern,<br />
Gewerkschaften, Universitäten sowie<br />
Vertreter der Zivilgesellschaft. Es<br />
gab aufeinander folgende Konferenzen<br />
an Schulen, in Stadtverwaltungen, auf<br />
regionaler und auf Bundesebene. Alle<br />
Konferenzmitglieder wurden von ihrer<br />
Gruppe gewählt. Das Ergebnis ist ein<br />
Entwurf für das Bildungswesen der<br />
nächsten zehn Jahre, der dem Kongress<br />
nun als Beschlussvorlage vorliegt. An<br />
diesem demokratischen Prozess waren<br />
etwa 50000 Menschen als gewählte Delegierte<br />
beteiligt, allein zur letzten Kon-<br />
ferenz kamen rund 4000 Menschen.<br />
Das war nicht immer einfach. Es galt,<br />
Kompromisse zu finden. Es gab Niederlagen.<br />
CNTE will zum Beispiel erreichen,<br />
dass öffentliche Gelder nur für öffentliche<br />
Institutionen verwendet werden<br />
dürfen. Unsere Gewerkschaft ist<br />
dafür auch ungewöhnliche Allianzen<br />
mit kirchlichen Bildungseinrichtungen<br />
eingegangen. Leider haben wir unser<br />
Ziel nicht erreicht: Unternehmensfinanzierte<br />
Schulen können weiterhin<br />
auch auf öffentliche Gelder zugreifen.<br />
Trotzdem war der Weg, ein tragfähiges<br />
Bildungsprogramm im direkten Dialog<br />
mit möglichst vielen Menschen zu entwickeln,<br />
sehr erfolgreich.<br />
E &W: Was sind Ihre nächsten Vorhaben?<br />
da Silva: Wir wollen die Schulpflicht<br />
verlängern: Derzeit sind Kinder lediglich<br />
im Alter zwischen sechs und 14<br />
schulpflichtig. Wir wollen die Schulpflicht<br />
auf die Vier- bis 17-Jährigen ausweiten.<br />
Zudem engagieren wir uns<br />
dafür, das Netz der öffentlichen Universitäten<br />
und Fachhochschulen zu erweitern.<br />
Wir wollen, dass alle Bundesländer<br />
den Mindestlohn, die finanzierte Fortbildung<br />
und die staatliche Prüfung für<br />
Lehrkräfte auch tatsächlich umsetzen.<br />
Ein weiteres wichtiges Ziel: Der Anteil<br />
der Bildungsausgaben im Gesamtetat<br />
soll nicht nur von 3,4 auf 4,6 Prozent,<br />
sondern auf sieben Prozent erhöht werden.<br />
Große Pläne – wir sind optimistisch,<br />
dass wir viel erreichen können.<br />
Interview: Tina Fritsche, freie Journalistin<br />
Dolmetscherin: <strong>GEW</strong>-Mitglied<br />
Barbara Geier<br />
Zu den Personen<br />
Jucara Maria Dutra Vieira war CN-<br />
TE-Präsidentin, bis sie 2008 turnusgemäß<br />
ihren Vorsitz abgab. Sie ist<br />
jetzt für die Finanzen der Gewerkschaft<br />
zuständig und arbeitet als Vizepräsidentin<br />
der Bildungsinternationale<br />
(BI) unter anderem eng mit<br />
dem <strong>GEW</strong>-Vorsitzenden Ulrich Thöne<br />
zusammen. Die 60-jährige Literaturlehrerin<br />
stammt aus dem Bundesstaat<br />
Rio Grande do Sul, wo sie als<br />
langjährige Companheira des bisherigen<br />
Staatspräsidenten Lula Vertreterin<br />
der brasilianischen Arbeiterpartei<br />
PT ist.<br />
Fátima Aparecida da Silva stammt<br />
aus dem Staat Mato Grosso, leitet<br />
das Referat Internationale Beziehungen<br />
in der CNTE und ist Vizepräsidentin<br />
der lateinamerikanischen<br />
Bildungsgewerkschaften. T. F.<br />
INTERNATIONALES<br />
Mehr Infos über die<br />
CNTE<br />
(auf portugiesisch):<br />
http://www.cnte.org.br/<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 27
Foto: Privat<br />
TARIFPOLITIK<br />
Werner Balfer,<br />
stellvertretender<br />
Vorsitzender des<br />
HauptpersonalratsGesamtschulen<br />
beim Schulministerium<br />
in Nordrhein-Westfalen<br />
Kein Geld?<br />
Einkommenssituation verbessert<br />
28 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Deutscher Personalräte-Preis in Gold/Interview mit Werner Balfer<br />
E &W: Der Hauptpersonalrat (HPR) Gesamtschulen<br />
beim Schulministerium in<br />
Nordrhein-Westfalen (NRW) hat vom<br />
„Schöneberger Forum“ des Deutschen Gewerkschaftsbundes<br />
(DGB) in Berlin den erstmals<br />
ausgelobten „Deutschen Personalräte-<br />
Preis“ in Gold erhalten. Begründet wurde die<br />
Auszeichnung damit, dass sich der HPR erfolgreich<br />
für eine bessere Einkommenssituation<br />
angestellter Lehrerinnen und Lehrer eingesetzt<br />
habe. Worum ging es bei dieser Initiative?<br />
Werner Balfer: Ausgangslage war, dass<br />
die neueingestellten tarifbeschäftigen,<br />
also nicht verbeamteten Lehrkräfte<br />
durch die Ablösung des Bundesangestelltentarifvertrages<br />
(BAT) durch den<br />
Tarifvertrag der Länder (TV-L) 2006 erhebliche<br />
Gehaltseinbußen hinnehmen<br />
mussten. Im Schnitt betrugen diese bis<br />
zu 400 Euro netto monatlich. Grund<br />
dafür: Beim TV-L spielten, anders als<br />
beim BAT, die familiäre Situation und<br />
das Lebensalter bei der Eingruppierung<br />
keine Rolle. Verschärft wird dieses Problem<br />
dadurch, dass NRW mit 40 Jahren<br />
die niedrigste Verbeamtungsgrenze aller<br />
Bundesländer hat – also viele Lehrkräfte<br />
keine Chance haben, den Beamtenstatus<br />
zu erhalten, für sie gilt als Angestellte<br />
der TV-L. Das betrifft vor allem die so<br />
genannten Seiteneinsteiger, in der Regel<br />
ältere Kolleginnen und Kollegen. Um<br />
diese hat das Land in den vergangenen<br />
Jahren verstärkt geworben, damit es die<br />
Personalnot in den Mangelfächern beheben<br />
kann.<br />
E &W: Was waren die Folgen?<br />
Balfer: Die teils erhebliche Diskrepanz<br />
bei der Bezahlung hat zu Unmut in den<br />
Schulen geführt. Viele neueingestellte<br />
Lehrkräfte haben berechtigterweise<br />
nicht eingesehen, dass man sie für die<br />
gleiche Arbeit schlechter bezahlt als ihre<br />
Kolleginnen und Kollegen. Gegenüber<br />
den verbeamteten Lehrkräften war die<br />
Ungerechtigkeit besonders groß. Ein<br />
Beamter in der Besoldungsklasse A 12<br />
erhielt rund 800 Euro netto mehr im<br />
Monat als ein Tarifbeschäftigter in der<br />
TV-L-Entgeltgrupppe 11 – und das bei<br />
gleicher Arbeit und gleicher Qualifikation<br />
(s. E&W-Schwerpunkt 11/<strong>2010</strong>)!<br />
E &W: Wie groß war der Kreis derer, die<br />
von diesem Problem betroffen waren?<br />
Balfer: Wir haben in NRW etwa 170 000<br />
Lehrerinnen und Lehrer, 36000 davon<br />
Tarifbeschäftigte. Natürlich sind von<br />
diesen nicht alle durch den TV-L<br />
schlechter gestellt worden. Für die älteren<br />
Lehrkräfte gab es Überleitungsbestimmungen,<br />
die Besitzstände wahren.<br />
Die grundsätzliche Schlechterstellung<br />
betraf vor allem Neueingestellte.<br />
E &W: Wie sieht die Regelung aus, die der<br />
HPR mit dem NRW-Schulministerium ausgehandelt<br />
hat?<br />
Balfer: Alle beruflichen Vorerfahrungen,<br />
die man haupt-, neben-, freiberuflich,<br />
in einem geringfügigen, kurzfristigen<br />
oder Teilzeitarbeitsverhältnis erworben<br />
hat, werden jetzt bei der Einstufung<br />
angerechnet. Darüber hinaus konnten<br />
wir noch die Anerkennung von eventuell<br />
anfallenden Restzeiten erreichen.<br />
Das führt dazu, dass man schneller als<br />
vorher in die nächste Gehaltsstufe auf-<br />
Im Sommer <strong>2010</strong> sorgte der „Hochschulpakt“ in<br />
Hessen für Verdruss, der bei den staatlichen<br />
Hochschulen Einsparungen in Höhe von jährlich<br />
mehr als 30 Millionen Euro vorsah. Es gab Proteste,<br />
Vollversammlungen und eine landesweite Demonstration.<br />
Selbst einige Hochschulpräsidenten<br />
probten den Aufstand. Am Ende ohne Erfolg. Die<br />
Kürzungen wurden in vollem Umfang durchgezogen.<br />
Fast zeitgleich eröffnete die private „European<br />
Business School“ (EBS) einen neuen Fachbereich<br />
Jura in Wiesbaden. Die EBS bildet für Studiengebühren<br />
von zirka 12 000 Euro eine kleine<br />
auserlesene Managerelite aus. Doch offenbar reichen<br />
Studiengebühren, Sponsoring und private<br />
Spenden nicht, die hohen Ansprüche der Klientel<br />
zu erfüllen. Gerne nahm man daher zur Eröffnung des neuen Fachbereichs auch öffentliche Gelder: etwa<br />
zehn Millionen Euro von der Stadt Wiesbaden und 25 Millionen vom Land Hessen.<br />
Foto: dpa<br />
steigt bzw. nicht in der untersten Stufe<br />
der Entgeltgruppe einsortiert wird. Der<br />
Grund: Im TV-L ist die Berufserfahrung<br />
für den Stufenaufstieg in der Entgeltgruppe<br />
entscheidend – nicht wie früher<br />
im BAT das Lebensalter.<br />
E &W: Wie hat das Ministerium auf Ihre<br />
Initiative reagiert, waren die Bretter dick, die<br />
der HPR bohren musste?<br />
Balfer: Natürlich hat das Ministerium<br />
anfangs geblockt. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts<br />
(BVerfG) von<br />
2008, das die <strong>GEW</strong> erstritt und in dem<br />
den Personalräten ein Mitbestimmungsrecht<br />
bei der Stufenzuordnung eingeräumt<br />
wird, hat uns sehr geholfen. Positiv<br />
war auch, dass es innerhalb des Ministeriums<br />
Beamte gab, die mit viel Verständnis<br />
auf unsere Forderungen und<br />
Vorschläge reagiert haben. Letztlich hat<br />
sich das Ministerium aber deshalb bewegt,<br />
weil es fürchten musste, dass gut<br />
qualifizierte Lehrkräfte von anderen Ländern<br />
abgeworben werden, die ihnen bessere<br />
finanzielle Bedingungen bieten. Vor<br />
allem in Gebieten NRWs, die an das besser<br />
zahlende Land grenzen, hatten Schulen<br />
zunehmend ein Problem, ausreichend<br />
Nachwuchs zu finden. Es gab also<br />
Druck auf Ministerium und Schulen.<br />
E &W: Bei der Preisverleihung hieß es, die<br />
Initiative des HPR in NRW sei mustergültig.<br />
Es gibt Bundesländer, in denen die Situation<br />
ähnlich schlecht ist, wie sie in NRW lange<br />
war. Hat der nordrhein-westfälische Verhandlungserfolg<br />
eine Signalwirkung?<br />
Balfer: Das muss man abwarten. Auf jeden<br />
Fall ist es so, dass die Kolleginnen<br />
und Kollegen, die bei der Verleihung des<br />
Preises dabei waren, sehr genau zuhörten.<br />
Trotz unseres Erfolges besteht nach<br />
wie vor eine große Diskrepanz zwischen<br />
den Einkommen der Tarifbeschäftigten<br />
und dem der Beamten. Für eine<br />
grundsätzliche Lösung muss die Entgeltordnung<br />
für Lehrerinnen und Lehrer<br />
neu gefasst werden. Seit etwa einem<br />
Jahr haben dazu die Tarifparteien verhandelt.<br />
Diese Gespräche sind am 15.<br />
November <strong>2010</strong> einseitig von den Arbeitgebern<br />
der Tarifgemeinschaft deutscher<br />
Länder (TdL) abgebrochen worden.<br />
Das ist ein Schlag ins Gesicht für alle<br />
Angestellten und ihre Gewerkschaften.<br />
Das werden wir nicht hinnehmen.<br />
Interview: Jürgen Amendt,<br />
Redakteur „Neues Deutschland“
Sondierungsgespräche vereinbart<br />
Entgeltordnung zum Länder-Tarifvertrag<br />
Die Tarifgemeinschaft deutscher Länder (TdL) hat am 15. November<br />
überraschend die Verhandlungen mit den Gewerkschaften<br />
über eine Entgeltordnung zum Tarifvertrag der Länder<br />
(TV-L) abgebrochen. Anlass waren angeblich maßlose Nachforderungen<br />
der Gewerkschaften, Vergütungsgruppenzulagen<br />
aus dem alten abgelösten Bundesangestelltentarifvertrag (BAT)<br />
in der neuen Entgeltordnung zu berücksichtigen. Aus <strong>GEW</strong>-<br />
Sicht war die Ankündigung der TdL, dass der Abbruch auch die<br />
Sondierungen zu einer Lehrkräfte-Entgeltordnung (L-ego) betreffe,<br />
besonders befremdlich. Hier spielen Vergütungsgruppenzulagen<br />
gar keine Rolle.<br />
Die Verhandlungen sollen möglichst schnell wieder aufgenommen<br />
werden. Deshalb ist für den 29. November eine Sondierungsrunde<br />
vereinbart worden. Arbeitgeber und Gewerkschaften<br />
wollen nach Lösungswegen mit Blick auf die Zulagen für die<br />
Vergütungsgruppen suchen.<br />
Das Ergebnis stand bei Redaktionsschluss der E&W noch nicht<br />
fest. Klar ist: Die <strong>GEW</strong> will in der Tarifrunde 2011 neben einer<br />
kräftigen Lohnerhöhung den Abschluss einer Entgeltordnung<br />
zum TV-L durchsetzen – inklusive der tariflichen Eingruppierung<br />
der Lehrkräfte.<br />
Foto: imago<br />
Oliver Brüchert, Referent im <strong>GEW</strong>-Arbeitsbereich Angestellten- und<br />
Beamtenpolitik<br />
Tarifflucht bei Berlitz<br />
DieGeschäftsführungderBerlitzDeutschland GmbH hatte die <strong>GEW</strong> im Oktober zu<br />
Tarifverhandlungen aufgefordert – und dies sehr dringlich gemacht. Begründung:<br />
Man befürchte in Folge der Wirtschaftskrise Umsatzeinbußen. Die Forderungen<br />
der Arbeitgeber: 22 Prozent Lohnverzicht bei den Lehrkräften und Streichung<br />
zahlreicher tariflicher Regelungen. In den Verhandlungen hat die <strong>GEW</strong> signalisiert,<br />
dass sie zu befristeten Gehaltskürzungen bereit sei, wenn dafür verbindliche<br />
Regelungen vereinbart würden, die die Beschäftigung sichern. Doch der Berlitz<br />
Geschäftsführung ging es nicht darum, einen Rückgang der Einnahmen zu überbrücken.<br />
Sie will eine dauerhafte Umstrukturierung: weg von Festangestellten hin<br />
zu Honorarkräften. Das hat die <strong>GEW</strong> strikt abgelehnt, so dass beide Seiten die Verhandlungen<br />
am 4. November für gescheitert erklärt haben. Die <strong>GEW</strong> hat darauf<br />
reagiert und Berlitz auf Beschluss der Tarifkommission aufgefordert, Tarifverhandlungen<br />
über einen Sozialplan aufzunehmen. Dabei geht es um Verbesserungen bei<br />
Kündigungsfristen, Abfindungen und Wiedereinstellungsansprüche.<br />
Oliver Brüchert, Referent im <strong>GEW</strong>-Arbeitsbereich Angestellten- und Beamtenpolitik<br />
Berlitz plant eine dauerhafte<br />
Umstrukturierung<br />
seiner Sprachschulen:<br />
weg von Festangestellten<br />
hin zu Honorarkräften.<br />
Mehr Rente für<br />
Beamtinnen mit Kindern<br />
Bis heute werden verbeamteten Lehrerinnen,<br />
deren Kinder bis zum Jahr 1991<br />
geboren sind, je Kind nur sechs Monate<br />
bei der Versorgung gutgeschrieben. Rentenempfängerinnen<br />
wird ein Jahr pro<br />
Kind an Kindererziehungszeiten anerkannt.<br />
So sieht es das bis zum 31. <strong>Dezember</strong><br />
1991 geltende Beamtenversorgungsgesetz<br />
vor, das als Übergangsrecht<br />
weiterhin angewandt wird. Seit diesem<br />
Jahr können sich allerdings Beamtinnen<br />
ihre Kindererziehungszeiten vor dem 1.<br />
Januar 1992 nachträglich in der gesetzlichen<br />
Rentenversicherung anerkennen<br />
lassen. Sie haben zudem die Möglichkeit,<br />
Beiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung<br />
freiwillig nachzuzahlen,<br />
sofern sie die rentenrechtliche Mindestversicherungszeit<br />
von fünf Jahren nicht<br />
erfüllen. Das lohnt sich, wenn die Beamtin<br />
(z. B. wegen Beurlaubung oder<br />
Teilzeit) den Höchstversorgungssatz in<br />
der Beamtenversorgung – 40 ruhegehaltsfähige<br />
Dienstjahre – nicht erreicht.<br />
Nähere Infos gibt es bei den Auskunftsund<br />
Beratungsstellen der Deutschen<br />
Rentenversicherung sowie unter www.<br />
gew.de/Rente.html.<br />
Gesa Bruno-Latocha,<br />
Referentin im <strong>GEW</strong>-Arbeitsbereich<br />
Angestellten- und Beamtenpolitik<br />
TARIFPOLITIK<br />
Die <strong>GEW</strong>-Broschüre<br />
„Tarifrunde 2011 – Entgeltordnungdurchsetzen!“<br />
ist über die Landesverbände<br />
zu beziehen.<br />
Weitere Infos unter:<br />
www.gew.de/Berlitz_<br />
Deutschland_GmbH.html<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 29
TARIFRUNDE<br />
Gleicher<br />
Lohn für<br />
gleichwertige<br />
Arbeit!<br />
Leserdebatte<br />
Der E&W-Tarif-Schwerpunkt, insbesondere die<br />
„Acht Protokolle der Ungerechtigkeit...“, Seite 6<br />
ff., in der November-Ausgabe hat eine rege Leserdebatte<br />
entfacht. Die Zuschriften spiegeln wider,<br />
was die Leserinnen und Leser bewegt, sie erzählen<br />
von Wut, Frust und Diskriminierungen.<br />
„Alte Wut“<br />
Diese Protokolle haben mich berührt.<br />
Alte Wut kam wieder auf. Ich bin Lehrerin<br />
an einer Fachschule für Sozialpädagogik/Heilerziehungspflege.Obwohl<br />
ich über zwei Hochschulabschlüsse<br />
verfüge (einen „DDR-Abschluss“ als<br />
Diplom-Lehrerin und einen „West-Abschluss“<br />
als Diplom-Pädagogin), bezahlt<br />
man mich aus unterschiedlichen<br />
Gründen schlechter. Es hieß: Ich würde<br />
mehr Musik als Pädagogik unterrichten.<br />
Ich müsse eine bestimmte Anzahl<br />
von Berufsjahren vorweisen, die zwischenzeitlich<br />
nach oben korrigiert worden<br />
ist und die ich nur langsam erreiche,<br />
da ich Teilzeit arbeite. Ich müsse<br />
vorwiegend in einem bestimmten<br />
Schultyp arbeiten (an unserer Schulform<br />
sind mehrere Schulen vereint). Inzwischen<br />
habe ich mich mit dieser Situation<br />
abgefunden. Ich ärgere mich<br />
aber immer noch, wenn das Thema<br />
wieder aktuell wird.<br />
Rita Klaukin (per E-Mail)<br />
„Vergessene Gruppe“<br />
Ich bin seit fünf Jahren Werkstattlehrer<br />
und seit kurzem <strong>GEW</strong>-Mitglied. Bei<br />
der Tarifberichterstattung ist mir<br />
schmerzlich aufgefallen, dass der Tarif<br />
von Werkstattlehrkräften nicht erwähnt<br />
wird. Keine Werkstattlehrkraft kommt<br />
zu Wort. In den meisten Bundeslän-<br />
30 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
dern sitzen die Werkstattlehrkräfte mit<br />
30 Unterrichtsstunden – eingruppiert<br />
in Entgeltgruppe 9 des Tarifvertrags der<br />
Länder (TV-L) – auf dieser Gehaltsstufe<br />
fest. Immer wieder müssen wir uns anhören,<br />
wir wären ja keine richtigen Lehrerinnen<br />
und Lehrer und dürften nur<br />
„Unterweisungen“ machen. Die Realität<br />
sieht anders aus: Wir haben oft besonders<br />
schwierige Schüler. Werkstattlehrkräfte<br />
haben zwar nicht studiert,<br />
aber unsere Ausbildung umfasst mindestens<br />
fünf Jahre (Lehre und Meisterprüfung).<br />
Viele von uns waren jahrelang<br />
in leitenden Positionen eines Betriebes<br />
tätig und sind aus Überzeugung<br />
in den Schuldienst gegangen.<br />
Bettina Börnsen (per E-Mail)<br />
„Blick auf prekär<br />
Beschäftigte“<br />
Die meisten <strong>GEW</strong>-Mitglieder nehmen<br />
Hartz IV in erster Linie durch die zunehmende<br />
Armut der Kinder und Jugendlichen<br />
in ihren Einrichtungen<br />
wahr. Aber wir haben auch etliche Betroffene<br />
unter den <strong>GEW</strong>-Mitgliedern.<br />
Diese finden innerhalb der Gewerkschaft<br />
jedoch zu wenig Aufmerksamkeit.<br />
Für alle, die sich in prekären Arbeitsund<br />
Lebensbedingungen befinden,<br />
muss die <strong>GEW</strong> sich noch deutlicher als<br />
politische Interessenvertretung aufstellen.<br />
Peter Müller, Vertreter der „Beschäftigtengruppe<br />
Erwerbslose im Landesvorstand<br />
Sachsen“<br />
„Die Mauer steht“<br />
Herzlichen Dank für diesen Artikel,<br />
der die bestehenden Ungerechtigkeiten<br />
in der Bezahlung angestellter Lehrkräfte<br />
einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich<br />
macht. Ich habe 1984 in<br />
Thüringen mein Fachschulstudium als<br />
„Lehrer für die unteren Klassen“ in<br />
Deutsch, Mathematik und Musik abgeschlossen<br />
und arbeite seit 1997 mit<br />
Spaß und unter Anerkennung meiner<br />
Arbeit durch Kollegen, Eltern und<br />
Kinder an einer niedersächsischen<br />
Grundschule. Obwohl ich in unserer<br />
Schule die gleichen beruflichen Anforderungen<br />
erfülle wie andere angestellte<br />
Lehrkräfte mit „richtigem“ Abschluss,<br />
werde ich während meiner niedersächsischen<br />
Dienstzeit nach meiner Rechnung<br />
bis zum Renteneintritt etwa<br />
35 000 Euro weniger als meine Kollegen<br />
verdient haben. Die Übernahme<br />
einer Funktionsstelle bleibt mir dauerhaft<br />
verwehrt. Mein Fazit: Die Mauer<br />
steht – wenn auch unsichtbar – zumindest<br />
in den Köpfen derer, die an dieser<br />
Ungerechtigkeit weiter festhalten wollen.<br />
Daniela Gerstenberger (per E-Mail)<br />
„Gleichermaßen<br />
anspruchsvoll“<br />
Die „Tarifrunde“ wird in den neuen<br />
Bundesländern besonders aufmerksam<br />
verfolgt. Es geht doch nach wie vor um<br />
eine gerechtere Bezahlung der Lehrkräfte<br />
im Osten. Ich befürworte eine nach<br />
dem Prinzip: gleicher Lohn für gleiche<br />
Arbeit. Da ich seit 18 Jahren bereits als<br />
Grundschullehrer an einem Gymnasium<br />
arbeite und 15 Jahre lang als Angestellter<br />
immer wieder hören musste,<br />
dass eine Höhergruppierung nicht<br />
möglich sei, konnte ich nach meiner<br />
Verbeamtung endlich in die Besoldungsgruppe<br />
A 12 aufsteigen. Deshalb:<br />
Die Forderungen der <strong>GEW</strong> nach einer<br />
einheitlichen Bezahlung gehen in die<br />
richtige Richtung.<br />
H. Weber (per E-Mail)<br />
„Unterschiedliche<br />
Pflichtstundenzahl“<br />
Eine ungerechte Entlohnung entsteht<br />
auch durch unterschiedlich hohe<br />
Pflichtstundenzahlen in den verschiedenen<br />
Schularten. Das sollte bei der angestrebten<br />
Vereinheitlichung der Bezahlung<br />
der Pädagogen nicht vergessen<br />
werden. Zurzeit arbeiten Lehrerinnen<br />
und Lehrer z.B. an Grundschulen für<br />
weniger Geld mehr, bei gleicher Eingruppierung<br />
arbeiten sie für das gleiche<br />
Geld mehr.<br />
Karin Sydow (per E-Mail)<br />
„Aus dem Herzen<br />
gesprochen“<br />
Schön, dass so viele Beispiele kamen,<br />
aber die Kolleginnen und Kollegen aus<br />
der Fachpraxis sind leider mal wieder<br />
nicht erwähnt. Auch ich bin eine so genannte<br />
„Quereinsteigerin“. Ich habe<br />
meinen Meister als Hauswirtschaftliche<br />
Betriebsleiterin gemacht, dann lernbehinderte<br />
Jugendliche ausgebildet. Später<br />
bin ich durch Zufall an die Berufsschule<br />
gekommen. Hier werde ich nach<br />
A 9 bezahlt – mit geringen Aufstiegschancen.<br />
Ich darf zwar als „Ersatz“ für<br />
erkrankte Kollegen einspringen oder<br />
mir fachfremd neuen Unterrichtsstoff<br />
aneignen. Ich bin auch gern bereit dazu,<br />
allerdings wäre mir doch lieber,<br />
wenn die Forderung nach „gleichem<br />
Lohn für gleiche Arbeit“ endlich umge-
setzt würde. Ein weiterer Grund, die<br />
<strong>GEW</strong> bei den Tarifauseinandersetzungen<br />
zu unterstützen.<br />
Nadine Hannig (per E-Mail)<br />
„Diskriminierende<br />
Unterbezahlung“<br />
Vergesst bei den Tarifverhandlungen<br />
nicht die Altersteilzeit-Beschäftigten,<br />
die im Vertrauen auf die Aussagen des<br />
Tarifvertrages vom 5. Mai 1998 ein Altersteilzeit-Verhältnis<br />
eingingen und<br />
nun erkennen müssen, dass eine nicht<br />
aktualisierte Mindestnetto-Tabelle Ursache<br />
für eine diskriminierende Unterbezahlung<br />
ist. Bereitet die <strong>GEW</strong> Musterklagen<br />
vor oder wartet sie auf eine<br />
Austrittswelle? Denn Interessen einer<br />
großen Anzahl von Mitgliedern werden<br />
nicht vertreten.<br />
Ines Volk (per E-Mail)<br />
„Alle im Blick“?<br />
E&W veröffentlicht viele Beispiele ungerechter<br />
Entlohnung. Es verwundert<br />
und ärgert mich aber, dass die Redaktion<br />
den unterschiedlichen Verdienst<br />
von Angestellten und Beamten unerwähnt<br />
lässt. Die ungleiche Entlohnung<br />
wurde kürzlich in der ARD-Sendung<br />
Fakt am Beispiel zweier Lehrer (einer<br />
Beamter, einer Angestellter – Anm. d.<br />
Red.) deutlich, die die gleiche Qualifikation<br />
haben, die gleiche Arbeit machen<br />
und dennoch mit 400-Euro-Differenz<br />
monatlich nach Hause gehen. Da<br />
stellt sich erstens die Frage, warum<br />
E&W dieses Thema ausgespart hat?<br />
Und zweitens, ob die Redaktion wirklich<br />
die Interessen aller Lehrkräfte im<br />
Blick hat?<br />
M. Wald-Dasey (per E-Mail)<br />
„Kein Ruhmesblatt“<br />
Ich arbeite seit 22 Jahren an einer Gesamtschule<br />
und es war schon immer<br />
demütigend, ärgerlich und häufig demotivierend,<br />
wenn man z.B. Sek-II-<br />
Kolleginnen und -Kollegen in den Berufsalltag<br />
einführte und diese später<br />
mehr verdienten, in der Regel in höhere<br />
Gehaltsstufen aufstiegen – und wir<br />
blieben bei Stufe A 12 „hängen“! Schon<br />
Anfang der 1990er gab es Initiativen an<br />
Gelsenkirchener und Bottroper Gesamtschulen<br />
gegen solche Ungerechtigkeiten.<br />
Sie scheiterten an den Schulpolitikern<br />
der SPD, am mangelnden Engagement<br />
der <strong>GEW</strong>-Führung und weil<br />
die Beschäftigten „genervt“ aufgaben!<br />
Die Tarifpolitik in diesem Bereich ist<br />
kein Ruhmesblatt; sie hat bestehende<br />
Hierachien und Ungerechtigkeiten immer<br />
wieder stabilisiert!<br />
Jürgen Todeskino (per E-Mail)<br />
„Qualifizierter Unterschied“<br />
Das so genannte Negativ-Beispiel der<br />
56-jährigen Diplom-Pädagogin in den<br />
„Acht Protokollen“ ist für mich nicht<br />
nachvollziehbar. Ich finde die Bezahlung<br />
bei dieser Qualifikation in Ordnung.<br />
Was sollen denn Kolleginnen<br />
und Kollegen verdienen, die über<br />
Praxiserfahrung verfügen, eine entsprechende<br />
Fachrichtung an der Uni studiert,<br />
ein Referendariat sowie ein zweites<br />
Staatsexamen absolviert haben? Aus<br />
langjähriger beruflicher Erfahrung und<br />
als <strong>GEW</strong>-Personalrat bin ich vom qualifizierten<br />
Unterschied überzeugt – und<br />
der muss auch adäquat vergütet werden!<br />
Horst Küppers, Neumünster<br />
Blick nach USA<br />
Erfahrungen aus den USA: Das amerikanische<br />
Tarifsystem erscheint mir<br />
sinnvoller als das deutsche: Die Lehrkräfte<br />
werden nach ihrem Aus- bzw.<br />
Fortbildungsstand bezahlt. Es gibt unterschiedliche<br />
Gehaltstabellen für Bachelor,<br />
Master, Master+15, Master+30<br />
(Credithours) und PHD (Doktortitel).<br />
Das hat zur Folge, dass ein promovierter<br />
Pädagoge an der Grundschule genau<br />
so viel verdient wie an jeder anderen<br />
Schulform. Es gibt tatsächlich Lehrkräfte<br />
mit Doktortitel an amerikanischen<br />
Grundschulen! Mein zusätzlicher<br />
Abschluss in den Vereinigten Staaten<br />
brachte mir allerdings nur dort<br />
auch eine bessere Bezahlung ein. Hier<br />
in Deutschland komme ich über mein<br />
Grundschullehrergehalt – auch mit<br />
Doktortitel – nicht hinaus.<br />
Katrin Lederer (per E-Mail)<br />
„Frust“<br />
Innerhalb des Studiengangs „Lehramt<br />
für Grund- und Hauptschulen“ kann<br />
man in Baden-Württemberg an den<br />
Pädagogischen Hochschulen Freiburg<br />
und Karlsruhe den Studiengang „Europalehramt“<br />
für bilinguales Lehren und<br />
Lernen belegen. Trotz höherer Qualifikation<br />
(in etwa vergleichbar mit dem<br />
Studiengang Realschule) erhalten „Europalehrämtler“<br />
die gleiche Bezahlung<br />
wie alle anderen Grund- und Hauptschullehrkräfte.<br />
Eine qualifiziertere<br />
Ausbildung macht sich hier in keinster<br />
Weise bezahlt. Dass sich dabei schnell<br />
Frust einstellt, ist gut nachzuvollziehen.<br />
Caroline Tamm, Tübingen<br />
Erziehung<br />
undW ssenschaft<br />
Zeitschrift der Bildungs erkschaft <strong>GEW</strong> 11/<strong>2010</strong><br />
Qualifikation:<br />
Bezahlung:<br />
„Unterschiedliche<br />
Beförderung“<br />
sehr gut<br />
ungenügend<br />
In der Bezahlung ist leider eine große<br />
Ungerechtigkeit zwischen den Fachleitungen<br />
einzelner Schulformen vorhanden.<br />
Obwohl der Arbeitsumfang<br />
durchaus vergleichbar ist. Eine Lehrerin<br />
aus dem gehobenen Dienst (A 12),<br />
die sich um eine Fachleiterstelle im Bereich<br />
der Sekundarstufe I bewirbt, erhält<br />
lediglich eine Zulage, sie bleibt<br />
aber in der Besoldungsstufe A 12 eingruppiert.<br />
Die neue Aufgabe ist nicht<br />
mit einer Beförderung verbunden. Eine<br />
Studienrätin, die sich um eine Fachleiterstelle<br />
im Bereich der Sekundarstufe<br />
II bewirbt, wird dagegen zur Oberstudienrätin<br />
und anschließend zur Studiendirektorin<br />
befördert.<br />
Quelle:<br />
http://www.tresselt.de/befoerderung.htm<br />
Christina Eckhard (per E-Mail)<br />
„Soziale Kluft größer“<br />
Acht<br />
Protokolle der<br />
Ungerechtigkeit<br />
Danke für diese ausgezeichnete Ausgabe!<br />
Es ist in der Tat erschreckend, wie<br />
eines der reichsten Länder der Erde die<br />
soziale Kluft immer weiter vergrößert.<br />
Die Politik hat, nach der unsäglichen<br />
Einführung von Arbeitslosengeld<br />
(ALG) II, die Finanzmarktkrise genutzt,<br />
Millionen Menschen in Unterbeschäftigung<br />
bzw. in Niedriglöhne zu drängen.<br />
Erneut hat eine gigantische Umverteilung<br />
stattgefunden. Das ist auch<br />
innerkapitalistisch kontraproduktiv:<br />
Die Kaufkraft bleibt niedrig, die Abhängigkeit<br />
vom Export weitet sich aus.<br />
Johannes M. Becker, Marburg<br />
Weitere Leserbriefe s. Seite 36<br />
TARIFRUNDE<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 31
<strong>GEW</strong>-INTERN<br />
Termin:31.<strong>Dezember</strong> <strong>2010</strong><br />
Anträge, die bis dahin beantragt werden, können noch zu den niedrigen Beiträgen für <strong>2010</strong> angenommen werden.<br />
Bildungs- und Förderungswerk der <strong>GEW</strong> im DGB e.V.<br />
Liebe Kolleginnen und Kollegen,<br />
wer verantwortlich vorsorgen will, kommt nicht daran vorbei, auch über die finanzielle Absicherung im Todesfall nachzudenken.<br />
Brechen Sie ein Tabu und treffen Sie Vorsorge für den Fall der Fälle.<br />
Ein Todesfall ist immer eine hohe psychische Belastung für alle Hinterbliebenen. Neben der Trauer müssen eine Reihe organisatorischer Aufgaben bewältigt<br />
werden. Von der Gestaltung der Trauerfeier bis hin zur Wohnungsauflösung. Aus Erfahrung wissen wir, dass die Kosten für eine würdige Bestattung<br />
5 000 EUR oft weit übersteigen. Sichern Sie Ihre Angehörigen rechtzeitig ab durch den Abschluss einer Sterbegeldversicherung. Denn seit<br />
dem 01.01.2004 wurde das von den gesetzlichen Krankenkassen gezahlte Sterbegeld komplett gestrichen.<br />
Eigenverantwortung ist jetzt unverzichtbar – Wir helfen Ihnen dabei.<br />
Sie können jetzt mit der BFW-Sterbegeldversicherung Ihre Lücke in der Vorsorge schließen; dabei kommen Ihnen die besonders günstigen Beiträge<br />
für <strong>GEW</strong>-Mitglieder zugute. Diese und weitere Vorteile gelten auch für Ihre Angehörigen:<br />
Vorteile auf einen Blick:<br />
● Niedrige Beiträge durch Gruppenvertrag ● Garantierte Aufnahme bis 80 Jahre<br />
● Steuerbegünstigung der Beiträge ● Doppelzahlung bei Unfalltod<br />
● Keine Gesundheitsprüfung, ● Leistungsverbesserung durch Überschussbeteiligung<br />
Warum sollten Sie eine Sterbegeldversicherung beim Bildungs- und Förderungswerk der <strong>GEW</strong> abschließen?<br />
In der Bereitstellung finanzieller Mittel für ein würdiges Begräbnis sieht das BFW der <strong>GEW</strong> seine Hauptaufgabe. Durch den Gruppenvertrag mit der<br />
DBV Deutsche Beamtenversicherung bieten wir <strong>GEW</strong>-Mitgliedern und deren Angehörigen seit über 35 Jahren besonders günstige Versicherungsbeiträge.<br />
Wählen Sie eine Versicherungssumme zwischen 500 € und 12500 €.<br />
Senden Sie uns den folgenden Antrag am besten noch heute zurück.<br />
Beitragstabelle Monatsbeiträge je 500 EUR Versicherungssumme Tarif VG9/2008<br />
Eintritts Männer Frauen<br />
-alter EUR EUR<br />
15 0,59 EUR 0,51 EUR<br />
16 0,61 EUR 0,52 EUR<br />
17 0,62 EUR 0,53 EUR<br />
18 0,63 EUR 0,54 EUR<br />
19 0,65 EUR 0,56 EUR<br />
20 0,66 EUR 0,57 EUR<br />
21 0,67 EUR 0,58 EUR<br />
22 0,69 EUR 0,59 EUR<br />
23 0,71 EUR 0,60 EUR<br />
24 0,72 EUR 0,62 EUR<br />
25 0,74 EUR 0,63 EUR<br />
26 0,76 EUR 0,65 EUR<br />
27 0,78 EUR 0,66 EUR<br />
28 0,80 EUR 0,68 EUR<br />
29 0,82 EUR 0,69 EUR<br />
30 0,84 EUR 0,71 EUR<br />
31 0,86 EUR 0,73 EUR<br />
Eintrittsalter: Beginnjahr der Versicherung minus Geburtsjahr der zu versichernden Person.<br />
Bei Eintrittsalter 15-74 ist die Unfallzusatzversicherung obligatorisch eingeschlossen.<br />
Für andere Versicherungssummen als 500 Euro ist der Betrag entsprechend zu vervielfältigen.<br />
Die Monatsbeiträge sind versicherungstechnisch mit sieben Nachkommastellen gerechnet. Aus Vereinfachungsgründen sind aber nur zwei Nachkommastellen<br />
in der Beitragstabelle ausgewiesen. Deshalb kann es zu Rundungsdifferenzen kommen, die sich allerdings nur im Cent-Bereich bewegen.<br />
Endalter Beitragszahlung: 85 Jahre, aber mindestens fünf Jahre.<br />
32 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Eintritts Männer Frauen<br />
-alter EUR EUR<br />
32 0,89 EUR 0,75 EUR<br />
33 0,91 EUR 0,77 EUR<br />
34 0,94 EUR 0,79 EUR<br />
35 0,97 EUR 0,81 EUR<br />
36 1,00 EUR 0,83 EUR<br />
37 1,03 EUR 0,86 EUR<br />
38 1,06 EUR 0,88 EUR<br />
39 1,09 EUR 0,91 EUR<br />
40 1,13 EUR 0,94 EUR<br />
41 1,17 EUR 0,96 EUR<br />
42 1,21 EUR 0,99 EUR<br />
43 1,25 EUR 1,03 EUR<br />
44 1,30 EUR 1,06 EUR<br />
45 1,34 EUR 1,09 EUR<br />
46 1,39 EUR 1,13 EUR<br />
47 1,45 EUR 1,17 EUR<br />
48 1,50 EUR 1,21 EUR<br />
Eintritts Männer Frauen<br />
-alter EUR EUR<br />
49 1,56 EUR 1,26 EUR<br />
50 1,63 EUR 1,30 EUR<br />
51 1,69 EUR 1,35 EUR<br />
52 1,76 EUR 1,40 EUR<br />
53 1,84 EUR 1,46 EUR<br />
54 1,92 EUR 1,52 EUR<br />
55 2,00 EUR 1,58 EUR<br />
56 2,09 EUR 1,65 EUR<br />
57 2,18 EUR 1,72 EUR<br />
58 2,28 EUR 1,80 EUR<br />
59 2,39 EUR 1,88 EUR<br />
60 2,51 EUR 1,97 EUR<br />
61 2,63 EUR 2,07 EUR<br />
62 2,76 EUR 2,17 EUR<br />
63 2,91 EUR 2,29 EUR<br />
64 3,06 EUR 2,41 EUR<br />
65 3,23 EUR 2,55 EUR<br />
Eintritts Männer Frauen<br />
-alter EUR EUR<br />
66 3,42 EUR 2,70 EUR<br />
67 3,62 EUR 2,86 EUR<br />
68 3,84 EUR 3,05 EUR<br />
69 4,08 EUR 3,25 EUR<br />
70 4,35 EUR 3,48 EUR<br />
71 4,64 EUR 3,73 EUR<br />
72 4,97 EUR 4,02 EUR<br />
73 5,34 EUR 4,35 EUR<br />
74 5,75 EUR 4,73 EUR<br />
75 6,19 EUR 5,14 EUR<br />
76 6,75 EUR 5,66 EUR<br />
77 7,41 EUR 6,30 EUR<br />
78 8,22 EUR 7,09 EUR<br />
79 9,24 EUR 8,11 EUR<br />
80 10,61 EUR 9,49 EUR
Version G -03. <strong>2010</strong><br />
Beitrittserklärung bitte zurücksenden an:<br />
Bildungs- und Förderungswerk der <strong>GEW</strong> e.V., Postfach 90 04 09, 60444 Frankfurt<br />
Beitrittserklärung zur Gruppen-Sterbegeldversicherung<br />
(bis Alter 80) - Tarif VG9/2008<br />
Zu versichernde Person<br />
Versicherungsumfang<br />
Einzugsauftrag<br />
(bitte in jedem Fall ausfüllen)<br />
Produktbeschreibung<br />
Unfalltod-<br />
Zusatzversicherung<br />
Beitragszahlung<br />
Name / Vorname<br />
Straße / Hausnummer<br />
Versicherungsbeginn<br />
PLZ / Wohnort<br />
Geburtsdatum<br />
Telefonnummer für Rückfragen<br />
Ich beantrage eine Versicherungssumme von: (bitte ankreuzen)<br />
Versicherungssumme in €<br />
3.000<br />
5.000<br />
7.000<br />
10.000<br />
12.500<br />
Monatlicher Beitrag in €<br />
Ich wähle folgende Summe unter 12.500 Euro: Euro .....................<br />
zzgl. BFW-Mitgliedsbeitrag 0,05<br />
Mindestsumme 500,-- Euro<br />
Lastschriftbetrag ................<br />
Ich erkläre mich damit einverstanden, dass die Beiträge für diese Gruppen-Sterbegeld-Versicherung bis auf schriftlichen Widerruf und der<br />
monatliche BFW-Mitgliedsbeitrag von € 0,05 im Lastschriftverfahren monatlich eingezogen werden.<br />
Konto-Nummer Bankleitzahl<br />
Y Y<br />
Bank / Sparkasse / Postbank Konto-Inhaber<br />
Y<br />
Die Versicherungsleistung wird beim Tod der versicherten Person fällig.<br />
Das Höchsteintrittsalter beträgt 80 Jahre. Der Versicherer verzichtet auf<br />
eine Gesundheitsprüfung; stattdessen gilt beim Tod der versicherten<br />
Person im 1. Versicherungsjahr folgende Staffelung der Versicherungssumme:<br />
Bei Tod im 1. Monat: Rückzahlung des eingezahlten Beitrages;<br />
bei Tod im 2. Monat: Zahlung von 1/12 der Versicherungssumme; bei Tod<br />
im 3. Monat Zahlung von 2/12 der Versicherungssumme usw.; allmonat-<br />
Eine Unfalltod-Zusatzversicherung ist stets eingeschlossen, außer bei<br />
den Eintrittsaltern ab 75 Jahren. Bei Tod infolge eines Unfalls vor dem<br />
Ende des Versicherungsjahres, in dem die versicherte Person ihr 75.<br />
Die Beiträge sind bis zum Ende des Monats zu entrichten, in dem die<br />
versicherte Person stirbt; längstens jedoch bis zum Ende des Ver-<br />
Überschussbeteiligung Die von der DBV Deutsche Beamtenversicherung Lebensversicherung<br />
AG laufend erwirtschafteten Überschüsse werden in Form von Grund- und<br />
Zinsüberschussanteilen weitergegeben. Die Grundüberschussanteile<br />
werden mit den von mir zu zahlenden Versicherungsbeiträgen verrechnet.<br />
Zuwendungserklärung Die während meiner Mitgliedschaft auf die Sterbegeldversicherung<br />
anfallenden Grundüberschussanteile werden mit<br />
den von mir zu zahlenden Versicherungsbeiträgen verrechnet.<br />
Bis auf meinen jederzeit möglichen Widerruf wende ich dem<br />
BFW der <strong>GEW</strong> laufend Beträge in Höhe der jeweils verrechneten<br />
Überschussanteile zu. Dadurch kommen diese Beträge wirt-<br />
Unterschriften<br />
Bildungs- und Förderungswerk<br />
der <strong>GEW</strong> im DGB e.V.<br />
Über die Erhöhung des Versicherungsschutzes wird ein gesonderter Versicherungsschein erstellt.<br />
Bevor Sie diese Beitrittserklärung unterschreiben, lesen Sie bitte auf der<br />
Rückseite die Einwilligungserklärung der zu versichernden Person. Die Einwilligungserklärung<br />
enthält u.a. die Klausel nach dem Bundesdaten-<br />
Ort / Datum Unterschrift der zu versichernden Person<br />
Y Y Y<br />
Bitte kreuzen Sie an:<br />
weiblich männlich<br />
lich um 1/12 der Versicherungssumme steigend bis zur vollen Versicherungssumme<br />
ab Beginn des 2. Versicherungsjahres. Stirbt die<br />
versicherte Person vor Ablauf des ersten Versicherungsjahres infolge<br />
eines im ersten Versicherungsjahr eingetretenen Unfalls, wird stets<br />
die volle Versicherungsleistung erbracht.<br />
Interne Angaben<br />
Gruppenvertragsnummer Personenkreis Versicherungsscheinnummer Versicherungssumme Versicherungsbeginn<br />
4 7 9 0 0 5 8 6 6 1 4 7 0 1 2 0 1 0<br />
Y<br />
Ihr Servicetelefon<br />
069/78 97 32 05<br />
Bitte ankreuzen:<br />
Mitglied<br />
Familienangehörige/r<br />
Lebensjahr vollendet hat, wird die volle Versicherungssumme zusätzlich<br />
zur Sterbegeldleistung gezahlt.<br />
sicherungsjahres, in dem die versicherte Person das rechnungsmäßige<br />
85. Lebensjahr vollendet.<br />
Die Zinsüberschussanteile werden verzinslich angesammelt<br />
und zusammen mit der Versicherungsleistung ausgezahlt.<br />
schaftlich nicht mir, sondern dem BFW der <strong>GEW</strong> zu 64 % für<br />
satzungsgemäße Aufgaben und zu 36 % zur Förderung der<br />
Sterbegeldeinrichtung (Kostendeckungsmittel) zugute. Über<br />
die Höhe der Zuwendungen gibt das BFW der <strong>GEW</strong> auf Anfrage<br />
jederzeit Auskunft. Bei Widerruf der Zuwendungserklärung<br />
beträgt der monatliche BFW-Mitgliedsbeitrag 2,50 €.<br />
schutzgesetz (BDSG) und Hinweise zum Widerspruchsrecht; sie ist<br />
wichtiger Bestandteil des Vertrages. Sie machen mit Ihrer Unterschrift<br />
die Einwilligungserklärung zum Inhalt dieser Beitrittserklärung.<br />
Unterschrift der Kontoinhaberin/des Kontoinhabers<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 33
Einwilligungserklärung Die Vereinigung und die zu versichernde Person geben die nachfolgend abgedruckten Einwilligungserklärungen zur Datenverarbeitung<br />
nach dem Bundesdatenschutzgesetz und zur Schweigepflichtentbindung ab.<br />
Widerrufsrecht<br />
Sie können Ihre Erklärung bis zum Ablauf von 30 Tagen<br />
nach Erhalt des Versicherungsscheins und der<br />
Bestimmungen und Informationen zum Vertrag (BIV) ohne<br />
Angabe von Gründen schriftlich widerrufen. Eine<br />
Erklärung in Textform (z.B. per Brief, Fax oder E-Mail) ist<br />
I. Bedeutung dieser Erklärung und Widerrufsmöglichkeit<br />
Ihre personenbezogenen Daten benötigen wir zur Verhinderung<br />
von Versicherungsmissbrauch, zur Überprüfung unserer<br />
Leistungspflicht, zu Ihrer Beratung und Information sowie allgemein<br />
zur Antrags-, Vertrags- und Leistungsabwicklung.<br />
Personenbezogene Daten dürfen nach geltendem Datenschutzrecht<br />
nur erhoben, verarbeitet oder genutzt werden<br />
(Datenverwendung), wenn dies ein Gesetz ausdrücklich<br />
erlaubt oder anordnet oder wenn eine wirksame Einwilligung<br />
des Betroffenen vorliegt.<br />
Nach dem Bundesdatenschutzgesetz (BDSG) ist die Verwendung<br />
Ihrer allgemeinen personenbezogenen Daten<br />
(z.B. Alter oder Adresse) erlaubt, wenn es der Zweckbestimmung<br />
eines Vertragsverhältnisses oder vertragsähnlichen<br />
Vertrauensverhältnisses dient (§ 28 Abs. 1 Nr. 1 BDSG).<br />
Das gleiche gilt, soweit es zur Wahrung berechtigter Interessen<br />
der verantwortlichen Stelle erforderlich ist und kein Grund zu<br />
der Annahme besteht, dass das schutzwürdige Interesse des<br />
Betroffenen an dem Ausschluss der Verarbeitung oder Nutzung<br />
überwiegt (§ 28 Abs. 1 Nr. 2 BDSG). Die Anwendung<br />
dieser Vorschriften erfordert in der Praxis oft eine umfangreiche<br />
und zeitintensive Einzelfallprüfung. Auf diese kann bei Vorliegen<br />
dieser Einwilligungserklärung verzichtet werden.<br />
Zudem ermöglicht diese Einwilligungserklärung eine Datenverwendung<br />
auch in den Fällen, die nicht von den Vorschriften<br />
des Bundesdatenschutzgesetzes erfasst werden<br />
(Vgl. dazu Ziffer II).<br />
Einen intensiveren Schutz genießen besondere Arten personenbezogener<br />
Daten (insbesondere Ihre Gesundheitsdaten).<br />
Diese dürfen wir im Regelfall nur verwenden, nachdem<br />
Sie hierin ausdrücklich eingewilligt haben (Vgl. dazu Ziffer III.).<br />
Mit den nachfolgenden Einwilligungen zu Ziffer II. und Ziffer<br />
III. ermöglichen Sie zudem eine Datenverwendung auch<br />
solcher Daten, die dem besonderen gesetzlichen Schutz von<br />
Privatgeheimnissen gemäß § 203 Strafgesetzbuch unterliegen.<br />
Diese Einwilligungen sind ab dem Zeitpunkt der Antragstellung<br />
wirksam. Sie wirken unabhängig davon, ob später<br />
der Versicherungsvertrag zustande kommt. Es steht Ihnen<br />
frei, diese Einwilligungserklärungen mit Wirkung für die<br />
Zukunft jederzeit ganz oder teilweise zu widerrufen. Dies<br />
lässt aber die gesetzlichen Datenverarbeitungsbefugnisse<br />
unberührt. Sollten die Einwilligungen ganz oder teilweise<br />
verweigert werden, kann das dazu führen, dass ein Versicherungsvertrag<br />
nicht zustandekommt.<br />
II. Erklärung zur Verwendung Ihrer allgemeinen personenbezogenen<br />
Daten<br />
Hiermit willige ich ein, dass meine personenbezogenen Daten<br />
unter Beachtung der Grundsätze der Datensparsamkeit und<br />
der Datenvermeidung verwendet werden<br />
1.a) zur Vertragsabwicklung und zur Prüfung der Leistungspflicht;<br />
b) zur Weitergabe an den/die für mich zuständigen Vermittler,<br />
soweit dies der ordnungsgemäßen Durchführung meiner<br />
Versicherungsangelegenheiten dient;<br />
Allgemeine Hinweise<br />
Mir ist bekannt, dass die Vereinigung Versicherungsnehmerin<br />
ist. Sie handelt in meinem Auftrag. Ich bevollmächtige die Vereinigung<br />
zur Vertretung bei der Abgabe und Entgegennahme<br />
aller das Versicherungsverhältnis betreffenden Willenserklärungen<br />
(einschließlich der Kündigung der Sterbegeldversicherung<br />
beim Ausscheiden des Mitglieds aus der Vereinigung);<br />
die Vertretungsbefugnis erstreckt sich jedoch nicht<br />
auf die Empfangnahme von Versicherungsleistungen und<br />
die Änderung des Bezugsrechts.<br />
Versicherungsträger<br />
DBV Deutsche Beamtenversicherung<br />
Lebensversicherung AG<br />
Sitz: Wiesbaden (AG Wiesbaden - HRB 7501-)<br />
Vorsitzender des Aufsichtsrats: Herbert Falk<br />
34 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Widerrufsbelehrung auf Abschluss eines Versicherungsvertrages<br />
ausreichend. Zur Wahrung der Widerrufsfrist genügt die<br />
rechtzeitige Absendung des Widerrufs. Der Widerruf ist zu<br />
richten an: DBV Deutsche Beamtenversicherung Lebensversicherung<br />
AG, Frankfurter Str. 50, 65189 Wiesbaden.<br />
Sofern der vorseitig genannte Versicherungsbeginn vor<br />
2. zur gemeinschaftlichen Führung von Datensammlungen<br />
der zur AXA Gruppe gehörenden Unternehmen (zu denen<br />
auch die DBV Deutsche Beamtenversicherung zählt und<br />
die im Internet unter www.dbv.de einsehbar sind oder mir<br />
auf Wunsch mitgeteilt werden), um die Anliegen im Rahmen<br />
der Antrags-, Vertrags- und Leistungsabwicklung schnell,<br />
effektiv und kostengünstig bearbeiten zu können (z.B.<br />
richtige Zuordnung Ihrer Post oder Beitragszahlungen).<br />
Diese Datensammlungen enthalten Daten wie Name,<br />
Adresse, Geburtsdatum, Kundennummer, Versicherungsnummer,<br />
Kontonummer, Bankleitzahl,Art der bestehenden<br />
Verträge, sonstige Kontaktdaten;<br />
3. durch andere Unternehmen/Personen (Dienstleister) innerhalb<br />
und außerhalb der AXA Gruppe, denen der Versicherer<br />
oder ein Rückversicherer Aufgaben ganz oder teilweise zur<br />
Erledigung überträgt. Diese Dienstleister werden eingeschaltet,<br />
um die Antrags-, Vertrags- und Leistungsabwicklung<br />
möglichst schnell, effektiv und kostengünstig zu<br />
gestalten. Eine Erweiterung der Zweckbestimmung der<br />
Datenverwendung ist damit nicht verbunden. Die Dienstleister<br />
sind im Rahmen ihrer Aufgabenerfüllung verpflichtet,<br />
ein angemessenes Datenschutzniveau sicher zu stellen,<br />
einen zweckgebundenen und rechtlich zulässigen Umgang<br />
mit den Daten zu gewährleisten sowie den Grundsatz der<br />
Verschwiegenheit zu beachten;<br />
4. zur Verhinderung des Versicherungsmissbrauchs und bei<br />
der Klärung von Ansprüchen aus dem Versicherungsverhältnis<br />
durch Nutzung konzerneigener Datenbestände sowie<br />
Nutzung eines Hinweis- und Informationssystems der Versicherungswirtschaft<br />
mit Daten, die der Gesamtverband<br />
der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. (GDV) im Auftrag<br />
der Versicherer verschlüsselt.Auf Basis dieses Systems<br />
kann es zu einem auf den konkreten Anlass bezogenen<br />
Austausch personenbezogener Daten zwischen dem<br />
anfragenden und dem angefragten Versicherer kommen;<br />
5. zur Beratung und Information über Versicherungs- und<br />
sonstige Finanzdienstleistungen durch<br />
a) den Versicherer, andere Unternehmen der AXA Gruppe und<br />
den für mich zuständigen Vermittler;<br />
b) Kooperationspartner des Versicherers (die im Internet<br />
unter www.axa.de einsehbar sind oder mir auf Wunsch<br />
mitgeteilt werden); soweit aufgrund von Kooperationen mit<br />
Gewerkschaften/Vereinen Vorteilskonditionen gewährt<br />
werden, bin ich damit einverstanden, dass der Versicherer<br />
zwecks Prüfung, ob eine entsprechende Mitgliedschaft<br />
besteht, mit den Gewerkschaften/Vereinen einen Datenabgleich<br />
vornimmt;<br />
6. zur Antrags-,Vertrags- und Leistungsabwicklung, indem<br />
der Versicherer Informationen über mein allgemeines<br />
Zahlungsverhalten einholt. Dies kann auch erfolgen durch<br />
ein anderes Unternehmen der AXA Gruppe oder eine Auskunftei<br />
(z.B. Bürgel, Infoscore, Creditreform, SCHUFA);<br />
7. zur Antrags-,Vertrags- und Leistungsabwicklung, indem<br />
Bei höherem Eintrittsalter können die zu zahlenden<br />
Beiträge in ihrem Gesamtbetrag die versicherte<br />
Leistung unter Umständen übersteigen.<br />
Eine Durchschrift der Beitrittserklärung wird mir unverzüglich<br />
nach Unterzeichnung zugesandt.<br />
Auf diesen Vertrag findet das Recht der Bundesrepublik<br />
Deutschland Anwendung.<br />
Soweit Vorteilskonditionen gewährt werden, die vom<br />
Bestehen der Mitgliedschaft zu einer Gewerk-<br />
Vorstand: Dr. Frank Keuper (Vors.), Dr. Patrick Dahmen,<br />
Wolfgang Hanssmann, Ulrich C. Nießen, Thomas Gerber,<br />
Dr. Heinz-Jürgen Schwering<br />
dem Ablauf der Widerrufsfrist liegt, bin ich damit einverstanden,<br />
dass der erste oder einmalige Beitrag (Einlösungsbeitrag)<br />
- abweichend von der gesetzlichen<br />
Regelung - vor Ablauf der Frist fällig d.h. unverzüglich zu<br />
zahlen ist.<br />
der Versicherer ein Unternehmen der AXA Gruppe oder<br />
eine Auskunftei eine auf der Grundlage mathematischstatistischer<br />
Verfahren erzeugte Einschätzung meiner<br />
Zahlungsfähigkeit bzw. der Kundenbeziehung (Scoring) einholt.<br />
III. Erklärungen zur Schweigepflichtentbindung und<br />
Verwendung von Gesundheitsdaten<br />
Schweigepflichtentbindung<br />
Zur Bewertung unserer Leistungspflicht kann es erforderlich<br />
werden, dass wir die Angaben prüfen, die zur Begründung<br />
von Ansprüchen gemacht werden oder die sich aus eingereichten<br />
Unterlagen (z.B. Rechnungen,Verordnungen, Gutachten)<br />
oder Mitteilungen beispielsweise eines Krankenhauses<br />
oder Arztes ergeben. Diese Überprüfung unter Einbeziehung<br />
von Gesundheitsdaten erfolgt nur, soweit hierzu<br />
ein Anlass besteht (z.B. Fragen zu Unfalltod oder Selbsttötung).<br />
Um diese Prüfung und Bewertung zu ermöglichen, geben<br />
Sie folgende Erklärung ab:<br />
a) Zum Zweck der Prüfung der Leistungspflicht befreie ich<br />
von ihrer Schweigepflicht Ärzte, Pflegepersonen und Bedienstete<br />
von Krankenhäusern, sonstigen Krankenanstallten,<br />
Pflegeheimen, Personenversicherern, gesetzlichen<br />
Krankenkassen sowie von Berufsgenossenschaften und<br />
Behörden, soweit ich dort in den letzten 10 Jahren vor<br />
Antragstellung untersucht, beraten oder behandelt worden<br />
bin bzw. versichert war oder einen Antrag auf Versicherung<br />
gestellt habe.<br />
b) Die Angehörigen des Versicherers und seiner Dienstleistungsgesellschaften<br />
befreie ich von ihrer Schweigepflicht<br />
insoweit, als Gesundheitsdaten an beratende Ärzte oder<br />
Gutachter weitergegeben werden. Wir werden Gesundheitsdaten<br />
nach den Absätzen a) und b) nur erheben zur Leistungspflichtprüfung.<br />
Datenverwendung<br />
Um die Datenverwendung zu ermöglichen, geben Sie<br />
folgende Erklärungen ab:<br />
a) Ich willige in die Verwendung der von den vorstehenden<br />
Schweigepflichtentbindungserklärungen erfassten Gesundheitsdaten<br />
zur Leistungsprüfung ein. Die Grundsätze der<br />
Datensparsamkeit und Datenvermeidung sind zu beachten.<br />
b) Ich willige ferner ein, dass die von den vorstehenden<br />
Schweigepflichtentbindungserklärungen erfassten Gesundheitsdaten<br />
unter Beachtung der Grundsätze der Datensparsamkeit<br />
und Datenvermeidung im Sinne der Ziffer II. Nr.<br />
1 (Vertragsabwicklung), Nr. 3 (Outsourcing an Dienstleister),<br />
Nr. 4 (Missbrauchsbekämpfung) und Nr. 5 (Beratung und<br />
Information) verwendet werden dürfen.<br />
Zur Missbrauchsbekämpfung im Rahmen einer besonderen<br />
Konzerndatenbank dürfen Gesundheitsdaten nur von<br />
Kranken-, Unfall- und Lebensversicherern eingesehen und<br />
verwendet werden (Ziffer II. 4).<br />
schaft/Vereinigung abhängig sind, erfolgt ein Datenabgleich<br />
mit dieser Organisation ohne Bekanntgabe der Versicherungsinhalte.<br />
Die für Ihre Versicherung zuständige Aufsichtsbehörde ist die<br />
Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin),<br />
Postfach 1308, 53003 Bonn, Internet: www.bafin.de.<br />
Unser Unternehmen ist Mitglied im Verein Versicherungsombudsmann<br />
e.V., Postfach 080632, 10006 Berlin.<br />
Anschrift:<br />
Frankfurter Straße 50<br />
65189 Wiesbaden
Immer noch ein Vorbild<br />
Vor 30 Jahren starb Heinrich Rodenstein<br />
„Wer war denn Heinrich<br />
Rodenstein? Muss<br />
man den kennen?“,<br />
fragen <strong>GEW</strong>-Mitglieder.<br />
Ja, denn er war<br />
nicht nur Lehrer,<br />
<strong>GEW</strong>-Vorsitzender<br />
sowie ein demokratisches<br />
und antifaschistisches<br />
Vorbild für<br />
die heutige Lehrergeneration.<br />
Er war auch<br />
ein international anerkannterBildungspolitiker<br />
der Nachkriegszeit.<br />
Heinrich Friedrich<br />
Heinrich Friedrich Henry Rodenstein<br />
Henry Rodenstein<br />
starb am 22. <strong>Dezember</strong><br />
1980 in Braunschweig. Sein bewegtes Leben endete<br />
an seinem Geburtsort. In Braunschweig wuchs er als Arbeiterkind<br />
auf. Das prägte ihn. Rodenstein wurde Volksschullehrer,<br />
erhielt aber im Juli 1933 von den Nazis Berufsverbot.<br />
Schon kurz danach emigrierte er mit Frau<br />
und Tochter über Holland, das Saarland nach Frankreich.<br />
Für die Braunschweiger Nazis war Rodenstein ein „rotes“<br />
Tuch. 1920 war er zunächst Mitglied der „Freien Sozialistischen<br />
Arbeiterjugend“, 1922 trat er in die KPD ein.<br />
Da er die stalinistische Entwicklung der KPdSU und deren<br />
Personenkult ablehnte, kam es 1929 zum Bruch mit<br />
der KPD. 1931 schloss er sich der Sozialistischen Arbeiterpartei<br />
(SAP) an. Der Sozialist war nicht nur ein politischer<br />
Kopf, er war auch ein engagierter Gewerkschafter.<br />
Bereits 1921 gehörte er der linken Freien Lehrergewerkschaft<br />
Deutschlands (FLGD) an, aus der 1928 in Braunschweig<br />
die Allgemeine Freie Lehrergewerkschaft<br />
Deutschlands (AFLD) hervorging. An diese Aktivitäten<br />
knüpfte Rodenstein nach der Befreiung vom Faschismus<br />
und seiner Rückkehr aus dem Exil nahtlos an. Er hatte gelernt,<br />
dass aus Sektierertum keine Veränderungen entstehen<br />
und so engagierte er sich für eine gemeinsame Organisation<br />
aller Lehrerinnen und Lehrer. 1947 wählte man<br />
ihn zum zweiten Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen<br />
Lehrerinnen- und Lehrerverbandes (ADLLV), der<br />
am 1. Oktober 1948 in den Deutschen Gewerkschaftsbund<br />
(DGB) aufgenommen wurde. Der neue Name:<br />
„Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft“ – die <strong>GEW</strong><br />
war gegründet. Von 1960 bis 1968 war Rodenstein <strong>GEW</strong>-<br />
Vorsitzender.<br />
Nach 1945 setzte er sich für eine wissenschaftliche Ausbildung<br />
der Volksschullehrkräfte an Hochschulen ein<br />
und bildete diese bis 1968 an der Pädagogischen Hochschule<br />
in Braunschweig auch aus.<br />
Diethelm Krause-Hotopp, Akademischer Oberrat<br />
an der TU Braunschweig, Institut für Erziehungswissenschaft<br />
Foto: unbekannt<br />
Hilfe für Burkina Faso<br />
Spendenaufruf des Heinrich-Rodenstein-Fonds<br />
Hilfe für Menschen in Not – das ist die Aufgabe<br />
des Heinrich-Rodenstein-Fonds, benannt nach<br />
dem früheren Vorsitzenden der <strong>GEW</strong> (s. nebenstehenden<br />
Artikel), der als politischer Flüchtling<br />
im Exil selbst erfuhr, wie lebenswichtig Solidarität<br />
sein kann. Der Heinrich-Rodenstein-Fonds<br />
agiert unbürokratisch, um schnell zu helfen. So etwa den Erdbebenopfern<br />
in Haiti, die Dank der Spenden von <strong>GEW</strong>-Mitgliedern<br />
zu Beginn diesen Jahres mit 15000 Euro unterstützt<br />
werden konnten. Oder in Burkina Faso, einem der ärmsten<br />
Länder Afrikas, in dem die Lebenserwartung niedrig ist und<br />
viele Kinder ohne Eltern oder als Halbwaisen heranwachsen.<br />
Für die meisten ist ein Schulbesuch aufgrund fehlender familiärer<br />
oder staatlicher Hilfe nicht möglich. Ohne Bildung können<br />
sie aus dem Teufelskreis der Armut nicht ausbrechen. Das<br />
Frauenkomitee der burkinischen Partnergewerkschaft der<br />
<strong>GEW</strong> Syndicat National des Travailleurs de l’Education et de<br />
la Recherche scientifique (SYNTER) fördert diese Kinder und<br />
erhält dafür Mittel aus dem Rodenstein-Fonds. Damit wenigstens<br />
einige die Schule besuchen können, ist SYNTER auf<br />
Spenden angewiesen. Die Schulkosten belaufen sich pro Jahr<br />
und Kind auf etwa 150 Euro.<br />
Helfen Sie mit, den Waisenkindern in Burkina Faso eine Zukunft<br />
zu geben. Wir garantieren, dass Ihre Spende den Jungen<br />
und Mädchen direkt zugute kommt – eins zu eins, ohne jede<br />
Abzüge. Denn im Unterschied zu vielen anderen Spendenorganisationen<br />
fallen beim Heinrich-Rodenstein-Fonds keine<br />
Verwaltungskosten an, da die <strong>GEW</strong> diese vollständig übernimmt.<br />
Foto: Sabine Tölke-Rückert<br />
Spendenkonto:<br />
Heinrich-Rodenstein-Fonds, Konto-Nr. 1 707 274 700<br />
SEB AG Frankfurt am Main, BLZ 500 101 11<br />
Internet: www.gew.de/Heinrich-Rodenstein-Fonds.html<br />
<strong>GEW</strong>-INTERN<br />
Der Heinrich-Rodenstein-<br />
Fonds verhilft Waisenkindern<br />
in Burkina Faso zum<br />
Schulbesuch.<br />
12/<strong>2010</strong> Erziehung und Wissenschaft 35
LESERFORUM<br />
„Sechser im Lotto“<br />
(E&W 9/<strong>2010</strong>, Seite 23: „Mehr<br />
Männer in die Kitas“<br />
Ich habe 20 Jahre als Schlosser gearbeitet,<br />
bis mir eine Abfindung<br />
ermöglichte, drei Jahre an der<br />
Fachschule Sozialpädagogik zu<br />
studieren. Heute bin ich 48 Jahre<br />
und seit etwa zehn Jahren als Erzieher<br />
tätig. In dieser Zeit habe<br />
ich nur ein Jahr als Vollzeitkraft<br />
gearbeitet. Heute eine Vollzeitstelle<br />
als Erzieher zu ergattern, ist fast<br />
wie ein „Sechser im Lotto“. Auch<br />
in Ganztagsschulen erhält man als<br />
Sozialpädagoge nur Teilzeitstellen.<br />
Damit kann man nicht mal<br />
mehr den eigenen Lebensunterhalt<br />
bestreiten und schon gar<br />
nicht eine Familie ernähren.<br />
H. Kemper, Gummersbach<br />
„Schönfärberei“<br />
(E&W 10/<strong>2010</strong>, Seite 9: Porträt<br />
„Unterm Strich eine Entlastung“<br />
in Schwerpunkt „Ganztag“)<br />
Im Porträt des Ganztagsschullehrers<br />
heißt es: „Wenn der 37-Jährige<br />
gegen 17, 18 Uhr den Heimweg antritt,<br />
hat er zehn Stunden in den<br />
Knochen.“ Der betreffende Kollege<br />
findet das gar nicht so anstrengend.<br />
Er arbeitet auch samstags<br />
noch „Liegengebliebenes“ ab. Ich<br />
frage mich, wann er korrigiert,<br />
Mappen, Portfolios und dergleichen<br />
durchsieht und Lernentwicklungsberichte<br />
schreibt? Hat der<br />
Kollege keinen Unterricht in einer<br />
Oberstufe? Wann korrigiert er<br />
Klausuren, für die man, je nach<br />
Schultaschen<br />
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36 Erziehung und Wissenschaft 12/<strong>2010</strong><br />
Unterrichtsfach, zirka eine Stunde<br />
pro Exemplar braucht? Wann<br />
korrigiert er sechsstündige Abiturarbeiten?<br />
Macht er das sonntags?<br />
Das, was hier dargestellt wird, ist<br />
Schönfärberei! An IGSen mit integrierter<br />
Oberstufe, und das sind<br />
zumindest in Niedersachsen<br />
ziemlich viele, wird es für Kolleginnen<br />
und Kollegen, die Vollzeit<br />
arbeiten, zunehmend schwieriger,<br />
den wachsenden Ansprüchen aus<br />
Mittelstufe und Oberstufe gerecht<br />
zu werden. Folge: Sie reduzieren<br />
ihre Stundenzahl. Man kann das<br />
auch als Lohnkürzung sehen.<br />
Ute Lamping, Bremen<br />
„Ungutes Gefühl“<br />
(E&W 10/<strong>2010</strong>, Seite 28: Interview<br />
„Die Schwächsten brauchen<br />
die besten Lehrkräfte“)<br />
Wenn ich lese, dass der Bildungsforscher<br />
Jürgen Baumert die Lehrerausbildung<br />
in Nordrhein-Westfalen<br />
(NRW) lobt, bleibt für mich<br />
als Lehrer an Gymnasien und<br />
Lehrbeauftragtem für Physik und<br />
ihre Didaktik in NRW ein sehr<br />
ungutes Gefühl zurück. Wenn<br />
Studierende für Naturwissenschaften<br />
der Sekundarstufe I in einer<br />
Anfängerübung an der Aufgabe<br />
(Vorsicht: keine Glosse!) „drei<br />
mal acht“ oder „180 durch 36“<br />
scheitern und dem Dozenten derartige<br />
„Anforderungen“ als überzogen<br />
vorgeworfen werden, fragt<br />
man sich, wie sie denn den doch<br />
recht hohen Numerus clausus geschafft<br />
haben.<br />
Rudolf Spiegel, Köln<br />
Verschiedenes<br />
„Unpädagogisch“<br />
(E&W 11/<strong>2010</strong>, Karikatur Seiten 3<br />
und 6)<br />
Mit ihren Hausaufgabenkorrekturen<br />
macht sich die Kollegin nicht<br />
nur „so einen Stress“, sondern sie<br />
handelt auch unpädagogisch, indem<br />
sie kommentarlos „Fünf!“<br />
darunter schreibt und diese Note<br />
sogar noch der Klasse zeigt. Stattdessen<br />
sollte sie die Schülerleistung,<br />
so unvollkommen sie sein<br />
mag, würdigen und Hilfe zur Verbesserung<br />
anbieten. Übrigens:<br />
Hausaufgaben werden in der<br />
Grundschule nicht benotet.<br />
Paul de Vooght, Aidlingen<br />
„Kaum gerecht“<br />
(E&W 11/<strong>2010</strong>, Seite 24: „Die totale<br />
Ungerechtigkeit“)<br />
Es muss an der Sprache liegen,<br />
aber Matthias Holland-Letz‘Artikel<br />
über die Bezahlung der Lehrkräfte<br />
in den Integrationskursen<br />
wird dem Skandal ihrer Unterfinanzierung<br />
kaum gerecht. Prekär<br />
sei unsere Lage, schreibt er, ganz<br />
als ob es Wörter wie „elend“,<br />
„demütigend“, „unerträglich“<br />
nicht gäbe. Wenn eine Kollegin,<br />
die „totale Ungerechtigkeit“ be-<br />
klagt, so „schimpft“ sie, wenn eine<br />
andere auf das übliche ruinöse<br />
Sommerloch hinweist, dann zitiert<br />
der Autor sie lediglich mit einem<br />
resigniert seufzenden: „Das<br />
kann es ja nicht sein.“ So lässt der<br />
Artikel merkwürdig kalt, obwohl<br />
kaum etwas die gegen die wirtschaftlich<br />
Schwächeren gerichtete<br />
Politik der letzten drei Bundesregierungen<br />
so gut zusammenfasst<br />
wie das Tagelöhnerwesen bei den<br />
Integrationskursen. Vielleicht entsteht<br />
dieser Eindruck aber auch,<br />
weil Holland-Letz ein entscheidendes<br />
Detail gar nicht erwähnt:<br />
Ob 218 Millionen oder 59 Millionen<br />
weniger im Jahr für die Kurse<br />
zur Verfügung stehen, wird so lange<br />
nichts an der Situation der<br />
Lehrkräfte ändern, wie Bundesinnenminister<br />
Lothar de Maizière<br />
(CDU) und das Bundesamt für<br />
Migration und Flüchtlinge<br />
(BAMF) am Kostensatz von 2,35<br />
Euro pro Teilnehmer und Unterrichtseinheit<br />
festhalten.<br />
Karl Kirsch (per E-Mail)<br />
E &W-Briefkasten<br />
Postanschrift der Redaktion:<br />
Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft<br />
Postfach 900409, 60444 Frankfurt a. M.,<br />
E-Mail: renate.koerner@gew.de<br />
Die E&W-Rubrik „Anschlagtafel“ ist auf<br />
unserer Website unter www.gew.de/<strong>GEW</strong>-<br />
Anschlagtafel. html zu finden.
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