Die Bündner Kulturbahn 2022
18. Jahrgang, 2021 | 2022
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Ein lukrativer Job für den Jüngling, verdiente er doch
monatlich 1027 Franken. Ein stattlicher Lohn! Und weil
Adriano seine Arbeit zur vollsten Zufriedenheit verrichtete,
kam eines schönen Tages sein Chef zu ihm und machte ihm
ein Angebot: Er werde befördert, vom Monteur zum Prüfer,
Arbeitsort Bern. Das sei schon sehr verlockend gewesen, erinnert
er sich, doch die Sehnsucht nach der Heimat überwog.
Schon in Chur konnte er sich nie richtig mit dem Stadtleben
anfreunden, wie schwierig wäre es erst in Bern geworden?
«Ich hatte halt Sehnsucht nach dem Puschlav, wollte zurück
in die Berge, in die Natur; ich wollte fischen und jagen, das
war meine Berufung, meine Leidenschaft!» Als er dann noch
von seinem Grossvater erfuhr, dass die RhB in Pontresina
eine Stelle als Handwerker und Wagenführeranwärter ausgeschrieben
hatte, war für ihn klar: Auch wenn es vorerst keine
Rückkehr ins heimatliche Poschiavo werden sollte, diese
Chance galt es zu nutzen – ab ins Engadin!
Am 1. Juli 1965 hatte der junge Puschlaver seinen ersten
Arbeitstag in der Pontresiner Depotwerkstätte. Doch als
er Ende Monat den Lohn ausbezahlt bekam, machte er ein
langes Gesicht: 890 «Fränkli» habe er bei der RhB verdient,
erzählt er. «Ich weiss noch genau, dass ich meinem Nonno
ganz enttäuscht sagte,
das kann’s ja nicht sein,
ich gehe wieder weg
von der Bahn zurück zur
Firma Hasler, dort verdiene
ich wenigstens
Josef Friedrich Braun
anständig! Doch mein
Nonno erwiderte: ‹Hör
zu Adriano, selbst wenn du bei der Bahn nur einen Tropfen
kriegst, du kriegst ihn immer! Sei dir dessen stets bewusst!›»
Adriano drückt den Zigarettenstummel in den Aschenbecher,
denkt einem Moment nach und sagt dann: «Zum Glück
bin ich dem Rat meines Nonno gefolgt. Das wäre sonst
schön in die Hosen gegangen. Bei Hasler wurden nämlich
nur ein paar Jahre später alle Telefonzentralen-Monteure
mangels Bedarf auf die Strasse gestellt; sie wurden Opfer
des Fortschritts. Da habe ich Schwein gehabt, bin ich bei der
RhB geblieben. Trotz des bescheidenen Lohns.»
«Selbst wenn du bei der Bahn
nur einen Tropfen kriegst,
du kriegst ihn immer!
Sei dir dessen stets bewusst!»
Von der Putzgrube in den Führerstand
Im Gegensatz zu heute, wo angehende Lokführerinnen und
Lokführer praktisch nahtlos und ohne sich gross die Hände
schmutzig zu machen vom Theorieunterricht in den Führerstand
wechseln, begann die Laufbahn von Adriano quasi «in
der Putzgrube». Eine schmutzige und körperlich anstrengende
Arbeit: Bremsklötze wechseln, Motoren kontrollieren,
Puffer schmieren.
Dazwischen – je nach Arbeitsauslastung – immer wieder ein
bisschen Theorie und Fahrpraxis; ein fixer Ausbildungsplan
existierte nicht. Die saisonale Verkehrsauslastung und der
damit verbundene Personalbedarf diktierten das Tempo der
Ausbildung. Adriano hatte Glück: Nach nur sieben Monaten
legte er die Prüfung ab – er war gerade mal 22. «Lange war
ich der jüngste Motorwagenführer am Bernina. Am Anfang,
wenn ich einen Zug eines Kollegen übernahm oder wenn
ich abgelöst wurde, musste ich mir immer wieder die Frage
gefallen lassen, ob ich junger Schnaufer überhaupt schon
alleine fahren dürfe …»
Aber auch nach der Ausbildung verbrachten die jungen Wagenführer
viel Zeit als Handwerker im Depot; kurzfristige
Fahrleistungen wurden spontan vergeben. Flexibilität war
also gefordert; eine feste Einteilung gab es nur für das ältere
Fahrpersonal. Wie froh sei er gewesen, wenn mal einer der
eingeteilten Kollegen krank wurde oder Ferien hatte und er
einspringen durfte, erinnert sich Adriano. Nur im Sommer,
da sei er nie zu kurz gekommen, erzählt er, während er in
der Innentasche seiner Jacke das Zigarettenpäckli hervorkramt.
«Während der Saison, wenn bei gutem Wetter die
Züge Richtung Berninapass regelrecht von sonnenhungrigen
Unterländern überrannt wurden, kam es immer wieder
vor, dass der Depotchef vom Bahnhofsvorstand kurzfristig
beauftragt wurde, sofort einen Vorspanntriebwagen bereit
zu stellen, weil der Zug für einen Triebwagen zu schwer war.
Oder es wurden Zusatzzüge bis Alp Grüm angeordnet. Für
solche spontanen Einsätze kamen dann wir Jungen zum Zug.
Da blieb nicht mal Zeit zum Umziehen; ich konnte mir knapp
die Hände waschen und schon war ich – im blauen Mechaniker-‹Übergwändli›
– unterwegs auf der Strecke.
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