Offene Tore 2000 - Orah.ch
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OFFENE TORE<br />
BEITRÄGE ZU EINEM NEUEN CHRISTLICHEN ZEITALTER<br />
Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong><br />
Das Weinwunder in Kana (Joh 2,1-11)<br />
von Thomas Noack<br />
Unsere Erzählung beginnt mit einer Zeitangabe: "Am dritten Tag war eine Ho<strong>ch</strong>zeit in<br />
Kana in Galiläa" (Joh 2,1). S<strong>ch</strong>on das erste Kapitel war dur<strong>ch</strong> Tageszählungen gekennzei<strong>ch</strong>net<br />
(Joh 1,29.35.43), die die ges<strong>ch</strong>ilderten Ereignisse auf vier Tage verteilen. 1 Das<br />
alles ges<strong>ch</strong>ieht no<strong>ch</strong> vor der Gefangennahme Johannes des Täufers (siehe Joh 3,24). Die<br />
Synoptiker hingegen lassen die öffentli<strong>ch</strong>e Wirksamkeit Jesu erst na<strong>ch</strong> der Gefangennahme<br />
des Täufers beginnen (Mt 4,12; Mk 1,14; evtl. au<strong>ch</strong> Lk 3,20). Das JohEv ist demna<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t nur dasjenige Evangelium, das die Abs<strong>ch</strong>iedsreden und -handlungen am ausführli<strong>ch</strong>sten<br />
s<strong>ch</strong>ildert, sondern zuglei<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> dasjenige, das die bei den Synoptikern<br />
fehlenden Anfangsereignisse na<strong>ch</strong>trägt. Diese Beoba<strong>ch</strong>tung deckt si<strong>ch</strong> mit einer Bemerkung,<br />
die wir bei Eusebius von Caesarea (gest. 339/340) finden: "Na<strong>ch</strong>dem die zuerst<br />
ges<strong>ch</strong>riebenen drei Evangelien bereits allen und au<strong>ch</strong> dem Johannes zur Kenntnis gekommen<br />
waren, nahm dieser sie … an und bestätigte ihre Wahrheit und erklärte, es fehle<br />
den S<strong>ch</strong>riften nur no<strong>ch</strong> eine Darstellung dessen, was Jesus zunä<strong>ch</strong>st, zu Beginn seiner<br />
Lehrtätigkeit, getan habe." (HE 3,24,7). Das JohEv ist so gesehen das Evangelium<br />
der Anfänge des öffentli<strong>ch</strong>en Wirkens Jesu. John A. T. Robinson erwägt in seinem Bu<strong>ch</strong><br />
"Johannes, das Evangelium der Ursprünge" 2 den Gedanken, "daß die ersten Tage einer<br />
neuen Lebensform, vor allem na<strong>ch</strong> einer Bekehrung, dahin tendieren, als besonders be-<br />
1 Die vier Tage des ersten Kapitels in Verbindung mit dem dritten Tag der Ho<strong>ch</strong>zeit ergeben sieben<br />
oder se<strong>ch</strong>s Tage. Die Kommentare sind in dieser Frage uneins. Auf jeden Fall s<strong>ch</strong>eint mir hier ein<br />
Anklang an den S<strong>ch</strong>öpfungsberi<strong>ch</strong>t Genesis 1 (se<strong>ch</strong>s Tage) bzw. Genesis 1 und 2 (sieben Tage) vorzuliegen,<br />
zumal s<strong>ch</strong>on der Prolog Joh 1,1-18 deutli<strong>ch</strong> an Genesis 1 anknüpft. Demna<strong>ch</strong> würde das JohEv<br />
Jesus und seine Wirksamkeit als neue S<strong>ch</strong>öpfung verstehen. Dies wäre ferner ein Hinweis darauf,<br />
dass au<strong>ch</strong> die Apokalypse, die ja ebenfalls auf eine neue S<strong>ch</strong>öpfung zuläuft, von demselben Verfasser<br />
wie au<strong>ch</strong> das Evangelium stammt.<br />
2 Es ers<strong>ch</strong>ien 1985 unter dem englis<strong>ch</strong>en Originaltitel "The Priority of John". Erst 1999 kam die deuts<strong>ch</strong>e<br />
Übersetzung interessanterweise auf Betreiben eines Professors für Ostkir<strong>ch</strong>enkunde auf den<br />
Markt. Die grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>ige Kir<strong>ch</strong>e nennt Johannes seit dem 4. Jahrhundert "den Theologen"<br />
s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 2<br />
deutsam erinnert zu werden." 3 Der tagebu<strong>ch</strong>artige Stil zu Beginn des JohEv könnte also<br />
ein Indiz dafür sein, dass si<strong>ch</strong> hier ein Augenzeuge (siehe Joh 21,24) daran erinnert, wie<br />
alles begann. Au<strong>ch</strong> das Weinwunder in Kana gehört no<strong>ch</strong> in diese früheste Zeit; es ist<br />
der "Anfang der Zei<strong>ch</strong>en" (Joh 2,11).<br />
Das Weinwunder ges<strong>ch</strong>ah wie die Auferstehung am dritten Tag. Das zeigt: Das erste<br />
Zei<strong>ch</strong>en blickt bereits auf das letzte voraus. Die Auferstehung ges<strong>ch</strong>ah am dritten Tag<br />
na<strong>ch</strong> der Versu<strong>ch</strong>ung am Kreuz. Ähnli<strong>ch</strong> die Ho<strong>ch</strong>zeit. Au<strong>ch</strong> sie ges<strong>ch</strong>ah na<strong>ch</strong> einer<br />
Versu<strong>ch</strong>ung, denn der dritte Tag bezieht si<strong>ch</strong> hier auf die Rückkehr Jesu aus der Wüste<br />
bei Bethanien (siehe Joh 1,23.28). Diesen Wüstenaufenthalt füllen die Synoptiker mit<br />
den bekannten vierzigtägigen Versu<strong>ch</strong>ungen Jesu. In beiden Fällen, am Anfang und am<br />
Ende der Wirksamkeit Jesu, handelt es si<strong>ch</strong> also um eine große Freude na<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>werer<br />
Bedrängnis.<br />
Es gibt weitere Hinweise darauf, dass das Weinwunder die Auferstehung anzeigen sollte.<br />
So sagt Jesus: "Meine Stunde ist no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t da." (Joh 2,4). Historis<strong>ch</strong> ist damit gemeint,<br />
dass si<strong>ch</strong> Jesus als Gast auf dieser Ho<strong>ch</strong>zeit um den Wein zumindest vorerst<br />
ni<strong>ch</strong>t kümmern musste. Do<strong>ch</strong> darüber hinaus bezei<strong>ch</strong>net die Stunde im JohEv die Verherrli<strong>ch</strong>ung<br />
dur<strong>ch</strong> die Erhöhung am Kreuz (Joh 12,27; 17,1). Daher ist Jesu Wort, dass<br />
seine Stunde no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t da sei, typis<strong>ch</strong> johanneis<strong>ch</strong> vieldeutig. Wer nur den Wortsinn<br />
hört, verfehlt den Geistsinn. Ferner ist darauf zu a<strong>ch</strong>ten, dass Jesus dur<strong>ch</strong> die Wandlung<br />
des Wassers in Wein seine Herrli<strong>ch</strong>keit offenbarte (Joh 2,11); au<strong>ch</strong> hier ist an die letzte<br />
große Wandlung im Leben Jesu zu denken; an seine Verherrli<strong>ch</strong>ung, spri<strong>ch</strong> Vergöttli<strong>ch</strong>ung.<br />
So ist das erste Zei<strong>ch</strong>en Alpha und Omega in einem. No<strong>ch</strong> war Jesu Mission den<br />
Juden, die immerhin die Ankunft eines Messias erwarteten, mehr oder weniger verborgen.<br />
Der Täufer hatte Verheißungsvolles von diesem in der Gegend bekannten Jesus aus<br />
Nazareth gesagt (siehe Joh 1). Man lud ihn zu einer Ho<strong>ch</strong>zeit ein, - und dort enthüllte er,<br />
was die Anwesenden freili<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verstanden, sein künftiges, welterlösendes S<strong>ch</strong>icksal.<br />
Er offenbarte in diesem Zei<strong>ch</strong>en seine Herrli<strong>ch</strong>keit.<br />
Der Evangelist nennt es den "Anfang der Zei<strong>ch</strong>en" (Joh 2,11); dabei verwendet er dasselbe<br />
Wort, mit dem er au<strong>ch</strong> seine Frohbots<strong>ch</strong>aft als Ganze beginnen läßt: "Im Anfang<br />
war das Wort usw." Gemeint ist jeweils ni<strong>ch</strong>t bloß der zeitli<strong>ch</strong>e Anfang, sondern das<br />
Prinzip, die Grundlage, die Ursa<strong>ch</strong>e. Das Weinwunder ist daher ni<strong>ch</strong>t nur, wie meist<br />
übersetzt wird, "das erste Zei<strong>ch</strong>en". Es ist der Inbegriff des gesamten Wirkens und aller<br />
Zei<strong>ch</strong>en Jesu. Es zeigt die große Vergeistigungswirksamkeit Jesu an.<br />
Dass die Wandlung von Wasser in Wein etwas Prinzipielles des Wirkens Jesu anzeigt,<br />
mag au<strong>ch</strong> daraus ersehen werden, dass das Wasser im JohEv häufig eine Rolle spielt. Er-<br />
3 John A. T. Robinson, Johannes - Das Evangelium der Ursprünge, Wuppertal 1999, 174.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 3<br />
innert sei an die folgenden Sa<strong>ch</strong>verhalte der Kapitel 1 bis 7: Der Täufer und Fis<strong>ch</strong>er als<br />
Jünger (Joh 1), das Weinwunder in Kana (Joh 2), die Wiedergeburt aus Wasser und Geist<br />
(Joh 3), das Gesprä<strong>ch</strong> am Jakobsbrunnen mit dem Motiv des lebendigen Wassers (Joh 4),<br />
die Heilung am Tei<strong>ch</strong> Bethesda (Joh 5), Jesu Gang auf dem Wasser (Joh 6) und das Wasserwort<br />
anläßli<strong>ch</strong> des Laubhüttenfestes (Joh 7). Und in den Abs<strong>ch</strong>iedsreden nennt si<strong>ch</strong><br />
Jesus den wahren Weinstock. Damit s<strong>ch</strong>ließt das Evangelium gewissermaßen so wie es<br />
beginnt: mit der Wandlung von Wasser in Wein. Denn die Aufgabe des Weinstocks ist<br />
die Veredelung des Wassers.<br />
Wein ist im inneren Sinn der Einfluß des Geistigen. Für diese Deutung gibt es einige<br />
Anhaltspunkte im Text des JohEv: Die Stunde (Joh 2,4) ist die, in der Jesus zum Vater<br />
geht, von wo er den Geist der Wahrheit (Joh 15,26) sendet. Na<strong>ch</strong> Joh 2,9 weiß der Speisemeister<br />
ni<strong>ch</strong>t, woher der Wein ist. Glei<strong>ch</strong>es gilt na<strong>ch</strong> Joh 3,8 für den Geist: "Der<br />
Geist/Wind bläst, wo er will; du hörst seine Stimme/sein Sausen, aber du weißt ni<strong>ch</strong>t,<br />
woher er kommt und wohin er geht." E<strong>ch</strong>te Spiritualität ist unergründli<strong>ch</strong>; ihr göttli<strong>ch</strong>es<br />
Woher bleibt unerkannt. Wer im Wein die Gabe des Geistes erkennen kann, dem zeigt<br />
si<strong>ch</strong> ein Zusammenhang der Kapitel 1 bis 3: Zuerst weist der Wassertäufer auf den<br />
Geistträger (Joh 1,29-34), dann offenbart dieser seine Herrli<strong>ch</strong>keit als Geistspender, indem<br />
er das Wasser der Taufe in den Wein des Abend- oder Ho<strong>ch</strong>zeitsmahls wandelt (Joh<br />
2,1-11) und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> spri<strong>ch</strong>t er von der Wirkung des Geistes, das heißt von der Wiedergeburt<br />
aus Wasser und Geist (Joh 3). Das Weinwunder besagt: Aus Wissen soll<br />
Weisheit werden; aus Glaubenswissen Lebensweisheit, e<strong>ch</strong>te Spiritualität. Oder mit<br />
Swedenborgs Worten gesagt: "Der Herr ma<strong>ch</strong>te Wasser zu Wein. Das bedeutet, er ma<strong>ch</strong>te<br />
das Wahre der äußeren Kir<strong>ch</strong>e zum Wahren der inneren Kir<strong>ch</strong>e, indem er das Innere,<br />
das im Äußeren verborgen war, aufs<strong>ch</strong>loss." (AE 376).<br />
Das Geistwirken Jesu zielt auf das innere Verstehen der äußeren Begriffe und Rituale.<br />
Diese Vorformen oder Gefäße des Geistigen wurden dur<strong>ch</strong> die "se<strong>ch</strong>s steinernen Wasserkrüge<br />
für die Reinigung der Juden" (Joh 2,6) angedeutet. Sie stehen zunä<strong>ch</strong>st für die<br />
äußeren Reinigungspraktiken zur Zeit Jesu; dann aber au<strong>ch</strong> für unsere Begriffsbildungen,<br />
mit denen wir glauben, den inneren Läuterungsprozeß zu erfassen. Jesu Wandlung<br />
des Wassers in Wein knüpft an die vorhandenen Krüge an. Sie sind also ni<strong>ch</strong>t nutzlos;<br />
so sind au<strong>ch</strong> unsere Vorstellungen, die wir uns vom Wiedergeburtsges<strong>ch</strong>ehen bilden<br />
ni<strong>ch</strong>t nutzlos, obglei<strong>ch</strong> sie das Geheimnis nur sehr vorläufig darstellen können. Jesus<br />
knüpft an diese Krüge und dieses Wasser der Reinigung an. Indem er aus genau diesem<br />
Wasser Wein ma<strong>ch</strong>t, sagt er: Dieser Wein ist eure Reinigung. Denn in der Tat: Die Vergeistigung<br />
der Begriffsbilder ist ni<strong>ch</strong>t nur ein Erkenntnisgewinn. Wo das mehr oder weniger<br />
kühle Glaubenswasser zu Wein wird, da hüpft das Herz, da jubelt die Seele, da<br />
kehrt Freude in das Haus ein. Da ges<strong>ch</strong>ieht das wahre Abendmahl, denn die reinigende<br />
Kraft des Weines bewirkt die Vergebung der Sünden (Mt 26,28).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 4<br />
Die Mutter Jesu ist die Kir<strong>ch</strong>e. Swedenborg hat sehr s<strong>ch</strong>ön beoba<strong>ch</strong>tet, dass Jesus Maria<br />
nie seine Mutter nannte (LH 35). Glei<strong>ch</strong>wohl nennt sie der Evangelist so (Joh 2,1). Die<br />
Kir<strong>ch</strong>e kann den göttli<strong>ch</strong>en Geist ni<strong>ch</strong>t gebären. Vielmehr gilt: Aus der Wirksamkeit des<br />
göttli<strong>ch</strong>en Geistes ersteht die Kir<strong>ch</strong>e in uns. Denno<strong>ch</strong> hat es den Ans<strong>ch</strong>ein als sei die<br />
Kir<strong>ch</strong>e die Mutter Jesu. Sie hat eine hinweisende Funktion, indem sie sagt: "Was immer<br />
er eu<strong>ch</strong> sagt, das tut." (Joh 2,5). S<strong>ch</strong>enken wir diesem Ruf der Kir<strong>ch</strong>e Gehör; dann wird<br />
aus Seelenwasser Geistwein.<br />
Jakobs Frauen und Kinder<br />
Aspekte der Kir<strong>ch</strong>e im Mens<strong>ch</strong>en<br />
von Thomas Noack<br />
Wer ist Jakob in uns?<br />
Jakob entspri<strong>ch</strong>t "dem Wahren auf der Ebene des Göttli<strong>ch</strong> Natürli<strong>ch</strong>en" 4 (3279) 5 . Was<br />
heißt das? Im Denken Swedenborgs hängen das Gute und Wahre eng zusammen (vgl.<br />
beispielsweise NJ 11ff). Das Wahre wird als die Form oder Gestalt des Guten verstanden<br />
(forma boni: 668). Das hat zahlrei<strong>ch</strong>e Implikationen; zum Beispiel, daß das bloße (Gedä<strong>ch</strong>tnis)wissen<br />
ni<strong>ch</strong>t wahr sein kann, solange es ni<strong>ch</strong>t Ausdruck (forma) der Wärme<br />
oder Güte des Herzens ist. In den Offenbarungstexten dur<strong>ch</strong> Jakob Lorber (1800 - 1864)<br />
begegnet uns dieser Sa<strong>ch</strong>verhalt als das Herzdenken und die damit verbundene Gehirnlehre<br />
(vgl. GEJ II,62,1-5). Das Wahre ohne das Gute ist ein Unding (eine Lüge). Glei<strong>ch</strong>wohl<br />
können die bloßen Formen (Engramme) - Swedenborg nennt sie die Wissensdinge<br />
(scientifica) - eine Zeitlang ohne das Wesen des Guten existieren (das ist die formale<br />
oder intellektuelle Bildung). Do<strong>ch</strong> im Prozeß der Neugeburt der Geisteskräfte (regeneratio)<br />
muß si<strong>ch</strong> das Wahre des Bewußtseins früher oder später der Ma<strong>ch</strong>t des von innen<br />
her einfließenden Guten beugen (dargestellt in Genesis 33). Jakobs Biographie versinnbildli<strong>ch</strong>t<br />
den zeitweiligen Vorrang des Wahrheitsbewußtseins gegenüber den viel subtileren<br />
und lange Zeit unbewußt bleibenden Beeinflussungen dur<strong>ch</strong> das Gute des inneren<br />
Geisteslebens. Soweit einige Erläuterungen zum Wahren.<br />
Ni<strong>ch</strong>t minder klärungsbedürftig ist der Begriff des Göttli<strong>ch</strong> Natürli<strong>ch</strong>en (Divinum Naturale).<br />
Hier muß i<strong>ch</strong> sofort eine ganz grundsätzli<strong>ch</strong>e Eins<strong>ch</strong>ränkung ma<strong>ch</strong>en; meine Auslegung<br />
der Geburtenfolge der Jakobssöhne wird si<strong>ch</strong> auf die Wiedergeburt des Mens<strong>ch</strong>en<br />
bes<strong>ch</strong>ränken müssen, wobei i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> (au<strong>ch</strong> das eine Eins<strong>ch</strong>ränkung) im Horizont<br />
4 Divinum Naturale … quoad verum.<br />
5 Zahlen ohne Bu<strong>ch</strong>stabenkürzel beziehen si<strong>ch</strong> auf die "Himmlis<strong>ch</strong>en Geheimnisse".
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 5<br />
einer kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> gebundenen Spra<strong>ch</strong>e bewegen werde. Man soll aber wissen, daß das<br />
göttli<strong>ch</strong>e Wort, die Heilige S<strong>ch</strong>rift oder Bibel, im innersten Grunde ni<strong>ch</strong>ts anderes ist als<br />
der göttli<strong>ch</strong>e Logos (Johannesprolog), der im Anfang aller Dinge s<strong>ch</strong>on gespro<strong>ch</strong>en (Genesis<br />
1) und in der großen Zeit der Zeiten als das fleis<strong>ch</strong>gewordene Wort das Urwesen<br />
Gottes ausgelegt hat (Joh 1,18). Daher zielt die hö<strong>ch</strong>ste Interpretationsstufe der Heiligen<br />
S<strong>ch</strong>rift auf die Verherrli<strong>ch</strong>ung des Herrn (glorificatio Domini); diese Sinnebene berühre<br />
i<strong>ch</strong> im folgenden jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t.<br />
Deswegen wird das Göttli<strong>ch</strong> Natürli<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t als die eigentli<strong>ch</strong>e Gottnatur vorgestellt,<br />
sondern auf die Erfahrbarkeit des göttli<strong>ch</strong>en Einflusses in der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Natur reduziert.<br />
Die drei Erzväter, also Abraham, Isaak und Jakob, bezei<strong>ch</strong>nen dann die stufenweise<br />
Bewußtwerdung der Gotteskraft (Abraham) vermittelt dur<strong>ch</strong> die Ratio (Isaak) in<br />
der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Erfahrungswelt (Jakob und Esau). Dort ist erkennbar, sofern man si<strong>ch</strong><br />
von der Vernunft 6 leiten lassen will, daß das Gute und Wahre die natürli<strong>ch</strong>en Ausläufer<br />
einer transzendenten Wirkli<strong>ch</strong>keit sind; andernfalls wären sie der Willkür, Beliebigkeit<br />
und Definitionsma<strong>ch</strong>t der Mens<strong>ch</strong>enwelt unterstellt und ausgeliefert. Man kann ahnen,<br />
daß das Gute und Wahre ewige Werte sind, wennglei<strong>ch</strong> ihr konkreter Inhalt immer wieder<br />
neu bestimmt werden muß; als ewige Forderung an uns Mens<strong>ch</strong>en können sie ihren<br />
Ursprung ni<strong>ch</strong>t in der Zeitli<strong>ch</strong>keit haben. Das Göttli<strong>ch</strong> Natürli<strong>ch</strong>e ist also in der alle<br />
Mens<strong>ch</strong>heitsepo<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong>ziehenden Frage und Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> dem Guten und Wahren<br />
greifbar.<br />
Wieso bezei<strong>ch</strong>net ausgere<strong>ch</strong>net Jakob, der Betrüger, das Wahre? Wäre es ni<strong>ch</strong>t angemessener,<br />
wenn er für das Fals<strong>ch</strong>e stünde? Diese Alternative ist keine wirkli<strong>ch</strong>e, denn<br />
jeder Mens<strong>ch</strong> hält sein Fals<strong>ch</strong>es für wahr. Vor Gott sind Wahrheit und Fals<strong>ch</strong>heit ewig<br />
unvereinbar; in der Mens<strong>ch</strong>enwelt aber wird diese Wahlmögli<strong>ch</strong>keit oft nur unzurei<strong>ch</strong>end<br />
und vers<strong>ch</strong>wommen wahrgenommen. Man nimmt es mit der Wahrheit ni<strong>ch</strong>t so<br />
genau, so daß die größten Irrtümer zur allgemein anerkannten Überzeugung einer Zeit<br />
gehören können; au<strong>ch</strong> im individuellen Leben können Selbstbetrug und Phantasiewelten<br />
einen ganzen Lebenslauf beherrs<strong>ch</strong>en, ohne daß die betreffende Person es merkt.<br />
Zudem zeigt ein Blick in die Jakobserzählungen, daß er keineswegs nur als Betrüger<br />
dargestellt wird. Gewiß, Esaus Entsetzen na<strong>ch</strong> dem Segensbetrug hat Jakobs Namen für<br />
alle Zeiten mit der Anfrage verbunden: "Heißt er etwa deswegen Jakob, weil er mi<strong>ch</strong><br />
nun s<strong>ch</strong>on zweimal hintergangen hat?" (Gen 27,36). Nomen est omen! Jakob und das<br />
hebr. Verb für hintergehen, betrügen usw. 7 lauten glei<strong>ch</strong>. Aber Jakob ist ni<strong>ch</strong>t nur der<br />
6 Vernunft kommt von vernehmen. Sie ist die Fähigkeit das Wahre höherer Welten wie von ferne zu<br />
vernehmen.<br />
7 Der Name Jakob wird in Genesis 25,26 von "Ferse" und in Genesis 27,36 von "hintergehen / jmd.<br />
ein Bein stellen" (Swe.: supplantare von planta = Fußsohle) abgeleitet. In beiden Fällen spielt der
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 6<br />
Betrüger; es heißt au<strong>ch</strong>: "Jakob war ein sittenreiner Mann (Swe.: vir integer), der in Zelten<br />
wohnte" (Gen 25,27). Das hier mit "sittenrein" übersetzte hebr. Wort dient au<strong>ch</strong> zur<br />
Charakterisierung des frommen Hiob (Hiob 1,1.8; 2,3) und in lei<strong>ch</strong>t veränderter Form 8<br />
zur Charakterisierung des untadeligen Noah (Gen 6,9) und des re<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>affenen Abram<br />
(Gen 17,1). Den interessierten Leser verweise i<strong>ch</strong> auf Swedenborgs Ausführungen über<br />
dieses Wort in 612, 1994 und 3311. Aufhor<strong>ch</strong>en läßt au<strong>ch</strong>, daß Jakob in Zelten wohnte;<br />
Zelte bezei<strong>ch</strong>nen das Heilige der Liebe und des Gottesdienstes (3312). Jakob versinnbildli<strong>ch</strong>t<br />
also den in der ethis<strong>ch</strong>en Wahrheit wohnenden und lebenden Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Diese makellose Persönli<strong>ch</strong>keit hat jedo<strong>ch</strong> ihre S<strong>ch</strong>attenseiten. Aufs<strong>ch</strong>lußrei<strong>ch</strong> ist Jakobs<br />
Selbst<strong>ch</strong>arakterisierung: "I<strong>ch</strong> bin ein glatter Mann (Swe.: vir levis)" (Gen 27,11).<br />
Ein Mann ohne Ecken und Kanten. Vor sol<strong>ch</strong>en anständigen Leuten sollte man si<strong>ch</strong> in<br />
A<strong>ch</strong>t nehmen! Ganz ähnli<strong>ch</strong> wie im Deuts<strong>ch</strong>en hat nämli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> im Hebräis<strong>ch</strong>en das<br />
Wort glatt die Nebenbedeutung "eins<strong>ch</strong>mei<strong>ch</strong>elnd", beispielsweise im Psalter: "Ihre<br />
Kehle ist ein offenes Grab, (aal)glatt ist ihre Zunge." (Ps 5,10). Jakob ist also eine ambivalente<br />
Gestalt; do<strong>ch</strong> gerade in dieser Doppelwertigkeit ein guter Spiegel, um si<strong>ch</strong> der<br />
Brü<strong>ch</strong>e, die dur<strong>ch</strong> die eigene Existenz gehen und gerade au<strong>ch</strong> bei religiösen Mens<strong>ch</strong>en<br />
zu finden sind, bewußt zu werden.<br />
Ra<strong>ch</strong>el und Lea<br />
Ra<strong>ch</strong>el ist die große Liebe Jakobs. Der sonst so intellektuelle, auf seinen Vorteil beda<strong>ch</strong>te<br />
Jakob wird beim Anblick der s<strong>ch</strong>önen Ra<strong>ch</strong>el von seinen Gefühlen überwältigt: "Jakob<br />
küsste Ra<strong>ch</strong>el und erhob seine Stimme und weinte." (Gen 29,11). Zuvor hatte er den<br />
Brunnen geöffnet; nun öffnete er ihr den Quellgrund seines Herzens. Zuvor hatte er das<br />
Kleinvieh Labans getränkt; nun tränkte er Ra<strong>ch</strong>el mit den Küssen seiner Liebe. Tränken<br />
und küssen klingen im Hebräis<strong>ch</strong>en ähnli<strong>ch</strong>. Sieben Jahre diente er um Ra<strong>ch</strong>el: "Und sie<br />
waren in seinen Augen wie wenige Tage; so sehr liebte er sie." (Gen 29,20). Do<strong>ch</strong> als die<br />
sieben Jahre erfüllt waren, wurde ihm die häßli<strong>ch</strong>e Lea unterges<strong>ch</strong>oben 9 . Die geliebte<br />
und die verhaßte Braut sind Sinnbilder der s<strong>ch</strong>önen Seelenbraut und der häßli<strong>ch</strong>en<br />
Fußberei<strong>ch</strong> eine Rolle, der au<strong>ch</strong> sonst in den Jakobserzählungen immer wieder in den Blick genommen<br />
wird; diese s<strong>ch</strong>on im Namen angelegte Beziehung zum Fußberei<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t Jakob zum Sinnbild<br />
des Natürli<strong>ch</strong>en (so Swedenborgs Terminologie) bzw. des Forts<strong>ch</strong>rittes in Auseinandersetzung mit<br />
dem Irdis<strong>ch</strong>en (Erdverhaftung des Fußberei<strong>ch</strong>es). Dabei ist der (unbewußte) Irrtum und der (bewußte)<br />
Betrug allgegenwärtig, denn die Außen- oder Sinnenwelt ist der Ursprung aller Fals<strong>ch</strong>heiten;<br />
hierzu ist vor allem Swedenborgs Interpretation der S<strong>ch</strong>lange von Genesis 3 heranzuziehen. Au<strong>ch</strong><br />
die S<strong>ch</strong>lange ist hautnah mit dem Erdberei<strong>ch</strong> verbunden.<br />
8 Jakob und Hiob werden als hebr. "tam", Noah und Abram als hebr. "tamim" (ni<strong>ch</strong>t Plural von "tam"!)<br />
bezei<strong>ch</strong>net. Mit M.Kahir, Das verlorene Wort, 1960, könnte man die Konsonantenverbindung TM als<br />
"Vollendung der Form" (formale Vollendung) deuten.<br />
9 Das Motiv der unterges<strong>ch</strong>obenen Braut ist in den Mär<strong>ch</strong>en weit verbreitet; siehe: W.Golther, Die unterges<strong>ch</strong>obene<br />
Braut, in: Handwörterbu<strong>ch</strong> des deuts<strong>ch</strong>en Mär<strong>ch</strong>ens I (1930/33) 307 - 311.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 7<br />
Welt, mit der wir nolens volens viele Kinder zeugen, obwohl do<strong>ch</strong> unsere ganze Liebe<br />
der himmlis<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>önen Ra<strong>ch</strong>el gilt. 10<br />
Den inneren Sinn von Ra<strong>ch</strong>el und Lea können wir aus Genesis 29,16f ersehen, denn<br />
dort werden die unglei<strong>ch</strong>en Tö<strong>ch</strong>ter Labans <strong>ch</strong>arakterisiert: "Laban hatte zwei Tö<strong>ch</strong>ter:<br />
der Name der älteren war Lea; der Name der jüngeren war Ra<strong>ch</strong>el. Die Augen Leas waren<br />
s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>; während Ra<strong>ch</strong>el von s<strong>ch</strong>öner Gestalt und s<strong>ch</strong>önem Aussehen war." Es ist<br />
lei<strong>ch</strong>t einzusehen, daß die Augen des Körpers auf der seelis<strong>ch</strong>-geistigen Ebene dem<br />
Verstand entspre<strong>ch</strong>en. Leas Vermögen zu verstehen war s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> ausgebildet. Swedenborg<br />
übersetzt das hebr. Wort mit debilis = ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>t, entkräftet, gebre<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>, gelähmt,<br />
verkrüppelt usw. Die Grundbedeutung s<strong>ch</strong>eint s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> oder kraftlos zu sein. Die<br />
Kraft und Stärke des Verstandes sollte die Fähigkeit sein, Wahrheiten klar und deutli<strong>ch</strong><br />
zu erfassen. Diese Fähigkeit ist bei Lea nur s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> entwickelt. Leas Augen bezei<strong>ch</strong>nen<br />
daher das vom Weltli<strong>ch</strong>t getrübte und somit ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>te und bes<strong>ch</strong>ränkte Verständnis<br />
des Wahren. Swedenborg sieht in Lea ein Sinnbild der "äußeren Kir<strong>ch</strong>e" (409) bzw. der<br />
"Neigung (affectio) zum äußeren Wahren" (3782). Die äußere Kir<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>öpft ihr ganzes<br />
Wissen aus Überlieferungen, konkret aus Texten, besonders aus den kanonis<strong>ch</strong>en Texten<br />
der Bibel. Die s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en, matten und erlos<strong>ch</strong>enen Augen Leas deuten auf die bei<br />
vielen Exegeten kaum no<strong>ch</strong> vorhandene Fähigkeit hin, den Lebenssinn der heiligen<br />
Überlieferungen wahrzunehmen und auszulegen. Das hebr. Wort für Auge bedeutet übrigens<br />
au<strong>ch</strong> Quelle. Leas Quelle ist die Heilige S<strong>ch</strong>rift; s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong> ist sie, solange man nur<br />
ihren historis<strong>ch</strong>en Sinngehalt auss<strong>ch</strong>öpfen, ihren Geistsinn aber ni<strong>ch</strong>t sehen will. In der<br />
äußeren Kir<strong>ch</strong>e herrs<strong>ch</strong>t das Interesse an der äußeren Wahrheit (affectio veri exterioris,<br />
3782), sei es in der historis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung 11 , sei es bei den Fundamentalisten; dieses<br />
Interesse bezei<strong>ch</strong>net Lea.<br />
Ra<strong>ch</strong>el ist von s<strong>ch</strong>öner Gestalt und s<strong>ch</strong>önem Aussehen. Die hebr. Worte für Gestalt und<br />
Aussehen sind vom Verb sehen abgeleitet. Wiederum wird unsere Aufmerksamkeit auf<br />
die Wahrheitserfassung geri<strong>ch</strong>tet; diesmal jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t auf die Augen als das Organ des<br />
Sehens, sondern auf die Wahrnehmungen als sol<strong>ch</strong>e. Ra<strong>ch</strong>els Wesen pflanzt si<strong>ch</strong> nämli<strong>ch</strong><br />
in Josef, der intuitiven Wahrheitserfassung, fort; er wird mit genau denselben Worten<br />
wie seine Mutter bes<strong>ch</strong>rieben: "Josef war von s<strong>ch</strong>öner Gestalt und s<strong>ch</strong>önem Aussehen."<br />
(Gen 39,6). Die s<strong>ch</strong>öne Gestalt und das s<strong>ch</strong>öne Aussehen bes<strong>ch</strong>reiben die aus dem<br />
10 In einem Jenseitswerk Jakob Lorbers sagt Jakob: "Vierzehn Jahre diente i<strong>ch</strong> um die himmlis<strong>ch</strong>e Ra<strong>ch</strong>el,<br />
und siehe, Du [Herr] gabst mir die welthäßli<strong>ch</strong>e Lea." (RB I,79,21). Ra<strong>ch</strong>el bezei<strong>ch</strong>net hier also<br />
den Himmel und Lea die Welt.<br />
11 I<strong>ch</strong> bin freili<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t der Meinung, daß die historis<strong>ch</strong>e Fors<strong>ch</strong>ung wertlos ist. Sie ist Grundlagenfors<strong>ch</strong>ung,<br />
auf die die geistige Exegese aufbauen kann. Man sollte also ni<strong>ch</strong>t eine Einseitigkeit (die Fixierung<br />
auf den historis<strong>ch</strong>en Sinn) dur<strong>ch</strong> eine andere (die Fixierung auf den geistigen Sinn) ersetzen;<br />
das Ergebnis könnte wilde Allegorese sein. Die Bere<strong>ch</strong>tigung der historis<strong>ch</strong>en Fors<strong>ch</strong>ung besteht<br />
darin, daß der wehrlose Text gegenüber seinem Ausleger stark gema<strong>ch</strong>t wird.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 8<br />
inneren Gottesgeist aufsteigenden Gedankenformen. Die Gestalt (Swe.: forma) bezieht<br />
si<strong>ch</strong> auf die innere Wesensform; das Aussehen (Swe.: aspectus) hingegen auf die äußere<br />
Ers<strong>ch</strong>einungsform. 12 S<strong>ch</strong>önheit ist die Wohlgeformtheit der im inneren Geistesli<strong>ch</strong>t ers<strong>ch</strong>auten<br />
Formen; oder mit Swedenborgs Worten gesagt: "S<strong>ch</strong>önheit ist die Form des<br />
Wahren aus dem Guten" (10540). Ra<strong>ch</strong>el und ihr Sohn (Wahres) sind s<strong>ch</strong>ön, weil sie ihre<br />
Gestalt und Ausstrahlung aus dem inneren Lebensguten der Liebe empfangen. Daher<br />
erblickt Swedenborg in Ra<strong>ch</strong>el das Urbild der inneren Geisteskir<strong>ch</strong>e (ecclesia interna:<br />
409) und die Lebensausri<strong>ch</strong>tung auf das innere Wahre (affectio veri interioris: 3782).<br />
An dieser Stelle sind einige Worte zum swedenborgs<strong>ch</strong>en Terminus affectio 13 (meist mit<br />
Neigung übersetzt) notwendig, denn dem aufmerksamen Leser wird ni<strong>ch</strong>t entgangen<br />
sein, daß die Mütter Israels (der Kir<strong>ch</strong>e) für affectiones stehen. Was also versteht Swedenborg<br />
unter affectio? Sie ist das continuum amoris (3938), das heißt: das mit der (Lebens)liebe<br />
14 ununterbro<strong>ch</strong>en Zusammenhängende und unablässig Zusammenwirkende.<br />
Betra<strong>ch</strong>tet man den Mens<strong>ch</strong>en als einen Baum (eine in der Heiligen S<strong>ch</strong>rift verbreitete<br />
Metapher für den Mens<strong>ch</strong>en), dann ist die Lebensliebe der Stamm und die Neigungen<br />
sind die Verästelungen unseres Lebensbaumes. Die Liebe als die in der Seele verborgene<br />
Lebensenergie fä<strong>ch</strong>ert den ihr innewohnenden Rei<strong>ch</strong>tum in den Neigungen, die bewußtseinsnäher<br />
sind, aus; dazu Swedenborg: "Wenn die Liebe des Willens in die Weisheit<br />
des Verstandes übergeht, dann wird sie zuerst zur affectio (zur bewußten Abzweigung<br />
aus der Liebe)" (GLW 364). Die affectio ist also die Gestaltung der Liebe im<br />
Verstand (Bewußtsein); dort, in der Sphäre des Li<strong>ch</strong>tes, kann die Liebe ihren Rei<strong>ch</strong>tum<br />
ers<strong>ch</strong>auen, eben in Form der Neigungen oder Lebensinteressen. Da die affectiones mit<br />
der Liebe zusammenhängen (continuum amoris), sind sie "das eigentli<strong>ch</strong>e Leben bzw.<br />
die Seele des Denkens (anima cogitationis)." (9550). Sie animieren (beleben) unser<br />
Denken.<br />
Die historis<strong>ch</strong>en Gestalten der Mütter Israels sind also Urbilder und korrespondieren<br />
daher mit dem Interesse (dem erkenntnisleitenden Interesse), das allen Zeugungen und<br />
Erzeugnissen des Geistes als Mutters<strong>ch</strong>oß zugrunde liegt. Mit diesen Müttern zeugt Jakob<br />
seine Söhne.<br />
Daß Lea die ältere ist will sagen, daß das Interesse an den äußeren Wahrheiten früher<br />
da ist als das Angeregtsein aus dem eigenen, inneren Geistesgrund (3819). Jeder baut<br />
eben sein Haus viel lieber auf Sand als auf Stein.<br />
12 Na<strong>ch</strong> 4985 bezieht si<strong>ch</strong> die Gestalt auf das Wesen (essentia), also die innere Form, während si<strong>ch</strong> das<br />
Aussehen auf das Dasein (existentia), also die Ers<strong>ch</strong>einungsform, bezieht.<br />
13 Affectio ist aus ad und facere zusammengesetzt; es meint daher für mein Empfinden das Angetanoder<br />
Angeregtsein des Geistes aus der Lebensliebe. Die folgende Deutung geht in diese Ri<strong>ch</strong>tung.<br />
14 Siehe GLW 1: "Die Liebe ist das Leben des Mens<strong>ch</strong>en."
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 9<br />
Die Genesis: Das Bu<strong>ch</strong> der Geburten<br />
Da im folgenden von Geburten die Rede sein wird, weise i<strong>ch</strong> darauf hin, daß die gesamte<br />
Genesis als ein Bu<strong>ch</strong> der Geburten angesehen werden kann, denn die Geburtenformel<br />
(die Toledotformel) bildet das Gerüst des Bu<strong>ch</strong>es. Alle Erzählabs<strong>ch</strong>nitte werden dur<strong>ch</strong><br />
diese Formel eingeleitet. Zuerst in Genesis 2,4, wo es heißt: "Dies sind die Geburten 15<br />
des Himmels und der Erde, als sie ges<strong>ch</strong>affen wurden." Diese Übers<strong>ch</strong>rift 16 leitet die<br />
"Bildungen (formationes) des himmlis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en" (89) oder, wie Swedenborg au<strong>ch</strong><br />
sagen kann, der "Urkir<strong>ch</strong>e (Ecclesia Antiquissima)" (1330) ein, also den Erzählkomplex<br />
bis Genesis 4. Dann in Genesis 5,1 heißt es: "Dies ist das Bu<strong>ch</strong> der Geburten des Mens<strong>ch</strong>en<br />
(hebr. Adam)." In zehn Generationen wird der Übergang von Adam (Urkir<strong>ch</strong>e) bis<br />
Noah (Alte Kir<strong>ch</strong>e) vollzogen. In Genesis 6,9 heißt es: "Dies sind die Geburten Noahs."<br />
Diese Übers<strong>ch</strong>rift leitet die Sintflut- bzw. Noaherzählungen ein, die von der Bildung<br />
(formatio) einer (damals) neuen Kir<strong>ch</strong>e handeln (605); Swedenborg nennt sie in der Regel<br />
die Alte Kir<strong>ch</strong>e. Es folgt, Genesis 10, die Völkertafel; au<strong>ch</strong> dort die Toledotformel<br />
(Gen 10,1.32). Ab Genesis 11,10, na<strong>ch</strong> der Turmbauerzählung, wird - ebenfalls in zehn<br />
Generationen! - die Semitenlinie bis Abram ausgezogen, womit der Übergang von den<br />
Urges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten (Genesis 1 - 11) zu den Erzvätererzählungen gegeben ist; einleitend wiederum<br />
die Toledotformel: "Dies sind die Geburten Sems." (Gen 11,10). Die Erzählungen<br />
über Abraham beginnen mit: "Dies sind die Geburten Tera<strong>ch</strong>s." (Gen 11,27). Man kann<br />
si<strong>ch</strong> fragen, ob die Abrahamerzählungen deswegen ni<strong>ch</strong>t besser Tera<strong>ch</strong>erzählungen<br />
heißen sollten. Der Seitenzweig Ismael wird mit der Toledotformel in Genesis 25,12<br />
eingeleitet; der Hauptzweig Isaak dann mit der Formel in Genesis 25,19: "Dies sind die<br />
Geburten Isaaks." Es folgen die sog. Jakobserzählungen (besser Isaakserzählungen?).<br />
Der Seitenzweig Esau (die Edomiter) wird in Genesis 36 summaris<strong>ch</strong> dargestellt (die<br />
Formel in Gen 36,1.9). Der letzte große Erzählabs<strong>ch</strong>nitt der Genesis, die sog. Josefsnovelle,<br />
beginnt mit der Formel: "Dies sind die Geburten Jakobs." (Gen 37,2).<br />
15 In den meisten Übersetzungen wird das hebr. Wort hier leider ni<strong>ch</strong>t mit Geburt übersetzt. Meist findet<br />
der Leser "Entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te" oder ähnli<strong>ch</strong>e Ausdrücke. Das Studium der altorientalis<strong>ch</strong>en<br />
Bildsymbolik zeigt jedo<strong>ch</strong>, daß man si<strong>ch</strong> das Verhältnis von Himmel und Erde als ein ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>es<br />
vorstellte. Siehe Othmar Keel, Die Welt der altorientalis<strong>ch</strong>en Bildsymbolik und das Alte Testament,<br />
1996, 25. Au<strong>ch</strong> in den folgenden Stellen kann der Bibelleser sehr vers<strong>ch</strong>iedene Ausdrücke<br />
vorfinden. In der Übersetzung von Hermann Menge beispielsweise findet man: Entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te,<br />
Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tstafel, Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, Stammbaum, Abstammung und Na<strong>ch</strong>kommen. Man sei si<strong>ch</strong><br />
also der Tücke von Übersetzungen bewußt! Eine gewisse Abhilfe bietet die glei<strong>ch</strong>zeitige Lektüre<br />
mehrerer Übersetzungen.<br />
16 Swedenborg versteht diese erste Toledotformel als Übers<strong>ch</strong>rift (siehe 89). In den meisten Kommentaren<br />
wird sie jedo<strong>ch</strong> als Unters<strong>ch</strong>rift des sog. ersten S<strong>ch</strong>öpfungsberi<strong>ch</strong>tes Genesis 1,1-2,4a verstanden.<br />
Problematis<strong>ch</strong> ist diese Si<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> allein s<strong>ch</strong>on deswegen, weil die Toledotformel sonst immer<br />
Übers<strong>ch</strong>rift ist. Da jedo<strong>ch</strong> das göttlis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>affen von Genesis 1,1 in diese ersten Toledotformel aufgenommen<br />
ist, s<strong>ch</strong>eint mir die S<strong>ch</strong>öpfung des geistigen Mens<strong>ch</strong>en die Grundlage der Geburten des<br />
himmlis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en zu sein.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 10<br />
Diese Übersi<strong>ch</strong>t zeigt, daß es bere<strong>ch</strong>tigt ist, die Genesis als das Bu<strong>ch</strong> der Geburten zu<br />
bezei<strong>ch</strong>nen; von daher bekommen nun die Geburten der Mütter Israels in Genesis 29,31<br />
bis 30,24 ein besonderes Gewi<strong>ch</strong>t. Daher einige Bemerkungen zum spirituellen Sinn<br />
von "geboren werden". Aus der Traumfors<strong>ch</strong>ung ist bekannt, daß ein neuer Lebensabs<strong>ch</strong>nitt<br />
dur<strong>ch</strong> einen Geburtstraum angekündigt werden kann. Dur<strong>ch</strong> die Geburt wird ein<br />
neues Leben ins Dasein entlassen. Die Heilige S<strong>ch</strong>rift handelt vom Leben und der Einhau<strong>ch</strong>ung<br />
des Lebens in die no<strong>ch</strong> toten Formen: "Jehovah Gott formte (töpferte) den<br />
Mens<strong>ch</strong>en aus Lehm vom Boden und blies seiner Nase den Lebensodem ein; so wurde<br />
der Mens<strong>ch</strong> zur lebendigen Seele." (Gen 2,7). Mit diesen Worten beginnt die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
des Adam; do<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> seine Tragik: die Todverfallenheit. Deswegen mußte Jesus in die<br />
tote Welt kommen, um ihr das neue Leben einzuhau<strong>ch</strong>en: "Na<strong>ch</strong>dem er (Jesus) das gesagt<br />
hatte, hau<strong>ch</strong>te er sie an und spra<strong>ch</strong> zu ihnen: Empfanget den Heiligen Geist!" (Joh<br />
20,22; vgl. ergänzend Joh 6,63). Das Leben ist das große Thema der Heiligen S<strong>ch</strong>rift;<br />
daher ist es angemessen unter der biologis<strong>ch</strong>en Geburt die geistige zu verstehen, die<br />
Neugeburt (von neuem geboren werden: Joh 3,3). Die Neuoffenbarung bevorzugt diesen<br />
Ausdruck; während der sonst übli<strong>ch</strong>e juristis<strong>ch</strong>e, nämli<strong>ch</strong> die Re<strong>ch</strong>tfertigung (iustificatio),<br />
praktis<strong>ch</strong> bedeutungslos ist. Swedenborg kann sogar s<strong>ch</strong>reiben: "Die Kir<strong>ch</strong>en<strong>ch</strong>risten<br />
wissen heutzutage so wenig über die Wiedergeburt, weil so viel von die Sündenvergebung<br />
und Re<strong>ch</strong>tfertigung gespro<strong>ch</strong>en wird." (5398). Lassen wir uns also vom Bu<strong>ch</strong><br />
der Geburten leiten; lassen wir uns die Augen dafür öffnen, daß es um die Gestaltwerdung<br />
des neuen Lebens aus Gott geht. Diese Gestaltwerdung ist das Thema des nun zu<br />
behandelnden Textabs<strong>ch</strong>nittes Genesis 29,31 bis 30,24.<br />
Aus der Strukturanalyse (siehe Abbildung) ist ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, daß die Geburten einem relativ<br />
festen S<strong>ch</strong>ema folgen: 1.) die formelhafte Erwähnung der Empfängnis und Geburt, 2.)<br />
der Namenssatz und 3.) die Namensgebung (übrigens immer dur<strong>ch</strong> die Mutter) 17 . Wenn<br />
man dies als das Normals<strong>ch</strong>ema ansieht, dann fallen Unregelmäßigkeiten bei Ruben<br />
(erst Namensgebung, dann Namenssatz), bei Gad und As<strong>ch</strong>er (die Empfängnisformel<br />
fehlt), bei Dina (der Namenssatz fehlt) und bei Josef (zwei Namenssätze) auf. In der<br />
Strukturübersi<strong>ch</strong>t sind au<strong>ch</strong> die Zwis<strong>ch</strong>enteile (re<strong>ch</strong>te Spalte) zu sehen. In der folgenden<br />
Auslegung werden i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> auf die Namenssätze konzentrieren; denno<strong>ch</strong> sollen<br />
au<strong>ch</strong> einige der Unregelmäßigkeiten und Zwis<strong>ch</strong>enteile in den Blick genommen werden.<br />
Ausführli<strong>ch</strong>keit ist jedo<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on aus Platzgründen ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>.<br />
17 Die Namensgebung dur<strong>ch</strong> die Mutter erfolgt im AT 26 mal. Außer im vorliegenden Textabs<strong>ch</strong>nitt<br />
no<strong>ch</strong> in Gen 4,25 dur<strong>ch</strong> Eva, in Gen 16,11 dur<strong>ch</strong> Hagar, in Gen 19,37f dur<strong>ch</strong> die beiden Tö<strong>ch</strong>ter Noahs,<br />
in Gen 35,18 dur<strong>ch</strong> Ra<strong>ch</strong>el, in Gen 38,3.4.5 dur<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>ua, in Ex 2,10 dur<strong>ch</strong> die To<strong>ch</strong>ter des Pharaos,<br />
in Ri 13,24 dur<strong>ch</strong> die Frau Manoa<strong>ch</strong>s, in 1.Sam 4,21 dur<strong>ch</strong> die Frau Pin<strong>ch</strong>as, in Jes 7,14 dur<strong>ch</strong><br />
die Jungfrau oder junge Frau, in 1.Chr 4,9 dur<strong>ch</strong> eine unbekannte Mutter und in 1.Chr 7,16 dur<strong>ch</strong><br />
Maa<strong>ch</strong>a.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 11
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 12<br />
Die ersten vier Leageburten<br />
Im folgenden soll die Bedeutung der Jakobssöhne aus ihren Namenssätzen abgeleitet<br />
werden. In diesen Sätzen werden die Namen mit lautverwandten Worten (meist Verben)<br />
in Verbindung gebra<strong>ch</strong>t; diese Bezugsworte werde i<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Kursivs<strong>ch</strong>rift hervorheben<br />
(au<strong>ch</strong> Bibelübersetzungen informieren darüber). Darüber hinaus dient aber ni<strong>ch</strong>t nur<br />
das Bezugswort, sondern der ganze Namenssatz zur Erkenntnis des geistigen Sinnes.<br />
Allgemein bezei<strong>ch</strong>nen die Jakobssöhne "die Universalien oder hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gegebenheiten<br />
der Kir<strong>ch</strong>e" (Ecclesiae universalia: 3861). Denn aus den Jakobssöhnen wurden<br />
die Stämme des Gottesvolkes; und später wählte Jesus in Anlehnung an den Zwölfstämmeverband<br />
zwölf Jünger 18 aus, um anzudeuten, daß si<strong>ch</strong> das neue Gottesvolk um<br />
ihn sammeln wird.<br />
Der Namenssatz für Ruben lautet: "Denn Jehovah hat mein Elend gesehen, denn nun<br />
wird mein Mann mi<strong>ch</strong> lieben." (Gen 29,32). Ruben wird von "sehen" abgeleitet. 19 Das<br />
geistige Sehen besteht in der Überzeugung vom Wahrheitsgehalt bestimmter Thesen,<br />
theologis<strong>ch</strong> gespro<strong>ch</strong>en im Glauben, genauer im intellektuellen Glauben (fides intellectu:<br />
3863); dieser etwas mißverständli<strong>ch</strong>e Ausdruck meint den Glauben, insofern er Sa<strong>ch</strong>e<br />
des Verstandes ist, insofern er das Für-wahr-halten von etwas ist. Die katholis<strong>ch</strong>e<br />
Kir<strong>ch</strong>e unters<strong>ch</strong>eidet zwis<strong>ch</strong>en dem Glauben im objektiven Sinne (fides quae creditur) 20<br />
und im subjektiven Sinne (fides qua creditur) 21 . Der erstgenannte Glaube ist derjenige<br />
an vorgegebene Lehrsätze; der zweite ist das Vertrauen. Der erstgenannte ist Ruben<br />
(die Erstgeburt der äußeren Kir<strong>ch</strong>e); der zweite Simeon.<br />
Ruben ist "das Wahre des Glaubens" (verum fidei: 3860). Mit dem Akt oder der Fähigkeit,<br />
an etwas (z. B. die neuen Offenbarungen) zu glauben, beginnt die neue Geburt aus<br />
Wasser (dem Glaubenswahren) und Geist (der inneren Bekräftigung); draußen stehen<br />
jene, die von si<strong>ch</strong> sagen müssen: "Die Bots<strong>ch</strong>aft hör i<strong>ch</strong> wohl, allein mir fehlt der Glaube."<br />
(Dr. Faust). Das ist das Leiden der Doktoren. Ohne Beweise wollen sie ni<strong>ch</strong>t glauben;<br />
und da es Beweise ni<strong>ch</strong>t gibt, können sie ni<strong>ch</strong>t glauben. Daher ist Ruben (der Glaube<br />
an etwas) der unverzi<strong>ch</strong>tbare Anfang der Wiedergeburt (3860).<br />
Das Elend Leas besteht darin, daß sie vom Wissen zum Wollen des Guten dur<strong>ch</strong>dringen<br />
will (3864). Das ges<strong>ch</strong>ieht dur<strong>ch</strong> Versu<strong>ch</strong>ungen, weswegen Swedenborg das hebr. Wort<br />
18 Es wäre interessant, die zwölf Jakobssöhne mit den zwölf Jüngern zu verglei<strong>ch</strong>en. Dazu existiert eine<br />
Arbeit von J. E. Elliott, die in den Neukir<strong>ch</strong>enblättern von 1965 bis 1967 veröffentli<strong>ch</strong>t worden ist.<br />
19 In Ruben ist au<strong>ch</strong> das hebr. Wort für Sohn enthalten. Daher vermutet Claus Westermann, die ursprüngli<strong>ch</strong>e<br />
Bedeutung sei "sehet, ein Sohn!" (BK I/2 577). Swedenborg s<strong>ch</strong>reibt in Adversaria 691:<br />
"Ruben est filius visionis (Sohn des Sehens)".<br />
20 Der Glaube, der geglaubt wird.<br />
21 Der Glaube, dur<strong>ch</strong> den geglaubt wird.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 13<br />
hier mit afflictio (Anfe<strong>ch</strong>tung) übersetzt. Auf der Bu<strong>ch</strong>stabenebene bezieht si<strong>ch</strong> das<br />
Elend oder die Trübsal Leas darauf, daß sie von ihrem Mann ni<strong>ch</strong>t geliebt wird. Dem<br />
entspri<strong>ch</strong>t auf der geistigen Ebene die relative Wertlosigkeit oder Minderwertigkeit des<br />
nur Äußerli<strong>ch</strong>en. Dur<strong>ch</strong> ihre Geburten will Lea diesen Mangel ausglei<strong>ch</strong>en; die sehnli<strong>ch</strong>st<br />
herbeigewüns<strong>ch</strong>te Überwindung des Verhaßtseins (Gen 29,31) dur<strong>ch</strong>zieht ihre<br />
Geburten: "Nun wird mein Mann mi<strong>ch</strong> lieben" (Gen 29,32 na<strong>ch</strong> der Geburt Rubens);<br />
"Jehovah hat gehört, daß i<strong>ch</strong> verhaßt bin" (Gen 29,33 na<strong>ch</strong> der Geburt Simeons); "Nun<br />
endli<strong>ch</strong> wird mein Mann mir anhängli<strong>ch</strong> sein" (Gen 29,34 na<strong>ch</strong> der Geburt Levis). In der<br />
Liebesäpfelepisode s<strong>ch</strong>reit Lea ihr ganzes Leid hinaus: "Ist es ni<strong>ch</strong>t genug, daß du (Ra<strong>ch</strong>el)<br />
mir meinen Mann genommen hast?" (Gen 30,15). Und dann die letzte Geburt Leas.<br />
Bringt sie endli<strong>ch</strong> die Erfüllung ihrer unerfüllten Liebe? Lea hofft: "Diesmal wird mein<br />
Mann mir beiwohnen" (Gen 30,20 na<strong>ch</strong> der Geburt Sebulons).<br />
Leas Leid wird mit Jehovahs Erbarmen beantwortet. Es fällt nämli<strong>ch</strong> auf, daß die Leageburten<br />
Ruben, Simeon und Juda mit Jehovah verbunden sind, von dem dann erst wieder<br />
im zweiten Namenssatz für Josef die Rede sein wird. Dazu muß man wissen, daß der<br />
hebr. Gottesname Jehovah, vom Verb sein abgeleitet, das Sein (Esse) und die Seinsqualität<br />
oder das Wesen (Essentia) Gottes (3910) bezei<strong>ch</strong>net; das Sein Gottes aber ist das Leben<br />
(840) und dessen Pulss<strong>ch</strong>lag in Ewigkeit ist die si<strong>ch</strong> erbarmende Liebe (2253), die<br />
si<strong>ch</strong> gerade der Vera<strong>ch</strong>teten annimmt. Es war der Leastamm Juda, der na<strong>ch</strong> dem babylonis<strong>ch</strong>en<br />
Exil die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des Gottesvolkes weiterführen (daher spri<strong>ch</strong>t man von<br />
"Juden") und den Erlöser aller Mens<strong>ch</strong>en hervorbringen sollte.<br />
Simeon Namenssatz: "Denn Jehovah hat gehört, daß i<strong>ch</strong> verhaßt bin, und gab mir au<strong>ch</strong><br />
diesen" (Gen 29,33), läßt uns den zweiten Sohn Leas als die Gestaltung des Hörens erkennen.<br />
S<strong>ch</strong>on in der Alltagsspra<strong>ch</strong>e hat hören die Bedeutung von gehor<strong>ch</strong>en (von: hor<strong>ch</strong>en);<br />
so in der Wendung: "auf jemanden hören", oder im Spri<strong>ch</strong>wort: "Wer ni<strong>ch</strong>t hören<br />
will, muß fühlen"; ebenso in "Gehorsam" und in "gehören" (= dem Willen angehören).<br />
Die Entspre<strong>ch</strong>ung liegt daher auf der Hand: Simeon bezei<strong>ch</strong>net den Glaubensgehorsam<br />
(fides voluntate: 3871), der der Glaubenseinsi<strong>ch</strong>t (Ruben) folgt.<br />
Zu bea<strong>ch</strong>ten ist, wie sehr die ersten beiden Namenssätze aufeinander bezogen sind;<br />
worin si<strong>ch</strong> die Zusammengehörigkeit von Sehen und Hören ausdrückt. Beide beginnen<br />
mit "Denn gesehen/gehört hat Jehovah". Es folgt jeweils ein Hinweis auf Leas erbärmli<strong>ch</strong>en<br />
Zustand ("mein Elend" / "daß i<strong>ch</strong> verhaßt bin"). Der S<strong>ch</strong>luß des Simeonsatzes<br />
weist dur<strong>ch</strong> die Partikel "au<strong>ch</strong>" ("und gab mir au<strong>ch</strong> diesen") auf den Rubensatz zurück.<br />
Der (intellektuelle) Glaube muß Zustimmung im Willen finden; sonst ist er kein Glaube.<br />
Erst dieses Ges<strong>ch</strong>wisterpaar ma<strong>ch</strong>t uns vor Gott zu Priestern; Levi kann geboren werden:
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 14<br />
"Diesmal nun wird mein Mann mir anhangen, denn i<strong>ch</strong> habe ihm drei Söhne geboren."<br />
(Gen 29,34). Anhangen ist ein Ausdruck der Liebe, freili<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t der kräftigste; daher<br />
bezei<strong>ch</strong>net Levi nur die Nä<strong>ch</strong>stenliebe (<strong>ch</strong>aritas). Die Zahl drei deutet denno<strong>ch</strong> eine gewisse<br />
Vollendung an, denn im tätigen Liebesdienst kommt der Mens<strong>ch</strong> der äußeren Kir<strong>ch</strong>e<br />
an sein vorläufiges Ziel und wird fähig, die in seinem Leben wirksam gewordene<br />
Gotteskraft der Liebe zu preisen; das ist Juda: "Diesmal will i<strong>ch</strong> Jehovah preisen / bekennen."<br />
(Gen 29,35).<br />
Die ersten vier Leageburten stellen eine Steigerung dar: vom "Wissen des Wahren"<br />
(Ruben: 3882) über das "Wollen des Wahren" (Simeon: 3882) zur tätigen Liebe (Levi)<br />
und dem darin empfundenen Gefühl der Liebe zum Herrn (Juda). Dieses Aufsteigen ist<br />
für Jakob eine Erfüllung seines Traumes von der Himmelstreppe, auf der Engel Gottes<br />
auf- und niederstiegen (Gen 28,12). Auf diesen Zusammenhang weist Swedenborg indirekt<br />
in 3882 hin.<br />
Man sollte meinen, daß mit Juda (der Liebe zum Herrn) die hö<strong>ch</strong>ste Vollendung errei<strong>ch</strong>t<br />
ist. Do<strong>ch</strong> bisher sahen wir nur Leas Söhne; no<strong>ch</strong> immer ist Ra<strong>ch</strong>el wie tot in uns (Gen<br />
30,1).<br />
Die Geburten der Mägde<br />
Die Mägde sind die von Seiten des inneren (Ra<strong>ch</strong>el) und äußeren Mens<strong>ch</strong>en (Lea) eingesetzten<br />
Mittel, um der Wiedergeburt neue Impulse zu geben. Da die Bes<strong>ch</strong>affenheit der<br />
Mittel aus dem ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> wird, was sie bewirken, wende i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> soglei<strong>ch</strong> den Söhnen<br />
der Mägde zu.<br />
Dur<strong>ch</strong> Bilha kommt Ra<strong>ch</strong>el zu Dan und Naftali. Der Namenssatz für Dan lautet: "Gott<br />
hat mir Re<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en und au<strong>ch</strong> meine Stimme erhört und mir einen Sohn gegeben."<br />
(Gen 30,6). Im äußeren Sinn bezieht si<strong>ch</strong> dieser Ausspru<strong>ch</strong> auf die Rivalität zwis<strong>ch</strong>en<br />
den unglei<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>western (eifersü<strong>ch</strong>tig sein in Gen 30,1); und da ni<strong>ch</strong>ts so überzeugend<br />
ist wie der Erfolg, s<strong>ch</strong>eint die gebärfreudige Lea die bessere Frau zu sein. Do<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> Dan wird Ra<strong>ch</strong>el ins Re<strong>ch</strong>t gesetzt; das heißt im inneren Sinn, daß alle Heiligung<br />
im Glaubensleben (sanctum fidei) von Gott kommt; der Mens<strong>ch</strong> kann sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t erwirts<strong>ch</strong>aften.<br />
Zwar bedarf es der guten Werke (<strong>ch</strong>aritatis opera); aber sie sind ni<strong>ch</strong>t die<br />
Ursa<strong>ch</strong>e der Heiligung, sondern nur das (allerdings notwendige) Milieu, in dem si<strong>ch</strong> die<br />
erlösende Kraft des lebendigen Gottes auswirken kann. Dan ist die Anerkennung dieses<br />
Gottes jenseits der eigenen Intentionalität; diese Anerkennung s<strong>ch</strong>afft erstmals Lebensraum<br />
für Ra<strong>ch</strong>el. Er weitet si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Naftali; denn sein Namenssatz lautet: "Ringkämpfe<br />
Gottes habe i<strong>ch</strong> gerungen mit meiner S<strong>ch</strong>wester, habe mi<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> als stark erwiesen."<br />
(Gen 30,8). Die innere Kir<strong>ch</strong>e kann si<strong>ch</strong> gegenüber den Widerständen von Sei-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 15<br />
ten des natürli<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en nur dur<strong>ch</strong> Versu<strong>ch</strong>ungen dur<strong>ch</strong>setzen, in denen sie si<strong>ch</strong><br />
als stark erweisen muß.<br />
Von diesen Ges<strong>ch</strong>ehnissen profitiert nun au<strong>ch</strong> Lea und kann den Stillstand im Gebären<br />
(vgl. Gen 29,35b mit 30,9) überwinden. Dur<strong>ch</strong> Silpa kommt sie zu Gad und As<strong>ch</strong>er. Der<br />
Namenssatz für Gad lautet: "Es kommt ein Haufe (Venit turma)." (Gen 30,11). Das hier<br />
mit turma (ein Haufen, S<strong>ch</strong>warm) übersetzte hebr. Wort wird heute mit "Glück" wiedergegeben,<br />
so daß man übli<strong>ch</strong>erweise "Glück auf!" oder ähnli<strong>ch</strong>es lesen kann. Wel<strong>ch</strong>e<br />
Gründe könnten demgegenüber für Swedenborgs Verständnis spre<strong>ch</strong>en? In Genesis 49<br />
(Jakobs Sprü<strong>ch</strong>e über seine Söhne) ist Gad mit hebr. gedud (Heers<strong>ch</strong>ar) verbunden (Gen<br />
49,19). Das hebr. Verb g-d-d bedeutet abs<strong>ch</strong>neiden und angreifen; von daher eröffnet<br />
si<strong>ch</strong> sowohl ein Zusammenhang zur Heers<strong>ch</strong>ar als au<strong>ch</strong> zum Glück als dem Bes<strong>ch</strong>iedenen<br />
(von abs<strong>ch</strong>neiden). Mögli<strong>ch</strong>erweise sieht Swedenborg au<strong>ch</strong> einen Zusammenhang<br />
zwis<strong>ch</strong>en Gad und hebr. gadol (groß). Es könnten also spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Verbindungslinien<br />
zwis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>ar und Glück bestehen. Außerdem s<strong>ch</strong>einen innere Beziehungen zu existieren.<br />
Immerhin interpretiert Swedenborg Gad im hö<strong>ch</strong>sten Sinn als die Allma<strong>ch</strong>t der<br />
göttli<strong>ch</strong>en Liebe und die Allwissenheit der göttli<strong>ch</strong>en Weisheit (3934). Liebe und Weisheit<br />
herrs<strong>ch</strong>en aber als Göttli<strong>ch</strong>e Vorsehung (GV 1), die wir Mens<strong>ch</strong>en als Glück (oder<br />
Unglück) erleben. Na<strong>ch</strong> Swedenborg ist das Glück "die Vorsehung im Äußersten der<br />
Ordnung" (6493). In Jesaja 65,11 bezei<strong>ch</strong>net Gad offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> die Glücksgottheit.<br />
Wenn Swedenborg in Gad die Werke sieht (3934), dann darf man ni<strong>ch</strong>t vergessen, daß<br />
(ebenfalls na<strong>ch</strong> Swedenborg) bis in alle Einzelheiten der Werke hinein die Vorsehung<br />
(Glücksgottheit) wirksam ist (GV 251). Aus dem Gesagten folgt, daß Gad die Werke des<br />
geglückten Tages bezei<strong>ch</strong>net. Dieses Glück kann si<strong>ch</strong> im Leben einfinden, wenn wir unsere<br />
Werke ni<strong>ch</strong>t mehr in der Selbstbegrenzung verri<strong>ch</strong>ten. Daher bezei<strong>ch</strong>net Gad au<strong>ch</strong><br />
das sinnvolle Tun (usus), vgl. AR 352; denn in der Öffnung für einen Lebenssinn, den<br />
wir uns ni<strong>ch</strong>t selber ausdenken können, öffnen wir uns der Lebensma<strong>ch</strong>t des Guten und<br />
Wahren, so daß si<strong>ch</strong> die Werke des geglückten Tages dur<strong>ch</strong> uns verwirkli<strong>ch</strong>en können.<br />
Die Folge ist Glückseligkeit, die Geburt As<strong>ch</strong>ers; sein Namenssatz lautet: "In meiner<br />
Glückseligkeit, denn glückli<strong>ch</strong> preisen werden mi<strong>ch</strong> die Tö<strong>ch</strong>ter." (Gen 30,13). Wel<strong>ch</strong>e<br />
Tö<strong>ch</strong>ter? Jakobs Frauen haben bisher nur Söhne zur Welt gebra<strong>ch</strong>t. Man kann antworten:<br />
Die Tö<strong>ch</strong>ter des Landes; oder si<strong>ch</strong> auf den inneren Sinn besinnen, wona<strong>ch</strong> die Tö<strong>ch</strong>ter<br />
Emotionen (seelis<strong>ch</strong>e Bewegungen) darstellen (daher übrigens au<strong>ch</strong> die altorientalis<strong>ch</strong>e<br />
Institution der Klageweiber).<br />
Viellei<strong>ch</strong>t liegt hierin au<strong>ch</strong> der tiefere Grund, warum bei den Geburten von Gad und<br />
As<strong>ch</strong>er die Empfängnisformel fehlt. Das unverhoffte Glück als Ereignis (Gad) und als<br />
Gefühl (As<strong>ch</strong>er) kann eben ni<strong>ch</strong>t wirkli<strong>ch</strong> empfangen und festgehalten werden, sondern
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 16<br />
si<strong>ch</strong> nur dur<strong>ch</strong> uns verwirkli<strong>ch</strong>en (geboren werden). Das Glück vermittelt dem äußeren<br />
Mens<strong>ch</strong>en erstmals das Gefühl der Abhängigkeit von einer höheren Ma<strong>ch</strong>t.<br />
Leas Vollendung<br />
Halten wir den bisherigen Stand der Entwicklung fest! Lea empfindet den Lustreiz des<br />
inneren Lebens (Überwindung der Selbstbegrenzung) und Ra<strong>ch</strong>el setzt si<strong>ch</strong> in den<br />
Ringkämpfen (Versu<strong>ch</strong>ungen) mit ihrer S<strong>ch</strong>wester allmähli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>. In dieser Situation<br />
stößt Ruben (das Glaubensbewußtsein) in den Tagen der Weizenernte (beim Einholen<br />
seiner Gedanken- oder Glaubensaussaat) auf Liebesäpfel (das Mittel zur Förderung der<br />
eheli<strong>ch</strong>en Liebe). Die Verbindung mit Jakob (natürli<strong>ch</strong>e Erstreckung des göttli<strong>ch</strong>en Einflusses)<br />
soll nun intensiviert werden. Ra<strong>ch</strong>el hat an den Liebesäpfeln ebenso großes Interesse<br />
wie Lea. Es kommt zum Ausglei<strong>ch</strong>: Lea darf bei Jakob liegen; do<strong>ch</strong> Ra<strong>ch</strong>el erhält<br />
die Kraft zur unio mystica 22 . Lea wird vollendet; Ra<strong>ch</strong>el aber wird auferstehen.<br />
Na<strong>ch</strong> der Liebesäpfelepisode wird Gott als der Erhörende bezei<strong>ch</strong>net (Gen 30,17a und<br />
22), denn, wie oben gesagt, hören bezieht si<strong>ch</strong> auf den Willen und dieser auf die Liebe.<br />
Lea empfängt Issas<strong>ch</strong>ar und ruft aus: "Gott hat meinen Lohn gegeben, weil i<strong>ch</strong> meinem<br />
Manne meine Magd gegeben habe." (Gen 30,18). Issas<strong>ch</strong>ar ist der Lohn. Das Lohn- oder<br />
Verdienstdenken ist der äußeren Kir<strong>ch</strong>e offenbar ni<strong>ch</strong>t völlig auszutreiben. Man bea<strong>ch</strong>te<br />
im Namenssatz das zweimalige Vorkommen von "geben" (Prinzip: do ut des): Gott hat<br />
gegeben, weil (aufgrund der Tatsa<strong>ch</strong>e, daß) i<strong>ch</strong> gegeben habe. Lea hat ihre Magd gegeben<br />
und nimmt jetzt ihren Lohn entgegen. Wir sahen, daß die Silpageburten die Werke<br />
des geglückten Tages und das dementspre<strong>ch</strong>ende Glücksgefühl darstellen, weswegen<br />
der Lohn hier ni<strong>ch</strong>t das selbsterarbeitete Heil sein kann. Vielmehr meint Issas<strong>ch</strong>ar die<br />
Einheit von Wollen und Denken, die si<strong>ch</strong> einstellt, wenn wir Gott walten lassen. Das ist<br />
der Lohn des Selbstverzi<strong>ch</strong>tes; Leas fünfter Sohn. Die Zahl fünf ist seit jeher eine mystis<strong>ch</strong>e<br />
Zahl (das Seelenpentagramm); es ist die Seelenvollendung, die Lea errei<strong>ch</strong>t. Das ist<br />
wenig 23 im Verglei<strong>ch</strong> zur vollständigen Verwandlung Ra<strong>ch</strong>els (ihr Tod bei der Geburt<br />
Benjamins).<br />
Dur<strong>ch</strong> die Geburt Sebulons kommt Lea zur Vollendung. Der Namenssatz lautet: "Bes<strong>ch</strong>enkt<br />
hat mi<strong>ch</strong> Gott, mi<strong>ch</strong> mit gutem Ges<strong>ch</strong>enk. Diesmal wird mein Mann mir beiwohnen,<br />
denn i<strong>ch</strong> habe ihm se<strong>ch</strong>s Söhne geboren." (Gen 30,20). Sebulon bezei<strong>ch</strong>net die<br />
22 In 3942 bringt Swedenborg die Liebesäpfel mit der eheli<strong>ch</strong>en Liebe in Verbindung. Dieser ungemein<br />
bedeutungsrei<strong>ch</strong>e Ausdruck impliziert au<strong>ch</strong> die unio mystica. Swedenborg s<strong>ch</strong>reibt: "Die wahre eheli<strong>ch</strong>e<br />
Liebe ist die Einheit (unio) zweier Gemüter, die eine spirituelle Einheit (unio spiritualis) ist."<br />
(10168). In 1013 s<strong>ch</strong>reibt er, daß die unio mystica (dort verwendet er diesen Ausdruck) allein dur<strong>ch</strong><br />
Liebe ges<strong>ch</strong>ieht. Das Urbild der unio mystica ist die Einheit des Vaters und des Sohnes (unio mystica<br />
in 2004).<br />
23 Na<strong>ch</strong> Swedenborg bezei<strong>ch</strong>net die Fünf als Hälfte der Vollzahl Zehn "etwas bzw. wenig" (649).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 17<br />
Beiwohnung des Seelenbräutigams. Beiwohnen ist ein bildli<strong>ch</strong>er Ausdruck für die eheli<strong>ch</strong>e<br />
Verbindung (3960: vgl. au<strong>ch</strong> den deuts<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong>); zuglei<strong>ch</strong> ist angedeutet,<br />
daß Lea nun zur Wohnung des Herrn geworden ist. Denn das hebr. Wort sebul kann<br />
den Himmel als die Wohnung Gottes (Jes 63,15) und den Tempel (beth sebul: 1 Kön<br />
8,13) bezei<strong>ch</strong>nen. Zu bea<strong>ch</strong>ten ist au<strong>ch</strong>, daß ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong> vom einem Ges<strong>ch</strong>enk, sondern<br />
vom guten Ges<strong>ch</strong>enk gespro<strong>ch</strong>en wird; es ist also das Ges<strong>ch</strong>enk der Verbindung<br />
mit dem Guten der Liebe. Swedenborg übersetzt das in der gesamten Heiligen S<strong>ch</strong>rift<br />
nur hier vorkommende Wort säbäd (ebenfalls ein Anklang an Sebulon?) mit dos, das<br />
au<strong>ch</strong> Mitgift, Brauts<strong>ch</strong>atz usw. bedeutet; also ein weiterer Hinweis auf die Heirat. Die<br />
Zahl Se<strong>ch</strong>s (die Hälfte der Vollzahl Zwölf) bezei<strong>ch</strong>net die Vollendung der äußeren Kir<strong>ch</strong>e;<br />
also die halbe Vollendung der Gesamtkir<strong>ch</strong>e aus Ra<strong>ch</strong>el und Lea.<br />
Dina ist die einzige To<strong>ch</strong>er. Daher bezei<strong>ch</strong>net sie die Kir<strong>ch</strong>e als Zusammenfassung der<br />
bisherigen zehn (Vollzahl) Geburten. Zuglei<strong>ch</strong> ist sie die siebente Geburt Leas; au<strong>ch</strong> diese<br />
Zählung verleiht ihr die Qualität der gottesdienstli<strong>ch</strong>en Heiligung (der siebente Tag<br />
ist der Tag des Herrn). Ihr Name bringt sie, wie s<strong>ch</strong>on ihren Bruder Dan, mit der Vorstellung<br />
von Re<strong>ch</strong>t und Geri<strong>ch</strong>t in Verbindung. Was hat das mit Kir<strong>ch</strong>e zu tun? Sehr<br />
viel, wenn man si<strong>ch</strong> Begriffe wie Thora (das Mosegesetz), Sünde, Re<strong>ch</strong>tfertigung (iustificatio),<br />
Jüngstes Geri<strong>ch</strong>t, Kir<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>t usw. in Erinnerung ruft.<br />
Ra<strong>ch</strong>els Auferstehung<br />
Nun endli<strong>ch</strong> öffnet Gott Ra<strong>ch</strong>els Mutterleib (Gen 30,22). Die Formel "den Mutterleib öffnen"<br />
steht in der gesamten Heiligen S<strong>ch</strong>rift nur hier bei Ra<strong>ch</strong>els Erstgeburt und in Genesis<br />
29,31 bei Leas Erstgeburt. 24 Das hebr. Wort für Mutterleib ist von einem Verb abgeleitet,<br />
das zärtli<strong>ch</strong> lieben und erbarmen bedeutet. Mutters<strong>ch</strong>oß bedeutet im Hebräis<strong>ch</strong>en<br />
die Eingeweide als Sitz des zarten Mitgefühls. Daher entspri<strong>ch</strong>t er "dem Guten<br />
der himmlis<strong>ch</strong>en Liebe" (AE 865). Swedenborg erläutert das mit den Worten: "Daß der<br />
Mutterleib das innerste Gute der Liebe bedeutet, beruht darauf, daß alle Zeugungsorgane<br />
sowohl beim männli<strong>ch</strong>en, als au<strong>ch</strong> beim weibli<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t, die eheli<strong>ch</strong>e Liebe<br />
bedeuten, und der Mutterleib ihr Innerstes, weil hier die Leibesfru<strong>ch</strong>t empfangen wird<br />
und fortwä<strong>ch</strong>st, bis sie geboren wird; er ist au<strong>ch</strong> wirkli<strong>ch</strong> das Innerste der Zeugungsglieder;<br />
von daher stammt au<strong>ch</strong> die mütterli<strong>ch</strong>e Liebe, die Zärtli<strong>ch</strong>keit genannt wird."<br />
(AE 710). Der Mutterleib bezei<strong>ch</strong>net also die Liebe, die uns empfängli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t (s<strong>ch</strong>wanger<br />
werden läßt); daher ist er au<strong>ch</strong> ein Bild für die Kir<strong>ch</strong>e (4918).<br />
24 Das gilt selbstverständli<strong>ch</strong> nur für den hebräis<strong>ch</strong>en Grundtext. Dort findet si<strong>ch</strong> tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> nur hier<br />
rä<strong>ch</strong>äm (Mutterleib) mit pata<strong>ch</strong> (öffnen) verbunden. Es gibt freili<strong>ch</strong> eine ähnli<strong>ch</strong>e Formulierung,<br />
nämli<strong>ch</strong> rä<strong>ch</strong>em mit päthär (Dur<strong>ch</strong>bru<strong>ch</strong>) = "Dur<strong>ch</strong>bru<strong>ch</strong> des Mutterleibes", die Swedenborg in Ex<br />
13,2.15; 34,19 mit "apertura uteri" (Eröffnung des Mutterleibes) übersetzt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 18<br />
Aus diesem S<strong>ch</strong>oß der sanften Geistesliebe erleu<strong>ch</strong>tet uns Ra<strong>ch</strong>els Fru<strong>ch</strong>t. "Gott hat<br />
meine S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> eingesammelt" (Gen 30,23), sagt sie; von der Unfru<strong>ch</strong>tbarkeit des Todes<br />
(siehe Gen 30,1) hat er mi<strong>ch</strong> erlöst. "Weil die Mutter (in alten Zeiten) die Kir<strong>ch</strong>e bezei<strong>ch</strong>nete<br />
und die Söhne und Tö<strong>ch</strong>ter ihr Wahres und Gutes …, deshalb war es S<strong>ch</strong>impf<br />
und S<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong> für die Frauen, unfru<strong>ch</strong>tbar zu sein" (AE 721 mit Belegstellen). Josef bezei<strong>ch</strong>net<br />
das ewige Li<strong>ch</strong>t des Geistes: "das Göttli<strong>ch</strong> Geistige, das vom Göttli<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
des Herrn ausgeht" (4669); das Göttli<strong>ch</strong> Wahre, das wir in der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Tradition<br />
den Heiligen Geist nennen (NJ 306). Dieses Li<strong>ch</strong>t des ewigen Morgens ist wahre Spiritualität<br />
("Spirituale in sua essentia non aliud est": 4669), ist das erlösende, freima<strong>ch</strong>ende<br />
(Joh 8,32) Li<strong>ch</strong>t der Liebe. Dieser Josef kann ni<strong>ch</strong>t ohne Benjamin leu<strong>ch</strong>ten.<br />
Deswegen spra<strong>ch</strong> Ra<strong>ch</strong>el ein zweites Mal: "Jehovah füge mir no<strong>ch</strong> einen Sohn hinzu!"<br />
(Gen 30,24). Denn in Josef fühlen wir immer au<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on Benjamin; unser hö<strong>ch</strong>stes<br />
Glück, das uns den Tod bringen wird. Wir sehen in den beiden Namenssätzen den<br />
We<strong>ch</strong>sel von Elohim (Gottesli<strong>ch</strong>t) auf Jehovah (Liebes- und Lebenswärme), den Übergang<br />
in die reine Liebessphäre.<br />
Auf ihrem Weg mit Jakob wird Ra<strong>ch</strong>el no<strong>ch</strong> viel erleben. Die Theraphim (Hausgötter) ihres<br />
Vaters wird sie stehlen und im Kamelsattel verstecken. Auf dem Weg na<strong>ch</strong> Bethlehem<br />
(Haus des ewigen Lebensbrotes) bei der Geburt Benjamins wird sie alles Irdis<strong>ch</strong>e<br />
ablegen und in die himmlis<strong>ch</strong>e Freiheit des Geistes übergehen. Wer ist Benjamin? Im<br />
Sterben nannte sie ihn Benoni (Sohn meines S<strong>ch</strong>merzes oder meiner Trauer: 4591).<br />
Do<strong>ch</strong> sein Vater nannte ihn Benjamin (Sohn der re<strong>ch</strong>ten Seite). In Psalm 110,1 heißt es:<br />
"Spru<strong>ch</strong> des Herrn an meinen Herrn: Setze di<strong>ch</strong> zu meiner Re<strong>ch</strong>ten, bis i<strong>ch</strong> hinlege deine<br />
Feinde als S<strong>ch</strong>emel deiner Füsse." Das Neue Testament erkennt in diesem zur Re<strong>ch</strong>ten<br />
Sitzenden Jesus.<br />
Zum religiösen Denken von Jung-Stilling<br />
von Prof. Dr. Gerhard Merk<br />
Vorbemerkung der S<strong>ch</strong>rifleitung: Herr Prof. Dr. Gerhard Merk ist Präsident der Jung-Stilling-<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft in Siegen. Am 4. September 1999 durften wir ihn im Swedenborg Zentrum zu einem<br />
ho<strong>ch</strong>interessanten Vortag über Jung-Stillings Weltsi<strong>ch</strong>t aus dem Diesseits und Jenseits begrüssen.<br />
Daraus ist nun der folgende Beitrag für unsere Zeits<strong>ch</strong>rift hervorgegangen mit einem S<strong>ch</strong>werpunkt<br />
bei den Jenseitsvorstellungen.<br />
Lebensweg von Jung-Stilling<br />
Johann Heinri<strong>ch</strong> Jung-Stilling (1740–1817) hat die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te seines Lebens selbst niederges<strong>ch</strong>rieben;<br />
Goethe beförderte den ersten Teil zum Druck. Sie wurde in viele Spra-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 19<br />
<strong>ch</strong>en übersetzt und blieb bis heute auf dem Bü<strong>ch</strong>ermarkt. Dana<strong>ch</strong> lässt si<strong>ch</strong> der äussere<br />
Lebensweg von Jung-Stilling in vier Abs<strong>ch</strong>nitte gliedern.<br />
(1) Jugendzeit im Siegerland. Jung-Stilling wä<strong>ch</strong>st in einer Grossfamilie von Handwerkern<br />
und Bauern im Siegerland auf, einer der ältesten Bergbauregionen in Europa. Na<strong>ch</strong><br />
sorgfältiger Erziehung daheim besu<strong>ch</strong>t er die Grunds<strong>ch</strong>ule und Lateins<strong>ch</strong>ule. Von kleinauf<br />
steht der frühreife Ho<strong>ch</strong>begabte als Handrei<strong>ch</strong>er im Köhlerhandwerk dem Grossvaters<br />
zur Seite, lernt beim Vater die S<strong>ch</strong>neiderei und arbeitet als S<strong>ch</strong>ulmeister, Vermessungsgehilfe<br />
sowie in der Landwirts<strong>ch</strong>aft in seiner Heimat.<br />
Auf nahezu allen Gebieten bildet si<strong>ch</strong> der wissensdurstige und bis zu seinem Lebensende<br />
lerneifrige Jung-Stilling weiter. Der Knabe ist dur<strong>ch</strong> die häusli<strong>ch</strong>e Erziehung besonders<br />
au<strong>ch</strong> mit der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Frohbots<strong>ch</strong>aft wohl vertraut. Er beantwortet die Gnade<br />
der Erlösung mit einem festen, lauteren und treuen Glauben. Die Familie ist reformierter<br />
Konfession, und Jung-Stilling blieb zeit seines Lebens in diesem religiösen Umfeld.<br />
Der katholis<strong>ch</strong>e Glaube blieb im letztli<strong>ch</strong> fremd. Was er vom Luthertum kannte, ist nur<br />
Stückwerk geblieben.<br />
(2) Reifung im Bergis<strong>ch</strong>en Land. Das wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Klima im Siegerland ist um 1760<br />
verhältnismässig s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t. Demgegenüber erfreut si<strong>ch</strong> das bena<strong>ch</strong>barte Bergis<strong>ch</strong>e Land<br />
einer Phase günstiger industrieller Entfaltung. Getragen wird diese von der eisenverarbeitenden<br />
Industrie sowie von zahlrei<strong>ch</strong>en Textilfabriken im Talgebiet der Wupper. Viele<br />
Mens<strong>ch</strong>en wandern in das Bergis<strong>ch</strong>e Land ein, darunter so man<strong>ch</strong>er Siegerländer.<br />
Au<strong>ch</strong> Jung-Stilling ents<strong>ch</strong>liesst si<strong>ch</strong> in seinem 22. Altersjahr, als Wandergeselle ins<br />
Bergis<strong>ch</strong>e zu ziehen.<br />
Den S<strong>ch</strong>neidergesellen entdeckt einer der damals bedeutenden Gewerbetreibenden an<br />
der Wupper: der Fabrikant, Gutsbesitzer, Viehzü<strong>ch</strong>ter, Grosshändler und Transportunternehmer<br />
Peter Johannes Flender (1727–1807). Er ma<strong>ch</strong>t Jung-Stilling zum Hauslehrer<br />
seiner Kinder und zu seiner re<strong>ch</strong>ten Hand im Ges<strong>ch</strong>äftli<strong>ch</strong>en. Flender ist wie Jung-<br />
Stilling reformierten Bekenntnisses; er entstammt väterli<strong>ch</strong>erseits dem Siegerland. Gottesdienstbesu<strong>ch</strong><br />
und Gebet bei Tis<strong>ch</strong> sind eine Selbstverständli<strong>ch</strong>keit. Religiöse Fragen<br />
bes<strong>ch</strong>äftigen Flender immerzu. Er liest entspre<strong>ch</strong>ende Bü<strong>ch</strong>er; zweimal in der Wo<strong>ch</strong>e ist<br />
der Pfarrer am Abend sein Gast. Jung-Stilling bleibt sieben Jahre im Hause Flender. Er<br />
bezei<strong>ch</strong>net diese Zeit als seine ökonomis<strong>ch</strong>en Studienjahre. Jung-Stilling, ländli<strong>ch</strong>er<br />
Herkunft, wä<strong>ch</strong>st daneben hier au<strong>ch</strong> in die kultivierte Lebensart des städtis<strong>ch</strong>en Bürgertums<br />
hinein.<br />
Bereits 30 Jahre alt, verlässt Jung-Stilling das Haus Flender, um in Strassburg Medizin<br />
zu studieren. Er hatte si<strong>ch</strong> im Selbststudium bereits die Grundlagen dieser Wissens<strong>ch</strong>aft<br />
angeeignet. Dazu wirkte er in seiner Freizeit als Laienarzt bei Augenkrankheiten; Jung-<br />
Stilling erhielt von einem Bekannten seines Onkels eine Hands<strong>ch</strong>rift mit entspre<strong>ch</strong>en-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 20<br />
den Anleitungen. In nur drei Semestern s<strong>ch</strong>affte es Jung-Stilling, das Medizinstudium<br />
abzus<strong>ch</strong>liessen. In Strassburg lernte er au<strong>ch</strong> Johann Wolfgang Goethe und Gottfried<br />
Herder kennen.<br />
No<strong>ch</strong> vor seiner Abreise na<strong>ch</strong> Strassburg hatte si<strong>ch</strong> Jung-Stilling mit einer kränkli<strong>ch</strong>en<br />
jungen Frau aus einer Bergis<strong>ch</strong>en Unternehmerfamilie verlobt, die er 1771 heiratete. Im<br />
Frühjahr 1772 liess er si<strong>ch</strong> als praktis<strong>ch</strong>er Arzt in Elberfeld nieder. Bald verlegt er den<br />
S<strong>ch</strong>werpunkt auf Augenkrankheiten, und hier wieder im besonderen auf die Operation<br />
des grauen Stars. Bis zu seinem Lebensende s<strong>ch</strong>enkt Jung-Stilling etwa 2 000 Mens<strong>ch</strong>en<br />
dur<strong>ch</strong> Operation das Augenli<strong>ch</strong>t wieder. Ein Honorar verlangte er ni<strong>ch</strong>t, wiewohl<br />
er die meiste Zeit seines Lebens Gelds<strong>ch</strong>ulden hatte.<br />
(3) Ho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ullehrer für Ökonomik. Während seiner Zeit als Arzt in Elberfeld hatte Jung-<br />
Stilling au<strong>ch</strong> Abhandlungen über betriebswirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Themen veröffentli<strong>ch</strong>t. Diese<br />
Arbeiten und seine gute Beziehungen bei Hofe zu Mannheim (das Bergis<strong>ch</strong>e Land gehörte<br />
damals zum Herrs<strong>ch</strong>aftsberei<strong>ch</strong> des Kurfürsten von der Pfalz, der in Mannheim<br />
residierte) trugen ihm 1778 die Berufung zum ordentli<strong>ch</strong>en Professor für angewandte<br />
ökonomis<strong>ch</strong>e Wissens<strong>ch</strong>aften an die Kameral Hohe S<strong>ch</strong>ule in Kaiserslautern ein. Im<br />
Herbst dieses Jahres zieht Jung-Stilling mit seiner Familie in die Kurpfalz.<br />
Die Kameral Hohe S<strong>ch</strong>ule wird 1784 der Universität Heidelberg angegliedert. Jung-<br />
Stilling übersiedelt mit seiner Familie dorthin. Er hatte 1782 ein zweites Mal geheiratet,<br />
na<strong>ch</strong>dem seine erste Frau in Kaiserslautern starb. Zum Sommersemester 1787 erhält<br />
Jung-Stilling unter Verdoppelung seiner bisherigen Bezüge einen Ruf an die Universität<br />
Marburg, dem er gern folgt. Bis zum Jahr 1803 lehrt Jung-Stilling nun Ökonomik in<br />
Marburg. An der medizinis<strong>ch</strong>en Fakultät hält er au<strong>ch</strong> Übungen zur operativen Augenheilkunde<br />
ab. Denn Jung-Stilling gibt au<strong>ch</strong> als Ökonomieprofessor seine Tätigkeit als<br />
Augenarzt nie auf. Jung-Stilling s<strong>ch</strong>rieb zur Ökonomik elf Fa<strong>ch</strong>bü<strong>ch</strong>er und zahlrei<strong>ch</strong>e<br />
Aufsätze. Au<strong>ch</strong> veröffentli<strong>ch</strong>te er eine Anleitung zur Operation des Grauen Stars.<br />
(4) Berater am Badis<strong>ch</strong>en Hof. Die Französis<strong>ch</strong>e Revolution von 1789 wirkt si<strong>ch</strong> in<br />
Deuts<strong>ch</strong>land verheerend aus. Krieg, Mangel, Hunger, Elend, Verarmung, Leid, Trümmer,<br />
Plünderungen und Unsi<strong>ch</strong>erheit sind die Folge. Ab 1794 steht Deuts<strong>ch</strong>land ganz unter<br />
dem Druck der Franzosen. Die linksrheinis<strong>ch</strong>en Lande werden Frankrei<strong>ch</strong> einverleibt,<br />
alle anderen Gebiete von Frankrei<strong>ch</strong> beherrs<strong>ch</strong>t. Die Universität Marburg verkümmert;<br />
in den Vorlesungen von Jung-Stilling sitzen nur no<strong>ch</strong> zwei bis drei Hörer.<br />
Angesi<strong>ch</strong>ts dieser widrigen Umstände entsagt Jung-Stilling dem Lehramt und tritt im<br />
Herbst 1803 in die Dienste des ihm geistig nahestehenden Karl Friedri<strong>ch</strong> von Baden<br />
(1728–1811) als dessen persönli<strong>ch</strong>er Berater. Wieder verlegt Jung-Stilling mit seinem<br />
ganzen Hausstand den Wohnsitz, und zwar auf Wuns<strong>ch</strong> seines Gönners zunä<strong>ch</strong>st na<strong>ch</strong>
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 21<br />
Heidelberg, im Jahre 1806 dann na<strong>ch</strong> Karlsruhe. Diesmal zieht seine dritte Ehefrau mit<br />
ihm. Jung-Stilling war 1790 in Marburg ein zweites Mal Witwer geworden.<br />
Karlsruhe ist um diese Zeit ein Mittelpunkt wieder aufblühender Kultur im Südwesten<br />
Deuts<strong>ch</strong>lands. Das badis<strong>ch</strong>e Herrs<strong>ch</strong>erhaus hatte si<strong>ch</strong> klug an die neue Ma<strong>ch</strong>tverhältnisse<br />
angepasst. Karl Friedri<strong>ch</strong> hatte gar seinen Na<strong>ch</strong>folger einer Adoptivto<strong>ch</strong>ter von<br />
Napoleon Bonaparte zum Mann gegeben. Aufgrund dieser Politik wurde er von Frankrei<strong>ch</strong><br />
mit Gunstbezeugungen überhäuft. Er stieg vom Markgrafen zum Grossherzog auf;<br />
sein Staatsgebiet erweiterte si<strong>ch</strong> beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> von Frankrei<strong>ch</strong> verfügte Zuweisungen<br />
aus anderen deuts<strong>ch</strong>en Territorien. Karlsruhe galt als "befreundeter Hof" und war<br />
ob dessen dem unmittelbaren Druck Frankrei<strong>ch</strong>s und der rohen Willkür seiner Krieger<br />
entzogen. Jung-Stilling findet damit in Baden die nötige äussere Ruhe zum Arbeiten.<br />
Hier in Karlsruhe stirbt Jung-Stilling im April 1817, zwei Wo<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong> dem Hins<strong>ch</strong>ied<br />
seiner dritten Ehefrau. In Karlsruhe liegt Jung-Stilling au<strong>ch</strong> begraben; das Grabdenkmal<br />
befindet si<strong>ch</strong> heute auf dem (neuen) Hauptfriedhof. Bei seinem Heimgang waren ihm<br />
bereits sieben Kinder in das Jenseits vorangegangen. Sie alle sah Jung-Stilling samt ihren<br />
Müttern gelegentli<strong>ch</strong> einer Verzückung im Himmel, wo sie si<strong>ch</strong> der Seligkeit erfreuen.<br />
Versu<strong>ch</strong> einer natürli<strong>ch</strong>en Gotteserkenntnis<br />
In seiner Zeit als Arzt in Elberfeld bes<strong>ch</strong>äftigte si<strong>ch</strong> Jung-Stilling einlässli<strong>ch</strong> mit der<br />
Frage, wie Gott und die Welt ni<strong>ch</strong>t nur aus biblis<strong>ch</strong>er Belehrung zu erkennen seien,<br />
sondern au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> vernünftiges Na<strong>ch</strong>denken. Dieses Anliegen ist in der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />
Theologie ni<strong>ch</strong>t neu. Vor allem Thomas von Aquin (1227–1274) und seine S<strong>ch</strong>ule bra<strong>ch</strong>ten<br />
es hierbei, an die S<strong>ch</strong>riften des Aristoteles (384–321 v.Chr.) anknüpfend, zu Lehrsätzen,<br />
die bis heute als Glanzstück natürli<strong>ch</strong>er (= nur auf Vernunfts<strong>ch</strong>lüssen beruhender)<br />
Theologie gelten.<br />
Freili<strong>ch</strong> blieb Jung-Stilling zeitlebens die Ergebnisse dieses Denkens unbekannt. Wie<br />
viele Genies, so a<strong>ch</strong>tete er wenig auf das, was andere vor ihm und neben ihm an Erkenntnissen<br />
gewannen. So glaubte Jung-Stilling 1774, sein "eigenes System" entdeckt<br />
zu haben. Fru<strong>ch</strong>t dessen ist sein "Theosophis<strong>ch</strong>er Versu<strong>ch</strong> vom Wesen Gottes und dem<br />
Ursprung aller Dinge" aus dem Jahr 1776; die S<strong>ch</strong>rift ist nur als Manuskript auf uns gekommen.<br />
Do<strong>ch</strong> 1787 gibt Jung-Stilling diese Gedanken in dem anonym ers<strong>ch</strong>ienenen<br />
Bu<strong>ch</strong> "Blicke in die Geheimnisse der Natur=Weisheit" in veränderter Form zum Druck.<br />
Jung-Stillings Anliegen ist es letztli<strong>ch</strong>, die Übereinstimmung von Wissen und Glauben,<br />
von Denken und Offenbarung zu beweisen, wie er im Vorwort betont. Jedo<strong>ch</strong> sind die<br />
Ausführungen an vielen Stellen sehr s<strong>ch</strong>wer verständli<strong>ch</strong> und s<strong>ch</strong>leierig. Jung-Stilling<br />
hat ganz offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> Lehren der westöstli<strong>ch</strong>en Geheimwissens<strong>ch</strong>aft (hermetis<strong>ch</strong>e
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 22<br />
S<strong>ch</strong>riften) in "sein System" hinein gemis<strong>ch</strong>t. Dazu fehlt ein Inhaltsverzei<strong>ch</strong>nis, und die<br />
an den S<strong>ch</strong>luss gestellten "Anmerkungen über vorgehendes philosophis<strong>ch</strong>es System"<br />
stehen teilweise in Widerspru<strong>ch</strong> zum Hauptteil. Jung-Stilling räumt freili<strong>ch</strong> selbst ein,<br />
dass "sein System" no<strong>ch</strong> "ausserordentli<strong>ch</strong> viel Unverdautes und Baufälliges" habe. So<br />
ist es ni<strong>ch</strong>t verwunderli<strong>ch</strong>, dass dieses Bu<strong>ch</strong> selbst von den Widmungsträgern (Dalberg,<br />
Herder, Kant) mit Kopfs<strong>ch</strong>ütteln aufgenommen wurde.<br />
Eintreten für den Pietismus<br />
Zu Lebzeiten von Jung-Stilling vollzog si<strong>ch</strong> ein bea<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>er, bis heute na<strong>ch</strong>wirkender<br />
Aufstieg der Naturwissens<strong>ch</strong>aften. Viele Gesetze und Zusammenhänge wurden erstmals<br />
entdeckt. Im Zuge dessen änderte si<strong>ch</strong> allgemein das Verständnis von Gott und der<br />
Welt. Denn man<strong>ch</strong>es, was man bis anhin als unmittelbares Wirken Gottes ansah, erwies<br />
si<strong>ch</strong> jetzt als in die Dinge hineingelegte Regelung. Dies führte nun bei vielen zu fals<strong>ch</strong>en<br />
Folgerungen. Die einen behaupteten, Gott kümmere si<strong>ch</strong> gar ni<strong>ch</strong>t mehr um die<br />
Welt und um den Mens<strong>ch</strong>en; er habe alles wie ein Uhrwerk vorgeordnet. Andere kamen<br />
gar zu dem S<strong>ch</strong>luss, Gott habe si<strong>ch</strong> vergegenständli<strong>ch</strong>t: er sei in der Welt aufgegangen.<br />
Diese Gott-Welt-Wirkli<strong>ch</strong>keit sei in immerwährendem Werden. Goethe huldigte sol<strong>ch</strong>en<br />
Gedanken.<br />
Gelehrte und Ungelehrte fühlten si<strong>ch</strong> berufen, die Mens<strong>ch</strong>en von dieser neuen Weltsi<strong>ch</strong>t<br />
"aufzuklären". Die <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Bots<strong>ch</strong>aft wurde als ni<strong>ch</strong>t mehr in die "neue Zeit"<br />
passend abgelehnt, darüber hinaus oft au<strong>ch</strong> mit Spott und Hass verfolgt. Als Zerrbild<br />
des im "Aberglauben" verhafteten Christgläubigen galt den Philosophen und Literaten<br />
vornehmli<strong>ch</strong> der "Pietist". Über ihn s<strong>ch</strong>ütten sie Hohn und S<strong>ch</strong>impf aus.<br />
Sol<strong>ch</strong>e Hetzjagd rief Jung-Stilling auf den Plan. Er verwahrte si<strong>ch</strong> dagegen, die Pietisten<br />
allesamt als hinterwäldleris<strong>ch</strong>e Tölpel hinzustellen. In vielen S<strong>ch</strong>riften wies er na<strong>ch</strong>,<br />
dass das gläubige Vertrauen in den persönli<strong>ch</strong>en Gott sogar Voraussetzung dafür ist,<br />
si<strong>ch</strong> der Welt zuzuwenden und sie zum Besseren zu gestalten. Au<strong>ch</strong> deckte Jung-Stilling<br />
auf, wie das Fehlen der Herzensfrömmigkeit zur Kälte gegen die Mitmens<strong>ch</strong>en führt.<br />
Zwar wurden sie von den "Aufklärern" ho<strong>ch</strong>trabend als "Brüder" gefeiert. Die tätige<br />
Nä<strong>ch</strong>stenliebe jedo<strong>ch</strong> blieb ganz auf der Strecke. Statt dessen verkündeten die "Aufklärer"<br />
unbestimmte sittli<strong>ch</strong>e Forderungen in Menge. Im besonderen s<strong>ch</strong>ärfte man die<br />
au<strong>ch</strong> von Jesus als Ri<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>nur anempfohlene Goldene Regel ("Handle so, wie du willst,<br />
dass andere handeln") ein – freili<strong>ch</strong> ohne deren Verpfli<strong>ch</strong>tung im vor Gott zu verantwortenden<br />
Gewissen zu verankern.<br />
Jung-Stilling hielt es für anmassend, diese neue Weltans<strong>ch</strong>auung als "Aufklärung" zu<br />
bezei<strong>ch</strong>nen, und gar no<strong>ch</strong> aus dem Evangelium alles zu strei<strong>ch</strong>en, was von der Vernunft<br />
ni<strong>ch</strong>t zu begreifen sei. Wahre Aufklärung ist vielmehr (so s<strong>ch</strong>reibt er in einem Lehr-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 23<br />
bu<strong>ch</strong>) "die ri<strong>ch</strong>tige Erkänntniß von Gott, von der Natur, besonders von dem Mens<strong>ch</strong>en,<br />
und von dem Verhältniß desselben zu Gott, und den daher entspringenden Pfli<strong>ch</strong>ten gegen<br />
den Vater im Himmel, und gegen den Nä<strong>ch</strong>sten. Aus der wahren Aufklärung folgt<br />
also reine und thätige Liebe gegen Gott und seinen Mitmens<strong>ch</strong>en."<br />
Man kann si<strong>ch</strong> lei<strong>ch</strong>t vorstellen, dass Jung-Stilling für die tonangebende S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t der Philosophie<br />
und Aufklärungs-Theologie als altmodis<strong>ch</strong>er Unbelehrbarer galt. Auf vielfa<strong>ch</strong>e<br />
Weise wurde er angefeindet. Andererseits aber s<strong>ch</strong>arten si<strong>ch</strong> gläubige evangelis<strong>ch</strong>e<br />
Christen aus vielen Ländern um ihn. Für sie galt er als Bewahrer der unverfäls<strong>ch</strong>ten<br />
<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Bots<strong>ch</strong>aft. Jung-Stilling bediente seine Anhänger dur<strong>ch</strong> eine Vielzahl frommer<br />
S<strong>ch</strong>riften, in denen er das Vertrauen auf das Heilswirken Gottes an jedem einzelnen<br />
Mens<strong>ch</strong>en stärkte.<br />
Jenseitsvorstellungen<br />
Die zu Jung-Stillings Zeiten herrs<strong>ch</strong>ende Aufklärungsphilosophie hatte für ein Leben<br />
na<strong>ch</strong> dem Tod wenig übrig. Andrerseits war – ausgelöst vor allem dur<strong>ch</strong> die grosse<br />
wirts<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Not in breiten Volkss<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten infolge der Kriege – vielenorts eine Endzeitstimmung<br />
aufgekommen. Im Zuge dessen sprossten in man<strong>ch</strong>en <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Kreisen<br />
krause, wirre Lehren über Tod und Jenseits auf. Au<strong>ch</strong> "Seher" jeder Art meldeten<br />
si<strong>ch</strong> zu Wort, oft genug mit der Behauptung, von Geistern aus dem Jenseits belehrt<br />
worden zu sein. Beides, sowohl die Leugnung der jenseitigen Welt als au<strong>ch</strong> die übertriebene<br />
Geisterseherei, veranlassten Jung-Stilling, si<strong>ch</strong> vor allem in seinem letzten Lebensabs<strong>ch</strong>nitt<br />
mit diesen Dingen näher zu bes<strong>ch</strong>äftigen. Hatte er zu seiner Zeit in Marburg<br />
bereits die "Szenen aus dem Geisterrei<strong>ch</strong>" herausgegeben, so folgte 1808 in Bu<strong>ch</strong>form<br />
die "Theorie der Geister=Kunde": ein Werk, dass au<strong>ch</strong> ins Englis<strong>ch</strong>e, Niederländis<strong>ch</strong>e<br />
und S<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e übersetzt wurde. Darin sowie in entspre<strong>ch</strong>enden Stellen seiner<br />
Volkss<strong>ch</strong>riften legte Jung-Stilling seine S<strong>ch</strong>au der Jenseits dar.<br />
(1) Raum und Zeit. Jung-Stilling leugnet weder die Zeitli<strong>ch</strong>keit no<strong>ch</strong> die Räumli<strong>ch</strong>keit<br />
des Wirkli<strong>ch</strong>en. Die unseren Wahrnehmungen zugrunde liegenden Dinge füllen tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
einen Raum aus. Der Wahrnehmung von Gestalt, Abstand, Ausdehnung, Lage, Entfernung<br />
und Bewegung entspri<strong>ch</strong>t etwas Glei<strong>ch</strong>artiges in der Wirkli<strong>ch</strong>keit. Au<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>eint<br />
uns ni<strong>ch</strong>ts als "stehendes Jetzt". Vielmehr erfahren wir die Dinge als fliessend,<br />
beginnend, si<strong>ch</strong> ändern. Wo aber Veränderung ist, da muss ein Na<strong>ch</strong>einander, also Zeitli<strong>ch</strong>keit<br />
sein.<br />
In der S<strong>ch</strong>öpfung (in der Natur) gibt es also Raum und Zeit. Es muss daher na<strong>ch</strong> den<br />
Bedingungen von Raum und Zeit sowohl geurteilt als ges<strong>ch</strong>lossen werden, und das Ergebnis<br />
ist wahr. Gott freili<strong>ch</strong> und die von ihm ers<strong>ch</strong>affenen Geister sehen die Welt anders.<br />
Für sie gibt es weder Raum, no<strong>ch</strong> Zeit, no<strong>ch</strong> ein kopernikanis<strong>ch</strong>es Weltsystem.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 24<br />
Daher darf man das nur den körperli<strong>ch</strong>en Wesen (den Mens<strong>ch</strong>en, Tieren, Pflanzen und<br />
der Materie) anhaftende raumzeitli<strong>ch</strong>e Sosein ni<strong>ch</strong>t auf die Geisterwelt übertragen. Aus<br />
der Si<strong>ch</strong>t des S<strong>ch</strong>öpfers ist das Weltall weder körperli<strong>ch</strong>, no<strong>ch</strong> im Kräftespiel, no<strong>ch</strong> in<br />
Bewegung, no<strong>ch</strong> genau so geordnet, wie es si<strong>ch</strong> dem fors<strong>ch</strong>enden Mens<strong>ch</strong>engeist zeigt.<br />
Man warf nun Jung-Stilling vor, er entnehme sol<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>eidungen den Geheimlehren.<br />
Do<strong>ch</strong> steht Jung-Stilling hier voll und ganz in der Überlieferung der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />
Theologie. Obendrein bezi<strong>ch</strong>tigte man ihn der Leugnung des kopernikanis<strong>ch</strong>en Weltsystems.<br />
Dabei ging es Jung-Stilling do<strong>ch</strong> darum, Folgerungen aus dem naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Weltbild für das Jenseits als unstatthaft aufzudecken.<br />
(2) Engel und Geister. Aus dem Ni<strong>ch</strong>ts ers<strong>ch</strong>affen hat Gott ni<strong>ch</strong>t nur die si<strong>ch</strong>tbare Welt,<br />
sondern au<strong>ch</strong> die Engel. Sie sind reine Geistwesen (Körperlosigkeit), unter si<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>ieden<br />
(Einzigkeit), mit freiem Willen begabt (Selbstbestimmung) und s<strong>ch</strong>auen in<br />
Gottes Angesi<strong>ch</strong>t (Seligkeit). Jung-Stilling s<strong>ch</strong>reibt den Engeln einen Einfluss in allen<br />
Ebenen der die Welt zu. Sie sind "Werkzeuge, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e der Herr die ganze S<strong>ch</strong>öpfung,<br />
also au<strong>ch</strong> unsre Sinnenwelt regiert." Aber grundsätzli<strong>ch</strong> steht es dem Mens<strong>ch</strong>en<br />
ni<strong>ch</strong>t an, Umgang mit Engeln zu su<strong>ch</strong>en.<br />
S<strong>ch</strong>utzengel sind Geister, die jedem Mens<strong>ch</strong>en von Gott beigestellt sind. Sie wenden Gefahren<br />
des Leibes und der Seele von ihren S<strong>ch</strong>ützlingen ab, eifern sie zum Guten an und<br />
begleiten sie in die zukünftige Welt. Es muss ihnen eine gewisse Wirkma<strong>ch</strong>t zu Gebote<br />
stehen, wodur<strong>ch</strong> sie auf die Aussenwelt Einfluss nehmen. Wie gross diese ist, bleibt offen.<br />
Die von Jung-Stilling angeführten biblis<strong>ch</strong>en Beispiele und au<strong>ch</strong> eigene Erfahrungen<br />
(sein S<strong>ch</strong>utzengel Siona diktierte ihm die S<strong>ch</strong>rift "Lavaters Verklärung" in die Feder)<br />
sind si<strong>ch</strong>er als von Gott erteilte Wirkma<strong>ch</strong>t für einzelne Fälle zu verstehen. Jung-<br />
Stilling geht davon aus, dass die Engel in Bezug auf die Spielweite ihrer Ma<strong>ch</strong>tbetätigung<br />
jederzeit an den göttli<strong>ch</strong>en Willen gebunden sind.<br />
Eine fromme abges<strong>ch</strong>iedene Mens<strong>ch</strong>enseele kann na<strong>ch</strong> Jung-Stilling zu einem engelglei<strong>ch</strong>en<br />
Zustand aufsteigen. In seinen "Szenen aus dem Geisterrei<strong>ch</strong>" zählt Jung-<br />
Stilling beispielsweise die beiden Zür<strong>ch</strong>er Pfarrer Johann Kaspar Lavater (1741–1801)<br />
und Johann Konrad Pfenninger (1747–1792) zu sol<strong>ch</strong>en seligen Geistern. Si<strong>ch</strong>er knüpft<br />
Jung-Stilling hier an die altkir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e (und no<strong>ch</strong> heute von der katholis<strong>ch</strong>en und orthodoxen<br />
Kir<strong>ch</strong>e gelehrte) Lehre von den Heiligen an. Es sind dies verstorbene Mens<strong>ch</strong>en,<br />
die der Gotteskinds<strong>ch</strong>aft teilhaftig wurden. "Sie erkennen im Willen Gottes, in dessen<br />
Angesi<strong>ch</strong>t sie leben, besser als wir, was für uns nüzli<strong>ch</strong> ist, und beten gewiß mit vieler<br />
Liebe für uns", meint Jung-Stilling. Grundsätzli<strong>ch</strong> ist er ni<strong>ch</strong>t gegen eine Verehrung der<br />
Heiligen, wie sie die frühe Kir<strong>ch</strong>e pflegte. Freili<strong>ch</strong> sieht er die Gefahr, dass Heilige –<br />
ebenso wie Engel – sehr lei<strong>ch</strong>t in den Mittelpunkt des Glaubens rücken können. Daher<br />
warnt er vor dem Kult der Engel und Heiligen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 25<br />
(3) Teufel und Dämonen. Ein Teil der Engel hat si<strong>ch</strong> in freier Ents<strong>ch</strong>eidung von Gott abgewendet<br />
und steht ihm in Feinds<strong>ch</strong>aft gegenüber. Dies sind die bösen Geister (Dämonen).<br />
Diese "würken zum Verderben, erhitzen die Leidens<strong>ch</strong>aften, und locken zum Laster",<br />
wie Jung-Stilling ihr Tun kennzei<strong>ch</strong>net. Der abgefallene oberste Engel, dem die<br />
Leitung der irdis<strong>ch</strong>en Dinge oblag, heisst Teufel (Satan, Luzifer).<br />
Na<strong>ch</strong> Jung-Stilling kann der Einfluss des "bösen Feindes" ni<strong>ch</strong>t geleugnet, darf jedo<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t übertrieben werden. Die Erkenntnis des Teufels und der bösen Geister überhaupt<br />
(als frühere Engel) ist geblieben. Sie übersteigt daher die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e. Jedo<strong>ch</strong> erkennt<br />
der Satan ni<strong>ch</strong>t das Zukünftige und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong> die Gedanken (alle Denkerlebnisse)<br />
der Mens<strong>ch</strong>en. Er vermag au<strong>ch</strong> keine Wunder zu wirken, sondern hö<strong>ch</strong>stens Taten, wel<strong>ch</strong>e<br />
die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en überragen ("Trugwerk", "Blendwerk"). — Gott gestattet dem Teufel,<br />
uns zu versu<strong>ch</strong>en. Aber ni<strong>ch</strong>t jede Versu<strong>ch</strong>ung ist vom Teufel, weil Fleis<strong>ch</strong> und Welt<br />
au<strong>ch</strong> versu<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> sind. Der Satan kann nie zur Sünde zwingen; denn es gibt keine Sünde<br />
ohne Freiheit. Teufelsbündnisse sind mögli<strong>ch</strong>. Niemand freili<strong>ch</strong>, der si<strong>ch</strong> mit einem<br />
bösen Geist verbündet, kann Nebenmens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>aden, "wenn ihm ni<strong>ch</strong>t jemand selbst<br />
die Gelegenheit dazu giebt, und die Gottesfur<strong>ch</strong>t beyseite sezt", wie Jung-Stilling betont.<br />
(3) Himmel und Hölle. Jeder einzelne Mens<strong>ch</strong> ist von Gott berufen, für einige Zeit an seiner<br />
S<strong>ch</strong>öpfung auf Erden mitzuwirken. Je na<strong>ch</strong>dem, wie er Gott und seinem Nä<strong>ch</strong>sten<br />
an dieser Lebens-Aufgabe gedient hat, wird seine Bestimmung na<strong>ch</strong> dem Tode sein. Die<br />
Gere<strong>ch</strong>ten kommen sofort na<strong>ch</strong> ihrem Ableben auf der Erde in den Himmel. Die von<br />
Gott abgewandten Bösen werden in einen jenseitigen Strafzustand versetzt, in die Hölle.<br />
(4) Hades. Die entleibten Seelen all jener, die si<strong>ch</strong> im irdis<strong>ch</strong>en Leben ni<strong>ch</strong>t grundlegend<br />
für das Gute oder Böse ents<strong>ch</strong>eiden haben, kommen in einen Mittelort (Totenrei<strong>ch</strong>, Hades,<br />
S<strong>ch</strong>eol). Mit dieser Lehre steht Jung-Stilling zwar ni<strong>ch</strong>t in Widerspru<strong>ch</strong> zur Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Theologie, wohl aber zur reformierten Lehre seiner Zeit. Im<br />
einzelnen ma<strong>ch</strong>t Jung-Stilling zum Hades a<strong>ch</strong>t wesentli<strong>ch</strong>e Aussagen.<br />
1. Im Hades reifen die Seelen für kürzere oder längere Zeit entweder zum Himmel oder<br />
zur Hölle heran. Es gibt also im Hades "Gute und Böse, Halbgute, und Halbböse."<br />
2. Die na<strong>ch</strong> dem Tode im Hades angekommene Seele verspürt die Sinnenwelt ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr. Sinnenwelt meint dabei die irdis<strong>ch</strong>e Aussenwelt, die dur<strong>ch</strong> Empfindungen wie<br />
Li<strong>ch</strong>t, Ton, Wärme, Kälte, Geru<strong>ch</strong> oder Ges<strong>ch</strong>mack wahrgenommen wird. Sie erkennt jedo<strong>ch</strong><br />
"die Geister, die im Hades sind."<br />
3. Die Seelen im Hades können vom Ges<strong>ch</strong>ick no<strong>ch</strong> lebender Mens<strong>ch</strong>en (vor allem der<br />
Angehörigen) Kenntnis erhalten. Dies ges<strong>ch</strong>ieht einmal dur<strong>ch</strong> Na<strong>ch</strong>ri<strong>ch</strong>t von Seelen, die<br />
eben entleibt im Hades ankommen. Zum anderen aber kann au<strong>ch</strong> Wissen vermittelt<br />
werden "aus Anstalten, die in Ansehung unserer im Geisterrei<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t werden."
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 26<br />
4. Die Seele besitz im Hades die Vorstellung von Raum und Zeit. Jedo<strong>ch</strong> ist ihr nun im<br />
Raum alles nahe und in der Zeit ni<strong>ch</strong>ts fern. Sie kann deshalb wissen, was in der Ferne<br />
und was in der Zukunft ges<strong>ch</strong>ieht, "insofern es ihr die Gesetze des Geisterrei<strong>ch</strong>s erlauben."<br />
Freili<strong>ch</strong> kann si<strong>ch</strong> die Seele irren. In Unkenntnis ihrer Fals<strong>ch</strong>heit werden dann<br />
Aussagen als wahr behauptet.<br />
5. An und für si<strong>ch</strong> betra<strong>ch</strong>tet ist der Hades ein leidensfreier Ort. Die eigentli<strong>ch</strong>en Leiden<br />
im Hades sind das Heimweh na<strong>ch</strong> der auf immer verlorenen Sinnenwelt der nun leeren,<br />
entblössten Seele, die auf die Hölle zugeht. Seelen, die auf den Himmel vorbereitet werden,<br />
erleiden keine Pein, ausser der, die sie si<strong>ch</strong> selbst ma<strong>ch</strong>en. So empfinden etwas jene<br />
Seelen Leiden, die mit einer ni<strong>ch</strong>t abgelegten Begierde aus diesem Leben s<strong>ch</strong>ieden.<br />
6. Auf no<strong>ch</strong> lebende Mens<strong>ch</strong>en können Seelen im Hades nur einwirken, wenn sie si<strong>ch</strong><br />
mit ihnen in Verbindung setzen können und dürfen. Sie vermögen dann Mens<strong>ch</strong>en<br />
au<strong>ch</strong> absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> zu täus<strong>ch</strong>en und in die Irre zu führen. Man<strong>ch</strong>e ma<strong>ch</strong>en es si<strong>ch</strong> gar zum<br />
Vergnügen, Mens<strong>ch</strong>en zu betrügen.<br />
7. Seelen aus dem Hades vermögen si<strong>ch</strong> grundsätzli<strong>ch</strong> körperli<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>tbar zu ma<strong>ch</strong>en.<br />
In diesem Falle können sie von vielen Mens<strong>ch</strong>en gesehen werden. Jedo<strong>ch</strong> fällt dem Betra<strong>ch</strong>ter<br />
auf, dass es si<strong>ch</strong> um keinen natürli<strong>ch</strong>en, lebendigen Mens<strong>ch</strong>en handelt. Dies<br />
ges<strong>ch</strong>ah beispielsweise massenhaft beim Tode Jesu (Mt 27, 52).<br />
(8) Es ist nützli<strong>ch</strong> und heilsam, für Seelen im Hades zu beten. Niemand ist indessen zu<br />
sol<strong>ch</strong>em Gebet verpfli<strong>ch</strong>tet.<br />
Zur katholis<strong>ch</strong>en Lehre von der Läuterung (in der deuts<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>e früher au<strong>ch</strong> "Fegfeuer"<br />
genannt) besteht ein wesentli<strong>ch</strong>er Unters<strong>ch</strong>ied. Bei Jung-Stilling bereitet der Hades<br />
für Himmel und Hölle vor. Na<strong>ch</strong> der alt<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en und katholis<strong>ch</strong>en Lehre von der<br />
Läuterung jedo<strong>ch</strong> sind nur sol<strong>ch</strong>e Seelen in diesem Zustand, die na<strong>ch</strong> einiger Zeit au<strong>ch</strong><br />
in den Himmel kommen. — Der arge Missbrau<strong>ch</strong>, der mit dem "Fegfeuer" getrieben<br />
wurde, re<strong>ch</strong>tfertigt na<strong>ch</strong> Jung-Stilling keineswegs, dass die Reformatoren eine Reinigung<br />
na<strong>ch</strong> dem Tode zur Gänze auss<strong>ch</strong>liessen. Andrerseits widerstrebt es Jung-Stilling<br />
au<strong>ch</strong>, diese Lehre "auf die Canzel zu bringen."<br />
Abs<strong>ch</strong>liessende Bemerkungen<br />
Die theologis<strong>ch</strong>en Aussagen von Jung-Stilling stehen in keinem planvollen, sorgsam<br />
dur<strong>ch</strong>da<strong>ch</strong>ten Zusammenhang. Die mangelnde Systematik erklärt si<strong>ch</strong> daraus, dass<br />
Jung-Stilling als Ökonom, Art und Literat die Theologie ni<strong>ch</strong>t als sein näheres Aufgabengebiet<br />
ansah. So nimmt er meistens nur zu einzelnen Fragekreisen Stellung. Dies<br />
ges<strong>ch</strong>ieht in Bü<strong>ch</strong>ern (wie etwa seiner Erklärung der Offenbarung Johannis), in Volkss<strong>ch</strong>riften<br />
und Romanen sowie in – vor allem der Seelsorge dienenden – persönli<strong>ch</strong>en
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 27<br />
S<strong>ch</strong>reiben. Jung-Stilling dürfte zeitlebens gut 20 000 Briefe verfasst haben; die Korrespondenz<br />
belegt besonders im letzten Lebensabs<strong>ch</strong>nitt einen Gutteil seiner Zeit. In allem<br />
aber steht die praktis<strong>ch</strong>e Frömmigkeit im Vordergrund. Lehrmeinungen treten<br />
demgegenüber zurück.<br />
Hinzu kommt, dass si<strong>ch</strong> Jung-Stilling selbst stets als Mitglied der reformierten Kir<strong>ch</strong>e<br />
sah, wie er mehrmals betonte. Von deren Kernlehren wollte er ni<strong>ch</strong>t abwei<strong>ch</strong>en — wiewohl<br />
er das etwa in Bezug auf seine Aussagen zum Wirken der Engel und seine Bes<strong>ch</strong>reibung<br />
des Hades offenkundig tat. Das bra<strong>ch</strong>te ihm s<strong>ch</strong>on zu Lebzeiten hars<strong>ch</strong>e Kritik<br />
seitens der Theologen ein. Bis heute hält dies an; und no<strong>ch</strong> im Katalog der Jung-<br />
Stilling-Ausstellung Karlsruhe 1990 zählt ein Theologe und Jung-Stilling-Kenner die<br />
"Theorie der Geister=Kunde" den "abstrusen spiritistis<strong>ch</strong>en" Bü<strong>ch</strong>ern bei. Der Lehre von<br />
Engeln und Geistern gegenüber reagiert man im reformierten Umfeld günstigenfalls mit<br />
milden Lä<strong>ch</strong>eln, oft genug mit Entrüstung und Empörung. Dass der unendli<strong>ch</strong>en Vielfalt<br />
der si<strong>ch</strong>tbaren S<strong>ch</strong>öpfung Gottes au<strong>ch</strong> eine Vielfalt in der ni<strong>ch</strong>tkörperli<strong>ch</strong>en Welt entspri<strong>ch</strong>t,<br />
gilt als ausges<strong>ch</strong>lossen.<br />
Endli<strong>ch</strong> aber hatte Jung-Stilling ein Misstrauen gegen jede Art von Separatismus, verstanden<br />
hier als Abspaltung von der Volkskir<strong>ch</strong>e. In seiner Jugend zuhause und in seiner<br />
Zeit im Bergis<strong>ch</strong>en Land lernte er religiöse Gemeins<strong>ch</strong>aften kennen, die er in seinem<br />
Bu<strong>ch</strong> "Theobald oder die S<strong>ch</strong>wärmer, eine wahre Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te" s<strong>ch</strong>ildert. Je mehr<br />
si<strong>ch</strong> diese von der Leitlinie der Kir<strong>ch</strong>enlehre entfernten, desto überspannter und wirkli<strong>ch</strong>keitsferner<br />
gestalteten sie si<strong>ch</strong> selbst: das zei<strong>ch</strong>net Jung-Stilling deutli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>. Deshalb<br />
s<strong>ch</strong>reibt er au<strong>ch</strong> als Motto: "Mittelmaß die beste Straß" in den Untertitel seines<br />
Theobald-Romans.<br />
In seinem letzten Lebensabs<strong>ch</strong>nitt verdä<strong>ch</strong>tigte man Jung-Stilling, geistiger Vater vieler<br />
damals aufblühender religiöser Gruppen mit s<strong>ch</strong>wärmeris<strong>ch</strong>er, ja teilweise sogar revolutionärer<br />
Lehre zu sein. Er musste si<strong>ch</strong> gegen sol<strong>ch</strong>e Vorwürfe in einer eigenen S<strong>ch</strong>rift<br />
wehren. Au<strong>ch</strong> das festigte Jung-Stilling in seiner Haltung, die verfasste Grosskir<strong>ch</strong>e zu<br />
bestärken und der Glaubensüberzeugung ihrer Vorsteher gemäss Hebr. 13, 7 zu folgen.<br />
Jung-Stilling beeinflusste aber ohne Zweifel die gelebte Glaubenspraxis, die Frömmigkeit<br />
der reformierten Kir<strong>ch</strong>e seiner Zeit. Zumindest Rinnsale dieses Stromes sind bis<br />
heute spürbar.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 28<br />
Die "Gemeinsame Erklärung zur Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre"<br />
aus Si<strong>ch</strong>t eines Swedenborgianers<br />
von Thomas Noack<br />
Am 31. Oktober 1999 (Reformationsfest) wurde in der Augsburger evangelis<strong>ch</strong>en St.<br />
Annakir<strong>ch</strong>e die lutheris<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>e "Gemeinsame Erklärung zur Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre"<br />
25 von Spitzenvertretern des Lutheris<strong>ch</strong>en Weltbundes (LWB) und des Päpstli<strong>ch</strong>en<br />
Rates zur Förderung der Einheit der Christen ratifiziert. Darin bestätigen der Lutheris<strong>ch</strong>e<br />
Weltbund und die römis<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e einen "Konsens in Grundwahrheiten<br />
der Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre" (Absatz 5, 13, 40, 43) 26 .<br />
Die Gemeinsame Erklärung betont die Alleinwirksamkeit Gottes (Monergismus) und<br />
verneint dementspre<strong>ch</strong>end jegli<strong>ch</strong>e Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en (Synergismus). Wir lesen:<br />
"Gemeinsam bekennen wir: Allein aus Gnade im Glauben an die Heilstat Christi,<br />
ni<strong>ch</strong>t aufgrund unseres Verdienstes, werden wir von Gott angenommen und empfangen<br />
den Heiligen Geist, der unsere Herzen erneuert und uns befähigt und aufruft zu guten<br />
Werken" (Absatz 15). "Alle Mens<strong>ch</strong>en sind von Gott zum Heil in Christus berufen. Allein<br />
dur<strong>ch</strong> Christus werden wir gere<strong>ch</strong>tfertigt, indem wir im Glauben dieses Heil empfangen.<br />
Der Glaube selbst ist wiederum Ges<strong>ch</strong>enk Gottes dur<strong>ch</strong> den Heiligen Geist, der<br />
im Wort und in den Sakramenten in der Gemeins<strong>ch</strong>aft der Gläubigen wirkt und zuglei<strong>ch</strong><br />
die Gläubigen zu jener Erneuerung ihres Lebens führt, die Gott im ewigen Leben vollendet."<br />
(Absatz 16). Die "Mitte des neutestamentli<strong>ch</strong>en Zeugnisses von Gottes Heilshandeln<br />
in Christus … sagt uns, daß wir Sünder unser neues Leben allein der vergebenden<br />
und neus<strong>ch</strong>affenden Barmherzigkeit Gottes verdanken, die wir uns nur s<strong>ch</strong>enken<br />
lassen und im Glauben empfangen, aber nie - in wel<strong>ch</strong>er Form au<strong>ch</strong> immer - verdienen<br />
können." (Absatz 17). "Wir bekennen gemeinsam, daß der Mens<strong>ch</strong> im Blick auf sein<br />
Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist. Die Freiheit, die er gegenüber<br />
den Mens<strong>ch</strong>en und den Dingen der Welt besitzt, ist keine Freiheit auf sein Heil hin. Das<br />
heißt, als Sünder steht er unter dem Geri<strong>ch</strong>t Gottes und ist unfähig, si<strong>ch</strong> von si<strong>ch</strong> aus<br />
Gott um Rettung zuzuwenden oder seine Re<strong>ch</strong>tfertigung vor Gott zu verdienen oder mit<br />
eigener Kraft sein Heil zu errei<strong>ch</strong>en. Re<strong>ch</strong>tfertigung ges<strong>ch</strong>ieht allein aus Gnade." (Absatz<br />
19).<br />
Dieser Konsens ist aus neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t keine Neuigkeit. Denn s<strong>ch</strong>on 1769 wies<br />
Emanuel Swedenborg in seiner "Kurze(n) Darstellung der Lehre der neuen Kir<strong>ch</strong>e" das<br />
25 Der vollständige Text ist im Internet unter www.re<strong>ch</strong>tfertigung.de abrufbar.<br />
26 Die Absätze der gemeinsamen Erkläruung sind nummeriert. Diese Zahlen werden im Folgenden<br />
verwendet.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 29<br />
Folgende na<strong>ch</strong>: "Die dur<strong>ch</strong> die Reformation von der Römis<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e getrennten<br />
Kir<strong>ch</strong>en wei<strong>ch</strong>en in man<strong>ch</strong>erlei Punkten voneinander ab; stimmen aber alle in<br />
den Artikeln von der Dreiheit der Personen in der Gottheit, vom Ursprung der Sünde<br />
von Adam her, von der Zure<strong>ch</strong>nung des Verdienstes Christi und von der Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
dur<strong>ch</strong> den Glauben allein überein." (KD 17). Und weiter: "Die Römis<strong>ch</strong>-Katholis<strong>ch</strong>en<br />
hatten vor der Reformation ganz Ähnli<strong>ch</strong>es über die vier obengenannten Artikel gelehrt<br />
wie die Protestanten dana<strong>ch</strong>", somit au<strong>ch</strong> "Ähnli<strong>ch</strong>es über die Re<strong>ch</strong>tfertigung dur<strong>ch</strong> den<br />
Glauben an sie mit dem einzigen Unters<strong>ch</strong>ied, dass sie diesen Glauben mit der tätigen<br />
Liebe oder den guten Werken verbunden hatten." (KD 19). Also s<strong>ch</strong>on im 18. Jahrhundert<br />
entdeckte Swedenborg na<strong>ch</strong> sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Prüfung der maßgebli<strong>ch</strong>en Dokumente,<br />
dass der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en der römis<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>en Mutter und ihren Tö<strong>ch</strong>tern aus<br />
der Reformationszeit viel kleiner ist als es die lautstark inszenierte Trennung vermuten<br />
ließ.<br />
Der errei<strong>ch</strong>te "Konsens in Grundwahrheiten der Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre" wird als ein<br />
"ents<strong>ch</strong>eidender S<strong>ch</strong>ritt zur Überwindung der Kir<strong>ch</strong>enspaltung" angesehen (Absatz 44).<br />
Glei<strong>ch</strong>wohl hat er ni<strong>ch</strong>t die Einheit der lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en mit der römis<strong>ch</strong>katholis<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e zur Folge. Warum? Kir<strong>ch</strong>entrennend wirkt heute ni<strong>ch</strong>t mehr die<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre; das Konsenspapier zeigt es. Vielmehr ist das eigentli<strong>ch</strong>e Hindernis<br />
auf dem Weg zur Kir<strong>ch</strong>eneinheit die These des Ökumenismusdekrets des Zweiten<br />
Vatikanis<strong>ch</strong>en Konzils, wona<strong>ch</strong> die Protestanten "wegen des Fehlens des Sakraments<br />
der Priesterweihe … kein Abendmahl im Vollsinn und seinem Wesen na<strong>ch</strong> feiern".<br />
Selbst in der Papstfrage ist eine Verständigung mögli<strong>ch</strong>. Die Reformation hat das Papsttum<br />
nur als Amt göttli<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>ts (de iure divino) abgelehnt. Daher könnten die Lutheraner<br />
den Papst als Bis<strong>ch</strong>of von Rom und als Patriar<strong>ch</strong> des Westens anerkennen. Die<br />
Katholiken freili<strong>ch</strong> müssten das Unfehlbarkeitsdogma von 1870 aufgeben. Kir<strong>ch</strong>entrennend<br />
wirken also heute vor allem ekklesiologis<strong>ch</strong>e Grundüberzeugungen.<br />
Swedenborg entlarvte die "Re<strong>ch</strong>tfertigung allein dur<strong>ch</strong> den Glauben" als eine fals<strong>ch</strong>e<br />
Lehre. Sie und ihre Anhänger stellen si<strong>ch</strong> dem Werden einer neuen wahrhaft <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e mit aller Ma<strong>ch</strong>t in den Weg. "Die zwei wesentli<strong>ch</strong>en Lehren (essentialia)<br />
der neuen Kir<strong>ch</strong>e (siehe EO 490) werden von denen, die innerli<strong>ch</strong> im Fals<strong>ch</strong>en der Lehre<br />
von der Re<strong>ch</strong>tfertigung allein dur<strong>ch</strong> den Glauben sind, ganz und gar verworfen." (EO<br />
501). Diese Lehre ist der Dra<strong>ch</strong>e der Johannesapokalypse (EO 579), der die Geburt der<br />
Geistkir<strong>ch</strong>e Gottes glei<strong>ch</strong> bei ihrem Entstehen vers<strong>ch</strong>lingen will (siehe Swedenborgs<br />
Auslegung von Offb 12,1-6 in EO 532ff, besonders 542). Die sola fide Konfirmation in<br />
den Köpfen der Theologen und ihres Glaubensvolkes läßt das innere Leben des Geistes<br />
zu einer winterli<strong>ch</strong>en Lands<strong>ch</strong>aft erstarren und überdeckt mit eisiger Kälte den allenthalben<br />
im Worte Gottes blühenden Ruf na<strong>ch</strong> einem Christentum der lebendigen Tat.<br />
"Wer weiß es ni<strong>ch</strong>t aus dem Worte Gottes, dass jeder na<strong>ch</strong> dem Tode ein seinen Hand-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 30<br />
lungen entspre<strong>ch</strong>endes Leben erlangen wird? Öffne das Wort, lies es, und du wirst es<br />
deutli<strong>ch</strong> sehen, aber halte dabei deine Gedanken fern von der Re<strong>ch</strong>tfertigung allein<br />
dur<strong>ch</strong> den Glauben." (GV 128).<br />
Trotz dieser eindeutigen Distanzierung von der Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre muss nun aber<br />
do<strong>ch</strong> auf gewisse Gemeinsamkeiten hingewiesen werden. Insoweit das Anliegen des sola<br />
fide (allein dur<strong>ch</strong> den Glauben) das solus Christus (allein Christus) ist, ist diesem Anliegen<br />
aus neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t zuzustimmen. "Die Erlösung war ein rein göttli<strong>ch</strong>es<br />
Werk" (WCR 123). Der Herr allein ist der Erlöser (EO 279, LH 45). "Die neue S<strong>ch</strong>öpfung<br />
27 oder Wiedergeburt ist allein des Herrn Werk." (HG 88). "Die Wiedergeburt des<br />
Mens<strong>ch</strong>en ges<strong>ch</strong>ieht allein dur<strong>ch</strong> den Herrn und ganz und gar ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> den Mens<strong>ch</strong>en<br />
oder Engel" (NJ 185). Kein Mens<strong>ch</strong> kann si<strong>ch</strong> aus eigener Willenskraft aus der<br />
Ma<strong>ch</strong>t seiner Höllen erlösen. "Denn der Mens<strong>ch</strong> ist ni<strong>ch</strong>ts als böse, er ist eine Zusammenhäufung<br />
von Bösem, sein ganzer Wille ist nur böse." (HG 987). "Jeder Mens<strong>ch</strong> wird<br />
von seinen Eltern her in das Böse der Selbst- und Weltliebe geboren … daher wird die<br />
Ableitung des Bösen s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> so groß, dass das gesamte Eigenleben des Mens<strong>ch</strong>en<br />
ni<strong>ch</strong>ts als böse ist." (HG 8550). Mit Blick auf das lutheris<strong>ch</strong>e "simul iustus et peccator<br />
(zuglei<strong>ch</strong> Gere<strong>ch</strong>ter und Sünder)" ist aus neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t zu sagen, dass au<strong>ch</strong> der<br />
Wiedergeborene no<strong>ch</strong> immer in seinem Bösen lebt. "Nie wird ein einziges Böses oder<br />
Fals<strong>ch</strong>es derart zers<strong>ch</strong>lagen, dass es gänzli<strong>ch</strong> verni<strong>ch</strong>tet ist, sondern alles … verbleibt so<br />
sehr beim Mens<strong>ch</strong>en, dass er au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> seiner Wiedergeburt ni<strong>ch</strong>ts als böse und fals<strong>ch</strong><br />
ist." (HG 868). Gegenüber der wiedergebärenden Wirksamkeit des Herrn ist der Mens<strong>ch</strong><br />
immer nur ein Empfangender. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an Swedenborgs<br />
Vorstellung vom Mens<strong>ch</strong>en als einem Aufnahmeorgan. "Der Mens<strong>ch</strong> ist ni<strong>ch</strong>t das<br />
Leben, sondern das Aufnahmeorgan (Receptaculum) des Lebens von Gott." (WCR 470-<br />
474). "Der Mens<strong>ch</strong> ist ein gottaufnehmendes Organ (Organum recipiens Dei)."<br />
(WCR 34). "Der Mens<strong>ch</strong> ist ni<strong>ch</strong>t das Leben in si<strong>ch</strong>, sondern ein lebenaufnehmendes<br />
Organ (organum recipiens vitae)." (WCR 461 28 ). "Der Mens<strong>ch</strong> ist ein Empfänger des Lebens<br />
(recipiens vitae), ni<strong>ch</strong>t das Leben." (HG 2021). In diesem Sinne ist die Wiedergeburt<br />
ein Ges<strong>ch</strong>enk, ja angesi<strong>ch</strong>ts der völligen Bosheit und Verdorbenheit des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Willens sogar ein "unverdientes Gnadenges<strong>ch</strong>enk" (Absatz 38). In HG 633 spri<strong>ch</strong>t<br />
Swedenborg vom "Ges<strong>ch</strong>enk der Barmherzigkeit des Herrn". Selbstverständli<strong>ch</strong> kennt<br />
und bea<strong>ch</strong>tet au<strong>ch</strong> die neue Kir<strong>ch</strong>e die neutestamentli<strong>ch</strong>en Grundlagen. Demna<strong>ch</strong> sind<br />
"die tätige Liebe und der Glaube die Mittel zur Wiedergeburt" (WCR 577). "Jede Wiedergeburt<br />
wird vom Herrn bewirkt dur<strong>ch</strong> das Wahre des Glaubens und ein dementspre-<br />
27 Bea<strong>ch</strong>te Paulus: "Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue S<strong>ch</strong>öpfung: Das Alte ist<br />
vergangen, Neues ist geworden." (2. Kor 5,17).<br />
28 Vgl. au<strong>ch</strong> HG 3318 mit zahlrei<strong>ch</strong>en Verweisstellen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 31<br />
<strong>ch</strong>endes Leben." (NJ 203). Im "Glauben, der dur<strong>ch</strong> die Liebe tätig ist" (Paulus in Gal 5,6)<br />
sehen au<strong>ch</strong> wir das Heilsmittel. Do<strong>ch</strong> was ist der Glaube seinem Wesen na<strong>ch</strong>? Bei der<br />
Lektüre der Gemeinsamen Erklärung hat man oft den Eindruck der Glaube sei ein göttli<strong>ch</strong>es<br />
Naturereignis, wen es trifft, den trifft es, und die anderen bleiben ohne dieses<br />
wundersame "Ges<strong>ch</strong>enk des Glaubens" (Absatz 25).<br />
Re<strong>ch</strong>tfertigung ist ni<strong>ch</strong>t der Zentralbegriff neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Heilstheologie. Das ist die<br />
Wiedergeburt (regeneratio) 29 ; sie ist mit Swedenborgs Worten gespro<strong>ch</strong>en "das Wesentli<strong>ch</strong>e<br />
des Heils" (essentiale salutis, GT 5740). Die neue Kir<strong>ch</strong>e steht damit in der johanneis<strong>ch</strong>en<br />
Tradition (siehe vor allem Joh 1,13; 3,3.5), ni<strong>ch</strong>t in der paulinis<strong>ch</strong>en. Die in<br />
den lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en mit der Re<strong>ch</strong>tfertigung verbundene sola-fide-Vorstellung blokkiert<br />
jegli<strong>ch</strong>es Wissen um die Wiedergeburt und ihre zahllosen Geheimnisse. Swedenborg<br />
s<strong>ch</strong>reibt: "Die Kir<strong>ch</strong>en<strong>ch</strong>risten wissen heutzutage deswegen so wenig von der<br />
Wiedergeburt, weil sie so viel von der Vergebung der Sünden und der Re<strong>ch</strong>tfertigung<br />
reden" (HG 5398). Denn die wahre Re<strong>ch</strong>tfertigung ist kein im Glauben empfangener<br />
Verbalakt (Gere<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung), sondern erfolgt dur<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>rittweise Wiedergeburt (HG<br />
4721). Dabei ist zu bea<strong>ch</strong>ten, dass die Wiedergeburt ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> das Sakrament der<br />
Taufe ges<strong>ch</strong>ieht. Diese hat keinerlei regenerierende Kraft, sie entfaltet keinerlei magis<strong>ch</strong>e<br />
Wirkung im Getauften, sondern ist ledigli<strong>ch</strong> ein Zei<strong>ch</strong>en dafür, dass der Getaufte<br />
willens ist, den Weg der Wiedergeburt zu gehen (siehe NJ 202-209).<br />
Obwohl au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Auffassung die Wiedergeburt allein das Werk des<br />
Herrn im Mens<strong>ch</strong>en ist, kann dieses Werk denno<strong>ch</strong> nur im Millieu eines mitwirkenden<br />
Mens<strong>ch</strong>en realisiert werden. "Die neue Geburt oder S<strong>ch</strong>öpfung wird allein vom Herrn<br />
bewirkt … unter Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en." (WCR 576). "Was soll das göttli<strong>ch</strong>e Wirken<br />
im Inneren sein ohne das Mitwirken des Mens<strong>ch</strong>en im Äusseren wie aus eigener Kraft<br />
(sicut ab illo)?" (EO 451). "Man muss wissen, dass der Herr, obwohl er alles wirkt und<br />
der Mens<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts aus si<strong>ch</strong>, denno<strong>ch</strong> will, dass der Mens<strong>ch</strong>, soweit seine innere Wahrnehmung<br />
rei<strong>ch</strong>t, wie aus si<strong>ch</strong> wirke. Denn ohne die Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en wie aus<br />
si<strong>ch</strong> heraus kann es keine Aufnahme des Wahren und Guten geben und somit au<strong>ch</strong><br />
keine Einpflanzung und Wiedergeburt. Der Herr gibt nämli<strong>ch</strong> das Wollen, und weil dieses<br />
dem Mens<strong>ch</strong>en wie aus si<strong>ch</strong> heraus ers<strong>ch</strong>eint, gibt er ihm ein Wollen wie aus si<strong>ch</strong>."<br />
(OE 911). Die gesamte Heilige S<strong>ch</strong>rift appelliert an das Mitwirken des Mens<strong>ch</strong>en und<br />
denno<strong>ch</strong> wissen "die Armen im Geiste" (Mt 5,3) und bekennen es im Herzen, "dass sie<br />
ni<strong>ch</strong>ts Wahres und Gutes aus si<strong>ch</strong> heraus haben, sondern ihnen alles umsonst ges<strong>ch</strong>enkt<br />
werde (gratis donentur)." (HG 5008). Im bere<strong>ch</strong>tigten Verkündigungsinteresse<br />
29 Gemeint ist eine geistige Wiedergeburt, ni<strong>ch</strong>t die fleis<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Wiedergeburt, die man Reinkarnation<br />
nennt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 32<br />
an dieser evangelis<strong>ch</strong>en Wahrheit muss man ni<strong>ch</strong>t die Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en leugnen.<br />
Die Gemeinsame Erklärung spri<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> trotzdem gegen jegli<strong>ch</strong>e Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en<br />
aus. Die Lutheraner bekennen: Der Mens<strong>ch</strong> ist "unfähig, bei seiner Errettung mitzuwirken"<br />
(Absatz 21). Er kann die Re<strong>ch</strong>tfertigung "nur empfangen" (Absatz 21); damit<br />
ist "jede Mögli<strong>ch</strong>keit eines eigenen Beitrags des Mens<strong>ch</strong>en zu seiner Re<strong>ch</strong>tfertigung"<br />
verneint (Absatz 21). Die Katholiken, die von Mitwirkung immerhin spre<strong>ch</strong>en können,<br />
sehen "in sol<strong>ch</strong> personaler Zustimmung" glei<strong>ch</strong>wohl "kein Tun des Mens<strong>ch</strong>en aus eigenen<br />
Kräften" (Absatz 20); Gottes Gnadengabe in der Re<strong>ch</strong>tfertigung bleibe "unabhängig"<br />
"von mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Mitwirkung" (Absatz 24). Diese strikte Betonung "der Passivität<br />
des Mens<strong>ch</strong>en" wird nun aber do<strong>ch</strong> relativiert, indem vom "Beteiligtsein des Mens<strong>ch</strong>en"<br />
gespro<strong>ch</strong>en wird. Weder Lutheranern no<strong>ch</strong> Katholiken gehe es darum, "ein wahrhaftes<br />
Beteiligtsein des Mens<strong>ch</strong>en zu leugnen." Uns wird versi<strong>ch</strong>ert: "Das strikte Betonen der<br />
Passivität des Mens<strong>ch</strong>en bei seiner Re<strong>ch</strong>tfertigung hatte auf lutheris<strong>ch</strong>er Seite niemals<br />
den Sinn, etwa das volle personale Beteiligtsein im Glauben zu bestreiten, sondern sollte<br />
ledigli<strong>ch</strong> jede Mitwirkung beim Ges<strong>ch</strong>ehen der Re<strong>ch</strong>tfertigung selbst auss<strong>ch</strong>ließen.<br />
Diese ist allein das Werk Christi, allein Werk der Gnade" 30 . Man muss si<strong>ch</strong> nun freili<strong>ch</strong><br />
fragen, was das "personale Beteiligtsein" einer rein passiven, in keiner Weise mitwirkenden<br />
Person überhaupt ist. Ferner wird versi<strong>ch</strong>ert: "Lutheraner verneinen ni<strong>ch</strong>t,<br />
daß der Mens<strong>ch</strong> das Wirken der Gnade ablehnen kann." (Absatz 21). Darf man daraus<br />
s<strong>ch</strong>ließen, dass der Mens<strong>ch</strong>, sobald er das Wirken der Gnade ni<strong>ch</strong>t ablehnt, ihrem Wirken<br />
zustimmt? Und was wäre dann, angesi<strong>ch</strong>ts der strikten Betonung der Passivität, der<br />
Akt einer rein passiven Zustimmung? Wir begegnen, indem wir sol<strong>ch</strong>e Fragen stellen,<br />
einer von Swedenborg beoba<strong>ch</strong>teten Eigenart der altkir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Dogmatik, nämli<strong>ch</strong> ihrer<br />
kontradiktoris<strong>ch</strong>en Redeweise. Sie besteht darin, dass einem Lehrsatz A ein Lehrsatz<br />
B in den Weg gestellt wird, so dass keiner der beiden Lehrsätze in seinen Konsequenzen<br />
voll und ganz zur Entfaltung kommen kann. Auf diese Weise wird der denkende<br />
Christ daran gehindert, si<strong>ch</strong> eine klare Vorstellung zu bilden und das theologis<strong>ch</strong><br />
wohl ausbalancierte Lehrsystem vers<strong>ch</strong>windet gegenüber allen Einwänden abgesi<strong>ch</strong>ert<br />
im undur<strong>ch</strong>dringli<strong>ch</strong>en Geheimnis des Glaubens.<br />
Indem die neue Kir<strong>ch</strong>e keine S<strong>ch</strong>eu hat, die Mitwirkung des Mens<strong>ch</strong>en anzuerkennen<br />
und theologis<strong>ch</strong> zu dur<strong>ch</strong>denken, tritt sie au<strong>ch</strong> für die freie Willensents<strong>ch</strong>eidung in gei-<br />
30 Stellungnahme des Gemeinsamen Auss<strong>ch</strong>usses der Vereinigten Evangelis<strong>ch</strong>-Lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e<br />
Deuts<strong>ch</strong>lands und des Deuts<strong>ch</strong>en Nationalkomitees des Lutheris<strong>ch</strong>en Weltbundes zum Dokument<br />
"Lehrverurteilungen-kir<strong>ch</strong>entrennend?" (13. September 1991), in: Lehrverurteilungen im Gesprä<strong>ch</strong>,<br />
hrsg. von der Ges<strong>ch</strong>äftsstelle der Arnoldshainer Konferenz (AKf), dem Kir<strong>ch</strong>enamt der Evangelis<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e in Deuts<strong>ch</strong>land (EKD) und dem Lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>enamt der Vereinigten Evangelis<strong>ch</strong>-<br />
Lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e Deuts<strong>ch</strong>lands (VELKD) (Frankfurt 1993) 84,3-8.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 33<br />
stigen Dingen ein. Dem widerspre<strong>ch</strong>end billigen die Kir<strong>ch</strong>en des Re<strong>ch</strong>tfertigungsglaubens<br />
dem Mens<strong>ch</strong>en nur die psy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Freiheit, die si<strong>ch</strong> ja au<strong>ch</strong> nur s<strong>ch</strong>wer<br />
leugnen läßt, zu, ni<strong>ch</strong>t aber die "Freiheit auf sein Heil hin". Wir lesen: "Die Freiheit, die<br />
er (der Mens<strong>ch</strong>) gegenüber den Mens<strong>ch</strong>en und den Dingen der Welt besitzt, ist keine<br />
Freiheit auf sein Heil hin." (Absatz 19). Die finstere Konsequenz dieser Amputation des<br />
Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en ist die Prädestinationslehre. Was ges<strong>ch</strong>ieht mit denen, die das "Ges<strong>ch</strong>enk<br />
des Glaubens" (Absatz 25) ni<strong>ch</strong>t erhalten? Und falls es alle erhalten, woher nehmen si<strong>ch</strong><br />
die unfreien Mens<strong>ch</strong>en die Freiheit es abzulehnen? Swedenborg dur<strong>ch</strong>denkt diese Probleme<br />
viel gründli<strong>ch</strong>er und kommt zu besseren Lösungen. In der "Wahren Christli<strong>ch</strong>en<br />
Religion" widmet er dem "freien Willen in geistigen Angelegenheiten" (WCR 479 und<br />
öfters) ein ganzes Kapitel.<br />
Aus Si<strong>ch</strong>t der neuen Kir<strong>ch</strong>e ist der Glaube nur dur<strong>ch</strong> die tätige Liebe und ihre Werke<br />
wahrer und lebendiger Glaube. Seine ganze Kraft und sein ganzes Wesen empfängt der<br />
Glaube aus der tätigen Liebe, deren Ers<strong>ch</strong>einungsform er ist. Swedenborg drückt es so<br />
aus: "Die Trennung der tätigen Liebe vom Glauben ist wie die Trennung des Wesens<br />
(essentia) von der Form. Der gebildeten Welt ist bekannt, dass weder das Wesen ohne<br />
eine Form no<strong>ch</strong> die Form ohne ein Wesen etwas ist, denn das Wesen hat überhaupt nur<br />
dur<strong>ch</strong> die Form eine Bes<strong>ch</strong>affenheit und die Form ihrerseits ist nur dur<strong>ch</strong> das Wesen ein<br />
etwas, das Bestand hat. Folgli<strong>ch</strong> läßt si<strong>ch</strong> von keinem der beiden im getrennten Zustand<br />
eine Aussage ma<strong>ch</strong>en. So ist denn au<strong>ch</strong> die tätige Liebe das Wesen des Glaubens, und<br />
der Glaube die Form der tätigen Liebe, ganz so wie das Gute das Wesen des Wahren<br />
und das Wahre die Form des Guten ist." (WCR 367). In der Gemeinsamen Erklärung<br />
hingegen ers<strong>ch</strong>einen die guten Werke der tätigen Liebe nur als Anhängsel des Glaubens.<br />
"Wir bekennen gemeinsam, daß gute Werke … der Re<strong>ch</strong>tfertigung folgen und<br />
Frü<strong>ch</strong>te der Re<strong>ch</strong>tfertigung sind." (Absatz 37). Als Folge, Auswirkung oder bildli<strong>ch</strong> gespro<strong>ch</strong>en<br />
Fru<strong>ch</strong>t 31 der Re<strong>ch</strong>tfertigung ist die tätige Liebe dem unabhängig von ihr vollzogenen<br />
Akt der Gere<strong>ch</strong>tspre<strong>ch</strong>ung deutli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>geordnet. Die tätige Liebe wurde also<br />
erst vom Glauben getrennt, damit dieser zum "freien Ges<strong>ch</strong>enk" (Absatz 25) mutieren<br />
konnte, und ans<strong>ch</strong>ließend an diesen Glauben wieder angehängt, denn ganz ohne gute<br />
Werke wollte man den Christen mit dem Gottesges<strong>ch</strong>enk des Glauben in der Sünde nun<br />
do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t stehen lassen. So betont man: Der "Glaube ist in der Liebe tätig; darum kann<br />
und darf der Christ ni<strong>ch</strong>t ohne Werke bleiben." (Absatz 25). Hierin könnte ein Anknüpfungspunkt<br />
für ein Gesprä<strong>ch</strong> der Neuen Kir<strong>ch</strong>e mit den Kir<strong>ch</strong>en der lutheris<strong>ch</strong>-<br />
31 Die Rede von den Frü<strong>ch</strong>ten der Re<strong>ch</strong>tfertigung beinhaltet die Vorstellung, dass der Glaube der Baum<br />
sei. Dem widerspre<strong>ch</strong>end erklärte ein Engel in der geistigen Welt: "Ni<strong>ch</strong>t der Glaube ist der Baum,<br />
sondern der Mens<strong>ch</strong> ist der Baum." (EO 417). Und Jesus sagt: "So bringt jeder gute Baum gute<br />
Frü<strong>ch</strong>te, aber der faule Baum bringt s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Frü<strong>ch</strong>te." (Mt 7,17). "Entweder ma<strong>ch</strong>t den Baum gut,<br />
dann ist seine Fru<strong>ch</strong>t gut, oder ma<strong>ch</strong>t den Baum faul, dann ist seine Fru<strong>ch</strong>t faul; denn an der Fru<strong>ch</strong>t<br />
wird der Baum erkannt." (Mt 12,33).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 34<br />
katholis<strong>ch</strong>en Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre liegen; denn offenbar empfindet man trotz sola fide<br />
ein Unbehagen am actus purus der Re<strong>ch</strong>tfertigung ohne Werke.<br />
In Übereinstimmung mit der lutheris<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>en Lehre sieht Swedenborg in der<br />
Verdienstmentalität ein Hindernis, ja ein Übel auf dem Weg zu e<strong>ch</strong>ter Spiritualität und<br />
Religiosität. "In der Kir<strong>ch</strong>e ist bekannt, dass der Mens<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> das Gute, das er tut,<br />
ni<strong>ch</strong>ts verdienen kann, denn das Gute, das er tut, gehört ni<strong>ch</strong>t ihm, sondern dem<br />
Herrn." (HG 3956). "Das Übel (oder das Böse) des Verdienstes ist dann gegeben, wenn<br />
der Mens<strong>ch</strong> das Gute si<strong>ch</strong> zus<strong>ch</strong>reibt in der Meinung, es stamme von ihm, und si<strong>ch</strong> daher<br />
das Heil verdienen will." (HG 4174). Diesem Irrtum der Heilserwirts<strong>ch</strong>aftung erliegen<br />
anfangs freili<strong>ch</strong> alle, die frohgemut den geistigen Weg betreten. "Am Anfang glauben<br />
alle, die geistig umgeformt werden, dass das Gute aus ihnen sei und sie si<strong>ch</strong> folgli<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> dieses Gute der eigenen Tat das Heil verdienen (erarbeiten)." (HG 4174, siehe<br />
au<strong>ch</strong> 4145). Wennglei<strong>ch</strong> also die dem Heilsaktivismus des Anfängers anhaftende<br />
Kaufmannsmentalität ein Übel ist, so ist es aber ein no<strong>ch</strong> viel größeres Übel jenes erstgenannte<br />
dadur<strong>ch</strong> zu beseitigen, dass der Aktivismus als sol<strong>ch</strong>er beseitigt wird. Kein<br />
vernünftiger Mens<strong>ch</strong> wird das Unkraut in seinem Garten dadur<strong>ch</strong> verni<strong>ch</strong>ten, dass er<br />
den Boden vergiftet. Das Tätigsein des äußeren Mens<strong>ch</strong>en ist dieser Boden, in den der<br />
Herr das Leben des Geistes einpflanzen will. "Viele verwerfen die guten Werke in der<br />
Meinung, diese seien bei niemandem ohne die Absi<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> etwas zu<br />
verdienen. Diese Leute wissen ni<strong>ch</strong>t, dass diejenigen, die vom Herrn geführt werden,<br />
ni<strong>ch</strong>ts sehnli<strong>ch</strong>er wüns<strong>ch</strong>en, als gute Werke zu vollbringen, und glei<strong>ch</strong>zeitig ni<strong>ch</strong>ts weniger<br />
im Sinn haben als einen dur<strong>ch</strong> sie errei<strong>ch</strong>baren Verdienst." (HG 6392). Die Kaufleute<br />
werden spätestens dann aus dem Tempel vertrieben, wenn Jesus selbst mit der<br />
Geißel den Tempel reinigt, entweder synoptis<strong>ch</strong> am Ende oder johanneis<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong> zu<br />
Beginn des Weges. Solange jedo<strong>ch</strong> der Jünger des inneren Lebens den Impuls des Geistes<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t empfindet, sollte er si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t befleissigen das Gute zu tun, sondern das<br />
Böse ni<strong>ch</strong>t zu tun; dazu muss er es freili<strong>ch</strong> zuerst erkennen. Das ist die Übung der<br />
Selbstbes<strong>ch</strong>auung und der Umkehr, Buße genannt. Denn "niemand kann das Gute, das<br />
wahrhaft gut ist, von si<strong>ch</strong> aus tun." (LL 9). Deswegen gilt: "Insoweit der Mens<strong>ch</strong> vor<br />
dem Bösen als Sünde flieht, tut er das Gute ni<strong>ch</strong>t von si<strong>ch</strong> aus, sondern vom Herrn her."<br />
(LL 18). Ausserdem sollte er ein ihn anspre<strong>ch</strong>endes und berührendes Wort Gottes lesen<br />
und na<strong>ch</strong>sinnend in dessen Tiefen eintau<strong>ch</strong>en und so das Bewußtsein seines äußeren<br />
Mens<strong>ch</strong>en den Formen des göttli<strong>ch</strong>en Geistes einformen. Das ist die Übung der reformatio<br />
(in der WCR mit Umbildung übersetzt), das heißt der Neuformung des Gemüts. Das<br />
ist na<strong>ch</strong> Swedenborg die Reformation. Auf diese Weise wird der äußere Mens<strong>ch</strong> mit dem<br />
inneren verbunden, ein neues Glaubensbewußtsein erwa<strong>ch</strong>t, und der Verdienstwahn<br />
löst si<strong>ch</strong> ebenso auf wie die Nebels<strong>ch</strong>waden im Li<strong>ch</strong>te der aufsteigenden Sonne. Diese
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 35<br />
Morgenröte (aurora WCR 571) ist im Mens<strong>ch</strong>en die Wiedergeburt und ganz das Werk<br />
des Herrn, denn kein Mens<strong>ch</strong> hat die Ma<strong>ch</strong>t, die Sonne aufgehen zu lassen.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Verlagerung der Re<strong>ch</strong>tfertigung in das Gebiet des bloßen Glaubens wurde die<br />
Religion aus der Kir<strong>ch</strong>e entfernt. Denn "alle Religion ist eine Angelegenheit des Lebens<br />
und ihr Leben besteht im Tun des Guten." (LL 1). Daher verwundert es uns ni<strong>ch</strong>t, dass<br />
infolge dieser Hinausbeförderung nun ausserkir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Religiosität entsteht und die leeren<br />
Kir<strong>ch</strong>en, abgesehen von ein paar lei<strong>ch</strong>enblassen Re<strong>ch</strong>tfertigungspredigten, ihrer<br />
Aufgabe als Sozialamt na<strong>ch</strong>kommen in der Meinung, das Rei<strong>ch</strong> Gottes sei primär eine<br />
gere<strong>ch</strong>te Weltordnung.<br />
Die Anhänger der Re<strong>ch</strong>tfertigung allein dur<strong>ch</strong> den Glauben berufen si<strong>ch</strong> auf Paulus. Zu<br />
untersu<strong>ch</strong>en wäre, ob dem ein ri<strong>ch</strong>tiges Paulusverständnis zugrunde liegt. Eine sol<strong>ch</strong>e<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung muss hier aus vers<strong>ch</strong>iedenen Gründen unterbleiben. Do<strong>ch</strong> die folgenden<br />
Hinweise will i<strong>ch</strong> geben. Römer 3,28, eine Aussage, der in der Reformationszeit eine<br />
zentrale Bedeutung zukam, lautet in der Übersetzung von Martin Luther: "So halten wir<br />
es nu / dass der Mens<strong>ch</strong> gere<strong>ch</strong>t werde / ohn des Gesetzes Werk / alleine dur<strong>ch</strong> den<br />
Glauben." 32 Im grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Urtext ist das Wört<strong>ch</strong>en "alleine" ni<strong>ch</strong>t zu finden; Luther<br />
hat es offenbar als einen verdeutli<strong>ch</strong>enden Zusatz im Sinne seines Verständnisses dieser<br />
Stelle hinzugefügt. In EO 417 beri<strong>ch</strong>tet Swedenborg von einem Konzil in der geistigen<br />
Welt. Den Ausführungen kann man entnehmen, dass Paulus unter "den Werken<br />
des Gesetzes" wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> "die Werke des mosais<strong>ch</strong>en Gesetzes für die Juden" verstanden<br />
hat, also das Kultgesetz, die Bestimmungen der vorbildenden Kir<strong>ch</strong>e. Die Meinung<br />
des Paulus wäre demna<strong>ch</strong> in etwa so zu ums<strong>ch</strong>reiben: Der Mens<strong>ch</strong> wird von nun<br />
an ohne die Befolgung der kultis<strong>ch</strong>en Vors<strong>ch</strong>riften der Thora gere<strong>ch</strong>t, und zwar dur<strong>ch</strong><br />
das lebendige und tatkräftige Vertrauen auf das Heilswirken Christi. EO 417 bietet für<br />
ein no<strong>ch</strong> zu entwickelndes Paulusverständnis der neuen Kir<strong>ch</strong>e insgesamt sehr interessante<br />
Textbeoba<strong>ch</strong>tungen.<br />
Abs<strong>ch</strong>ließend ein Wort Martin Luthers. In der geistigen Welt bespra<strong>ch</strong> er si<strong>ch</strong> mit Swedenborg<br />
und bekannte seinen Irrtum mit den Worten: "Wundert eu<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, daß i<strong>ch</strong><br />
mi<strong>ch</strong> auf den allein re<strong>ch</strong>tfertigenden Glauben warf und die tätige Liebe ihres geistigen<br />
Wesens beraubte, den Mens<strong>ch</strong>en au<strong>ch</strong> allen freien Willen in geistigen Dingen abspra<strong>ch</strong><br />
und derglei<strong>ch</strong>en mehr, was von dem einmal angenommenen Grundsatz des bloßen<br />
Glaubens abhängt wie der Haken von der Kette. Es war nämli<strong>ch</strong> mein Ziel, von den Römis<strong>ch</strong>-Katholis<strong>ch</strong>en<br />
loszukommen, und dies ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t anders bewerkstelligen und<br />
aufre<strong>ch</strong>terhalten. I<strong>ch</strong> wundere mi<strong>ch</strong> deshalb gar ni<strong>ch</strong>t, daß i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> verirrte, sondern<br />
nur, daß ein Verrückter viele andere zu Verrückten ma<strong>ch</strong>en konnte." (WCR 796).<br />
32 Zitiert na<strong>ch</strong>: Das Neue Testament Deuts<strong>ch</strong> von D. Martin Luther. Ausgabe letzter Hand 1545/46. Unveränderter<br />
Text in modernisierter Orthographie. Stuttgart: Deuts<strong>ch</strong>e Bibelgesells<strong>ch</strong>aft, 1982.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 36<br />
Die Fusswas<strong>ch</strong>ung (Joh 13,1-20)<br />
von Thomas Noack<br />
Der Ort der in den Kapiteln 13 bis 17 überlieferten Ges<strong>ch</strong>ehnisse ist das "gepflasterte<br />
Obergema<strong>ch</strong>" 33 , das in Mk 14,15 und Lk 22,12 erwähnt wird. Das Interesse an der Örtli<strong>ch</strong>keit<br />
kennzei<strong>ch</strong>net diejenigen, die bei einem wi<strong>ch</strong>tigen Ereignis ni<strong>ch</strong>t selber anwesend<br />
waren und denen daher nun der Ort wi<strong>ch</strong>tig wird, dur<strong>ch</strong> den sie si<strong>ch</strong> mit der<br />
denkwürdigen Stunde in Verbindung setzen wollen. Das Interesse an der Örtli<strong>ch</strong>keit<br />
des Abendmahls ist daher ein Indiz für die relative Spätdatierung der synoptis<strong>ch</strong>en<br />
Überlieferung. Für den Augenzeugen hingegen waren die äußeren Umstände nebensä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>,<br />
weder der Ort, no<strong>ch</strong> das Mahl 34 , das er nur beiläufig und hö<strong>ch</strong>st unbestimmt<br />
erwähnt, fesselten seine Aufmerksamkeit, selbst die Abendmahlsworte überlieferte er<br />
uns ni<strong>ch</strong>t. Stattdessen wurde ihm von den Ereignissen der letzten Stunden mit Jesus eine<br />
Fußwas<strong>ch</strong>ung zum zentralen Symbol.<br />
"Vor dem Passafest aber wusste Jesus, dass seine Stunde gekommen war, aus dieser<br />
Welt zum Vater hinüberzugehen, und da er die Seinen in der Welt liebte, erwies er ihnen<br />
seine Liebe bis zur Vollendung." (13,1). Das Passafest erinnert an den Auszug aus<br />
Ägypten, dem "Haus der Kne<strong>ch</strong>ts<strong>ch</strong>aft" (Ex 13,3). Für Jesus war dieses Fest ni<strong>ch</strong>t Erinnerung,<br />
sondern Vorbildung oder Dramaturgie seines eigenen Weges, seines Auszugs<br />
aus der Welt. Die ents<strong>ch</strong>eidende Stunde der Verherrli<strong>ch</strong>ung war nun gekommen; dreimal<br />
wurde sie angekündigt (2,4; 7,30; 8,20), und dreimal heißt es, dass sie nun da ist<br />
(12,23; 13,1; 17,1). Jesus verläßt bzw. überwindet den Kosmos, den Ma<strong>ch</strong>tberei<strong>ch</strong> des<br />
"Beherrs<strong>ch</strong>ers dieser Welt" (12,31; 14,30; 16,11), und wird am Ostermorgen als Gott<br />
auferstehen. Eine Na<strong>ch</strong>folge in dieses alles verzehrende, alles verwandelnde Feuer der<br />
Gottheit ist ausges<strong>ch</strong>lossen. War also die Gemeins<strong>ch</strong>aft mit Jesus, in dessen Nähe man<br />
Gott spürte, nur eine Episode? Jesus verläßt die Welt, die Seinen aber bleiben na<strong>ch</strong> wie<br />
vor in ihr. Wird diese Trennung das Band der Liebe, eben erst verheißungsvoll geknüpft,<br />
s<strong>ch</strong>on wieder zerreißen? Die johanneis<strong>ch</strong>e Antwort auf diese Frage ist die Fußwas<strong>ch</strong>ung.<br />
Jesus, in dem die rettende Liebe des Vaters Gestalt angenommen hatte, liebt<br />
die Seinen, wie es heißt, "bis ans Ende". Diese grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Formulierung ist mehrdeutig.<br />
Das Ende, oben mit Vollendung übersetzt, kann zeitli<strong>ch</strong>er, räumli<strong>ch</strong>er oder gradueller<br />
Natur sein. Zeitli<strong>ch</strong> verstanden liebte er die Seinen bis zu seinem Ende, bis zur Kreuzi-<br />
33 W. Bauer gibt "gepflastertes Oberzimmer" als die wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>ere Übersetzung an, obwohl andere<br />
an "ein mit Teppi<strong>ch</strong>en od. Speisepolstern belegtes Zimmer" denken (Wörterbu<strong>ch</strong> zum Neuen Testament,<br />
1971, Sp. 1528).<br />
34 Viele Exegeten bezweifeln sogar, dass das angegebene Mahl ein Passamahl war, denn na<strong>ch</strong> Johannes<br />
war ja Jesus das eigentli<strong>ch</strong>e Passalamm, das in dem Augenblick, da die Passalämmer im Tempel ges<strong>ch</strong>la<strong>ch</strong>tet<br />
wurden, am Kreuz starb. Auf dieses Problem sei hier nur am Rande hingewiesen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 37<br />
gung, oder bis zu ihrem Ende oder gar bis zum Ende der Welt. Wir erinnern uns an das<br />
S<strong>ch</strong>lußwort des Matthäusevangeliums, wo uns der Auferstandene, nun Allgewaltige,<br />
versi<strong>ch</strong>ert: "Und siehe, i<strong>ch</strong> bin bei eu<strong>ch</strong> alle Tage bis zum Ende der Welt" (Mt 28,20, allerdings<br />
mit einem anderen Wort für "Ende"). Graduell verstanden liebte er die Seinen<br />
vollendet, ganz und gar, bzw. bis zu seiner Vollendung (Verherrli<strong>ch</strong>ung) oder ihrer<br />
Vollendung (Wiedergeburt). Und räumli<strong>ch</strong> verstanden erstreckte si<strong>ch</strong> seine Liebe bis in<br />
die körperli<strong>ch</strong>en Endberei<strong>ch</strong>e hinein, denn die Füße, um deren Reinigung es im folgenden<br />
gehen wird, meinen "das Natürli<strong>ch</strong>e des Mens<strong>ch</strong>en" (HG 10243), das ihn na<strong>ch</strong> unten<br />
abs<strong>ch</strong>ließt und erdet. Jesus wird also dur<strong>ch</strong> seine Verherrli<strong>ch</strong>ung den Einflussberei<strong>ch</strong><br />
seiner Liebe bis dorthin ausdehnen, um immer und überall, au<strong>ch</strong> in der Hölle, errei<strong>ch</strong>bar<br />
zu sein.<br />
Die eigentli<strong>ch</strong>e Fußwas<strong>ch</strong>ungsszene beginnt mit Vers 2 und wird in Vers 12 als abges<strong>ch</strong>lossen<br />
vorausgesetzt ("Als er nun ihre Füsse gewas<strong>ch</strong>en hatte"), umfasst also Joh<br />
13,2-11. Dieser Abs<strong>ch</strong>nitt ist in si<strong>ch</strong> mehrgliedrig. Zu bea<strong>ch</strong>ten sind zunä<strong>ch</strong>st die<br />
Klammer (im folgenden kursiv) und ihre Inhalte (a) und (b) in den Versen 2f. "Und während<br />
eines Mahles, (a) als der Teufel dem Judas Iskariot, dem Sohn des Simon, s<strong>ch</strong>on ins<br />
Herz gelegt hatte, ihn zu verraten - (b) er wusste, dass ihm der Vater alles in die Hände<br />
gegeben hatte und dass er von Gott ausgegangen war und zu Gott weggeht -, steht er<br />
vom Mahl auf ..." (13,2-4). Die Klammerinhalte befassen si<strong>ch</strong> mit der äußeren Verursa<strong>ch</strong>ung<br />
der Erhöhung dur<strong>ch</strong> den Verrat (a) und der dadur<strong>ch</strong> glei<strong>ch</strong>wohl ni<strong>ch</strong>t außer<br />
Kraft gesetzten souveränen Gestaltungsma<strong>ch</strong>t des Sohnes (b). Ist der Verrat als Verursa<strong>ch</strong>ung<br />
oder als Veranlassung zu werten? Kann das Böse Gutes verursa<strong>ch</strong>en oder<br />
wird es nur nolens volens in den Dienst des Guten genommen? Jesus ist ni<strong>ch</strong>t, au<strong>ch</strong><br />
wenn es so s<strong>ch</strong>einen mag, das Opfer eines Verrats geworden; vielmehr hat ihm der Vater<br />
"alles in die Hände gegeben", womit die Allma<strong>ch</strong>t oder, wie wir oben gesagt haben,<br />
die souveräne Gestaltungsma<strong>ch</strong>t ausgedrückt ist. Die Passion, das Erleiden, ist somit eigentli<strong>ch</strong><br />
eine Aktion. Der Logos, der von Gott ausgegangen ist, gestaltet seine Heimkehr,<br />
seine rei<strong>ch</strong>ere Heimkehr, indem er au<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>mutzbelasteten Füße reinigt.<br />
Die Fußwas<strong>ch</strong>ung in den Versen 4f deutet mit Signalwörtern auf die Kreuzigung und<br />
die Auferstehung. "Und während eines Mahles … steht er vom Mahl auf und zieht das<br />
Obergewand aus und nimmt ein Leinentu<strong>ch</strong> und bindet es si<strong>ch</strong> um; dann giesst er Wasser<br />
in das Becken und fängt an, den Jüngern die Füsse zu was<strong>ch</strong>en und sie mit dem<br />
Tu<strong>ch</strong>, das er si<strong>ch</strong> umgebunden hat, abzutrocknen." (13,2.4-5). Das Ausziehen (13,4) und<br />
wieder Nehmen (13,12) des Obergewandes erweist si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zuletzt dur<strong>ch</strong> den Bezug<br />
auf Joh 10,17f, wo dasselbe Wortpaar vorkommt, als Metapher für Tod und Auferstehung,<br />
denn in Joh 10,17f lesen wir: "Darum liebt mi<strong>ch</strong> der Vater, weil i<strong>ch</strong> mein Leben<br />
(Seele) ausziehe, um es wieder zu nehmen. Niemand nimmt es von mir, sondern i<strong>ch</strong> ziehe<br />
es von mir aus aus. I<strong>ch</strong> habe Ma<strong>ch</strong>t es auszuziehen, und i<strong>ch</strong> habe Ma<strong>ch</strong>t, es wieder zu
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 38<br />
nehmen." (10,17f). Der entkleidete Christus (13,4) verweist, au<strong>ch</strong> mit Blick auf Joh<br />
19,23f, auf die Passion. Und das Aufstehen vom Mahl (13,4) deutet wohl die Auferstehung<br />
an, jedenfalls begegnet uns hier das Verb, das au<strong>ch</strong> das Auferwecken bzw. Auferstehen<br />
eines Toten bedeutet. Dass die Füsse das Natürli<strong>ch</strong>e, Erdhafte, au<strong>ch</strong> die uns tragenden<br />
Affekte, bezei<strong>ch</strong>nen, wurde s<strong>ch</strong>on gesagt. Für die Einzelheiten, das Leinentu<strong>ch</strong>,<br />
das Wasserbecken usw. verweise i<strong>ch</strong> auf HG 10243.<br />
In den Versen 6 bis 10, no<strong>ch</strong> immer während der Fußwas<strong>ch</strong>ung, nimmt ein Dialog zwis<strong>ch</strong>en<br />
Petrus und Jesus auffallend breiten Raum ein. Petrus ist der S<strong>ch</strong>üler der Glaubensfestigkeit;<br />
gegenüber Johannes, dem Jünger der Liebe, bleibt der petrinis<strong>ch</strong>e Glaube<br />
allerdings im Verständnis des väterli<strong>ch</strong>en Herzens zurück. Ja, er erweist si<strong>ch</strong> sogar, natürli<strong>ch</strong><br />
in bester Absi<strong>ch</strong>t, als Gegner (Satan) des väterli<strong>ch</strong>en Liebewillens. In der synoptis<strong>ch</strong>en<br />
Tradition ist diesbezügli<strong>ch</strong> an die Reaktion des Petrus auf die erste Leidensankündigung<br />
zu denken (Mt 16,21-23) und in der johanneis<strong>ch</strong>en an den Widerstand des<br />
Petrus gegen die Fußwas<strong>ch</strong>ung. Der Glaube stützt si<strong>ch</strong> und bezieht seine Si<strong>ch</strong>erheit aus<br />
der Autorität des göttli<strong>ch</strong>en Wortes. Dieser Glaube wird dur<strong>ch</strong> die Fußwas<strong>ch</strong>ung, einen<br />
Dienst, den Sklaven, aber ni<strong>ch</strong>t Herren zu verri<strong>ch</strong>ten haben, in seinem Verständnis der<br />
Gottesma<strong>ch</strong>t der Wahrheit verunsi<strong>ch</strong>ert. Denn diese Gottesma<strong>ch</strong>t, beispielsweise in Gestalt<br />
der Zehn Gebote, soll na<strong>ch</strong> petrinis<strong>ch</strong>er Glaubensauffassung das Denken und Wollen<br />
der Mens<strong>ch</strong>en beherrs<strong>ch</strong>en, und dieser soll gehor<strong>ch</strong>en und si<strong>ch</strong> auf diese Weise von<br />
seinen Sünden reinigen. Nun aber erweist si<strong>ch</strong> gerade die Gotteswahrheit als diejenige,<br />
die ni<strong>ch</strong>t nur gebietet, sondern die anbefohlene Reinigung eigenhändig ausführt. Kann<br />
sie dann no<strong>ch</strong> als anbefohlen angesehen werden? Verliert ein Gebot, das der Gebieter<br />
selbst ausführt, damit ni<strong>ch</strong>t die gebieteris<strong>ch</strong>e Strenge? Der petrinis<strong>ch</strong>e Glaube begreift<br />
das alles ni<strong>ch</strong>t; die Gottesma<strong>ch</strong>t der ri<strong>ch</strong>tenden Wahrheit wird dur<strong>ch</strong> die Gottesma<strong>ch</strong>t<br />
der reinigenden Liebe überwunden. Das ist die Erlösung, der Kosmos wird aus der<br />
Ma<strong>ch</strong>t der gebietenden Gottheit entlassen und dem Dienst der si<strong>ch</strong> herablassenden Liebe<br />
übergeben. Damit werden, wie Joh 13,12-20 und das neue Gebot (Joh 13,34f) zeigen,<br />
neue Maßstäbe für das Verhalten innerhalb der Gemeinde gesetzt.<br />
Dass die Fußwas<strong>ch</strong>ung als Liebesdienst zu verstehen ist, wurde glei<strong>ch</strong> im ersten Vers<br />
dur<strong>ch</strong> das zweimalige Vorkommen von "lieben (agapao) 35 " angedeutet. Der Glaube<br />
wehrt diese Liebe, wie gesagt, ab, daher ist nun die Stunde des Lieblingsjüngers, der Joh<br />
13,23 erstmals erwähnt wird, gekommen. Aufs<strong>ch</strong>lussrei<strong>ch</strong> ist die Verwendung und Verteilung<br />
von "lieben" im Johannesevangelium. In Joh 3,16.35; 10,17 ist Gott, der Vater,<br />
das Subjekt dieser Liebe; der Vater liebt den Sohn und indem er ihn liebt, liebt er die<br />
Welt. In Joh 11,5 ist erstmals Jesus das Subjekt der Liebe, und ergriffen werden von ihr<br />
35 Im Johannesevangelium begegnen uns zwei Worte für "lieben", nämli<strong>ch</strong> "fileo" und "agapao". Da im<br />
Vorwort "agapao" vorkommt, bes<strong>ch</strong>ränken wir uns auf diesen Begriff.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 39<br />
Lazarus und seine S<strong>ch</strong>western. In den die na<strong>ch</strong>österli<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft vorbereitenden<br />
Kapiteln 13 bis 17 ist eine sehr auffallende Häufung dieses Begriffes zu beoba<strong>ch</strong>ten (Joh<br />
13,1.23.34f; 14,15.21.23.31; 15,9f.12.13.17; 17,23f.26). Dies zeigt, dass die Liebe als<br />
das Leben vom Vater über den Sohn via Lazarus, wel<strong>ch</strong>er der Todesma<strong>ch</strong>t entrissen<br />
wurde, nun in die Jüngers<strong>ch</strong>ar, die ein Vollbild der inneren Kir<strong>ch</strong>e ist, überströmt. Ferner<br />
begegnet dieser Begriff in Verbindung mit dem Lieblingsjünger (Joh 13,23; 19,26;<br />
21,7) und im 21. Kapitel, wel<strong>ch</strong>es das Verhältnis von Glaube (Petrus) und Liebe (Johannes)<br />
in der Zeit der Kir<strong>ch</strong>e reflektiert.<br />
Der Abs<strong>ch</strong>nitt Joh 13,12-20 ist formal betra<strong>ch</strong>tet ein Jesusmonolog. Die Eingangsfrage,<br />
"Versteht (erkennt) ihr, was i<strong>ch</strong> an eu<strong>ch</strong> getan habe?" (13,12), zeigt, dass Jesu Tun na<strong>ch</strong><br />
einem tieferen Sinn hin befragbar ist. Dazu passt, dass im Epilog des Johannesevangeliums<br />
(Joh 20,30f) Jesu gesamtes Tun und Reden unter dem S<strong>ch</strong>lüsselbegriff des<br />
Zei<strong>ch</strong>ens zusammengefasst wird. Mit Blick auf das ganze Evangelium kann das letztli<strong>ch</strong><br />
nur bedeuten, dass Jesu gesamtes Dasein den unsi<strong>ch</strong>tbaren, aber in Jesus anwesenden<br />
Vater vergegenwärtigt. Das Verstehen der Fußwas<strong>ch</strong>ung kommt gebündelt im Begriff<br />
des Beispiels (13,15) zum Ausdruck. Der Gesandte des Vaters (das Wort des Liebegeistes),<br />
dessen Wirksamkeit si<strong>ch</strong> bis in die geistfernen, aber den geistigen Forts<strong>ch</strong>ritt allein<br />
ermögli<strong>ch</strong>enden Fuß- oder Naturberei<strong>ch</strong>e erstreckt, wird dur<strong>ch</strong> ebendiese Tat zum<br />
Paradigma aller e<strong>ch</strong>ten Abgesandten (siehe Apostel in 13,16) dieses einen Urgesandten.<br />
Die Gemeinde Christi ist daran erkennbar, dass si<strong>ch</strong> ihre Mitglieder gegenseitig die Füße<br />
was<strong>ch</strong>en, dass sie si<strong>ch</strong> bei der Reinigung der verkrusteten Außenpersönli<strong>ch</strong>keit helfen<br />
und so in gegenseitiger Liebe üben. Wer diese Bots<strong>ch</strong>aft aufnimmt, der nimmt dadur<strong>ch</strong><br />
den Christusgeist auf, und wer diesen aufnimmt, der nimmt damit eigentli<strong>ch</strong> den<br />
Urgeist der Liebe oder des Vaters auf. Oder mit Jesu Worten gesagt: "Wer einen aufnimmt,<br />
den i<strong>ch</strong> sende, nimmt mi<strong>ch</strong> auf, und wer mi<strong>ch</strong> aufnimmt, nimmt den auf, der<br />
mi<strong>ch</strong> gesandt hat." (13,20).<br />
Au<strong>ch</strong> Judas tritt uns in dieser Fußerzählung beziehungsrei<strong>ch</strong> mit seinen Tretwerkzeugen<br />
entgegen. "Der mein Brot isst, erhob gegen mi<strong>ch</strong> seine Ferse." (13,18; Ps 41,10),<br />
dieses S<strong>ch</strong>riftwort soll dur<strong>ch</strong> den Judasverrat erfüllt werden. Die Ferse erinnert uns an<br />
Gen 3,15 und an Jakob, den "Fersehalt" (Buber Gen 25,26), der zum Stammvater der Juden<br />
wurde, von denen Judas seinen Namen hat. Das Erheben der Ferse ist Ausdruck des<br />
alten Ho<strong>ch</strong>muts, der Dominanz des Niederträ<strong>ch</strong>tigen, und somit die radikale Aufkündigung<br />
der Gemeins<strong>ch</strong>aft der Liebe ("Der mein Brot isst"). Do<strong>ch</strong> wie gesagt, der Tritt des<br />
Judas setzt die Erhöhung des Gottgesandten ni<strong>ch</strong>t in Gang. Die Erhöhung des mit göttli<strong>ch</strong>er<br />
Ma<strong>ch</strong>t festgetretenen Kosmos in Christus, dieses erhebende Werk ist allein das des<br />
seinsmä<strong>ch</strong>tigen Gottes, dessen starker Arm Jesus ist. Das Böse und Fals<strong>ch</strong>e bewirkt<br />
ni<strong>ch</strong>ts, aber entgeht au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dem allweisen Plane Gottes.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 40<br />
Die Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te:<br />
Von der Wiedergeburt des Mens<strong>ch</strong>en<br />
von Peter Keune<br />
Die Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te stellt im inneren Sinn eine bildli<strong>ch</strong>e Dokumentation des Ringens<br />
Gottes um den Mens<strong>ch</strong>en dar. Wie in der gesamten Heiligen S<strong>ch</strong>rift wird au<strong>ch</strong> hier<br />
die Wiedergeburt des Mens<strong>ch</strong>en bes<strong>ch</strong>rieben, oder - in anderer Si<strong>ch</strong>tweise - die Herablassung<br />
Gottes in unsere mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ebene. Die Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te bildet in einer<br />
no<strong>ch</strong> tieferen Sinnebene au<strong>ch</strong> Gottes Mens<strong>ch</strong>werdung in Jesus Christus vor.<br />
Der Mens<strong>ch</strong> ist ein lebendiges Aufnahmegefäß Gottes. Sein "I<strong>ch</strong>" wurde mit Vernunft<br />
und freiem Willen ausgestattet und mit der Fähigkeit, si<strong>ch</strong> sogar gegen seinen S<strong>ch</strong>öpfer<br />
begründen zu können. Damit ist er willensmäßig frei. Er kann seinen eigenen Willen<br />
über den Gottes stellen, da er von seinem S<strong>ch</strong>öpfer s<strong>ch</strong>einbar völlig getrennt existiert.<br />
Diese Trennung geht soweit, daß alle tieferen Erkenntnisse über ein innewohnendes<br />
höheres Leben wie von außen dur<strong>ch</strong> göttli<strong>ch</strong>e Offenbarung erfolgen müssen.<br />
Leider ist das Wort Gottes in der heutigen Zeit äußerli<strong>ch</strong>en Denkens und immer größerer<br />
Gottabgewandtheit in Mißkredit geraten. Am Anfang des wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>te<strong>ch</strong>nis<strong>ch</strong>en<br />
Zeitalters durfte daher Emanuel Swedenborg, dessen Berufung dur<strong>ch</strong> den<br />
Herrn im Jahre 1745 erfolgte, als "ein Diener des Herrn" den inneren, geistigen Sinn<br />
der Heiligen S<strong>ch</strong>rift dur<strong>ch</strong> die Spra<strong>ch</strong>e der Entspre<strong>ch</strong>ungen aufzeigen. Wie s<strong>ch</strong>on oben<br />
gesagt wurde, handelt das "Wort" - wie bei ihm die Heilige S<strong>ch</strong>rift genannt wird - von<br />
den Zuständen der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Seele, ihren Anlagen, ihren Verirrungen und ihrer<br />
Absonderung von Gott, dessen Erbarmung und Seinen Kämpfen, um die Seele wieder in<br />
ihr eigentli<strong>ch</strong>es Vaterhaus zurückzuführen. Erst wenn die Seele si<strong>ch</strong> selbst zu erkennen<br />
vermag und ihre Verirrungen einsieht, kann sie auf eine andere Bahn gelenkt werden.<br />
In der Heiligen S<strong>ch</strong>rift wird dieser Zustand als Wieder- bzw. Neugeburt bezei<strong>ch</strong>net.<br />
Von sol<strong>ch</strong>en Zustandsveränderungen will diese Zusammenstellung beri<strong>ch</strong>ten und an<br />
Hand der biblis<strong>ch</strong>en Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te wesentli<strong>ch</strong>e Aspekte der Wiedergeburt s<strong>ch</strong>ildern.<br />
Damit soll Mut gema<strong>ch</strong>t werden, si<strong>ch</strong> mit der Bibel zu bes<strong>ch</strong>äftigen und sie mit<br />
tieferem Verständnis kennen zu lernen. Sie ist gewissermaßen das Fundament aller Offenbarung,<br />
wie die Grundfesten eines Hauses. Deshalb ist au<strong>ch</strong> jede Offenbarung an der<br />
Heiligen S<strong>ch</strong>rift zu messen.<br />
"Und der Herr spra<strong>ch</strong> zu Abram: Gehe aus deinem Vaterland und deiner Freunds<strong>ch</strong>aft<br />
und aus deines Vaters Hause in ein Land, das I<strong>ch</strong> dir zeigen werde." (1.Mose 12,1). Weil<br />
die inneren Lebenszustände ni<strong>ch</strong>t greifbar dargestellt werden können, da sie weitgehend<br />
im Unbewußten wirken und dem Verstand deshalb ni<strong>ch</strong>t zugängli<strong>ch</strong> sind, wurden
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 41<br />
sie von alters her in Bilder und Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten eingekleidet. Auf diese Weise werden sie<br />
deutli<strong>ch</strong> vor Augen gestellt, wie beispielsweise in der S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te. "Da Gott<br />
den Mens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>uf, ma<strong>ch</strong>te Er ihn na<strong>ch</strong> dem Bilde Gottes, und s<strong>ch</strong>uf sie einen Mann<br />
und ein Weib, und segnete sie, und hieß ihren Namen Mens<strong>ch</strong>." (1.Mose 5,1-2).<br />
Mit diesem ersten Text wird das Wesen des Mens<strong>ch</strong>en bes<strong>ch</strong>rieben. Er ist als Mann und<br />
Weib zuglei<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>affen, womit die S<strong>ch</strong>rift aber ni<strong>ch</strong>t zwei Personen meint, sondern<br />
zwei Eigens<strong>ch</strong>aften, die dem männli<strong>ch</strong>en und weibli<strong>ch</strong>en Prinzip entspre<strong>ch</strong>en. Wir<br />
spra<strong>ch</strong>en von den Mens<strong>ch</strong>en als Aufnahmegefäßen der göttli<strong>ch</strong>en Liebe und Weisheit,<br />
und davon, daß sie in selbständiger Willensfreiheit bereit sein müssen, den göttli<strong>ch</strong>en<br />
Einfluß aufzunehmen, damit sie vollendet zu Ihm zurückkehren können. Um ihre Bestimmung<br />
erkennen zu können, müssen in dem Mens<strong>ch</strong>en zuvor Neigungen entwickelt<br />
werden, die der göttli<strong>ch</strong>en Liebe und Weisheit wesensglei<strong>ch</strong> sind. Denn nur Glei<strong>ch</strong>es<br />
kann Glei<strong>ch</strong>es, nämli<strong>ch</strong> die höheren Einflüsse, erkennen. Die ersten fünf Tage der<br />
S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te sind der bildhafte Ausdruck jenes Prozesses, in dem aus einem<br />
nur natürli<strong>ch</strong> denkenden Individuum ein für höhere Erkenntnisse aufges<strong>ch</strong>lossener<br />
Mens<strong>ch</strong> wird. "Da Gott den Mens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>uf ma<strong>ch</strong>te Er ihn na<strong>ch</strong> dem Glei<strong>ch</strong>nis Gottes"<br />
bedeutet, Er ma<strong>ch</strong>t das Aufnahmegefäß "Mens<strong>ch</strong>" so, daß es aus Weisheit und Liebe gestaltet<br />
ist. Oder anders ausgedrückt, Weisheit und Liebe sind die Grundelemente, aus<br />
denen der höhere Mens<strong>ch</strong> besteht. Da es zwei Wesensberei<strong>ch</strong>e sind, fährt die S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
folgeri<strong>ch</strong>tig in der Mehrzahl fort: "Und s<strong>ch</strong>uf sie als Mann und Weib".<br />
Das männli<strong>ch</strong>e Prinzip entspri<strong>ch</strong>t dem Vernunftdenken und somit der Weisheit und das<br />
weibli<strong>ch</strong>e Prinzip den Neigungen daraus, oder der Liebe. Man könnte jene Stelle au<strong>ch</strong><br />
anders übersetzen und sagen: Da Gott den Mens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>uf, ma<strong>ch</strong>te Er ihn ähnli<strong>ch</strong> wie<br />
Si<strong>ch</strong> selbst und gab ihm einen Verstand (Weisheit) und ein Streben na<strong>ch</strong> Liebe. Nun<br />
kommt es darauf an, ob si<strong>ch</strong> diese Anlage im Mens<strong>ch</strong>en weiter entwickelt. In der Bibelspra<strong>ch</strong>e<br />
heißt dieser Entwicklungsprozeß "vermehret eu<strong>ch</strong>". Der Mens<strong>ch</strong> lebt ein äußeres<br />
und inneres Leben na<strong>ch</strong> seinen Erkenntnissen und Neigungen und ist fähig - aber<br />
ni<strong>ch</strong>t gezwungen - Gottes Wege zu bes<strong>ch</strong>reiten. Tut er es, kehrt er zu Gott zurück, und<br />
tut er es ni<strong>ch</strong>t, entfernt er si<strong>ch</strong> mehr und mehr von seinem Lebensquell und geht in alle<br />
Not und Finsternis über. Viellei<strong>ch</strong>t fällt auf, daß einmal Liebe und Weisheit (in dieser<br />
Reihenfolge) in Verbindung mit Gott gesagt wird, und einmal Weisheit und Liebe, wenn<br />
es si<strong>ch</strong> um den Mens<strong>ch</strong>en handelt. Der Grund ist, weil das Innerste immer zuerst genannt<br />
wird. In Gott ist die Liebe der Grund (Vater) und die Weisheit das von der Liebe<br />
Ausgehende (Sohn). Beim Mens<strong>ch</strong>en herrs<strong>ch</strong>t anfangs die Neigung zur Wahrheit vor,<br />
wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> von der Liebe getrennt hat, um im Lauf der Wiedergeburt allmähli<strong>ch</strong> wieder<br />
eins zu werden mit der Gottes- und Nä<strong>ch</strong>stenliebe im Herzen.<br />
"Da si<strong>ch</strong> aber die Mens<strong>ch</strong>en begannen zu mehren auf Erden, und ihnen Tö<strong>ch</strong>ter geboren<br />
wurden …" (1.Mose 6,1). Wir spra<strong>ch</strong>en kurz von dem Ausspru<strong>ch</strong> "vermehret eu<strong>ch</strong>". Dies
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 42<br />
bedeutete, daß die Ausri<strong>ch</strong>tung des Mens<strong>ch</strong>en auf vermehrte Erkenntnisse über Gott<br />
und eine zunehmende Liebe zu Ihm ausgeri<strong>ch</strong>tet sein sollte. Wie soll man nun verstehen,<br />
daß ihnen lauter Tö<strong>ch</strong>ter geboren wurden? Wo blieben die Söhne? Sie werden an<br />
dieser Stelle ni<strong>ch</strong>t erwähnt, obglei<strong>ch</strong> sie au<strong>ch</strong> vorhanden gewesen sein müssen, da sie ja<br />
sonst später ni<strong>ch</strong>t hätten "Weiber nehmen" können, wie ges<strong>ch</strong>rieben steht. Hier bedeuten<br />
"Tö<strong>ch</strong>ter", daß die Mens<strong>ch</strong>en Liebes-Neigungen zur Welt entwickelten. Es geht bei<br />
der Nennung von Söhnen und Tö<strong>ch</strong>tern ni<strong>ch</strong>t um irgend eine Art von Wertigkeit. Die<br />
Mißverständnisse liegen in der Unkenntnis der Entspre<strong>ch</strong>ungsspra<strong>ch</strong>e. Wir wissen:<br />
"Mann" und "Weib" bedeuten Eigens<strong>ch</strong>aften, und stellen in ihrer eheli<strong>ch</strong>en Verbindung<br />
den Mens<strong>ch</strong>en als sol<strong>ch</strong>en dar. Dieser soll seine Liebe und seine Weisheit verbinden<br />
und auf Gott ausri<strong>ch</strong>ten, wie es später dur<strong>ch</strong> Moses in den Geboten erneut zum Ausdruck<br />
kommt, und diesem Streben alles andere unterordnen. Sol<strong>ch</strong>ermaßen wieder in<br />
die Ordnung Gottes zurückgekehrt, fließen ihm die Segnungen Gottes zu. In diesem<br />
Sinne soll er si<strong>ch</strong> mehren und "fru<strong>ch</strong>tbar" sein. Es heißt aber in unserem Text weiter:<br />
"Nun sahen die Kinder Gottes na<strong>ch</strong> den Tö<strong>ch</strong>tern der Mens<strong>ch</strong>en". Hierunter wird verstanden,<br />
wie die Göttli<strong>ch</strong>en Attribute, nämli<strong>ch</strong> die höhere Vernunft, gepaart mit Weisheit<br />
und Liebe, si<strong>ch</strong> mehr und mehr der Weltliebe zuneigten und diese sogar in ihre Begierden<br />
aufnahmen (sie zu Weibern nehmen). Mit einem gottgefälligen Weib soll der<br />
Mann eheli<strong>ch</strong> verbunden sein. In der Entspre<strong>ch</strong>ung stellt sie dann die Liebe zu Gott dar,<br />
allerdings nur in seinem wiedergeborenen Zustand, anderenfalls ist sie seine Neigung<br />
zum "vernunftmäßig Wahren", wie es Swedenborg ausdrückt. (Heute würden wir sagen:<br />
Was uns erstrebenswert ers<strong>ch</strong>eint und der Vernunft einleu<strong>ch</strong>tet. Allerdings ist diese<br />
Einsi<strong>ch</strong>t sehr vom Entwicklungszustand abhängig. Insofern sind die Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
auf unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ebenen angeordnet). Neigungen, die uns als natürli<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en<br />
"reizen", werden in unserem Text mit den Worten ausgedrückt: "... wie sie s<strong>ch</strong>ön waren,<br />
und nahmen zu Weibern, wel<strong>ch</strong>e sie wollten". Gerade der letzte Teil rückt die Feinheit<br />
das Aussage ins re<strong>ch</strong>te Li<strong>ch</strong>t. "nahmen. zu Weibern, wel<strong>ch</strong>e sie wollten". Also ni<strong>ch</strong>t der<br />
göttli<strong>ch</strong>en Ordnung gemäß, sondern wie sie wollten! So ist es bis heute immer gewesen.<br />
Jeder Mens<strong>ch</strong> muß die Mögli<strong>ch</strong>keit zur Widerordnung haben, um wahrhaft frei zu sein.<br />
Er muß si<strong>ch</strong> von Gott abwenden können. Wahrhaftiges Heil findet er aber nur in der Befolgung<br />
der Gebote Gottes, die eine Kehrtwendung (Neuausri<strong>ch</strong>tung) bewirken.<br />
Ein anderes Bild ma<strong>ch</strong>t diese Sa<strong>ch</strong>lage viellei<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong>er: Alles, was Gott je ges<strong>ch</strong>affen<br />
hat, ist aus Seinen Gedanken und Ideen geworden, ist demna<strong>ch</strong> Er Selbst. Als<br />
notwendige Folge könnten Seine Ges<strong>ch</strong>öpfe keine wirkli<strong>ch</strong>e Unabhängigkeit haben, da<br />
sie mit der ihnen gegebenen Intelligenz ihre vollständige Abhängigkeit von ihrem<br />
S<strong>ch</strong>öpfer erkennen. Wie kann Gott Seine Ges<strong>ch</strong>öpfe in eine e<strong>ch</strong>te Freiheit setzen und sie<br />
damit zu seinen Kindern ma<strong>ch</strong>en, die als "Du" oder "Gegenüber" Sein Ebenbild sind?
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 43<br />
Um die, au<strong>ch</strong> für einen Gott wahrli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t lei<strong>ch</strong>te Aufgabe zu lösen, muß Er zwis<strong>ch</strong>en<br />
Si<strong>ch</strong> und Seinen Ges<strong>ch</strong>öpfen eine Barriere, eine Art Mauer erri<strong>ch</strong>ten, die Ihn vor Seinen<br />
Ges<strong>ch</strong>öpfen verborgen hält. In dieser Anordnung würde es aber zu keiner Begegnung<br />
zwis<strong>ch</strong>en ihnen kommen, wenn Er seinen Ges<strong>ch</strong>öpfen ni<strong>ch</strong>t so etwas ähnli<strong>ch</strong>es wie einen<br />
Empfänger eingebaut hätte, mit dem sie si<strong>ch</strong> auf entspre<strong>ch</strong>enden Empfang einstellen<br />
könnten. Uns<strong>ch</strong>wer zu erkennen: Die Mauer ist die Materie und der Empfänger ist<br />
Sein uns innewohnender Geist, der zwar zuerst "wie ausges<strong>ch</strong>altet" wirkt, dann aber zu<br />
spielen anfängt, wenn man "daran dreht". Die Gebrau<strong>ch</strong>sanweisung findet si<strong>ch</strong> im geoffenbarten<br />
Wort Gottes und - ni<strong>ch</strong>t zuletzt - in einem inneren Ahnen. Es ers<strong>ch</strong>eint ganz<br />
logis<strong>ch</strong>, daß im Kind in der ersten Zeit der Bewußtwerdung Gottes Bild im Innersten<br />
wirkt und erlebt wird, da man in dieser Zeit no<strong>ch</strong> von der Engelwelt umgeben ist. Aber<br />
mit der zunehmenden Unabhängigkeit von dieser Sphäre gewinnen die äußeren Reize<br />
der Welt an Einfluß und die inneren Wahrnehmungen und Ahnungen verblassen. Wir<br />
wären völlig verloren, wenn si<strong>ch</strong> Gott unserer ni<strong>ch</strong>t erbarmen würde! Da beim Stand der<br />
Dinge diese Zustände jedo<strong>ch</strong> kommen, hat der Herr s<strong>ch</strong>on von "langer Hand" Mögli<strong>ch</strong>keiten<br />
zu unserer "Wiedergeburt" vorbereitet. Mit anderen Worten: Er muß si<strong>ch</strong> dem<br />
Mens<strong>ch</strong>en jenseits der Mauer bemerkbar ma<strong>ch</strong>en (in Erinnerung bringen), verhüllt<br />
zwar und mit aller Vorsi<strong>ch</strong>t, um ni<strong>ch</strong>t Sein großes Ziel, die freiheitli<strong>ch</strong>e Entwicklung des<br />
Einzelnen, zu gefährden. Da dieses für alle Mens<strong>ch</strong>en und zu allen Zeiten glei<strong>ch</strong>ermaßen<br />
gilt, ist die Bes<strong>ch</strong>reibung der Wege Gottes in uns wesentli<strong>ch</strong>er Bestandteil<br />
der Heiligen S<strong>ch</strong>rift (Gott offenbarte und offenbart si<strong>ch</strong> auf vers<strong>ch</strong>iedenste Weise, bis<br />
hin zu Seiner Mens<strong>ch</strong>werdung auf Erden).<br />
Die Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te s<strong>ch</strong>ildert in der äußeren Form einer historis<strong>ch</strong>en Begebenheit<br />
einen bedeutenden Entwicklungsprozeß, nämli<strong>ch</strong> wesentli<strong>ch</strong>e Aspekte der Verbindung<br />
von Seele und Geist. Wir alle sind Abram (wie sein Name zuerst hieß). Unser Denken<br />
und Wollen ist no<strong>ch</strong> auf die Welt ausgeri<strong>ch</strong>tet, d.h. die sinnli<strong>ch</strong>en Eindrücke der äußeren<br />
Welt reizen uns mehr, als alles Wissen um ein geistiges Leben. Entspre<strong>ch</strong>end sind<br />
unsere Familienbande in der Welt zu su<strong>ch</strong>en. Der Herr aber arbeitet daran, uns diese<br />
Genüsse s<strong>ch</strong>al werden zu lassen. Er wirkt dahin, daß uns ein Interesse um das andere<br />
erstirbt, wir keinen Gefallen mehr daran finden und na<strong>ch</strong> Neuem zu su<strong>ch</strong>en anfangen.<br />
Wenn der ri<strong>ch</strong>tige Zeitpunkt da ist, wenn wir "wei<strong>ch</strong>" geworden sind, erhebt Er seine<br />
Stimme und ruft uns zu: "Gehe aus deinem Vaterland und aus deiner Freunds<strong>ch</strong>aft und<br />
aus dem Hause deines Vaters" - damit ist das Land diesseits der Mauer mit allen seinen<br />
Bindungen gemeint - "in ein Land, das I<strong>ch</strong> dir zeigen werde." Mit dem Ruf ist ein Ahnen<br />
gemeint, daß es no<strong>ch</strong> etwas anderes geben muß, etwas, was jenseits der bisherigen Erfahrungen<br />
liegt. Hier rührt uns der Herr an. Es ist gewissermaßen die erste der großen<br />
Verheißungen, die auf unsere wahre Bestimmung hinweist. Damals, wie au<strong>ch</strong> heute<br />
werden wir aufgerufen. Immer! Heute, indem der Herr uns das ganze Panorama Seiner
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 44<br />
Himmel eröffnet hat. Wie anders sind sonst die Werke des großen Sehers aus dem Norden<br />
zu verstehen, in ihnen zeigt Swedenborg das große Ziel des Mens<strong>ch</strong>en auf. Er weist<br />
ni<strong>ch</strong>t etwa bloß darauf hin, er zeigt es bu<strong>ch</strong>stäbli<strong>ch</strong>, dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>reitet es und beri<strong>ch</strong>tet von<br />
"Unausspre<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>em - was er gesehen und gehört hat". In der Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te offenbarte<br />
si<strong>ch</strong> der Herr in no<strong>ch</strong> mehr verhüllter Weise. - Wie s<strong>ch</strong>on gesagt, ist Abraham<br />
in der Folge wirkli<strong>ch</strong> Vater vieler Völkers<strong>ch</strong>aften geworden. Die Verheißung bezieht<br />
si<strong>ch</strong> aber in erster Linie auf den inneren Mens<strong>ch</strong>en. Religion soll der Ansatzpunkt für<br />
alle anderen Neigungen werden, die "wie Völker" in der Seele ein Eigenleben führen.<br />
Jede unserer Tätigkeiten soll aus der einen Quelle gespeist werden. Darin liegt unsere<br />
Einheit und Stärke.<br />
Verheißung ist aber no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Wirkli<strong>ch</strong>keit. Vorerst heißt es einen steinigen Weg der<br />
Demut betreten, wissend, daß wir aus uns selbst ni<strong>ch</strong>ts sind, daß alle unsere Kräfte eigentli<strong>ch</strong><br />
von "Ihm" kommen und daß wir eine völlige Bewußtseinsumwandlung dur<strong>ch</strong>ma<strong>ch</strong>en<br />
müssen. Wir müssen alles "Eigene" unterordnen und Seinen Anweisungen folgen<br />
und jedes daraus resultierende Ungema<strong>ch</strong> auf uns nehmen. Daher die lange Wanderung<br />
unseres Abram, der übrigens in diesem Stadium no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t selbständig im Geistigen<br />
wandelt, sondern erst Aufgeforderter ist. Daher sein Name Abram ohne "h". Erst<br />
von einem bestimmten Stadium an, wird seine Name dur<strong>ch</strong> den Geistlaut "h" in Abraham<br />
geändert. In einem weiteren Sinn bezei<strong>ch</strong>net Abraham den Herrn, bzw. Seine<br />
himmlis<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e, die Er in uns erri<strong>ch</strong>ten will. Sein Sohn Isaak stellt die geistige Kir<strong>ch</strong>e<br />
dar und dessen Sohn Jakob die natürli<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e im Sinne eines Herabsteigens des<br />
Herrn von dem innersten Himmel bis zur mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ebene. So läßt uns der Text erahnen,<br />
wel<strong>ch</strong>e Wunder uns der Herr auftun will, wenn wir uns aufma<strong>ch</strong>en, alles Bisherige<br />
zu verlassen und in ein neues Land (in einen neuen Zustand) zu ziehen, das Er uns<br />
zeigen wird. Bezei<strong>ch</strong>nenderweise ges<strong>ch</strong>ieht dieser Ruf, als Thera<strong>ch</strong>, der Vater Abrams,<br />
in Haran starb. Sterben ist in der Bibel immer ein Zustandswe<strong>ch</strong>sel, indem das Vorherige<br />
abgeödet wurde (starb!). - Der Herr in Seiner göttli<strong>ch</strong>en Liebe und Weisheit tritt mehr<br />
und mehr in unser Leben, um uns dann zu den Himmeln zu erheben. Und Abram gehor<strong>ch</strong>t!<br />
Er nimmt sein Weib Sarai, seinen Neffen Lot und alle seine Habseligkeiten und<br />
geht den verheißungsvollen Weg na<strong>ch</strong> Kanaan.<br />
Es s<strong>ch</strong>eint eine der vielen Wanderszenen zu sein, die bei einem Nomadenvolk gang und<br />
gäbe sind. Nomaden sind wir im Geistigen au<strong>ch</strong>. Mal ziehen wir hier hin, mal dahin,<br />
immer unseren momentanen Launen oder Neigungen folgend, dorthin, wo neue Futterplätze<br />
(Nahrung für Seele und Geist) sind. S<strong>ch</strong>einbar wie in einem Irrgarten der Gefühle<br />
gehen wir unseren Begierden und Wüns<strong>ch</strong>en na<strong>ch</strong>. Die Wege führen oft von Gott weg,<br />
bes<strong>ch</strong>äftigen unseren Gedanken und Sinne, wobei sehr wi<strong>ch</strong>tige, kostbare Zeit verloren<br />
geht! Von irgendwo her, aus der Tiefe unseres Seins, kommt dann einmal der Ruf: "So<br />
kann es ni<strong>ch</strong>t weiter gehen, es muß Besseres geben". In diesem Ruf ist der Herr auf der
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 45<br />
Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> uns und verheißt uns ein neues Leben! In Wirkli<strong>ch</strong>keit brau<strong>ch</strong>t man sein<br />
äußeres Leben ni<strong>ch</strong>t völlig umzuändern, aber es bekommt einen neuen Geist. "I<strong>ch</strong> bin<br />
der Herr dein Gott, du sollst keine anderen Götter haben neben mir", lautet das erste<br />
Gebot. Alles soll Ihm unterstellt werden! Das ist kein langweiliges Leben, sondern eine<br />
Reise in immer seligere Zustände.<br />
Und no<strong>ch</strong> eins! No<strong>ch</strong> lange sind wir keine Wiedergeborenen, wenn wir den Ruf vernehmen<br />
und ihm Folge leisten wollen. Wir sind vorerst immer no<strong>ch</strong> die Alten. Daher<br />
unser Text folgeri<strong>ch</strong>tig heißt: "Also nahm Abram sein Weib Sarai und Lot, seines Bruders<br />
Sohn mit aller Habe, die sie si<strong>ch</strong> erworben hatten …" Vorerst bleiben alle unsere<br />
Neigungen erhalten, unsere "Habe". Abrams Brüder waren Na<strong>ch</strong>or und Haran. Abram<br />
bezei<strong>ch</strong>net in diesem Zustand no<strong>ch</strong> die Eigenliebe des Mens<strong>ch</strong>en, seine Brüder Weltliebe<br />
und die Vergnügungssu<strong>ch</strong>t. Alle diese Liebesarten sind stark an die Sinne gebunden.<br />
Aus der Liebe zu den Vergnügungen stammt Lot. Er repräsentierte das, was den Sinnen<br />
gefällt oder dem äußeren Mens<strong>ch</strong>en behagt. Mit anderen Worten ausgedrückt, wenn wir<br />
den Weg der Wiedergeburt beginnen, nehmen wir vorerst unsere Eigenliebe mit allen<br />
ihren daraus hervorgehenden Neigungen, den Hang zur Sinnenfreude und den Hang<br />
zur Außerli<strong>ch</strong>keit mit.<br />
Um es no<strong>ch</strong> einmal klar zu sagen: Dur<strong>ch</strong> den Bewußtseinsprozeß, daß es einen Gott<br />
gibt, werden wir no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t von unserem "alten Adam" befreit. Die erste Glückseligkeit<br />
des Augenblicks hat no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts mit der eigentli<strong>ch</strong>en Wiedergeburt zu tun. Diese ist<br />
na<strong>ch</strong> unseren Lehren ein Akt der zunehmenden Reinigung und Abwendung vom Bösen<br />
und Fals<strong>ch</strong>en, wel<strong>ch</strong>es uns bisher regiert hat. Dieser Prozeß ist ni<strong>ch</strong>t auf das irdis<strong>ch</strong>e<br />
Leben bes<strong>ch</strong>ränkt, sondern setzt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in der geistigen Welt fort. Hören wir dazu<br />
Swedenborg im Original: "Wenn der Mens<strong>ch</strong> geboren wird, ist er in Ansehung des anererbten<br />
Bösen eine Hölle in kleinster Gestalt. Er wird au<strong>ch</strong> zu einer Hölle in dem Maße<br />
er von dem anererbten Bösen annimmt und demselben no<strong>ch</strong> Böses hinzufügt. Daher<br />
kommt es, daß die Ordnung seines Lebens dur<strong>ch</strong> die Anlage von der Geburt her und<br />
dur<strong>ch</strong> sein wirkli<strong>ch</strong>es Leben der Ordnung des Himmels entgegengesetzt ist. Denn der<br />
Mens<strong>ch</strong> liebt aus dem Eigenen her si<strong>ch</strong> selbst mehr als den Herrn und die Welt mehr,<br />
als den Himmel, während do<strong>ch</strong> das Leben des Himmels ist, den Herrn über alles zu lieben<br />
und den Nä<strong>ch</strong>sten wie si<strong>ch</strong> selbst. Hieraus erhellt, daß das erste Leben, wel<strong>ch</strong>es der<br />
Hölle angehört, ganz zerstört werden, d.h. das Böse und Fals<strong>ch</strong>e entfernt werden muß,<br />
wenn ein neues Leben, wel<strong>ch</strong>es das Leben des Himmels ist, eingepflanzt werden soll.<br />
Dies kann aber dur<strong>ch</strong>aus ni<strong>ch</strong>t in Eile ges<strong>ch</strong>ehen, denn jedes Böse steht in einem fest<br />
verwurzelten Zusammenhang mit allem Bösen und dessen Fals<strong>ch</strong>em. Sol<strong>ch</strong>es Böse und<br />
Fals<strong>ch</strong>e ist unzählig und der Zusammenhang desselben so mannigfa<strong>ch</strong>, daß es gar ni<strong>ch</strong>t<br />
begriffen werden kann - ni<strong>ch</strong>t einmal von den Engeln - sondern vom Herrn allein. Hieraus<br />
erhellt, daß das Leben der Hölle bei dem Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t plötzli<strong>ch</strong> zerstört werden
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 46<br />
kann, denn wenn es plötzli<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>ähe, müßte er seinen Geist aufgeben, wie au<strong>ch</strong> das<br />
Leben des Himmels ni<strong>ch</strong>t plötzli<strong>ch</strong> eingepflanzt werden kann." (HG 9336)<br />
Diese Tatsa<strong>ch</strong>e findet in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Na<strong>ch</strong>kommen Abrahams ihre äußere Bestätigung,<br />
indem es lange Auseinandersetzungen und Kämpfe bis zur Einnahme des Heiligen<br />
Landes Kanaan gab - genaugenommen bis in die heutige Zeit andauernd - und no<strong>ch</strong><br />
immer ist kein Ende abzusehen.<br />
"Deinem Samen will I<strong>ch</strong> dieses Land geben …" Samen sind die besten und reifsten Lebenskräfte<br />
analog allem Guten und Wahren, und damit Ziel unseres Lebens, aus dem<br />
das spätere Himmelrei<strong>ch</strong> "bevölkert" werden soll. Der Mens<strong>ch</strong>, sol<strong>ch</strong>erart im Umbru<strong>ch</strong>,<br />
ist ganz erfüllt von den neuen Aussi<strong>ch</strong>ten und mö<strong>ch</strong>te sein ganzes Leben dem Herrn<br />
widmen. Widmen, heißt ein Leben na<strong>ch</strong> der himmlis<strong>ch</strong>en Ordnung beginnen und damit<br />
dem Herrn eine Bleibstatt im Herzen bereiten. Alle Gebete festigen diesen Zustand. In<br />
der Spra<strong>ch</strong>e der Bibel heißt es: "Und er baute daselbst dem Herrn einen Altar."<br />
Weiter heißt es: "Es kam aber eine Teuerung ins Land …" Teuerung ges<strong>ch</strong>ieht immer,<br />
wenn Warenknappheit herrs<strong>ch</strong>t. Auf unserer Station der Wiedergeburt sind wir in den<br />
Zustand gelangt, in dem das neue Leben uns ganz glückli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>t und alles in Ordnung<br />
zu sein s<strong>ch</strong>eint. Nun kommt aber "eine Teuerung ins Land"‚ - s<strong>ch</strong>ildert den Ausverkauf<br />
alter Wahrheiten, die uns in unserem bisherigem Leben als Grundlagen dienten und auf<br />
denen unser neues Leben vorerst einmal fußt. Sie erweisen si<strong>ch</strong> auf Dauer als ni<strong>ch</strong>t allzu<br />
tragfähig. Es ist einfa<strong>ch</strong> zu wenig, oder au<strong>ch</strong> das Fals<strong>ch</strong>e, um damit ein geistiges Leben<br />
führen zu können. Uns fehlen die Kenntnisse über geistige und himmlis<strong>ch</strong>e Dinge.<br />
Folgli<strong>ch</strong> blicken wir uns um, wer da helfen könnte: Bü<strong>ch</strong>er, Vorträge usw. In vollen Zügen<br />
nimmt man auf. - Diese Verhaltensweisen sind ni<strong>ch</strong>t erst heute so, sondern von jeher<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Reaktion. Wer Hunger hat, wird si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Nahrung ums<strong>ch</strong>auen.<br />
Im geistigen Sinne ist Essen ein Aufnehmen von Kenntnissen aller Art (daher gibt es<br />
au<strong>ch</strong> so vers<strong>ch</strong>iedenartige Speisen). Die Art der Speise ist dabei no<strong>ch</strong> völlig wertfrei.<br />
Das alte Ägypten mit seinen Weisheitss<strong>ch</strong>ulen und Einweihungsritualen ist ein Entspre<strong>ch</strong>ungsbegriff<br />
für "Wissens<strong>ch</strong>aft". Daher wandte si<strong>ch</strong> Abram au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Ägypten mit<br />
seinen Kornkammern. Entspre<strong>ch</strong>ungsmäßig geht es um die Befriedigung geistigen<br />
Hungers.<br />
Aber es ist ni<strong>ch</strong>t Sa<strong>ch</strong>e der Religion, ledigli<strong>ch</strong> Wissen zu sammeln. Vorhin lasen wir,<br />
was den Mens<strong>ch</strong>en vor und na<strong>ch</strong> der Wiedergeburt unters<strong>ch</strong>eidet: Vorher war es ein<br />
Leben der Eigenliebe und na<strong>ch</strong>her ein Leben der Gottes- und Nä<strong>ch</strong>stenliebe. Gottes- und<br />
Nä<strong>ch</strong>stenliebe sind aber ni<strong>ch</strong>t Dinge des Wissens, sondern des Herzens, wie au<strong>ch</strong> das<br />
Land Kanaan beim geistigen Mens<strong>ch</strong>en das Gute und Wahre bei ihm bezei<strong>ch</strong>net. Natürli<strong>ch</strong><br />
ist Wissen über himmlis<strong>ch</strong>e Dinge ni<strong>ch</strong>t verwerfli<strong>ch</strong>, sondern sehr nützli<strong>ch</strong>. Aber es
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 47<br />
befriedigt auf Dauer ni<strong>ch</strong>t, ist ni<strong>ch</strong>t Endzweck, daher au<strong>ch</strong> dem Text hier zugesetzt<br />
wird: "dass er si<strong>ch</strong> daselbst als Fremdling aufhielte."<br />
Da es das Ziel aller Wiedergeburtsbestrebungen des Herrn ist, bei uns ein tätiges Leben<br />
der Gottes- und Nä<strong>ch</strong>stenliebe anzuregen, wandte si<strong>ch</strong> Abram wieder aus der reinen<br />
Wissenssphäre seinem eigentli<strong>ch</strong>en Ziele zu. Ägypten war äußerst fru<strong>ch</strong>tbringend für<br />
ihn. Gestärkt und ausstaffiert mit allen Grundlagen geistigen Lebens, wie das natürli<strong>ch</strong><br />
Gute (Dienen), geistige Wahrheiten (wissensmäßige Untermauerung) und neue Impulse<br />
(Liebe für das Geistige), lebte er zunehmend im weisheitsvollen Wirken. Die Bibel<br />
drückt diese Tatsa<strong>ch</strong>e in ihrer Bilderspra<strong>ch</strong>e aus: "… war aber sehr rei<strong>ch</strong> an Vieh, Silber<br />
und Gold."<br />
Er bewegt si<strong>ch</strong> im "Mittagsland", wel<strong>ch</strong>es den Weisheitsberei<strong>ch</strong> anzeigt. Unsere Selbstliebe,<br />
hier als Abram bezei<strong>ch</strong>net, ist in diesem Stadium no<strong>ch</strong> vorherrs<strong>ch</strong>end. Dies zeigt<br />
die S<strong>ch</strong>rift an, indem Abram mit seinem Weibe, Lot und allem, was er hatte, in das Mittagsland<br />
zog. Sein no<strong>ch</strong> unwiedergeborenes Weib stellt hier - no<strong>ch</strong> - die Selbstsu<strong>ch</strong>t dar,<br />
und der Neffe Lot die Vergnügungssu<strong>ch</strong>t, d.h. die Neigung zu den äußeren Reizen. No<strong>ch</strong><br />
deutli<strong>ch</strong>er sagt das: "Und allem, was er hatte." I<strong>ch</strong> glaube, es ist deutli<strong>ch</strong> geworden, daß<br />
wir no<strong>ch</strong> lange die alten Gewohnheiten und Neigungen behalten. Glei<strong>ch</strong>es gilt au<strong>ch</strong> für<br />
uns Freunde des neuen Wortes, bzw. des neuen Verständnisses des Wortes. Ni<strong>ch</strong>t die<br />
Tatsa<strong>ch</strong>e, si<strong>ch</strong> aufgema<strong>ch</strong>t zu haben und in den Lehren Bes<strong>ch</strong>eid zu wissen, bringt<br />
s<strong>ch</strong>on Wiedergeburt, sondern erst der in langen Umbildungsperioden mit seinen vielen<br />
Anfe<strong>ch</strong>tungen vollzogene Wandel. Daher Swedenborg au<strong>ch</strong> von der sogenannten "Neuen<br />
Kir<strong>ch</strong>e" sagt, daß au<strong>ch</strong> sie anfängli<strong>ch</strong> äußerli<strong>ch</strong> sein würde.<br />
Hier no<strong>ch</strong> einige Aussagen Swedenhorgs über diese Kämpfe: "Allein man muß wissen,<br />
daß ohne Versu<strong>ch</strong>ung niemand wiedergeboren wird, und daß mehrere Versu<strong>ch</strong>ungen<br />
auf einander folgen. Dies aus dem Grund, weil die Wiedergeburt den Zweck hat, daß das<br />
alte Leben des Mens<strong>ch</strong>en sterbe, und ein neues Leben, wel<strong>ch</strong>es das himmlis<strong>ch</strong>e ist, einfließe.<br />
Daraus kann erhellen, daß notwendig ein Kampf stattfinden muß. Denn das Leben<br />
des alten Mens<strong>ch</strong>en widersteht und will si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zerstören lassen, und das Leben<br />
des neuen Mens<strong>ch</strong>en kann ni<strong>ch</strong>t eindringen, wenn ni<strong>ch</strong>t das Leben des alten zerstört<br />
ist. Hieraus erhellt, daß von beiden Seiten ein Kampf entsteht, und zwar ein heftiger,<br />
weil es si<strong>ch</strong> um das Leben handelt …" (HG 8403). Dieser Text ma<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> verständli<strong>ch</strong>,<br />
warum sol<strong>ch</strong>e "radikalen" Worte des Herrn hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der Eroberung Kanaans ausgespro<strong>ch</strong>en<br />
wurden, was Kritiker der Bibel ohne Kenntnis ihrer Entspre<strong>ch</strong>ungsgrundlagen<br />
als Anstiftung zum Völkermord ansehen müssen.<br />
Kämpfe mit den Feinden des Landes bilden im inneren Sinn Auseinandersetzungen in<br />
der eigenen Seele vor. Also die Kämpfe gegen alle niederen Eigens<strong>ch</strong>aften, die unser<br />
Herz besetzt halten, in dem do<strong>ch</strong> alleine Gott wohnen soll. Aber man muß si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> von
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 48<br />
dem trennen, was bisher als gut und gere<strong>ch</strong>t galt. Dies bezei<strong>ch</strong>net insbesondere die Aufforderung<br />
zur Abkehr von der "Familie". - Im folgenden Abs<strong>ch</strong>nitt handelt es si<strong>ch</strong> um<br />
die Auseinandersetzung mit Lot, seines Bruders Sohn, der mit Abram bisher immer<br />
mitzog. Im Mittagsland waren beide rei<strong>ch</strong> geworden. Das heißt, in der Weisheitssphäre<br />
hatten beide profitiert: Die Eigenliebe, wel<strong>ch</strong>e im Begriffe war, si<strong>ch</strong> zur Gottesliebe zu<br />
wandeln, und jener Hang zur Äußerli<strong>ch</strong>keit, dargestellt dur<strong>ch</strong> Lot. Man muß den Zustand<br />
des mittlerweile gewandelten Abram kennen. Hören wir den Text aus der S<strong>ch</strong>rift,<br />
wel<strong>ch</strong>er aus Platzgründen ni<strong>ch</strong>t in voller Länge aufgenommen werden konnte: "… Und<br />
er zog weiter vom Südland (Mittagsland) na<strong>ch</strong> Bethel … eben an den Ort, wo er früher<br />
den Altar erri<strong>ch</strong>tete. Dort rief er den Namen des Herrn an", also in der Weisheitssphäre<br />
(no<strong>ch</strong> von Ägypten herrührend) erinnert er si<strong>ch</strong> an den Zustand der Gegenwart des<br />
Herrn (er war auf seiner Wanderung s<strong>ch</strong>on einmal hier), wo er Ihm einst Gehorsam gelobte<br />
und einen Altar erri<strong>ch</strong>tete. Eindeutig ein neuerli<strong>ch</strong>er Impuls zur Verinnerli<strong>ch</strong>ung.<br />
Dort, also in diesem Zustand, erkennt er sein zwiespältiges Wesen. Da ist einmal seine<br />
neue und große Liebe zu Gott mit ihren Konsequenzen, auf der anderen Seite die äußere<br />
Sinnli<strong>ch</strong>keit seines Wesens, wel<strong>ch</strong>e auf die Reize der Welt geri<strong>ch</strong>tet ist. Beide haben<br />
große Herden, bedeutet, daß diese Eigens<strong>ch</strong>aften bedeutsame Lebensberei<strong>ch</strong>e umfassen.<br />
Für den geistigen Weg ist der Hang zum sinnli<strong>ch</strong>en Leben hinderli<strong>ch</strong>. Es ist in Grenzen<br />
zwar ni<strong>ch</strong>t fals<strong>ch</strong>, denn in der Welt muß man au<strong>ch</strong> leben, aber das na<strong>ch</strong> außen geri<strong>ch</strong>tete<br />
Leben muß von dem inneren, geistigen Leben abgegrenzt sein. Die Konsequenz ist<br />
folgli<strong>ch</strong> die Trennung. - Wir lesen: "Und das Land mo<strong>ch</strong>te ni<strong>ch</strong>t ertragen, daß sie beieinander<br />
wohnten, denn ihre Habe war sehr groß."<br />
Die Folge in der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te zeigt, daß diese Trennung in beiderseitigem Einvernehmen<br />
und in Freunds<strong>ch</strong>aft ges<strong>ch</strong>ah. Jedem das Seine. Es sind ni<strong>ch</strong>t feindli<strong>ch</strong>e Berei<strong>ch</strong>e, sondern<br />
nur unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Sphären, die man akzeptieren kann. Abram setzte si<strong>ch</strong> später<br />
sogar sehr für seinen Neffen ein, wie wir glei<strong>ch</strong> sehen werden. Der natürli<strong>ch</strong>e Berei<strong>ch</strong><br />
oder der äußere Mens<strong>ch</strong> wandte si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der Trennung bezei<strong>ch</strong>nenderweise in jene<br />
Gegend (Zustand), in der si<strong>ch</strong> Sodom entwickelte und wel<strong>ch</strong>e später höllis<strong>ch</strong> wurde.<br />
Hier sehen wir den Hang des natürli<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en zu den Begierden des Bösen. Dort<br />
geriet er bald in Verwicklungen, Kriege und Gefangens<strong>ch</strong>aft, woraus er dur<strong>ch</strong> Abram<br />
(der geistigen Seite des Mens<strong>ch</strong>en) gerettet wurde. "… als nun Abram hörte, daß seines<br />
Bruders Sohn gefangen war, wappnete er seine Kne<strong>ch</strong>te, dreihundertunda<strong>ch</strong>tzehn, in<br />
seinem Hause geboren, und jagte ihnen na<strong>ch</strong>." Dieser Akt der Nä<strong>ch</strong>stenliebe wurde<br />
dur<strong>ch</strong> den Oberpriester Mel<strong>ch</strong>isedek, der in Salem (später Jerusalem) residierte und den<br />
Herrn darstellt, gesegnet.<br />
Na<strong>ch</strong> dieser kleinen Vors<strong>ch</strong>au über das spätere S<strong>ch</strong>icksal von Lot, kehren wir wieder zu<br />
der Trennung von Lot und Abram zurück. Na<strong>ch</strong>dem diese ges<strong>ch</strong>ah, war der Weg in das<br />
Heilige Land frei. Alles, was uns an die Materie bindet, muß "auf seinen Platz ver-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 49<br />
wiesen" werden. Wir verstehen: Materie muß sein und ist an und für si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>ts Verwerfli<strong>ch</strong>es.<br />
Wenn wir aber unsere Liebe an sie binden - im Sinne des ni<strong>ch</strong>t Los-<br />
Kommens - verhindert sie unsere geistige Entwicklung. Au<strong>ch</strong> der geistige Mens<strong>ch</strong> muß<br />
in der Materie leben, solange er hier auf Erden no<strong>ch</strong> inkarniert ist, und diese fordert von<br />
Zeit zu Zeit au<strong>ch</strong> ihr Re<strong>ch</strong>t. Die Hinwendung zur Welt muß aber dem Geistigen untergeordnet<br />
werden und diesem dienen, und ni<strong>ch</strong>t umgekehrt. - Sol<strong>ch</strong>erart befreit von erdgebundener<br />
Verstrickung, ist es nun mögli<strong>ch</strong>, dieses verheißene Land zu dur<strong>ch</strong>ziehen, wie<br />
es heißt: "In der Länge wie in der Breite". Letztere Ausdrucksweise könnte belanglose<br />
Auss<strong>ch</strong>mückung sein, wenn die Bes<strong>ch</strong>reibung ni<strong>ch</strong>t in der Bibel als Gottes Wort stünde.<br />
So sollte man wieder die Entspre<strong>ch</strong>ungskunde zu Rate ziehen.<br />
Alles Irdis<strong>ch</strong>e hat Länge, Breite und Höhe und kann au<strong>ch</strong> gemessen werden. Das Land<br />
Kanaan bezei<strong>ch</strong>net das Himmlis<strong>ch</strong>e und entzieht si<strong>ch</strong> daher irdis<strong>ch</strong>en Maßstäben. Das<br />
Geistige muß si<strong>ch</strong> immer an den Graden seiner Vollkommenheit messen lassen. Also<br />
wieviel Heiliges (Gottes Liebe), wieviel Wahres und wieviel daraus hervorgehendes Lebensgutes<br />
(Nutzwirkungen hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> der angewandten Lehre) enthält es? Unser Text<br />
will nun sagen: Erfors<strong>ch</strong>e das dir si<strong>ch</strong> öffnende Himmelrei<strong>ch</strong> und erkenne die dort herrs<strong>ch</strong>ende<br />
Liebe und Weisheit Gottes. Es in Besitz nehmen heißt, es si<strong>ch</strong> aneignen und<br />
zur Lebensgrundlage ma<strong>ch</strong>en. Dann erst ers<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> die dritte Dimension: Es sind<br />
die am Anderen erbra<strong>ch</strong>ten Dienstleistungen, im Sinne einer neu verstandenen Nä<strong>ch</strong>stenliebe.<br />
Ist der Wille vollkommen auf die Einnahme des verheißenen Himmelrei<strong>ch</strong>es ausgeri<strong>ch</strong>tet,<br />
und hat der Mens<strong>ch</strong> alles Hinderli<strong>ch</strong>e zurückgelassen und si<strong>ch</strong>, mit Swedenborg<br />
ausgedrückt, dem Einfluß Gottes geöffnet, kann der Herr seine zweite Verheißung an<br />
ihn ri<strong>ch</strong>ten: "I<strong>ch</strong> bin der allmä<strong>ch</strong>tige Gott, wandle vor Mir und sei fromm, siehe I<strong>ch</strong> bin<br />
es und habe Meinen Bund mit dir." So ist die Ordnung Gottes: Zuerst der Herr, dann der<br />
Mens<strong>ch</strong> in seinem Ausgeri<strong>ch</strong>tet-Sein. In diesem Zustand kann si<strong>ch</strong> Gott dem Mens<strong>ch</strong>en<br />
nahen und gefahrlos einen Bund mit ihm s<strong>ch</strong>ließen. Nun ist eine feste und von Gott aus<br />
au<strong>ch</strong> ewige Verbindung ges<strong>ch</strong>affen - entspre<strong>ch</strong>end den Zimmerleuten, die einen Abbund<br />
ma<strong>ch</strong>en, wo ein Holz in das andere greift und wodur<strong>ch</strong> ein gegenseitiger Halt ensteht.<br />
Himmelrei<strong>ch</strong> ohne den Mens<strong>ch</strong>en ist sinnlos, aber au<strong>ch</strong> das Leben des Mens<strong>ch</strong>en<br />
ohne Himmel ist es glei<strong>ch</strong>ermaßen. Sie brau<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> gegenseitig. Als äußeres Zei<strong>ch</strong>en<br />
wird dem Abram der Geistlaut "h" eingeprägt. Das "h" ist der Hau<strong>ch</strong> Gottes, Sein Atem,<br />
das Geistfeuer, wel<strong>ch</strong>es ihn erst zu einem Mens<strong>ch</strong>en ma<strong>ch</strong>t. Der siebente Tag in der<br />
S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te beri<strong>ch</strong>tet: "Da ma<strong>ch</strong>te Gott der Herr den Mens<strong>ch</strong>en aus der Erde<br />
vom Acker und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mens<strong>ch</strong><br />
ein lebendiges Wesen." (1.Mose 2,7). - Da die Abrahamsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te au<strong>ch</strong> unsere Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
ist, soll dieses Wirken Gottes an uns glei<strong>ch</strong>ermaßen ges<strong>ch</strong>ehen. Der siebente<br />
Tag der S<strong>ch</strong>öpfungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te s<strong>ch</strong>ildert, daß Gott "ruhte". Hier handelt es si<strong>ch</strong> nur um
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 50<br />
eine S<strong>ch</strong>einbarkeit. In Bezug auf den Mens<strong>ch</strong>en und die gesamte S<strong>ch</strong>öpfung und deren<br />
Erhaltung, ist Gott ständig tätig. Wie lei<strong>ch</strong>t könnte der Mens<strong>ch</strong> wieder in den alten Zustand<br />
zurückfallen! Am siebenten Tag ist der Geistlaut der Wiedergeburt, das "h", hinzugekommen,<br />
wie ein Markenzei<strong>ch</strong>en, daß das Eingepflanzte Fuß gefaßt hat. Wohl kann<br />
der Mens<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dieser Zeit fallen, aber das "h" verhindert ein gänzli<strong>ch</strong>es Abdriften.<br />
Es passiert nur ein zeitweises Einkehren in die eigene Hölle.<br />
Wir erinnern uns, daß bei der S<strong>ch</strong>affung des Mens<strong>ch</strong>en von der Mehrzahl die Rede war.<br />
Wir hatten ausgeführt, wie das Weib die Neigungen, oder Liebesausri<strong>ch</strong>tungen des<br />
Mens<strong>ch</strong>en darstellt. Dur<strong>ch</strong> die erfolgten Läuterungen Abrahams wurden seine Interessen<br />
ganz auf das zu erringende Himmelrei<strong>ch</strong> gelenkt. Sie wurden in die Ordnung Gottes<br />
gebra<strong>ch</strong>t. Au<strong>ch</strong> Sarai erfährt den Geisthau<strong>ch</strong> in ihrem erweiterten Namen als Sarah!<br />
Dies drückt si<strong>ch</strong> in den Worten des Herrn aus: "Du sollst dein Weib Sarai ni<strong>ch</strong>t mehr<br />
Sarai heißen, sondern Sarah soll ihr Name sein."<br />
Wel<strong>ch</strong>e Feinheiten die Heilige S<strong>ch</strong>rift aufzeigt, kann man au<strong>ch</strong> erkennen, wenn man die<br />
Stelle der Einfügung beim Namen Abram betra<strong>ch</strong>tet. Sie wird in das zweite a ges<strong>ch</strong>oben.<br />
Der Herr ist immer die "1" und steht hier am Anfang als großes "A" (Der Herr). Das<br />
zweite a (der Geistfunke im Mens<strong>ch</strong>en als Sein Abbild) wird um den Geistlaut "h" erweitert<br />
(also: a h a) und zeigt, daß dieser Funke das "(Geist)Feuer" entfa<strong>ch</strong>t hat.<br />
Abraham und seinem Weibe Sarah, deren Ehe nun eine geistig-himmlis<strong>ch</strong>e Verbindung<br />
von Liebe und Weisheit darstellt, verkündet der Herr die Geburt eines Sohnes (Isaak).<br />
Dieser bedeutet die geistige Kir<strong>ch</strong>e oder die inneren Wahrheiten, die aus sol<strong>ch</strong>er Verbindung<br />
hervorgehen.<br />
Ist die Wiedergeburt nun abges<strong>ch</strong>lossen? Nein, da diese einen in die Ewigkeit rei<strong>ch</strong>enden<br />
Prozeß darstellt. Der Mens<strong>ch</strong>, die Stimme Gottes hörend und ihr folgend, soll ja erst<br />
das Land "in Länge und Breite" einnehmen und darin heimis<strong>ch</strong> werden. Um dies zu erkennen<br />
und re<strong>ch</strong>t beurteilen zu können, bedarf es der Innewerdung göttli<strong>ch</strong>er Weisheit.<br />
Diese wurde ihm gegeben: "Denn I<strong>ch</strong> will Sarah segnen. Au<strong>ch</strong> von Ihr will i<strong>ch</strong> Dir einen<br />
Sohn geben. Völker sollen aus ihr werden und Könige über viel Völker."<br />
Die Geburt des gesegneten Sohnes ers<strong>ch</strong>eint bei Berücksi<strong>ch</strong>tigung des Alters von Abraham<br />
und Sarah erst einmal ziemli<strong>ch</strong> unwahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>. Jedo<strong>ch</strong> sind die Zahlen in der<br />
Heiligen S<strong>ch</strong>rift unter Entspre<strong>ch</strong>ungsgesi<strong>ch</strong>tspunkten besonders interessant. Sie stellen<br />
nämli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Zeiträume dar, sondern Zustände. Swedenborg: "… im Wort ist ni<strong>ch</strong>ts ges<strong>ch</strong>rieben,<br />
was ni<strong>ch</strong>t in einen geistigen und himmlis<strong>ch</strong>en Sinn überginge bei den Engeln;<br />
denn die Engel sind in keinen anderen, als geistigen und himmlis<strong>ch</strong>en Ideen. Sie<br />
wissen ni<strong>ch</strong>t, no<strong>ch</strong> werden inne, was 8 und 6 ist, au<strong>ch</strong> bekümmern sie si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t darum,<br />
wie alt Abraham war, als Hagar ihm den Ismael gebar. Wenn aber eine sol<strong>ch</strong>e Zahl<br />
gelesen worden ist, stößt ihnen soglei<strong>ch</strong> auf, was die Zahlen in si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließen."
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 51<br />
Als Abram aus Haran auf Geheiß des Herrn fortzog ("Geh in ein Land …") und er si<strong>ch</strong><br />
damit zu einem geistigen Leben wandte, war er 75 Jahre alt. Zusammengesetzt heißt die<br />
Zahl: 7 (göttli<strong>ch</strong>e Eigens<strong>ch</strong>aften) und 5 (no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das Ganze - alles wäre die 10). Anders<br />
ausgedrückt ist es der Beginn des göttli<strong>ch</strong>en Li<strong>ch</strong>tes, aber erst ein Teil davon (5).<br />
Als der Herr später einen Bund mit Abraham ma<strong>ch</strong>te, war er 99 Jahre alt (In der Zahlenmystik<br />
werden die einzelnen Zahlen gedeutet), also zweimal die neun, jedesmal der<br />
Zustand ganz kurz vor der Vollendung. In diesem Fall, sowohl in der geistigen, wie in<br />
der himmlis<strong>ch</strong>en Entwicklung. Erst in der Fülle der geistigen Reife kann man das Land<br />
"dur<strong>ch</strong>ziehen in Länge und Breite". Als na<strong>ch</strong> vielen S<strong>ch</strong>wierigkeiten der angekündigte<br />
Sohn do<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> von Sarah geboren wurde, war Abraham 100 Jahre alt. Der Sohn stellt,<br />
wie oben gesagt, das vernünftig Wahre dar, in unserer Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te sogar das göttli<strong>ch</strong><br />
Wahre, oder die geistige Kir<strong>ch</strong>e, wel<strong>ch</strong>e aus der Vereinigung der Weisheit (Abraham)<br />
mit der Liebe zu Gott (Sarah) hervorgegangen ist. Daß Abraham vor der Geburt Isaaks<br />
no<strong>ch</strong> den Sohn Ismael mit der ägyptis<strong>ch</strong>en Magd seiner Frau zeugte, war damals ganz<br />
legal, war sie do<strong>ch</strong> als Magd eine Leibeigene ihrer Herrin Sarah. Die Bedeutung liegt natürli<strong>ch</strong><br />
in der Entspre<strong>ch</strong>ung. Ägypten läßt aufhor<strong>ch</strong>en und au<strong>ch</strong>, daß sie eine Magd war,<br />
also eine Hilfe auf dem Weg zur Wiedergeburt. Ismael ist ein Kind der Weisheit (Ägypten)<br />
und später der Vater der Araber. Abraham war zu diesem Zeitpunkt 86 Jahre alt.<br />
Die 8 setzt si<strong>ch</strong> zusammen aus 2x4, wel<strong>ch</strong>er Zustand Versu<strong>ch</strong>ungen (4) im geistigen<br />
und himmlis<strong>ch</strong>en Leben bezei<strong>ch</strong>net, daher die Verdoppelung. Die 6 ist eine Weiterführung<br />
von der 5 - also das Forts<strong>ch</strong>reiten der einges<strong>ch</strong>lagenen Bahn. Das Kind aus der<br />
Liebe zu Gott - und damit die Krönung einer Entwicklung - wird ihm mit 100 Jahren geboren,<br />
als das volle himmlis<strong>ch</strong>e Leben errei<strong>ch</strong>t ist.<br />
Selbsttäus<strong>ch</strong>ung - oder von der Notwendigkeit<br />
der Selbsterkenntnis<br />
von Karin Kreu<strong>ch</strong><br />
Vorbemerkung der S<strong>ch</strong>riftleitung: Karin Kreu<strong>ch</strong> vom Lüneburger Kreis s<strong>ch</strong>reibt: "Dieser Beitrag,<br />
der als Vortrag von mir gehalten wurde, enthält von mir zusammengetragene Textauszüge zu<br />
Thema Selbsttäus<strong>ch</strong>ung aus der Heiligen S<strong>ch</strong>rift, den Werken Swedenborgs, denjenigen Lorbers<br />
und der kleinen S<strong>ch</strong>rift von F. W. Faber, Selbsttäus<strong>ch</strong>ung (Miriam-Verlag). Leider kann i<strong>ch</strong> im<br />
Na<strong>ch</strong>hinein die genauen Fundstellen bei Swedenborg und Lorber ni<strong>ch</strong>t mehr benennen. Die Swedenborgtexte<br />
waren hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aus der Göttli<strong>ch</strong>en Vorsehung".<br />
Es geht bei diesem Thema darum, daß wir wahr werden mit uns selbst, wahr werden<br />
gegenüber dem Nä<strong>ch</strong>sten und wahr werden gegenüber Gott. Es geht um unser geistiges<br />
Leben als die einzige Wirkli<strong>ch</strong>keit. Es geht um unsere Beziehung zu unserem himmli-
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s<strong>ch</strong>en Vater. Wie ernst meinen wir es, wie ernsthaft verlangt unsere Seele auf seinen<br />
Wegen vorwärts zu kommen?<br />
In der Heiligen S<strong>ch</strong>rift finden wir sein Verspre<strong>ch</strong>en: "Su<strong>ch</strong>et, so werdet ihr finden!"<br />
Aber es steht au<strong>ch</strong> ges<strong>ch</strong>rieben: "Ihr werdet mi<strong>ch</strong> su<strong>ch</strong>en und werdet do<strong>ch</strong> in euren<br />
Sünden sterben." Ein Widerspru<strong>ch</strong>? Oder ist es ein Hinweis darauf, daß es au<strong>ch</strong> ein unwahrhaftiges<br />
Su<strong>ch</strong>en bei uns Mens<strong>ch</strong>en geben kann? Unwahrhaftigkeit ist der beleidigendste<br />
Vorwurf, den wir uns gegenseitig ma<strong>ch</strong>en können; er verletzt unser Herz. Unwahrhaftigkeit<br />
ist die allgemeinste aller Erbärmli<strong>ch</strong>keiten. "Ein wahrhafter Mens<strong>ch</strong> ist<br />
das seltenste aller Phänomene", s<strong>ch</strong>reibt Faber in seinem Bu<strong>ch</strong>.<br />
I<strong>ch</strong> habe daraufhin die Konkordanz zur Bibel zur Hand genommen und unter den<br />
Sti<strong>ch</strong>wörtern "lügen" und "Lüge" na<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>lagen und dort Hinweise auf sehr viele Bibelstellen<br />
gefunden. Hier nur einige: "… mit deiner Lüge bringst du di<strong>ch</strong> selbst um dein<br />
Leben" (StD 1,55). "… sie finden Gefallen an der Lüge, mit ihrem Mund segnen sie, do<strong>ch</strong><br />
in ihrem Innern flu<strong>ch</strong>en sie." (Ps.62,5-6). "… du hast Mi<strong>ch</strong> vergessen und auf Lügen vertraut"<br />
(Jer.13,26). "… wir haben Lüge zu unserer Zuflu<strong>ch</strong>t gema<strong>ch</strong>t und in Trug uns geborgen"<br />
(Jes. 28,15). "… draußen sind die, die Lüge lieben und tun" (Off. 22,15). "… es ist<br />
die alte Eigenliebe, als der Vater der Lüge und aller Übel aus ihr, die Lüge aber ist die<br />
alte sündige Materie als die sündige Ers<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>keit der Eigenliebe, der Selbstsu<strong>ch</strong>t,<br />
des Ho<strong>ch</strong>muts und der Herrs<strong>ch</strong>su<strong>ch</strong>t" (Lorber, GEJ Bd.6).<br />
Der erste S<strong>ch</strong>ritt zur Wahrhaftigkeit ist unsere Erkenntnis, daß sie uns abgeht. Denn<br />
aus dieser Erkenntnis erwä<strong>ch</strong>st der Ents<strong>ch</strong>luß und das Streben, diese Wahrhaftigkeit zu<br />
erlangen. Ein allgemeines S<strong>ch</strong>uldbekenntnis rei<strong>ch</strong>t aber ni<strong>ch</strong>t aus! Wir müssen in uns<br />
gehen und unser ganzes Elend und unsere ganze Verderbtheit aufspüren. Swedenborg<br />
spri<strong>ch</strong>t "von denjenigen, die si<strong>ch</strong> zwar aller Sünden s<strong>ch</strong>uldig bekennen, aber keine einzige<br />
bei si<strong>ch</strong> aufsu<strong>ch</strong>en (es kann do<strong>ch</strong> niemand das, was er ni<strong>ch</strong>t kennt, fliehen, no<strong>ch</strong><br />
dagegen kämpfen)" und sagt, "das si<strong>ch</strong> zu allen Sünden bekennen, ist ein Eins<strong>ch</strong>läfern<br />
aller und zuletzt ein Si<strong>ch</strong>verblenden". "Alles Böse, das ni<strong>ch</strong>t zur Ers<strong>ch</strong>einung kommt,<br />
glimmt fort und ist wie Feuer im Holz unter der As<strong>ch</strong>e, au<strong>ch</strong> wie Eiter in einer Wunde,<br />
die ni<strong>ch</strong>t geöffnet wird" (GV 278). Die innerli<strong>ch</strong>e Verderbtheit unserer Natur ist der<br />
Rohstoff für unsere Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. Die Bösartigkeit dieser Verderbtheit liegt in der<br />
Verlogenheit. Und am meisten betrügen wir unser I<strong>ch</strong>. "… mit deiner Lüge bringst du<br />
di<strong>ch</strong> selbst um dein Leben" (StD 1,55).<br />
Es gibt auf der Welt ni<strong>ch</strong>ts S<strong>ch</strong>wereres, als si<strong>ch</strong> selbst zu erkennen. Aber wir müssen<br />
uns fragen: Bemühen wir uns ernstli<strong>ch</strong> darum? Sind wir ehrli<strong>ch</strong> bei unserer Gewissenserfors<strong>ch</strong>ung?<br />
Wieviel Platz und Zeit hat sie in unserer Tagesordung? Wie steht es mit<br />
Regelmäßigkeit, Genauigkeit und Fleiß? "Ni<strong>ch</strong>ts ist dem ganzen Mens<strong>ch</strong>en heilsamer<br />
als eine zeitweilige innere Si<strong>ch</strong>selbstbes<strong>ch</strong>auung." (Lorber, GEJ I.224.8). "Widmet Mir
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an Stelle eurer gewissen Weltgedanken und an Stelle eurer so man<strong>ch</strong>en Welterheiterungen<br />
nur eine volle Stunde am Tage; heiligt sie dazu, daß ihr eu<strong>ch</strong> in derselbe mit<br />
ni<strong>ch</strong>ts, als nur mit Mir in eurem Herzen abgebet - oh, da werdet ihr hundert Anstände<br />
für einen finden, und hundert weltli<strong>ch</strong>e Gedanken werden si<strong>ch</strong> um einen einzigen<br />
s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en geistigen wie ein Wirbelwind drehen! Allerlei weltli<strong>ch</strong>e Rücksi<strong>ch</strong>ten werdet<br />
ihr da zum Vors<strong>ch</strong>ein bringen; und wenn si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> jemand für eine sol<strong>ch</strong>e Stunde ents<strong>ch</strong>ließen<br />
mö<strong>ch</strong>te, so wird er si<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t zu sehr freuen auf dieselbe, sondern wird<br />
vielmehr eine kleine unbehagli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>eu vor derselben haben und wird dabei fleißig die<br />
Minuten zählen und ni<strong>ch</strong>t selten mit Ungeduld auf das Finale des Mir geweihten Stündleins<br />
harren! Und käme da nur irgendein unbedeutendes Weltges<strong>ch</strong>äftlein dazwis<strong>ch</strong>en,<br />
so wird das Stündlein entweder gar kassiert oder wenigstens in eine sol<strong>ch</strong>e Periode des<br />
Tages versetzt, in wel<strong>ch</strong>er si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on gewöhnli<strong>ch</strong> der wohltätige S<strong>ch</strong>laf über die Sterbli<strong>ch</strong>en<br />
senkt … Sehet, das alles ist Essig und Galle. Und es ist in eu<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t vollbra<strong>ch</strong>t,<br />
wenn I<strong>ch</strong> zufolge Meiner unendli<strong>ch</strong>en Liebe alles erdenkli<strong>ch</strong>e tue, um eu<strong>ch</strong> auf<br />
den re<strong>ch</strong>ten Weg des Lebens zu bringen: denn zur Vollbringung in eu<strong>ch</strong> ist nötig, daß<br />
ein jeder si<strong>ch</strong> selbst verleugne aus wahrer Liebe zu Mir, sein Kreuz auf si<strong>ch</strong> nehme und<br />
Mir getreuli<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>folge." (S<strong>ch</strong>rifttexterklärungen 5).<br />
Wenn wir uns keine Mühe geben, uns kennenzulernen, so können wir versi<strong>ch</strong>ert sein,<br />
daß wir ni<strong>ch</strong>t wahr mit uns selbst sind. Es lastet auf fast jedermanns Gewissen ein<br />
dumpfes, unbestimmtes Gefühl, eine traurige Unklarheit über einen Teil der Lebensführung,<br />
und do<strong>ch</strong> wollen wir dieses Gefühl ni<strong>ch</strong>t analysieren, es entlarven, um zu sehen,<br />
was daran ist. Obwohl wir es tun könnten! Stattdessen greifen wir zu Selbstberedung<br />
und Selbstberuhigung. "A<strong>ch</strong>, das ist eine s<strong>ch</strong>wierige Sa<strong>ch</strong>e!" Warum sagen wir es ni<strong>ch</strong>t?<br />
"I<strong>ch</strong> bin gerade jetzt ni<strong>ch</strong>t vorbereitet!" Ja, ist es denn eine Sa<strong>ch</strong>e, die Aufs<strong>ch</strong>ub duldet?<br />
Na<strong>ch</strong> 5 Minuten ehrli<strong>ch</strong>er Selbsterfors<strong>ch</strong>ung, wäre uns klar, was wir ändern müßten.<br />
Aber nein, diese Art geistli<strong>ch</strong>er Führung ist für uns viel zu nü<strong>ch</strong>tern und derb, ja, eigentli<strong>ch</strong><br />
roh und herzlos. Man darf das Pflaster ni<strong>ch</strong>t von unseren Wunden reißen. Nebel<br />
hat etwas Beruhigendes. So leben wir dahin mit einem halben Dutzend ernster Angelegenheiten,<br />
die ungeordnet, unklar und ungeprüft bleiben. Peinli<strong>ch</strong> ist es, wenn uns<br />
andere dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>auen. Aber no<strong>ch</strong> viel peinli<strong>ch</strong>er ist es unserer armseligen Natur, uns<br />
selbst zu dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>auen, wenn wir die A<strong>ch</strong>tung vor unserem I<strong>ch</strong> verlieren. Wir finden<br />
kaum jemanden, der ni<strong>ch</strong>t in seinem Herzen einen Winkel hätte, in den er si<strong>ch</strong> mit<br />
Li<strong>ch</strong>t ni<strong>ch</strong>t hineintraut. Die Gründe hierfür sind so vers<strong>ch</strong>ieden, wie unsere Seelen vers<strong>ch</strong>ieden<br />
sind. Wir wissen, es wäre S<strong>ch</strong>luß mit unserer Faulheit und Bequemli<strong>ch</strong>keit,<br />
mit unserem angenehmen Leben. Wir würden einer sehr widerwärtigen Sa<strong>ch</strong>e gegenübergestellt,<br />
die uns viellei<strong>ch</strong>t all die Unruhe und Last einer vollständigen inneren Umwälzung<br />
aufzwingt oder aber unser Gewissen in große Unruhe versetzt. So lassen wir
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die Vorhänge vor diesem Winkel unseres I<strong>ch</strong>s und sperren ab. Wie ein Zimmer mit unguten<br />
Erfahrungen. Aber glauben wir denn, daß der Vater diesen Ort ni<strong>ch</strong>t kennt?<br />
Wahrhaft ernst und e<strong>ch</strong>t zu si<strong>ch</strong> und anderen sein, dazu gehört: Zu vermeiden unsere<br />
eigenen Handlungen zu bespre<strong>ch</strong>en und zu erklären. Warum? Fast nie bespri<strong>ch</strong>t jemand<br />
seine eigene Handlung oder erläutert seine Beweggründe, ohne dabei unwahr zu<br />
sein. Allein das Auslassen des S<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten, ma<strong>ch</strong>t die Darlegung des Guten zur Unwahrheit.<br />
(Beispiel: ma<strong>ch</strong>en wir unsere Gebetsübungen bekannt, so sollten wir mit unserer<br />
Anhängli<strong>ch</strong>keit an hübs<strong>ch</strong>en Möbeln und gut sitzenden Kleidern ni<strong>ch</strong>t hinter dem Berge<br />
halten.) "… habt a<strong>ch</strong>t auf eure Frömmigkeit, daß sie ni<strong>ch</strong>t laut werde vor den Leuten".<br />
(Matth.6,1-3). Nie tun wir irgend eine Handlung allein aus einem Grund. Bei Anderen<br />
fällt es uns auf. Wir begeben uns in eine Lage, aus der wir ohne S<strong>ch</strong>aden für unsere<br />
Aufri<strong>ch</strong>tigkeit ni<strong>ch</strong>t wieder herauskommen. Es bringt uns aber niemand in diese Lage!<br />
Niemand bedarf unserer Erläuterungen über unser Tun. Es kümmert die anderen viel<br />
weniger, als wir gern glauben wollen. In Wirkli<strong>ch</strong>keit steckt Eitelkeit und überhöhte<br />
Selbsteins<strong>ch</strong>ätzung dahinter. Wer andere täus<strong>ch</strong>t, täus<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> immer si<strong>ch</strong> selbst.<br />
Die Ehrli<strong>ch</strong>keit gegenüber Gott. Wir wissen, daß Er uns völlig dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>aut. Wir wissen,<br />
daß unsere jämmerli<strong>ch</strong>en Ents<strong>ch</strong>uldigungen und Ausflü<strong>ch</strong>te in ihrer ganzen Häßli<strong>ch</strong>keit<br />
offen vor Ihm liegen. "Herr, du hast mi<strong>ch</strong> erfors<strong>ch</strong>t und erkannt, du erkennst meine Gedanken<br />
von ferne; da ist kein Wort auf meiner Zunge, das du Herr ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on wüßtest"<br />
(Ps. 139). Aber wir lassen dieses Wissen für uns im tägli<strong>ch</strong>en Leben ni<strong>ch</strong>t an die Oberflä<strong>ch</strong>e<br />
kommen. Es ist ein s<strong>ch</strong>limmer Gedanke unaufri<strong>ch</strong>tig mit Gott zu sein, und do<strong>ch</strong><br />
sind wir es in ers<strong>ch</strong>reckendem Ausmaß. "Herr, rette meine Seele vor Lügenlippen" (Ps.<br />
120). "… darum ist das Rei<strong>ch</strong> fern von uns, denn zahlrei<strong>ch</strong> sind unsere Verbre<strong>ch</strong>en,<br />
denn unsere Vergehen sind uns bewußt und unsere Sünde, die kennen wir." "… mit Lügenworten<br />
s<strong>ch</strong>wanger werden und sie aus dem Herzen spre<strong>ch</strong>en". (Jes.59,13). "… denn<br />
Lüge ma<strong>ch</strong>ten wir uns zur Zuflu<strong>ch</strong>t, im Truge verbargen wir uns". (Jes. 28, 15).<br />
Quellen der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung<br />
Erstens, die Seltenheit verläßli<strong>ch</strong>er Selbsterkenntnis. Wir haben den Wuns<strong>ch</strong>, der Hölle<br />
zu entkommen, aber wie ernst ist es uns mit dem Wuns<strong>ch</strong>, dem Vater zu gefallen, Ihm<br />
mit unserem fals<strong>ch</strong>en Tun ni<strong>ch</strong>t mehr weh zu tun? Unser geistiges Leben wüns<strong>ch</strong>en wir<br />
uns behagli<strong>ch</strong> und bequem. Damit gehen wir am Wesentli<strong>ch</strong>en vorbei in Selbstgefälligkeit<br />
und Eigenwilligkeit. Unsere Liebe zu uns selbst und unsere Liebe zur Welt hält in<br />
unserer Seele nahezu uners<strong>ch</strong>öpfli<strong>ch</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keiten zum Bösen vers<strong>ch</strong>lossen. "… der<br />
Mens<strong>ch</strong> wird geboren in Böses aller Art" (Swed.). Die geheime Kraft der Weltli<strong>ch</strong>keit<br />
liegt in unserer Unkenntnis über uns selbst! Es ist keine ahnungslose Unkenntnis, sondern<br />
Unkenntnis mit s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>tem Gewissen, das wir ni<strong>ch</strong>t zwingen wollen, die harte
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 55<br />
Nuß der Selbsterkenntnis zu knacken. "… die Selbstliebe bringt mit si<strong>ch</strong>, daß man ni<strong>ch</strong>t<br />
geleitet werden will vom Herrn, sondern von si<strong>ch</strong> selbst" (Swed.).<br />
Zweitens, das eigene I<strong>ch</strong>, das si<strong>ch</strong> selbst betrügt. Eitelkeit ist hier die verbreitetste Ursa<strong>ch</strong>e.<br />
Wir alle übers<strong>ch</strong>ätzen uns auf die töri<strong>ch</strong>ste Weise! Z.B. wenn wir uns in Gedanken<br />
über uns selbst aufhalten, beginnt sofort die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. Das eigene I<strong>ch</strong> sieht<br />
si<strong>ch</strong> immer fals<strong>ch</strong>! Über uns selbst na<strong>ch</strong>zugrübeln führt uns auf einen neuen Weg zur<br />
Selbsttäus<strong>ch</strong>ung und zwar dadur<strong>ch</strong>, daß wir fast ohne es zu merken unsere Gefühle mit<br />
der Wirkli<strong>ch</strong>keit unsere frommen Wüns<strong>ch</strong>e mit Taten verwe<strong>ch</strong>seln! Die Selbstliebe versteht<br />
es mit viel Ges<strong>ch</strong>ick, ihre Ideale und die Verwirkli<strong>ch</strong>ung ineinander übergehen zu<br />
lassen, so daß niemand wissen soll, was Theorie und was Praxis ist. Weiter betrügen wir<br />
uns dadur<strong>ch</strong>, daß wir das, was offenbar unre<strong>ch</strong>t ist, bes<strong>ch</strong>önigen. Ein fortlaufender<br />
Kommentar heimli<strong>ch</strong>er Selbstents<strong>ch</strong>uldigung geht uns dur<strong>ch</strong> den Kopf. Wir geben zu,<br />
gewisse Handlungen oder Unterlassungen sind unre<strong>ch</strong>t. Aber die Verhältnisse liegen<br />
bei uns ganz besonders, wodur<strong>ch</strong> bei uns weniger unre<strong>ch</strong>t ist als bei anderen. Man<strong>ch</strong>mal<br />
hat unser Temperament S<strong>ch</strong>uld, unsere Gesundheit, unsere Stellung. Man<strong>ch</strong>mal<br />
sind wir gereizt worden. Wir begnügen uns mit lei<strong>ch</strong>ter Rüge, blicken glei<strong>ch</strong> auf die guten<br />
Seiten unseres Charakters und überhaupt: wer von uns ist s<strong>ch</strong>on ohne Fehl? Und<br />
damit sind wir beim Anderen und weg von uns. Mit dieser Methode der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung,<br />
versu<strong>ch</strong>en wir eine genauere Bekannts<strong>ch</strong>aft mit unseren fadens<strong>ch</strong>einigen Motiven<br />
aufzus<strong>ch</strong>ieben. Wir haben so viel zu tun! Und es ist im geistli<strong>ch</strong>en Leben immer<br />
unklug, si<strong>ch</strong> mehr vorzunehmen, als man leisten kann. Wir haben so viele offenkundige<br />
Fehler zu bekämpfen, so eilt es ni<strong>ch</strong>t so sehr mit gründli<strong>ch</strong>er Selbstprüfung. "… denn<br />
das si<strong>ch</strong> zu allen Sünden bekennen ist ein Eins<strong>ch</strong>läfern aller und ein si<strong>ch</strong> Verblenden"<br />
(Swed.).<br />
Drittens, man läßt si<strong>ch</strong> von außen dur<strong>ch</strong> Dinge oder Personen täus<strong>ch</strong>en. Wir sind mindestens<br />
doppelt so lobsü<strong>ch</strong>tig, als wir wahr haben wollen! Wenn wir auf Lob ausgehen<br />
oder uns do<strong>ch</strong> unmißverständli<strong>ch</strong> darin sonnen, so lassen wir uns dur<strong>ch</strong> andere täus<strong>ch</strong>en,<br />
oft ohne deren S<strong>ch</strong>uld. Die Gier na<strong>ch</strong> Lob ist selbst in den Demütigsten no<strong>ch</strong> unbegreifli<strong>ch</strong><br />
stark. Wir bekümmern uns fast gar ni<strong>ch</strong>t um die Qualität des Lobes. Wie<br />
durstige Kamele in der Wüste das s<strong>ch</strong>mutzigste Wasser mit Wonne trinken! Wir geben<br />
dem Lob eine Bedeutung, die uns tief bes<strong>ch</strong>ämen sollte! Wir bringen andere dazu, uns<br />
zu täus<strong>ch</strong>en, dur<strong>ch</strong> die Art, wie wir mit ihnen über uns selbst spre<strong>ch</strong>en. Dies gilt besonders<br />
bei frommen Gesprä<strong>ch</strong>en und dem Gerede über unseren Charakter. Hier gibt es<br />
nur eine Alternative: Unser inneres Leben viel mehr geheim zu halten oder es viel<br />
s<strong>ch</strong>rankenloser zu offenbaren. Der Mittelweg bedeutet lügen. Das Ri<strong>ch</strong>tige: überhaupt<br />
ni<strong>ch</strong>t über si<strong>ch</strong> selbst spre<strong>ch</strong>en! Do<strong>ch</strong> es gibt kaum eine s<strong>ch</strong>wierigere Übung <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er<br />
Vollkommenheit, als sol<strong>ch</strong>es Gerede zu lassen, Wir ma<strong>ch</strong>en die Leute glauben, daß<br />
wir viel edler sind als in Wirkli<strong>ch</strong>keit und veranlassen sie so zu Lob und Bewunderung.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 56<br />
Das ist Selbstbetrug in hö<strong>ch</strong>ster Form. Au<strong>ch</strong> geistige Bü<strong>ch</strong>er sind äußere Dinge, die uns<br />
une<strong>ch</strong>t ma<strong>ch</strong>en können. Heldenhafte Gedanken sind ansteckend, aber sie versagen den<br />
Dienst für heldenhaftes Tun. Sie geben unserer Religiösität nur eine sentimentale Note.<br />
"… da aber das Tun do<strong>ch</strong> immer no<strong>ch</strong> etwas Ernsteres ist als das alleinige Lesen selbst<br />
des ernstesten Bu<strong>ch</strong>es, so erklärt si<strong>ch</strong> die Sa<strong>ch</strong>e von selbst, mit wel<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>wierigkeit<br />
da das Tun wird zu kämpfen haben. Es ist lei<strong>ch</strong>t das Hören, und ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wer das Lesen<br />
und ebenso lei<strong>ch</strong>t das Zus<strong>ch</strong>auen; aber das Selbsttun ist für jedermann von keinem großen<br />
Reize. Was nützt aber jemandem das Wissen und Ni<strong>ch</strong>t-Tun-dana<strong>ch</strong>?!" (Lorber)<br />
Wenn ein geistli<strong>ch</strong>es Bu<strong>ch</strong> uns ni<strong>ch</strong>t demütigt und niederhält, so bläht es uns auf und<br />
ma<strong>ch</strong>t uns une<strong>ch</strong>t.<br />
Zur Vielfältigkeit der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung<br />
Eine Art von Selbsttäus<strong>ch</strong>ung ist die der Selbstzufriedenheit. "Lauter bin i<strong>ch</strong>, ohne Vergehen.<br />
Rein bin i<strong>ch</strong> und habe keine S<strong>ch</strong>uld. An meiner Gere<strong>ch</strong>tigkeit halte i<strong>ch</strong> fest und<br />
werde sie ni<strong>ch</strong>t fahrenlassen" (Hiob). Man<strong>ch</strong>er hat einen so starken Glauben an si<strong>ch</strong><br />
selbst, daß kein Fehltritt, kein Mißerfolg ihn ers<strong>ch</strong>üttern kann. Jeder Mißerfolg hat eine<br />
äußere Ursa<strong>ch</strong>e. War diese oder jene Tat au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t das Beste, das zu tun war, so waren<br />
do<strong>ch</strong> Ort und Zeit und Umstände so, daß es irgendwie do<strong>ch</strong> das Beste war. Für ihn gibt<br />
es nur Zei<strong>ch</strong>en der Vorsehung. Ja, seine Angelegenheiten sind die Endzwecke Gottes.<br />
Eine weitere Form der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung ist die Kritisiersu<strong>ch</strong>t. Es gibt Mens<strong>ch</strong>en, die<br />
immer so si<strong>ch</strong>er sind, re<strong>ch</strong>t zu haben, daß sie si<strong>ch</strong> als Maßstab aufstellen, andere zu beurteilen.<br />
So fest ist ihr Selbstvertrauen. Faber warnt: "… das Herz wird kalt, wenn es der<br />
Mens<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> warm hält, daß er in ihm lebt; ein kritis<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong> lebt meistens<br />
außerhalb seines Herzens".<br />
Selbsttäus<strong>ch</strong>ung, die keinen Rat annimmt. Meistens sind es s<strong>ch</strong>weigsame Mens<strong>ch</strong>en,<br />
äußerli<strong>ch</strong> ist kein warnendes Anzei<strong>ch</strong>en von Selbstsu<strong>ch</strong>t zu erkennen. Ihren Eigendünkel<br />
und Eigenwillen halten sie für kluge Zurückhaltung aufgrund ihrer Selbsttäus<strong>ch</strong>ung,<br />
die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beraten lassen will. Es gibt au<strong>ch</strong> Selbsttäus<strong>ch</strong>ung, die in einem fort Rat<br />
su<strong>ch</strong>t und no<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>limmer: bei jedermann. Es sind jene, die immerwährend etwas unternehmen<br />
und nie etwas zuwege bringen. Ihre Su<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong> Beratung ist eine Art Eigendünkel.<br />
Hat man je einen s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en gesehen, der ni<strong>ch</strong>t zuglei<strong>ch</strong> sehr eingebildet<br />
war? Je mehr er fragt und si<strong>ch</strong> mitteilt, um so mehr nimmt die Unehrli<strong>ch</strong>keit zu.<br />
Er wirft si<strong>ch</strong> mit jedem Wort Sand in die eigenen Augen. Je eigensinniger er wird, um so<br />
mehr glaubt er an seine eigene Lenkbarkeit. Am Ende herrs<strong>ch</strong>t völlige Selbstunkenntnis.<br />
Selbsttäus<strong>ch</strong>ung tritt au<strong>ch</strong> in der Form von Ehrgeiz auf. Mit einem Satz hat er die Anfangsstadien<br />
des geistli<strong>ch</strong>en Lebens genommen und ist in hohe Dinge hineingesprun-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 57<br />
gen. Er hat seine Seele mit Mystik genährt, und sie dabei verhungern lassen; gewöhnli<strong>ch</strong>e<br />
Frömmigkeit hätte ihr so gut getan. Er fing an, die Heiligen in dem na<strong>ch</strong>zuahmen,<br />
was unna<strong>ch</strong>ahmli<strong>ch</strong> ist und endet damit, das religiöse Leben entmutigt aufzugeben. Anfängli<strong>ch</strong><br />
gierte er na<strong>ch</strong> Übernatürli<strong>ch</strong>em und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> findet er die gewöhnli<strong>ch</strong>en<br />
Übungen des Glaubens s<strong>ch</strong>wierig.<br />
Die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung dur<strong>ch</strong> fals<strong>ch</strong>e Demut. Jedermann fühlt, daß die Demut in besonderer<br />
Weise die Tugend der Vollkommenheit ist und jeder will sie erwerben. Wir fangen<br />
an, abfällig von uns zu reden (glauben aber ni<strong>ch</strong>t im geringsten daran!) Diese Selbstanklagen<br />
neigen dazu, geistige Blindheit zu erzeugen. Diese künstli<strong>ch</strong>e Selbsterniedrigung<br />
bringt uns dahin, daß wir uns im Dienste Gottes nur an Niederes heranwagen. Der<br />
Mens<strong>ch</strong> bleibt hinter den Absi<strong>ch</strong>ten Gottes zurück. Selbsttäus<strong>ch</strong>ung untergräbt und zerstört<br />
die volle Entfaltung des Mens<strong>ch</strong>en. So armselig diese Selbsttäus<strong>ch</strong>ung au<strong>ch</strong> ist, hat<br />
sie do<strong>ch</strong> ihren Stolz!<br />
Es gibt nun vielfältige Kreuzungen bei diesen Arten der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. Man verstrickt<br />
si<strong>ch</strong> in ni<strong>ch</strong>ts auf der Welt so sehr wie in Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. Alle Formen sind<br />
s<strong>ch</strong>nell um si<strong>ch</strong> greifende Krankheiten. "Sol<strong>ch</strong>e, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t prüfen, sind mit Kranken<br />
zu verglei<strong>ch</strong>en, bei wel<strong>ch</strong>en das Blut infolge der Verstopfung der kleinsten Gefäße verdorben<br />
ist" (Swed.).<br />
Man brau<strong>ch</strong>t ein gewisses Maß frommen Mutes, diese widerli<strong>ch</strong>e Ers<strong>ch</strong>einung unserer<br />
gefallenen Natur immer genauer kennenzulernen. "Die Selbstliebe als der erbittertste<br />
Feind Gottes und seiner Vorsehung, diese wohnt im Innern eines jeden Mens<strong>ch</strong>en von<br />
Geburt an. Wenn du sie ni<strong>ch</strong>t erkennst - und sie will ni<strong>ch</strong>t erkannt werden - so wohnt<br />
sie in Si<strong>ch</strong>erheit und bewa<strong>ch</strong>t die Pforte, daß diese ni<strong>ch</strong>t vom Mens<strong>ch</strong>en geöffnet - und<br />
die Selbstliebe dann vom Herrn ausgetrieben werde. Die Pforte wird vom Mens<strong>ch</strong>en dadur<strong>ch</strong><br />
geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht wie aus si<strong>ch</strong>" (Swed.). Daß der Mens<strong>ch</strong><br />
selbst öffnen muß, erklärt der Vater in der Heiligen S<strong>ch</strong>rift: "I<strong>ch</strong> stehe vor der Tür und<br />
klopfe an, wenn jemand Meine Stimme hört und die Tür auftut, so will I<strong>ch</strong> zu ihm eingehen<br />
und Abendmahl halten."<br />
Wir müssen die vielen Arten der Selbsttäus<strong>ch</strong>ung au<strong>ch</strong> als festes Ganzes betra<strong>ch</strong>ten<br />
und dabei fällt auf: ihre unbegrenzte Ma<strong>ch</strong>t! Andere Versu<strong>ch</strong>ungen haben ein begrenztes<br />
Feld. Selbsttäus<strong>ch</strong>ung muß mehr sein als eine Versu<strong>ch</strong>ung. Versu<strong>ch</strong>ungen stellen<br />
si<strong>ch</strong> unter bestimmten Umständen ein, und diese Umstände verkünden uns die kommende<br />
Versu<strong>ch</strong>ung. Selbsttäus<strong>ch</strong>ung ist überall. Sie leitet zu bestimmten Vorgehen an,<br />
gibt Beharrli<strong>ch</strong>keit dazu. Sie ist der Erdboden, der Untergrund für unsere Handlungen<br />
und sie überwölbt sie wie das Firmament. Sie lobt und fördert die Eigenliebe, sie leitet<br />
das Gewissen irre, sie ist nie müde, immer in unserer Gesells<strong>ch</strong>aft.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 58<br />
Das zweite Merkmal: ihre Ges<strong>ch</strong>ickli<strong>ch</strong>keit, den S<strong>ch</strong>ein des Guten anzunehmen. Es ist<br />
ni<strong>ch</strong>t nur ein ges<strong>ch</strong>icktes Si<strong>ch</strong>-Drapieren mit den Gewändern der Tugend. Sie trägt sie<br />
beständig! Sähe man ihr die Bosheit an, niemand würde si<strong>ch</strong> täus<strong>ch</strong>en lassen. Die<br />
Selbsttäus<strong>ch</strong>ung läßt uns Teufelswerk tun im Glauben es sei Gotteswerk! "Selbstsu<strong>ch</strong>t,<br />
die wohl zum S<strong>ch</strong>eine mit dem Lämmergewand der Liebe angetan, inwendig aber ein<br />
reißender Wolf ist, der am Ende alles Edle im Herzen und den Geist zu erdrücken<br />
strebt" (Lorber). Heu<strong>ch</strong>elei hat nur ein kurzes Dasein, es sei denn, daß sie mit einem<br />
gewissen Maß Frömmigkeit gepaart ist. Selbsttäus<strong>ch</strong>ung hält si<strong>ch</strong> mit Absi<strong>ch</strong>t in der<br />
Na<strong>ch</strong>bars<strong>ch</strong>aft des Guten, um warmgehalten und gepflegt zu werden.<br />
Ein drittes Merkmal für die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung: sie nimmt mit dem Alter zu. Je mehr si<strong>ch</strong><br />
das Leben weitet, um so mehr weiten si<strong>ch</strong> unsere Anlagen zur Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. No<strong>ch</strong><br />
ein Merkmal: es gibt ein Ding, und nur dies eine, neben dem die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung beinahe<br />
ni<strong>ch</strong>t bestehen kann: Na<strong>ch</strong>haltiger S<strong>ch</strong>merz über die Sünde - die Reue. Und eine<br />
s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Stelle hat die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung: es s<strong>ch</strong>merzt sie, wenn man sie berührt. Die<br />
Berührung s<strong>ch</strong>ädigt sie ni<strong>ch</strong>t, aber sie zuckt unter ihr zusammen, und dur<strong>ch</strong> ihre Empfindli<strong>ch</strong>keit<br />
bei Berührung, verrät sie si<strong>ch</strong>.<br />
Wir haben alle gewisse Eigenheiten, Gewohnheiten, Haltungen in unserem Benehmen;<br />
tadelt man sie, ärgern wir uns. Aber warum bleiben wir ganz ruhig, beim Tadel einer<br />
bestimmten Unart, und warum fliegen wir wie S<strong>ch</strong>ießpulver in die Luft, wenn eine andere<br />
berührt wird? Gewöhnli<strong>ch</strong> verrät si<strong>ch</strong> hier die Selbsttäus<strong>ch</strong>ung. Je tiefer wir uns in<br />
die Erkenntnis unserer eigenen Unwahrhaftigkeit versenken, um so näher kommen wir<br />
der erhabenen Wahrhaftigkeit Gottes. Die Erkenntnis unserer Selbsttäus<strong>ch</strong>ung kommt<br />
einer Heilung am nä<strong>ch</strong>sten. So ist großes Mißtrauen gegen si<strong>ch</strong> selbst ein erstes Heilmittel,<br />
aber es muß ins Einzelne gehen. Wir müssen uns die Überzeugung beibringen,<br />
daß wir dann am si<strong>ch</strong>ersten im Unre<strong>ch</strong>t sind, wenn wir ganz si<strong>ch</strong>er sind, im Re<strong>ch</strong>t zu<br />
sein.<br />
Ein weiteres Heilmittel ist das Betra<strong>ch</strong>ten der Eigens<strong>ch</strong>aften Gottes. Was wir häufig betra<strong>ch</strong>ten,<br />
ahmen wir unbewußt na<strong>ch</strong>. Unsere große Chance: wir sind in das Bild Gottes<br />
und in Seine Ähnli<strong>ch</strong>keit ges<strong>ch</strong>affen. Sein Bild liegt in uns, es muß ni<strong>ch</strong>t erst geprägt<br />
werden. Origenes nennt dafür folgendes Glei<strong>ch</strong>nis: Das Bild Gottes in der Seele Grund<br />
ist wie ein lebendiger Brunnen. Wenn jemand Erde, das ist irdis<strong>ch</strong>es Begehren, darauf<br />
wirft, so hindert und bedeckt es ihn, so daß man ni<strong>ch</strong>ts von ihm erkennt. Glei<strong>ch</strong>viel<br />
bleibt er in si<strong>ch</strong> lebendig und wenn man die Erde wegnimmt, so kommt er wieder zum<br />
Vors<strong>ch</strong>ein. Origenes nimmt dies aus 1. Mose 26: "Abraham grub in seinen Acker lebendige<br />
Brunnen, die Philister verstopften sie und füllten sie mit Erde … und Isaak grub die<br />
Brunnen wieder aus und sie fanden Brunnen mit lebendigem Wasser". "Und das Li<strong>ch</strong>t
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 59<br />
s<strong>ch</strong>eint in der Finsternis und die Finsternis hat es ni<strong>ch</strong>t erfaßt" (Joh 1). Au<strong>ch</strong> in unsere<br />
Finsternis s<strong>ch</strong>eint sein Li<strong>ch</strong>t.<br />
Was wird uns wahr ma<strong>ch</strong>en? "Die Selbstliebe bewa<strong>ch</strong>t die Pforte, daß diese ni<strong>ch</strong>t vom<br />
Mens<strong>ch</strong>en geöffnet wird und der Herr die Selbstliebe austreibt. Die Pforte wird vom<br />
Mens<strong>ch</strong>en dadur<strong>ch</strong> geöffnet, daß er das Böse als Sünde flieht … Die Erkenntnis der Sünde<br />
und die Selbstprüfung sind der Anfang der Buße und die Buße ist das erste der Kir<strong>ch</strong>e<br />
beim Mens<strong>ch</strong>en. Aber Buße ist ni<strong>ch</strong>t seufzen und stöhnen, au<strong>ch</strong> eine gewisse Zerknirs<strong>ch</strong>ung<br />
ist ni<strong>ch</strong>t Buße! Buße ist ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong> ohne Selbstprüfung. Das Böse kann<br />
ni<strong>ch</strong>t entfernt werden, wenn es ni<strong>ch</strong>t zur Ers<strong>ch</strong>einung kommt; das heißt ni<strong>ch</strong>t, daß der<br />
Mens<strong>ch</strong> das Böse tun solle, sondern daß er si<strong>ch</strong> prüfen soll. Si<strong>ch</strong> prüfen heißt: das Böse<br />
ans<strong>ch</strong>auen, anerkennen, bekennen und davon abstehen. Damit si<strong>ch</strong> der Mens<strong>ch</strong> prüfen<br />
kann, ist ihm der Verstand gegeben und zwar getrennt von seinem Willen, auf daß er<br />
wissen, verstehen und anerkennen möge, was gut und was böse ist und wie sein Wille<br />
bes<strong>ch</strong>affen ist" (Swed.). "Wer seine Seele finden will, der wird sie verlieren, und wer<br />
seine Seele verliert um Meinetwillen, der wird sie finden" (Matth 10).<br />
Au<strong>ch</strong> das Glei<strong>ch</strong>nis vom Unkraut im Acker bei Matthäus 13 weist auf unsere Aufgabe<br />
hin: es ging ein Mann aus und säte guten Samen auf den Acker und es ging der gute<br />
Same auf, aber mit ihm wu<strong>ch</strong>s au<strong>ch</strong> viel Unkraut auf dem Acker. Daß der Mann in diesem<br />
Glei<strong>ch</strong>nis der Vater ist und sein Wort der gute Same und der Acker unsere Seele,<br />
ist uns erklärt. Es ist nun unsere Aufgabe, freien Boden zu s<strong>ch</strong>affen, für den eingepflanzten<br />
guten Samen. Aber ohne seine Hilfe ist uns ni<strong>ch</strong>ts mögli<strong>ch</strong>. "Ohne Mi<strong>ch</strong> könnt<br />
ihr ni<strong>ch</strong>ts tun".<br />
Das Bild von der Fußwas<strong>ch</strong>ung haben wir uns an dieser Stelle betra<strong>ch</strong>tet. "Wenn I<strong>ch</strong><br />
di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t reinige, so hast du keinen Teil an Mir", sagt Jesus zu dem Jünger. "Erfors<strong>ch</strong>e<br />
dein Herz an jedem Tag, und findest du dann eine andere Liebe und Neigung in ihm als<br />
die zu mir, so rufe Mi<strong>ch</strong> und zeige mir dein Herz, und I<strong>ch</strong> werde es soglei<strong>ch</strong> reinigen für<br />
Mi<strong>ch</strong> und jede unlautere Begierde und Lust aus dir treiben" (Lorber). "Wahrli<strong>ch</strong>, wahrli<strong>ch</strong><br />
I<strong>ch</strong> sage eu<strong>ch</strong>, wer ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Tür in den S<strong>ch</strong>afstall eingeht (der S<strong>ch</strong>afstall ist<br />
die Kir<strong>ch</strong>e des Herrn) … I<strong>ch</strong> bin die Tür und wer dur<strong>ch</strong> Mi<strong>ch</strong> eingeht wird selig werden<br />
und Weide finden". (Joh 10). "Für<strong>ch</strong>te di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, denn I<strong>ch</strong> habe di<strong>ch</strong> erlöst! I<strong>ch</strong> habe<br />
di<strong>ch</strong> bei deinem Namen gerufen, du bist Mein. Wenn du dur<strong>ch</strong>s Wasser gehst, I<strong>ch</strong> bin<br />
bei dir, und dur<strong>ch</strong> Ströme, sie werden di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t überfluten. Wenn du dur<strong>ch</strong>s Feuer<br />
gehst, wirst du ni<strong>ch</strong>t versengt werden, und die Flamme wird di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t verbrennen" (Jes<br />
43). Dur<strong>ch</strong>s Wasser unseres Eigensinnes und dur<strong>ch</strong>s Feuer unserer Eigenliebe müssen<br />
wir gehen - aber: "Für<strong>ch</strong>te di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, denn I<strong>ch</strong> bin bei dir" (Jes 43).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 60<br />
Emanuel Swedenborg<br />
Hieroglyphis<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>lüssel zu den natürli<strong>ch</strong>en und geistigen Geheimnissen<br />
mittels Repräsentationen und Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
übersetzt von Thomas Noack<br />
Vorbemerkung. Der Originaltitel lautet, Clavis hieroglyphica arcanorum naturalium et<br />
spiritualium per viam repraesentationum et correspondentiarum. Die Hands<strong>ch</strong>rift im<br />
Codex 79 wird in The Royal Swedish Academy of Scienes (Kungliga Vetenskapsakademien),<br />
Stockholm aufbewahrt, wo meine Frau und i<strong>ch</strong> sie anlässli<strong>ch</strong> einer Studienreise<br />
im Jahre 1992 einsehen konnten. Das Werk wurde 1784 von Robert Hindmarsh in London<br />
veröffentli<strong>ch</strong>t und bisher nur in die englis<strong>ch</strong>e, s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e und französis<strong>ch</strong>e Spra<strong>ch</strong>e<br />
übersetzt. Es besteht aus einundzwanzig sogenannten "Beispielen", in denen Swedenborg<br />
ähnli<strong>ch</strong>e Phänomene auf unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Ebenen betra<strong>ch</strong>tet. Dem s<strong>ch</strong>ließen<br />
si<strong>ch</strong> im Idealfall drei Abs<strong>ch</strong>nitte an, nämli<strong>ch</strong> erstens Reflexionen über die in den Beispielen<br />
vorgestellten Entspre<strong>ch</strong>ungen, zweitens Bestätigungen der in den Beispielen<br />
gema<strong>ch</strong>ten Aussagen und drittens die Formulierung einiger Regeln. Dieser Dreis<strong>ch</strong>ritt<br />
stellt, wie gesagt, den Idealfall dar, der aber ni<strong>ch</strong>t immer vollständig dur<strong>ch</strong>geführt wird.<br />
Swedenborg s<strong>ch</strong>rieb diesen "Hieroglyphis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>lüssel" 1744 36 , also gegen Ende seiner<br />
Krisen- und Übergangszeit vom Naturfors<strong>ch</strong>er zum Seher. Beim Na<strong>ch</strong>denken über<br />
seine Träume, die er s<strong>ch</strong>on von 1736 bis 1740 hatte, jedo<strong>ch</strong> sind nur jene der Jahre<br />
1743 bis 1744 aus dem bekannten Traumtagebu<strong>ch</strong> erhalten, konnte er die si<strong>ch</strong> in ihm<br />
formende Lehre von den Entspre<strong>ch</strong>ungen und Repräsentationen anwenden. In seinem<br />
Werk "Die Seele" bekundet Swedenborg 1741 seine Absi<strong>ch</strong>t einen "S<strong>ch</strong>lüssel zu den natürli<strong>ch</strong>en<br />
und geistigen Geheimnissen mittels Entspre<strong>ch</strong>ungen und Repräsentationen"<br />
zu s<strong>ch</strong>reiben, "der uns s<strong>ch</strong>neller und si<strong>ch</strong>erer in die verborgenen Wahrheiten führt" und<br />
eine Lehre darstellt, "die der Welt bisher unbekannt war" (De Anima 567). 1744 s<strong>ch</strong>rieb<br />
er dann besagten "S<strong>ch</strong>lüssel", der wenig oder ni<strong>ch</strong>ts mit den ägyptis<strong>ch</strong>en Hieroglyphen<br />
zu tun hat, dafür aber einen ersten Entwurf jener Wissens<strong>ch</strong>aft der Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
enthält, die dem erleu<strong>ch</strong>teten Bibelfors<strong>ch</strong>er und Seher geistiger Welten später klar und<br />
ausgereift vor Augen stand. Im "Hieroglyphis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>lüssel" ist alles no<strong>ch</strong> Rohmaterial,<br />
au<strong>ch</strong> die Terminologie ist no<strong>ch</strong> im Werden, tastend, glei<strong>ch</strong>wohl von der Ahnung geleitet,<br />
daß auf diesem Wege adamis<strong>ch</strong>es Wissen zu finden sei, formuliert der spätere Seher<br />
erstmals Gesetze der Grammatik des Geistes. In den "Himmlis<strong>ch</strong>en Geheimnissen", dem<br />
ersten ganz aus der Erleu<strong>ch</strong>tung ges<strong>ch</strong>riebenen Werk der Jahre 1749 bis 1756, wird<br />
von ihnen kaum no<strong>ch</strong> die Rede sein; nur der aufmerksame Leser dieses monumentalen<br />
Werkes entdeckt au<strong>ch</strong> dort no<strong>ch</strong> die Spuren und Reste jener einstigen Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> den<br />
36 Datierung na<strong>ch</strong> W. R. Woofenden, Swedenborg Resear<strong>ch</strong>er's Manuel, 1988, 55.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 61<br />
Regeln der königli<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aft der Entspre<strong>ch</strong>ungen. Der Seher sieht, der S<strong>ch</strong>üler<br />
aber studiert. Im Jahre 1744 ist Swedenborg no<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>üler, der die Grammatik des<br />
Geistes lernen will, der zwar s<strong>ch</strong>on ahnungsrei<strong>ch</strong> weiß, daß alles sinnli<strong>ch</strong> Si<strong>ch</strong>tbare eine<br />
verzweifelte Ähnli<strong>ch</strong>keit mit den ägyptis<strong>ch</strong>en Hieroglyphen hat, die damals no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
entziffert waren, dem aber die Tür in die inneren Geheimnisse no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wirkli<strong>ch</strong> aufgetan<br />
wurde. Wagen wir also einen Blick in das S<strong>ch</strong>ulheft eines Pioniers der Entspre<strong>ch</strong>ungswissens<strong>ch</strong>aft.<br />
Im Folgenden lesen wir die Übersetzung der ersten drei Beispiele.<br />
Auszug aus dem Manuskript "Clavis hieroglyphica" in Emanuel Swedenborgs Hands<strong>ch</strong>rift.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 62<br />
Erstes Beispiel 37<br />
So lange die Bewegung andauert, dauert au<strong>ch</strong> das Streben (conatus), denn das Streben<br />
ist die bewegende Kraft in der Natur. Das Streben allein ist aber eine tote Kraft.<br />
So lange si<strong>ch</strong> die Tätigkeit fortsetzt, setzt si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> der Wille fort, denn der Wille ist das<br />
Streben des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geistes (mentis) na<strong>ch</strong> Tätigkeit. Aus dem Willen allein folgt<br />
jedo<strong>ch</strong> keine Tätigkeit.<br />
So fortdauernd wie die göttli<strong>ch</strong>e Wirksamkeit, ist au<strong>ch</strong> seine Vorsehung, denn die Vorsehung<br />
ist der göttli<strong>ch</strong>e Wille, wirksam zu sein. Aus der Vorsehung allein folgt aber<br />
keine Wirksamkeit.<br />
Die folgenden Begriffe entspre<strong>ch</strong>en einander: 1. Bewegung, Tätigkeit und Wirksamkeit.<br />
Tätigkeit wird allerdings au<strong>ch</strong> der Natur zuges<strong>ch</strong>rieben, weswegen man anstelle<br />
von Bewegung au<strong>ch</strong> Tätigkeit hätte setzen können. Aber Tätigkeit fließt genau genommen<br />
aus einem Anfang, der von si<strong>ch</strong> aus tätig sein kann bzw. dem ein Wille innewohnt,<br />
also aus dem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geist. Tätigkeit, häufiger aber Wirksamkeit, sagt man gewöhnli<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> von der göttli<strong>ch</strong>en Vorsehung aus, au<strong>ch</strong> wenn das kein spezifis<strong>ch</strong> geistiger<br />
Begriff ist. 2. Streben, Wille und Vorsehung. Weil (die Bewegung) auf ein Streben hinausläuft,<br />
ist (Streben) ein bloß natürli<strong>ch</strong>er Begriff. Der Wille hingegen gehört zum vernunftbegabten<br />
Geist und die Vorsehung zum alleinigen Gott. Daß Wille und Streben<br />
einander entspre<strong>ch</strong>en, möge man im Abs<strong>ch</strong>nitt über den Willen na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>auen. Daß aber<br />
au<strong>ch</strong> die Vorsehung (in diesem Entspre<strong>ch</strong>ungszusammenhang steht), ergibt si<strong>ch</strong> aus<br />
folgender Überlegung: So wie der Wille die gesamte mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Tätigkeit in si<strong>ch</strong><br />
s<strong>ch</strong>ließt, so s<strong>ch</strong>ließt die Vorsehung die gesamte göttli<strong>ch</strong>e Wirksamkeit bzw. seinen allumfassenden<br />
Willen in si<strong>ch</strong>. 3. Natur, mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Geist und göttli<strong>ch</strong>er Geist bzw. Gott. In<br />
der ersten Klasse (classe) 38 sind alle Begriffe enthalten, die rein natürli<strong>ch</strong> sind; in der<br />
zweiten alle vernunft- und verstandesbezogenen, daher au<strong>ch</strong> die sittli<strong>ch</strong>en, folgli<strong>ch</strong> alle<br />
den mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geist betreffenden; in der dritten die theologis<strong>ch</strong>en und göttli<strong>ch</strong>en.<br />
Deswegen entspre<strong>ch</strong>en diese Begriffe einander.<br />
Bestätigung der Leitsätze: 1. Daß die Bewegung so lange andauert wie das Streben ist<br />
ein allgemeiner Lehrsatz der Philosophen, denn sie sagen, in der Bewegung sei ni<strong>ch</strong>ts<br />
Reales außer das Streben vorhanden. Außerdem sei die Bewegung ein ständiges Streben.<br />
Anstelle von Bewegung kann man au<strong>ch</strong> Tätigkeit setzen, und zwar eine rein natürli<strong>ch</strong>e<br />
Tätigkeit, die aus einer Kraft hervorgeflossen ist oder eine Wirkung zur Folge hat.<br />
37 Bea<strong>ch</strong>tenswert ist, dass Swedenborg von Beispielen ausgeht. Er will seinen "Hieroglyphis<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>lüssel" also ni<strong>ch</strong>t aus der Vernunft ableiten, sondern will von Erfahrungen ausgehen.<br />
38 Swedenborg spri<strong>ch</strong>t hier no<strong>ch</strong> von "Klassen", später wird er bevorzugt von "Graden" reden, wennglei<strong>ch</strong><br />
der erstgenannte Begriff in den Himmlis<strong>ch</strong>en Geheimnissen no<strong>ch</strong> vorkommt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 63<br />
2. Das Streben ist die bewegende Kraft in der Natur: Einem philosophis<strong>ch</strong>en Grundsatz<br />
(Axioma philosophicum) zufolge besteht eine Kraft in einem ununterbro<strong>ch</strong>enen Streben<br />
na<strong>ch</strong> Tätigkeit und ist der Anfang der Tätigkeiten und Veränderungen. Daraus folgt, daß<br />
die bewegende Kraft in einem unaufhörli<strong>ch</strong>en Streben na<strong>ch</strong> Veränderung des Ortes besteht.<br />
3. Daß das Streben ohne Bewegung eine tote Kraft ist, folgt au<strong>ch</strong> aus einer der<br />
Wolff's<strong>ch</strong>en Regeln, wona<strong>ch</strong> nämli<strong>ch</strong> eine Kraft tot ist, die nur im Streben besteht, und<br />
eine lebende Kraft mit örtli<strong>ch</strong>er Bewegung verbunden ist. 4. Was den Willen anbelangt,<br />
und zwar den mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en, der von einem vernunftbegabten Geist herkommt, der seinerseits<br />
Quelle der vernunftbegabten Tätigkeit ist, (muß folgendes gesagt werden): Es<br />
gibt au<strong>ch</strong> beseelte Tätigkeiten (actiones animales), die aus einem Willen hervorfließen,<br />
der dem vernunftbegabten Willen ähnli<strong>ch</strong> ist. 5. Daß die Vorsehung ni<strong>ch</strong>t wirkkräftig<br />
gegeben wird, ist aus den Heiligen (S<strong>ch</strong>riften) ersi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>, denn der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Geist<br />
ist es, der die gesamte göttli<strong>ch</strong>e Ma<strong>ch</strong>t zurückstößt. Man kann aber ni<strong>ch</strong>t sagen, die<br />
Vorsehung sei säumig, nur weil sie ni<strong>ch</strong>t aufgenommen werde. Wie ja au<strong>ch</strong> der Wille<br />
ni<strong>ch</strong>t säumig ist, wenn au<strong>ch</strong> die Tätigkeit no<strong>ch</strong> so sehr ausbleibt.<br />
Regeln: 1. Die erste Klasse nenne i<strong>ch</strong> die natürli<strong>ch</strong>e; die zweite die Klasse der vernunftbegabten<br />
Lebewesen, sie umfaßt au<strong>ch</strong> die sittli<strong>ch</strong>en Gegenstände; und die dritte<br />
nenne i<strong>ch</strong> die Klasse der geistigen oder theologis<strong>ch</strong>en Sa<strong>ch</strong>verhalte. 2. Die erste Materie<br />
(Materia principalis) darf ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> dieselben Begriffe ausgedrückt werden, sondern<br />
dur<strong>ch</strong> andere, einer jeden Klasse eigentümli<strong>ch</strong>e, wie diese: Streben, Wille, Vorsehung.<br />
3. Und zwar dur<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e Begriffe, die beim ersten Hins<strong>ch</strong>auen (primo intuitu) ni<strong>ch</strong>t<br />
dasselbe zu bezei<strong>ch</strong>nen oder darzustellen s<strong>ch</strong>einen. Man begreift nämli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t sofort,<br />
daß der Wille dem Streben und die Vorsehung dem Willen entspri<strong>ch</strong>t; und daß der vernunftbegabte<br />
Geist der Natur und Gott dem vernunftbegabten Geist entspri<strong>ch</strong>t usw. 4.<br />
Die rein natürli<strong>ch</strong>en Begriffe müssen dur<strong>ch</strong> etwas verstandesbezogenere natürli<strong>ch</strong>e Begriffe<br />
erklärt und definiert werden. Aber die Begriffe der vernünftigen Klasse müssen<br />
dur<strong>ch</strong> Begriffe der natürli<strong>ch</strong>en Klasse definiert werden und ebenso die Begriffe der theologis<strong>ch</strong>en<br />
Klasse dur<strong>ch</strong> Begriffe der vernünftigen Klasse. So wird das Streben dur<strong>ch</strong> die<br />
Kraft des Tätigseins definiert, der Wille dur<strong>ch</strong> das Streben des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geistes<br />
na<strong>ch</strong> Tätigkeit und die Vorsehung dur<strong>ch</strong> den göttli<strong>ch</strong>en Willen na<strong>ch</strong> Wirksamkeit usw.<br />
5. In vielen Fällen darf man dieselben und ähnli<strong>ch</strong>e Begriffe in den einzelnen Klassen<br />
anwenden, andernfalls würde man das Denken allzusehr verdunkeln. Begriffe wie "so<br />
lange", "andauern", "si<strong>ch</strong> fortsetzen", "allein", "ist", "folgt" und "und" sind nämli<strong>ch</strong> keine<br />
wesentli<strong>ch</strong>en Begriffe. Und könnte man sie au<strong>ch</strong> in andere, der jeweiligen Klasse eigentümli<strong>ch</strong>e<br />
umwandeln, so ist es denno<strong>ch</strong> besser die gewohnten Begriffe dem Verständnis<br />
zuliebe beizubehalten. 6. Ferner (darf man) die eine Formel der einen Klasse<br />
(in der anderen Klasse) dur<strong>ch</strong> mehrere Begriffe und dur<strong>ch</strong> Ums<strong>ch</strong>reibung ausdrücken,<br />
wie diese Formel: Das Streben allein ist eine tote Kraft. In den folgenden Klassen heißt
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 64<br />
das: Der Wille allein ist ein Streben, dem keine Tätigkeit folgt. D. h. "keine Tätigkeit"<br />
oder "Untätigkeit" ist dasselbe wie "tote Tätigkeit", was aber unges<strong>ch</strong>ickt klingt. So verhält<br />
es si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> in der dritten bzw. theologis<strong>ch</strong>en Klasse.<br />
Zweites Beispiel<br />
In der ganzen Natur ist ein wirkendes Prinzip vorhanden, das dem Streben der Natur<br />
eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Bes<strong>ch</strong>affenheit dieses Prinzips die Bes<strong>ch</strong>affenheit<br />
der Mögli<strong>ch</strong>keit des Wirkens, und die Bes<strong>ch</strong>affenheit der Mögli<strong>ch</strong>keit die des Strebens,<br />
und die des Strebens die der Bewegung und daher die der Ursa<strong>ch</strong>e.<br />
In jedem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geist ist die Vorstellung und die Liebe zu einem Endzweck vorhanden,<br />
die dem Willen des Geistes eingepflanzt ist. Daher bestimmt die Bes<strong>ch</strong>affenheit<br />
der Liebe die des Verlangens, und die des Verlangens die des Wohlwollens und des Willens,<br />
und die des Willens die der Tat und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die der Errei<strong>ch</strong>ung des Endzwecks.<br />
Es gibt eine allerreinste Liebe zu uns und für unser Heil, das der Endzweck der S<strong>ch</strong>öpfung<br />
ist. Sie ist Gottes Vorsehung eingepflanzt. Daher bestimmt die Bes<strong>ch</strong>affenheit dieser<br />
Liebe die seiner Gnade und Vorsehung, und die der Vorsehung die der Wirksamkeit<br />
und die unseres Heils, wel<strong>ch</strong>es der Zweck aller Zwecke ist.<br />
Hö<strong>ch</strong>st vollkommen ist die Ordnung und die Welt der Gegenstände (mundus repraesentativus),<br />
wenn die Vorsehung Gottes, der Wille und die Absi<strong>ch</strong>t (Endzweck) des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Geistes und das Streben und die Wirkung der Natur übereinstimmen. Unvollkommen<br />
ist dagegen die Ordnung und die Welt, wenn sie ni<strong>ch</strong>t übereinstimmen; und<br />
zwar genauso unvollkommen wie das Ausmaß der fehlenden Übereinstimmung.<br />
Die folgenden Begriffe entspre<strong>ch</strong>en einander: 1. Das wirkende Prinzip, die Vorstellung<br />
eines Endzwecks und die Liebe zum S<strong>ch</strong>öpfungszweck, unserem Heil in Gott. Auf den ersten<br />
Blick s<strong>ch</strong>eint etwas anderes als die Liebe in Gott dem wirkenden Prinzip in der Natur<br />
zu entspre<strong>ch</strong>en. Da aber Gott Anfang und Ende von allem ist, kann man in Gott keinen<br />
Anfang angeben, es sei denn ihn selbst. Seiner Vorsehung kann man aber einen<br />
Anfang zugestehen, denn sie ist eine werktätige Kraft. Dieser Anfang kann jedo<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>ts anderes sein als seine reinste Liebe zum Mens<strong>ch</strong>en und für dessen Heil, dem<br />
Zweck der S<strong>ch</strong>öpfung. 2. Wirkung, (End)zweck und Zweck der Zwecke bzw. Seelenheil. Die<br />
Wirkung gehört in den Berei<strong>ch</strong> der Natur, der Zweck aber in den des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geistes,<br />
denn der Geist betra<strong>ch</strong>tet eher die Zwecke als die Wirkungen und diese dann nur<br />
als werkzeugli<strong>ch</strong>e Ursa<strong>ch</strong>en zur Verwirkli<strong>ch</strong>ung des Zweckes. Das rein Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e besteht<br />
darin, aus einer Wirkung auf den Zweck zu s<strong>ch</strong>ließen, d.h. allein aus der Gegenwart<br />
der Dinge weise zu sein, und außerdem ni<strong>ch</strong>ts Zukünftiges zu beurteilen. Aber im<br />
Mens<strong>ch</strong>engeist sind nur Teilzwecke vorhanden und erkennbar. Der Zweck der Zwecke<br />
bzw. der allumfassende Zweck ist allein Gottes Sa<strong>ch</strong>e. Diesen Zweck gilt es zu bes<strong>ch</strong>rei-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 65<br />
ben, um ihn zu verstehen. Er besteht in der himmlis<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft der Seelen, d.h.<br />
im Heil des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ts. 3. Mögli<strong>ch</strong>keit, Wohlwollen und Gnade. Bekanntli<strong>ch</strong><br />
sagt man Wohlwollen vom Mens<strong>ch</strong>en und Gnade von Gott aus. Aber was soll man<br />
in der Natur als Entspre<strong>ch</strong>endes annehmen? Zweifellos die mehr oder weniger große<br />
Mögli<strong>ch</strong>keit, die Geneigtheit oder Bereits<strong>ch</strong>aft zum Wirken, d.h. die Lei<strong>ch</strong>tigkeit, von der<br />
au<strong>ch</strong> die Mögli<strong>ch</strong>keit abgeleitet wird, die ansonsten "Ma<strong>ch</strong>t", "Vermögen" usw. bezei<strong>ch</strong>net.<br />
Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Natur ein wirkendes Prinzip ist, kann man den<br />
Philosophen entnehmen, wel<strong>ch</strong>e die Natur bestimmen. Chr. Wolff sagt, die allumfassende<br />
Natur oder die Natur wurde s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin ein Anfang der Veränderungen in der Welt<br />
genannt. Die Natur ist eine aktive Kraft, eine Bewegerin oder etwas den bewegenden<br />
Kräften Beigeselltes, d.h. dem Streben Beigeselltes, denn das Streben besteht in einer<br />
Kraft, so daß das erwähnte Prinzip dem Streben eingepflanzt sein muß. Au<strong>ch</strong> Aristoteles<br />
sagt, daß Gott und die Natur ni<strong>ch</strong>ts vergebli<strong>ch</strong> ma<strong>ch</strong>en, sondern alles um eines Zweckes<br />
willen. Somit gehören das wirkende Prinzip und die Wirkung der Natur an, der Zweck<br />
hingegen Gott. Zweck und Wirkung zuglei<strong>ch</strong> gehören jedo<strong>ch</strong> dem Mens<strong>ch</strong>en an. 2. Daß<br />
die Liebe zu einem Zweck dem Willen des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geistes eingepflanzt ist, ist hinlängli<strong>ch</strong><br />
bekannt, denn der Wille kommt praktis<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zur Erfüllung, wenn ni<strong>ch</strong>t irgendein<br />
Anreiz der Liebe oder das Verlangen na<strong>ch</strong> einem Ziel vorhanden ist. Do<strong>ch</strong> verglei<strong>ch</strong>e die<br />
Stelle über den Willen. 3. Daß in Gott allein der Zweck vorhanden ist und daß die Natur<br />
aus eigener Kraft zur Hervorbringung der Zwecke dur<strong>ch</strong> Wirkungen hineilt, kann man der<br />
Tatsa<strong>ch</strong>e entnehmen, daß Gott über der Natur ist und mit ihr ni<strong>ch</strong>ts gemein hat. Die Natur<br />
ist nämli<strong>ch</strong> zur Hervorbringung der Zwecke der göttli<strong>ch</strong>en Vorsehung geformt und<br />
ges<strong>ch</strong>affen worden, was die Ursa<strong>ch</strong>e der Entspre<strong>ch</strong>ungen und Repräsentationen ist. Der<br />
S<strong>ch</strong>öpfungszweck kann kein anderer sein, als eine allumfassende Gesells<strong>ch</strong>aft der Seelen,<br />
die Gott als den Endzweck von allem erkennt.<br />
Regeln: 1. Zwei Prüfungsarten geben uns zu wissen, ob wir die Wahrheit begriffen haben:<br />
Ob die physis<strong>ch</strong>e Wahrheit in der ersten Klasse tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> enthalten ist, zeigt si<strong>ch</strong><br />
in der zweiten und dritten, der sittli<strong>ch</strong>en und theologis<strong>ch</strong>en Klasse. Und ob die sittli<strong>ch</strong>e<br />
Wahrheit (in der zweiten Klasse enthalten ist), zeigt si<strong>ch</strong> in der physis<strong>ch</strong>en und theologis<strong>ch</strong>en<br />
Klasse. Denn alles muß übereinstimmen und harmonieren, die Wahrheit an<br />
si<strong>ch</strong> bekräftigen, da nämli<strong>ch</strong> ein Entspre<strong>ch</strong>ungsverhältnis vorliegt. Wird es irgendwo<br />
verletzt, dann ist das kein Zei<strong>ch</strong>en der Wahrheit, sondern des Irrtums. 2. No<strong>ch</strong> eine andere<br />
Prüfung tritt hinzu. Weil offenbar die Inhalte der drei Klassen so übereinstimmen<br />
können, daß sie neben si<strong>ch</strong> gestellt eine vierte Wahrheit hervorbringen - wie diese: die<br />
Welt der Gegenstände ist vollkommen -, deswegen stimmen die Vorsehung Gottes, Wille<br />
und Absi<strong>ch</strong>t des Mens<strong>ch</strong>engeistes und Streben und Wirkung der Natur überein. So ist<br />
das eine das Urbild (exemplar), das andere das Abbild (typus) und das dritte das Na<strong>ch</strong>-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 66<br />
bild (simulacrum). Alles Göttli<strong>ch</strong>e ist urbildli<strong>ch</strong>, die intellektuellen, sittli<strong>ch</strong>en und bürgerli<strong>ch</strong>en<br />
Dinge sind Abbilder und Bilder, die natürli<strong>ch</strong>en und physis<strong>ch</strong>en Dinge hingegen<br />
sind Na<strong>ch</strong>bilder. Daher werden si<strong>ch</strong> die Urbilder, die Abbilder und die Na<strong>ch</strong>bilder<br />
vollständig darstellen. Au<strong>ch</strong> besteht ein gegenseitiges Entspre<strong>ch</strong>ungsverhältnis und<br />
Harmonie, denn eines wird vom anderen anerkannt und anerkennt es als etwas dieses<br />
eine im Auge Habende.<br />
Drittes Beispiel<br />
Es gibt keine Bewegung ohne Streben, aber Streben ohne Bewegung. Wenn nämli<strong>ch</strong> das<br />
gesamte Streben in offene Bewegung ausbrä<strong>ch</strong>e, ginge die Welt zugrunde, denn es gäbe<br />
kein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t.<br />
Es gibt keine Tätigkeit ohne Willen, aber Willen ohne Tätigkeit. Wenn der gesamte Wille<br />
in offene Tätigkeit ausbrä<strong>ch</strong>e, ginge der Mens<strong>ch</strong> zugrunde, denn es gäbe keine Waage<br />
der Vernunft, keine Mäßigerin.<br />
Es gibt keine göttli<strong>ch</strong>e Wirksamkeit ohne Vorsehung, aber mit Si<strong>ch</strong>erheit eine Vorsehung,<br />
die ni<strong>ch</strong>t werktätig oder wirkend ist. Wenn die gesamte Vorsehung wirkend am<br />
Werke wäre, könnte die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t bestehen bleiben, wie sie ist,<br />
denn es gäbe keinen wahren Gebrau<strong>ch</strong> der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Freiheit.<br />
Entspre<strong>ch</strong>ungen: 1. Welt, Mens<strong>ch</strong>, mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft. Denn der Mens<strong>ch</strong> wird ein<br />
Mikrokosmos, eine kleine Welt, genannt; und die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft eine große<br />
Welt, französis<strong>ch</strong> Le monde. Damit es eine Welt gibt, ist eine Natur erforderli<strong>ch</strong>; damit<br />
es einen Mens<strong>ch</strong>en gibt, ist ein vernunftbegabter Geist erforderli<strong>ch</strong>; damit es eine<br />
mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gesells<strong>ch</strong>aft gibt, muß es Gott geben. Was das Göttli<strong>ch</strong>e ist, erkennt man<br />
in der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft und ganz besonders in der umfassendsten Gesells<strong>ch</strong>aft,<br />
der himmlis<strong>ch</strong>en Seelengesells<strong>ch</strong>aft. 2. Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t, Waage der Vernunft bzw.<br />
die Vernunft als Mäßigerin, wahrer Gebrau<strong>ch</strong> der Freiheit. Vieles bändigt und bes<strong>ch</strong>ränkt<br />
den mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Willen, so daß er ni<strong>ch</strong>t in offene Tätigkeit ausbri<strong>ch</strong>t. Es gibt Zügel<br />
und Widerstände vers<strong>ch</strong>iedenster Art: Uns<strong>ch</strong>ickli<strong>ch</strong>es, Unehrenhaftes, vers<strong>ch</strong>iedene<br />
Liebesarten und Leidens<strong>ch</strong>aften, von denen eine die andere zügelt, Fur<strong>ch</strong>t, Notwendigkeiten,<br />
Unmögli<strong>ch</strong>keiten. Damit daher im Geist ein Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t herrs<strong>ch</strong>t, ist die mäßigende<br />
Vernunft, die Klugheit oder wägende Vernunft, erforderli<strong>ch</strong>. Außerdem entspri<strong>ch</strong>t<br />
au<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> die Gere<strong>ch</strong>tigkeit dem Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t, aber nur wo das Gere<strong>ch</strong>te und<br />
Ungere<strong>ch</strong>te Gegenstand der Rede ist. Der wahre Gebrau<strong>ch</strong> der Freiheit ist das eigentli<strong>ch</strong>e<br />
Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gesells<strong>ch</strong>aft, der Mißbrau<strong>ch</strong> hingegen ist die Zerstörung<br />
des Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts. Regierungsformen, Herrs<strong>ch</strong>ende, Untergebene, Strafen und<br />
Auszei<strong>ch</strong>nungen gibt es einzig und allein zur Zügelung der Freizügigkeit und zur Bes<strong>ch</strong>ränkung,<br />
damit man die gestattete Freiheit wahrhaft hat. Wenn nämli<strong>ch</strong> der göttli<strong>ch</strong>e
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 67<br />
Wille absolut herrs<strong>ch</strong>te, dann gäbe es keine Freiheit der jetzigen Art. Und ohne Freiheit<br />
gäbe es au<strong>ch</strong> das eigentli<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t. Daher würde au<strong>ch</strong> die Gesells<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t<br />
bleiben wie sie ist. Siehe Freiheit.<br />
Bekräftigung der Leitsätze: 1. Daß die Welt zugrunde ginge, wenn das gesamte Streben<br />
in offene Bewegung ausbrä<strong>ch</strong>e, hat folgenden Grund: In der ganzen Welt gibt es keine<br />
Substanz, der ni<strong>ch</strong>t die Kraft und das Streben na<strong>ch</strong> Tätigkeit, d.h. ihre Natur, innewohnt.<br />
Das gilt sogar für die s<strong>ch</strong>wereren Körper und Elemente. Daß si<strong>ch</strong> die atmosphäris<strong>ch</strong>en<br />
Teile ausbreiten wollen, ist bekannt. Aber daß si<strong>ch</strong> die unteilbaren (Teil<strong>ch</strong>en)<br />
gegenseitig zusammen und in S<strong>ch</strong>ranken halten - woher das Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t kommt -, (ist<br />
ein Prinzip), das ebenso die Teile wie das Ganze betrifft. 2. Ähnli<strong>ch</strong> verhielte es si<strong>ch</strong> mit<br />
der Vernunft, wenn der ganze Wille in offene Tätigkeit ausbrä<strong>ch</strong>e. Dann ginge nämli<strong>ch</strong> der<br />
Mens<strong>ch</strong> verloren, oder: es gäbe keinen vernunftbegabten Geist, denn der Mens<strong>ch</strong> ist nur<br />
insoweit da als der vernunftbegabte Geist da ist. Das Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e besteht daher darin,<br />
seine Begierden und die unsinnigen Anstrengungen, sie auszuleben zügeln zu können.<br />
Wäre daher der Mens<strong>ch</strong> dieser Ma<strong>ch</strong>tmögli<strong>ch</strong>keit beraubt, er hörte gänzli<strong>ch</strong> auf zu existieren.<br />
Außerdem sind die inneren Empfindungs- (sensoria interna) oder besser Bewegnerven<br />
(motoria), wie au<strong>ch</strong> die Körpermuskeln so zusammengestellt, daß ein gemeinsames<br />
Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t aller Teile besteht, wenn alles zuglei<strong>ch</strong> auf eine Tat hinausläuft.<br />
Tätigkeit fließt nämli<strong>ch</strong> überrei<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aus einer größeren, aus Teilen bestehenden<br />
Kraft unter einer gemeinsamen Kraft. 3. Daß die Vorsehung Gottes ni<strong>ch</strong>t wirksam bzw.<br />
wirkend in Ers<strong>ch</strong>einung tritt, ist eine theologis<strong>ch</strong>e Wahrheit. Gott sieht vor und will das<br />
Heil aller Mens<strong>ch</strong>en, aber dieser allumfassende Wille, Vorsehung genannt, bleibt wirkungslos,<br />
denn es gibt Mens<strong>ch</strong>en, die der göttli<strong>ch</strong>en Gnade widerstehen, in denen die<br />
Vorsehung ni<strong>ch</strong>t wirkend und wirksam sein kann.<br />
Martin Walser und Swedenborg<br />
von Thomas Noack<br />
Christiane Gollwitzer sandte uns den Artikel "Spra<strong>ch</strong>e, sonst ni<strong>ch</strong>ts" von Martin Walser,<br />
ers<strong>ch</strong>ienen in der Wo<strong>ch</strong>enzeits<strong>ch</strong>rift "Die Zeit" vom 30. September 1999. Darin entfaltet<br />
der Friedenspreisträger des deuts<strong>ch</strong>en Bu<strong>ch</strong>handels sein Verständnis von Spra<strong>ch</strong>e und<br />
Welt, von Spra<strong>ch</strong>welt, - und bekennt si<strong>ch</strong> zu Swedenborg, nennt ihn seinen "Paten". Einigen<br />
mißfiel dies selbstverständli<strong>ch</strong>: "Herr Walser, was fällt Ihnen ein?! Der s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftler und Theosoph Emanuel Swedenborg - ein Dur<strong>ch</strong>denker?" (David<br />
Axmann). Uns mießfiel es ni<strong>ch</strong>t, weswegen wir besagten Artikel in Auszügen unseren<br />
Lesern zur Kenntnis geben wollen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 68<br />
Martin Walser: "Man kann ni<strong>ch</strong>t über das reden, was der Spra<strong>ch</strong>e entspri<strong>ch</strong>t oder ni<strong>ch</strong>t<br />
entspri<strong>ch</strong>t, ohne Emanuel Swedenborg zu nennen. Er ist der erfahrungsrei<strong>ch</strong>ste und lebendigste<br />
Dur<strong>ch</strong>denker dieses Zusammenhangs. 'Die ganze natürli<strong>ch</strong>e Welt', s<strong>ch</strong>reibt<br />
Swedenborg, 'entspri<strong>ch</strong>t der geistigen; daher nennt man alles, was in der natürli<strong>ch</strong>en<br />
Welt aus der geistigen entsteht, etwas Entspre<strong>ch</strong>endes.' 'Der Mens<strong>ch</strong>, wel<strong>ch</strong>er Himmel<br />
und Welt in kleinster Gestalt ist, hat sowohl die geistige, wie die natürli<strong>ch</strong>e Welt in<br />
si<strong>ch</strong>.' 'Was daher in seiner natürli<strong>ch</strong>en Welt … dur<strong>ch</strong> seine geistige Welt … bewirkt wird,<br />
nennt man etwas Entspre<strong>ch</strong>endes.' Die Ursa<strong>ch</strong>e-Wirkungsfolge ist bei Swedenborg eindeutig:<br />
von innen na<strong>ch</strong> außen. Die Bibel, sagt er, sei 'in lauter Entspre<strong>ch</strong>ungen ges<strong>ch</strong>rieben;<br />
jedes Wort darin bedeutet eine Entspre<strong>ch</strong>ung'. Er sei vom Himmel belehrt<br />
worden, 'daß die Diener der ältesten Kir<strong>ch</strong>e auf Erden, wel<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en des Himmels<br />
waren, nur in Entspre<strong>ch</strong>ungen geda<strong>ch</strong>t haben, wobei ihnen die natürli<strong>ch</strong>en Dinge der<br />
Welt, die sie vor Augen hatten, als Ausdrucksmittel dienten; deshalb gehörten sie zu<br />
den Engeln und redeten mit ihnen, und so waren Himmel und Welt dur<strong>ch</strong> sie verbunden'.<br />
Dann seien die Mens<strong>ch</strong>en 'allmähli<strong>ch</strong> äußerli<strong>ch</strong> geworden und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> ganz<br />
materiell, worauf die Lehre von den Entspre<strong>ch</strong>ungen verlorengegangen sei ...' Das ist<br />
eine Spra<strong>ch</strong>ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Religion. Die ist aber unsere Ausdrucksspra<strong>ch</strong>e s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>thin.<br />
Hergebeten habe i<strong>ch</strong> Swedenborg, weil er unser Inneres, Geist und Seele oder Wasau<strong>ch</strong>immer,<br />
so ganz und gar zum Ausdrucksursprung des Spra<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en gema<strong>ch</strong>t hat. Aber<br />
gegeben hat es das, sagt er, nur in einem Golden genannten Zeitalter, als die Mens<strong>ch</strong>en<br />
no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, wie Swedenborg sagt, 'si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Selbstliebe und Weltliebe vom Himmel<br />
entfernt haben'. Dana<strong>ch</strong> werden die Dinge von 'Entspre<strong>ch</strong>ungen' zu 'Ers<strong>ch</strong>einungen',<br />
die Spra<strong>ch</strong>e fängt an, si<strong>ch</strong> selber zu entspre<strong>ch</strong>en. Notgedrungen. Selbstbezogenheit, das<br />
ist jetzt ihre Eigens<strong>ch</strong>aft. Je nötiger Gott wäre, um so deutli<strong>ch</strong>er wird jetzt, daß er aus<br />
ni<strong>ch</strong>ts bestehe als aus Spra<strong>ch</strong>e. Statt etwas haben wir Wörter. S<strong>ch</strong>on Jakob Böhme konnte<br />
ni<strong>ch</strong>t umhin, seine Figur so ins Wörtli<strong>ch</strong>e treiben zu lassen: '... und dur<strong>ch</strong> seinen<br />
Mund bei drei Stunden anders ni<strong>ch</strong>t gespro<strong>ch</strong>en, als nur sol<strong>ch</strong>e Worte: Gott, Kot, Gott,<br />
Kot, und si<strong>ch</strong> vor Gott als Kot gea<strong>ch</strong>tet.'<br />
… Swedenborg hatte die seltene Gabe, den Himmel erlebbar zu s<strong>ch</strong>ildern. Bei der Hölle<br />
fällt das lei<strong>ch</strong>ter, die Hölle hat von Dante bis Strindberg erregende Darsteller gefunden.<br />
Swedenborg erzählt, als sei er dabei gewesen, wie die feinste Art Engel, die des innersten<br />
Himmels, wie diese Engel 'die göttli<strong>ch</strong>e Wahrheit' entgegennehmen: 'Diese Engel<br />
vergraben die göttli<strong>ch</strong>en Wahrheiten ni<strong>ch</strong>t in ihrem Gedä<strong>ch</strong>tnis, bilden si<strong>ch</strong> also au<strong>ch</strong><br />
kein Wissen aus ihnen, sondern nehmen sie glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> dem Hören in si<strong>ch</strong> auf und setzen<br />
sie in Leben um … Anders die Engel im äußeren Himmel; diese prägen si<strong>ch</strong> die<br />
Wahrheiten erst ins Gedä<strong>ch</strong>tnis ein, vers<strong>ch</strong>ließen sie in ihrem Wissen, holen sie später<br />
wieder daraus hervor und vertiefen sie mit ihrem Verstande; sie ri<strong>ch</strong>ten si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> ihnen,<br />
ohne ihre Ri<strong>ch</strong>tigkeit mit der inneren Erfahrung zu prüfen … Merkwürdigerweise
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 69<br />
werden die Engel des dritten Himmels dur<strong>ch</strong> das Gehör und ni<strong>ch</strong>t den Gesi<strong>ch</strong>tssinn an<br />
Wahrheit vollkommener.' Mir tut das gut, das Gehör so ausgezei<strong>ch</strong>net zu sehen: der<br />
Sinn, mit dem wir die 'göttli<strong>ch</strong>e Wahrheit' beziehungsweise das Wesentli<strong>ch</strong>e, nämli<strong>ch</strong><br />
Spra<strong>ch</strong>e, erleben. Und daß wir, was wir so empfangen, ni<strong>ch</strong>t als Wissen hörten, sondern<br />
glei<strong>ch</strong> in Leben umsetzen, darf ni<strong>ch</strong>t auf den Himmel bes<strong>ch</strong>ränkt bleiben. Wo das Wissen<br />
so in die S<strong>ch</strong>ranken gewiesen wird, muß ein anderer Pate herzitiert werden, Sören<br />
Kierkegaard Wir haben zuviel zu wissen gekriegt und fangen zu wenig damit an." Wie<br />
wahr!<br />
"Die Spra<strong>ch</strong>e ist ganz genauso ein Element des Historis<strong>ch</strong>en wie des Augenblickli<strong>ch</strong>en.<br />
Sie ist das einzige Universale, das du praktizieren mö<strong>ch</strong>test. Sie hat ein Eigenleben seit<br />
langem, und sie hat ein Eigenleben in dir." So auf den Spra<strong>ch</strong>mens<strong>ch</strong>en Martin Walser<br />
eingestimmt, wollte i<strong>ch</strong> das Eigenleben seiner Spra<strong>ch</strong>e hören, sie sei ein "Produktionsmittel,<br />
das versagt, wenn man es beherrs<strong>ch</strong>en will", und kaufte seine Novelle "Ein fliehendes<br />
Pferd". "… diese Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te könnte zu dem gehören, das einmal übrigbleibt von<br />
einem Jahrhundert." (Stuttgarter Zeitung).<br />
Eine Novelle über die permanente Selbstverfehlung des modernen Mens<strong>ch</strong>en. Studienrat<br />
Helmut Halm mö<strong>ch</strong>te inkognito existieren. Er ist auf der Flu<strong>ch</strong>t vor si<strong>ch</strong> selbst: im<br />
Urlaub. Frau Sabine begleitet ihn bei diesem Unternehmen. Da stellt si<strong>ch</strong> ihm das<br />
S<strong>ch</strong>icksal in den Weg: Klaus Bu<strong>ch</strong> mit Frau Helene, genannt Hel; angebli<strong>ch</strong> Helmut's<br />
S<strong>ch</strong>ulkamerad, Jugendfreund und Kommilitone. Der Urlauber Halm freili<strong>ch</strong> erinnert si<strong>ch</strong><br />
an ni<strong>ch</strong>ts, mö<strong>ch</strong>te jedo<strong>ch</strong> diese Peinli<strong>ch</strong>keit ni<strong>ch</strong>t preisgeben. So entsteht die Urlaubsfreunds<strong>ch</strong>aft<br />
zwis<strong>ch</strong>en zwei völlig unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Charakteren. Eigentli<strong>ch</strong> würde<br />
man si<strong>ch</strong> aus dem Weg gehen; aber erstens ist man im Urlaub und zweitens ist man<br />
Mens<strong>ch</strong>, also Anstand bewahren, die S<strong>ch</strong>einproduktion des gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Lebens<br />
aufre<strong>ch</strong>t erhalten.<br />
Eine Szene im Restaurant He<strong>ch</strong>t, ni<strong>ch</strong>t die wi<strong>ch</strong>tigste, aber für uns interessant: Klaus<br />
Bu<strong>ch</strong> "und Hel s<strong>ch</strong>auten eine Zeit lang stumm zu, wie Sabine und Helmut die Käseplatte<br />
leerten, Weißbrot aßen, Rotwein tranken. Als Helmut die von Entsetzen geweiteten Augen<br />
der Bu<strong>ch</strong>s zum dritten Mal dur<strong>ch</strong> Aufs<strong>ch</strong>auen zur Kenntnis genommen hatte, sagte<br />
er, Hels und Klaus' Zus<strong>ch</strong>auen erinnere ihn an eine Szene aus dem Leben des großen<br />
s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Philosophen Emanuel Swedenborg. Der habe, als er s<strong>ch</strong>on über fünfzig<br />
und ein berühmter Mann gewesen sei, einmal allein in seinem Zimmer gegessen. Plötzli<strong>ch</strong><br />
habe er in einer Ecke seines Zimmers einen Mann wahrgenommen, der in dem Augenblick<br />
zu Swedenborg herübersagte: Iß ni<strong>ch</strong>t soviel. Und wie hat der Herr Philosoph<br />
reagiert, fragte Hel. Von dieser Stunde an nahm er nur no<strong>ch</strong> eine Semmel in geko<strong>ch</strong>ter<br />
Mil<strong>ch</strong> zu si<strong>ch</strong>. Und viel Kaffee. Den aber unmäßig süß. Na bitte, sagte Hel. Swedenborg,<br />
Klaus, bitte, merk dir den Namen, der interessiert mi<strong>ch</strong>." Danke, Martin Walser! Gut
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 70<br />
gema<strong>ch</strong>t! Hoffentli<strong>ch</strong> merken si<strong>ch</strong> nun au<strong>ch</strong> die Leser Deiner Novelle den Namen Swedenborg.<br />
"Ein fliehendes Pferd", so nennt Martin Walser seine Novelle. In der S<strong>ch</strong>lüsselszene, ein<br />
Pferd, in wilder Flu<strong>ch</strong>t, rennt dur<strong>ch</strong> ein Dorf, sagt Klaus Bu<strong>ch</strong>: "Einem fliehenden Pferd<br />
kannst du di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t in den Weg stellen. Es muß das Gefühl haben, sein Weg bleibt frei.<br />
Und: ein fliehendes Pferd läßt ni<strong>ch</strong>t mit si<strong>ch</strong> reden." In Martin Walser's Novelle sind<br />
gewissermaßen alle auf der Flu<strong>ch</strong>t. Der Ausweg kann nur als Katastrophe erlebt werden,<br />
- die freili<strong>ch</strong> alle um Himmels willen vermeiden wollen. Na<strong>ch</strong> Walser's Grundüberzeugung<br />
ist die Bes<strong>ch</strong>ädigung des Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong> bedingt; die heute aktuellen<br />
Sozialisationsformen lassen dem Individuum keine Chance, zu si<strong>ch</strong> selbst zu<br />
finden.<br />
Martin Walser muß an Swedenborg geda<strong>ch</strong>t haben, als er seiner Gesells<strong>ch</strong>aftskritik den<br />
Titel "Ein fliehendes Pferd" gab. Denn na<strong>ch</strong> Swedenborg steht es für die Dynamik des<br />
Geistes, der seine dynamis nur im Verständnis des Wahren entfalten kann. Der Preis,<br />
den ein fliehendes Pferd für die Flu<strong>ch</strong>t vor si<strong>ch</strong> selbst bezahlen muss ist groß. Er heißt:<br />
Leblosigkeit, Untergang im Konventionellen. Gestorben ist jeder, der seine eigene Spra<strong>ch</strong>e<br />
verloren hat.<br />
Ein Swedenborgianer liest Hahnemann und Kent<br />
von Thomas Noack<br />
Vorbemerkung der S<strong>ch</strong>riftleitung: Am 5. März <strong>2000</strong> fand im Swedenborg Zentrum Züri<strong>ch</strong> ein anregendes<br />
Seminar über "Swedenborg und die Homöopathie" statt. Zahlrei<strong>ch</strong>e Homöopathen aus<br />
der S<strong>ch</strong>weiz und aus Deuts<strong>ch</strong>land waren anwesend. Das Seminar wurde von Pfarrer Thomas Noack<br />
und der Heilpraktikerin und klassis<strong>ch</strong>en Homöopathin Dagmar Strauß geleitet. Mit dieser<br />
Nummer der <strong>Offene</strong>n <strong>Tore</strong> lösen wir ein damals gegebenes Verspre<strong>ch</strong>en ein, die Veröffentli<strong>ch</strong>ung<br />
der Vortragsunterlagen und weiterer Materialien.<br />
1. Samuel Hahnemann und Swedenborg<br />
1.1. Zur Geistesverwandts<strong>ch</strong>aft<br />
Samuel Hahnemann (1755-1843), der Begründer der Homöopathie, s<strong>ch</strong>eint von Swedenborgs<br />
theologis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riften ni<strong>ch</strong>t beeinflusst worden zu sein, "obglei<strong>ch</strong> er wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong><br />
mit einigen anatomis<strong>ch</strong>en Werken aus Swedenborgs früheren Jahren vertraut<br />
war." 39 Maguerite Block, die eine umfangrei<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Swedenborgkir<strong>ch</strong>e in<br />
39 Maguerite Block, The New Chur<strong>ch</strong> in the New World, 1984, 162. Frau Block stützt si<strong>ch</strong> auf New<br />
Chur<strong>ch</strong> Review, Vol. 31, p. 290.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 71<br />
Amerika ges<strong>ch</strong>rieben hat, erklärt daher die Ähnli<strong>ch</strong>keiten in beiden Systemen mit einer<br />
gemeinsamen Wurzel und nennt Paracelsus, "dessen gründli<strong>ch</strong>e Studenten beide, Hahnemann<br />
und Swedenborg, waren und dessen Lehre von den 'Signaturen' für einen<br />
Großteil der Ähnli<strong>ch</strong>keiten zwis<strong>ch</strong>en ihren Theorien verantwortli<strong>ch</strong> ist." 40 Elinore Peebles<br />
weist auf zwei Persönli<strong>ch</strong>keiten hin, die swedenborgs<strong>ch</strong>e Gedanken an Hahnemann<br />
vermittelt haben könnten: "Wir wissen, dass … Hahnemann in Kontakt mit Johann<br />
Wolfgang von Goethe und Heinri<strong>ch</strong> Heine stand und für sie wohl au<strong>ch</strong> Verordnungen<br />
ausstellte; beide waren mit der geistigen Seite der Philosophie Swedenborgs vertraut<br />
und von ihr angetan." 41 Und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> sei erwähnt, dass Hahnemann in das erstmals<br />
1810 veröffentli<strong>ch</strong>te "Organon der rationellen Heilkunde" naturphilosophis<strong>ch</strong>e Gedanken<br />
von Friedri<strong>ch</strong> W. J. S<strong>ch</strong>elling einbezog, der ebenfalls von Swedenborg beeinflusst<br />
war. Denno<strong>ch</strong> hat si<strong>ch</strong> trotz zahlrei<strong>ch</strong>er Bemühungen eine direkte Beeinflussung Hahnemanns<br />
dur<strong>ch</strong> Swedenborg bisher ni<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>weisen lassen.<br />
1.2. Lebenskraft na<strong>ch</strong> Hahnemann und Seele na<strong>ch</strong> Swedenborg<br />
Ergänzend zu dem in diesem Heft der <strong>Offene</strong>n <strong>Tore</strong> bereits Gesagten, mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> auf einige<br />
Ähnli<strong>ch</strong>keiten zwis<strong>ch</strong>en Hahnemann und Swedenborg hinweisen, indem i<strong>ch</strong> Zitate<br />
gegenüberstellen werde. Hahnemann re<strong>ch</strong>net im Organismus mit einer "Lebenskraft",<br />
die der Seele (anima) im swedenborgs<strong>ch</strong>en System sehr ähnli<strong>ch</strong> ist. Hahnemann<br />
s<strong>ch</strong>reibt: "Der materielle Organism, ohne Lebenskraft geda<strong>ch</strong>t, ist keiner Empfindung,<br />
keiner Thätigkeit, keiner Selbsterhaltung fähig; nur das immaterielle, den materiellen<br />
Organism im gesunden und kranken Zustande belebende Wesen (das Lebensprincip, die<br />
Lebenskraft) verleiht ihm alle Empfindung und bewirkt seine Lebensverri<strong>ch</strong>tungen." 42<br />
Ähnli<strong>ch</strong>es weiß Swedenborg von der Seele zu beri<strong>ch</strong>ten; im folgenden Text tau<strong>ch</strong>t sogar<br />
au<strong>ch</strong> der Begriff "Lebenskraft" auf: "Wer gründli<strong>ch</strong> darüber na<strong>ch</strong>denkt, kann wissen,<br />
daß ni<strong>ch</strong>t der Körper denkt, sondern die Seele, da sie geistig ist. Die Seele des Mens<strong>ch</strong>en,<br />
über deren Unsterbli<strong>ch</strong>keit viele ges<strong>ch</strong>rieben haben, ist sein Geist. Dieser ist in<br />
der Tat unsterbli<strong>ch</strong>, und zwar mit allem, was zu ihm gehört. Er ist es au<strong>ch</strong>, der im Körper<br />
denkt, eben weil er geistig ist und das Geistige in si<strong>ch</strong> aufnimmt und geistig lebt,<br />
das heißt denkt und will. Daher gehört alles geistige Leben, das im Körper ers<strong>ch</strong>eint,<br />
dem Geist, und au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t im geringsten dem Körper an. Wie bereits gesagt, ist ja der<br />
Körper stoffli<strong>ch</strong>, und das dem Körper eigentümli<strong>ch</strong>e Stoffli<strong>ch</strong>e ist dem Geist nur hinzugefügt<br />
und fast etwas wie eine Nebensa<strong>ch</strong>e, unerläßli<strong>ch</strong> für den Geist des Mens<strong>ch</strong>en in<br />
40 M. Block, a.a.O., 162.<br />
41 Elinore Peebles, Homeopathy and the New Chur<strong>ch</strong>, 472, in: Emanuel Swedenborg: A Continuing Vision,<br />
herausgegeben von Robin Larsen u.a., 1988, 468 - 472.<br />
42 Samuel Hahnemann, Organon der Heilkunst, Textkritis<strong>ch</strong>e Ausgabe der se<strong>ch</strong>sten Auflage, Heildelberg:<br />
Haug, 1999, § 10. Diese Ausgabe wird im Haupttext zitiert.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 72<br />
der natürli<strong>ch</strong>en Welt, in der alles stoffli<strong>ch</strong> und an si<strong>ch</strong> leblos ist, um hier sein Leben<br />
führen und Nutzen s<strong>ch</strong>affen zu können. Da nun das Stoffli<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t lebt, sondern nur<br />
das Geistige, können wir es als feststehend ansehen, daß alles, was beim Mens<strong>ch</strong>en<br />
lebt, seinem Geist angehört und der Körper diesem nur dient – ganz wie ein Werkzeug<br />
der bewegenden Lebenskraft (vi moventi vitae). Zwar sagt man von einem Werkzeug, es<br />
wirke, bewege oder stoße, do<strong>ch</strong> anzunehmen, daß es wirkli<strong>ch</strong> das Werkzeug sei und<br />
ni<strong>ch</strong>t der Mens<strong>ch</strong>, der dahinter steht und wirkt, bewegt und stößt, ist eine Täus<strong>ch</strong>ung."<br />
(HH 432).<br />
1.3. Was ist demna<strong>ch</strong> Krankheit?<br />
Krankheiten sind dementspre<strong>ch</strong>end Verstimmungen der Lebenskraft. Hahnemann: Die<br />
Krankheiten sind "(geistartige) dynamis<strong>ch</strong>e Verstimmungen unseres geistartigen Lebens<br />
in Gefühlen und Thätigkeiten, das ist, immaterielle Verstimmungen unsers Befindens"<br />
(Organon S. 27). "Wenn der Mens<strong>ch</strong> erkrankt, so ist ursprüngli<strong>ch</strong> nur diese geistartige,<br />
in seinem Organism überall anwesende, selbstthätige Lebenskraft (Lebensprincip)<br />
dur<strong>ch</strong> den, dem Leben feindli<strong>ch</strong>en, dynamis<strong>ch</strong>en Einfluß eines krankma<strong>ch</strong>enden Agens<br />
verstimmt; nur das zu einer sol<strong>ch</strong>en Innormalität verstimmte Lebensprincip, kann dem<br />
Organism die widrigen Empfindungen verleihen und ihn zu so regelwidrigen Thätigkeiten<br />
bestimmen, die wir Krankheit nennen, denn dieses, an si<strong>ch</strong> unsi<strong>ch</strong>tbare und bloß an<br />
seinen Wirkungen im Organism erkennbare Kraftwesen, giebt seine krankhafte Verstimmung<br />
nur dur<strong>ch</strong> Aeußerung von Krankheit in Gefühlen und Thätigkeiten …, das ist,<br />
dur<strong>ch</strong> Krankheits-Symptomen zu erkennen und kann sie ni<strong>ch</strong>t anders zu erkennen geben."<br />
(§ 11).<br />
1.4. Vom inneren Wesen zum äußeren Entspre<strong>ch</strong>ungsbild<br />
(Symptomatik) der Krankheiten<br />
Der krankma<strong>ch</strong>ende Einfluss verwirkli<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> daher von innen na<strong>ch</strong> außen. Hahnemann:<br />
"Au<strong>ch</strong> besitzen die feindli<strong>ch</strong>en, theils psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en, theils physis<strong>ch</strong>en Potenzen<br />
im Erdenleben, wel<strong>ch</strong>e man krankhafte S<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>keiten nennt, ni<strong>ch</strong>t unbedingt die<br />
Kraft, das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Befinden krankhaft zu stimmen; wir erkranken dur<strong>ch</strong> sie nur<br />
dann, wenn unser Organism so eben dazu disponirt und aufgelegt genug ist, von der<br />
gegenwärtigen Krankheits-Ursa<strong>ch</strong>e angegriffen und in seinem Befinden verändert, verstimmt<br />
und in innormale Gefühle und Thätigkeiten versetzt zu werden - sie ma<strong>ch</strong>en daher<br />
ni<strong>ch</strong>t Jeden und ni<strong>ch</strong>t zu jeder Zeit krank." (§ 31). Swedenborg wendet si<strong>ch</strong> in seinem<br />
Werk "Über den Verkehr zwis<strong>ch</strong>en Seele und Körper" gegen die Vorstellung eines<br />
"physis<strong>ch</strong>en Einfließens" (von außen na<strong>ch</strong> innen) und vertritt die Vorstellung eines<br />
"geistigen Einfließens" (von innen na<strong>ch</strong> außen).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 73<br />
Die na<strong>ch</strong> außen si<strong>ch</strong>tbare Krankheit ist ein Entspre<strong>ch</strong>ungsbild der seelis<strong>ch</strong>-geistigen<br />
Krankheit. Damit soll ni<strong>ch</strong>t in Abrede gestellt werden, dass es Verletzungen des Körpers<br />
(Unfälle) gibt, die der Chirurg zu reparieren hat; damit soll aber der Blick geöffnet<br />
werden für ein Verständnis von Krankheit, das diese ni<strong>ch</strong>t mit ihrem organis<strong>ch</strong>en Ausdruck<br />
glei<strong>ch</strong>setzt. Die Symptome sind für Hahnemann nur das "na<strong>ch</strong> außen reflectirende<br />
Bild des innern Wesens der Krankheit" (§ 7). Er nennt sie au<strong>ch</strong> "Krankheitszei<strong>ch</strong>en"<br />
(§ 19). Diese Si<strong>ch</strong>tweise deckt si<strong>ch</strong> mit dem, was Swedenborg über das Wesen der Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
zu sagen hat: "Zuerst also soll gesagt werden, was Entspre<strong>ch</strong>ung ist: Die<br />
ganze natürli<strong>ch</strong>e Welt entspri<strong>ch</strong>t der geistigen, und zwar ni<strong>ch</strong>t nur im allgemeinen,<br />
sondern au<strong>ch</strong> im einzelnen. Deshalb heißt alles, was in der natürli<strong>ch</strong>en Welt aus der<br />
geistigen heraus entsteht, Entspre<strong>ch</strong>endes. Man muß wissen, daß die natürli<strong>ch</strong>e Welt<br />
aus der geistigen entsteht und besteht, ganz wie die Wirkung aus ihrer wirkenden Ursa<strong>ch</strong>e.<br />
Zur natürli<strong>ch</strong>en Welt gehört alles räumli<strong>ch</strong> Ausgedehnte, das unter der Sonne ist<br />
und aus ihr Wärme und Li<strong>ch</strong>t empfängt, und zu dieser Welt gehört au<strong>ch</strong> alles, was von<br />
jener aus besteht. Die geistige Welt aber ist der Himmel, und es gehört alles zu ihr, was<br />
in den Himmeln ist. Weil der Mens<strong>ch</strong> ein Himmel und au<strong>ch</strong> eine Welt in kleinster Gestalt<br />
ist, na<strong>ch</strong> dem Bilde des größten, darum findet si<strong>ch</strong> bei ihm sowohl die geistige als<br />
au<strong>ch</strong> die natürli<strong>ch</strong>e Welt: die innerli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>e, die zu seinem Gemüt gehören und<br />
si<strong>ch</strong> auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerli<strong>ch</strong>en aber,<br />
die seinem Körper angehören und si<strong>ch</strong> auf dessen Sinne und Handlungen beziehen,<br />
stellen seine natürli<strong>ch</strong>e Welt dar. Als Entspre<strong>ch</strong>endes wird daher alles bezei<strong>ch</strong>net, was in<br />
seiner natürli<strong>ch</strong>en Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen, aus<br />
seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen Verstand und Willen."<br />
(HH 89f).<br />
2. James Tyler Kent und Swedenborg<br />
2.1. Der Swedenborgianer Kent interpretiert Hahnemanns Organon<br />
Die Grundwahrnehmung ist also bei Hahnemann und Swedenborg ähnli<strong>ch</strong>. Daher konnte<br />
nun James Tyler Kent (1849 - 1916), der ein Swedenborgianer war und bis heute einer<br />
der einflußrei<strong>ch</strong>sten Homöopathen ist, Vorlesungen über Hahnemanns Organon halten<br />
und dabei dieses Grundlagenwerk ganz im Sinne Swedenborgs interpretieren, ohne<br />
von Hahnemann abzuwei<strong>ch</strong>en.<br />
2.2. Krankheit verwirkli<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> von innen na<strong>ch</strong> außen<br />
Kent beginnt seine "Lectures on Homoeopathic Philosophy" (Vorlesungen über homöopathis<strong>ch</strong>e<br />
Philosophie) mit einem Kapitel mit der Übers<strong>ch</strong>rift "Der Kranke". Darin legt<br />
er den ersten Paragraphen des hahnemanns<strong>ch</strong>en Organons aus, der da lautet: "Des Arz-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 74<br />
tes hö<strong>ch</strong>ster und einziger Beruf ist, kranke Mens<strong>ch</strong>en gesund zu ma<strong>ch</strong>en, was man heilen<br />
nennt." Interessant aus swedenborgs<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t ist das von Kent entfaltete Krankheitsverständnis.<br />
Krankheit ist Unordnung im mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Wesen und verwirkli<strong>ch</strong>t<br />
si<strong>ch</strong> dementspre<strong>ch</strong>end von innen na<strong>ch</strong> außen. Kent s<strong>ch</strong>reibt: "Alle Krankheit fließt vom<br />
Innersten zum Äußeren" 43 (51). "Wenn der innere Mens<strong>ch</strong> krank ist, dann ist es nur eine<br />
Frage der Zeit, bis si<strong>ch</strong> in seinem Körper die Krankheit einstellen wird, weil der innere<br />
Mens<strong>ch</strong> den äußeren formt." (67). "Krankheit kann nur vom Zentrum her in den<br />
Mens<strong>ch</strong>en einfließen und von da aus auf die äußeren Teile wirken, indem es die Regie<br />
stört, und das ist die ganze Krankheit." (54f). "Alle Krankheitsursa<strong>ch</strong>en gründen in der<br />
immateriellen Lebenskraft. Es gibt keine Krankheitsursa<strong>ch</strong>en im Stoffli<strong>ch</strong>en, die getrennt<br />
von der Lebenskraft betra<strong>ch</strong>tet werden können." (111). "Die Krankheiten entspre<strong>ch</strong>en<br />
den Neigungen der Mens<strong>ch</strong>en, und die Krankheiten der heutigen Mens<strong>ch</strong>heit<br />
sind der äußere Ausdruck dessen, wie es innen im Mens<strong>ch</strong>en aussieht" (209). "Das Bild<br />
seines eigenen Innern kommt in der Krankheit zum Vors<strong>ch</strong>ein." (209). "Die reinen<br />
Krankheiten andererseits, ob erworben oder ererbt, sind jene, die si<strong>ch</strong> aus dem Innersten<br />
na<strong>ch</strong> der Peripherie auswirken und dabei den Mens<strong>ch</strong>en krank ma<strong>ch</strong>en." (186).<br />
Das alles steht Swedenborgs Verständnis von Krankheit sehr nahe: "Weil von der Entspre<strong>ch</strong>ung<br />
der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß au<strong>ch</strong> alle<br />
Krankheiten im Mens<strong>ch</strong>en eine Entspre<strong>ch</strong>ung mit der geistigen Welt haben; denn was<br />
in der ganzen Natur keine Entspre<strong>ch</strong>ung hat mit der geistigen Welt, das kann ni<strong>ch</strong>t existieren,<br />
denn es hat keine Ursa<strong>ch</strong>e, aus der es entsteht, folgli<strong>ch</strong> (au<strong>ch</strong> keine), kraft derer<br />
es besteht." (HG 5711). "Die Krankheiten entspre<strong>ch</strong>en den Begierden und Leidens<strong>ch</strong>aften<br />
des Lebensgeistes (animi). Diese sind au<strong>ch</strong> die Ursprünge der Krankheiten, denn<br />
diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei Üppigkeit, rein sinnli<strong>ch</strong>e Vergnügungen,<br />
dann au<strong>ch</strong> Neid, Haß, Ra<strong>ch</strong>e, Unzu<strong>ch</strong>t und derglei<strong>ch</strong>en, was das Inwendigere des<br />
Mens<strong>ch</strong>en zerstört; und wenn dieses zerstört ist, leidet das Auswendigere und zieht<br />
dem Mens<strong>ch</strong>en Krankheit und dadur<strong>ch</strong> den Tod zu … Aus dem Gesagten kann erhellen,<br />
daß au<strong>ch</strong> die Krankheiten eine Entspre<strong>ch</strong>ung haben mit der geistigen Welt, aber mit<br />
den unreinen Dingen daselbst." (HG 5712).<br />
Die Krankheit, die si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> im Äußeren zeigt, also die Gesamtheit der Symptome,<br />
ist ein Entspre<strong>ch</strong>ungsausdruck des eigentli<strong>ch</strong>en, inneren Krankheitsges<strong>ch</strong>ehens.<br />
Kent: "Wie das Innere ist, so ist au<strong>ch</strong> das Äußere, und das Äußere kann nur so sein wie<br />
die Auswirkungen des Innersten." (208). "Wir haben gesehen, daß wir die Krankheit<br />
dur<strong>ch</strong> Sammeln von Symptomen kranker Mens<strong>ch</strong>en studieren müssen, indem wir uns<br />
43 J. T. Kent, Prinzipien der Homöopathie, 1996, 51. Eine deuts<strong>ch</strong>e Übersetzung von Kents "Lectures on<br />
Homoeopathic Philosophy". Im Folgenden bezieht si<strong>ch</strong> die Seitenzahl im Haupttext immer auf diese<br />
Übersetzung.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 75<br />
auf die Symptome als Spra<strong>ch</strong>e der Natur stützen und daß die Totalität der Symptome die<br />
Natur und Qualität der Krankheit darstellt und alles ist, was wir von dieser wissen müssen."<br />
(283). "Die Krankheit zeigt si<strong>ch</strong> oder drückt si<strong>ch</strong> aus dur<strong>ch</strong> die Totalität der Symptome,<br />
und diese Totalität (wel<strong>ch</strong>e die Spra<strong>ch</strong>e der Natur bedeutet) ist ni<strong>ch</strong>t selbst die<br />
Essenz der Krankheit, sie repräsentiert nur die Unordnung des inneren Mens<strong>ch</strong>en."<br />
(38). "Alle heilbaren Krankheiten können vom Arzt an ihren Zei<strong>ch</strong>en und Symptomen<br />
erkannt werden." (55). Kent nennt die Symptome die "Spra<strong>ch</strong>e der Natur" (321).<br />
Krankheit in diesem Sinne ist ursä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> eine Störung im inneren Mens<strong>ch</strong>en, die - wie<br />
ein ins Wasser gefallener Stein - ihre Kreise bis zur Peripherie des materiellen Organismus<br />
zieht. Störungen, die dort ni<strong>ch</strong>t aus der Lebenskraft resultieren, ni<strong>ch</strong>t von innen<br />
verursa<strong>ch</strong>t werden, sollten Verletzungen genannt werden, ni<strong>ch</strong>t Krankheiten. Kent<br />
s<strong>ch</strong>reibt: "Wenn nur das Äußere des Mens<strong>ch</strong>en beeinflußt wird, ist seine Lebenskraft<br />
nur vorübergehend gestört." (133).<br />
2.3. Der Gemütsbegriff<br />
Der geistige Ursprungsort der Krankheiten ist das Gemüt (mens). Kents Gemütsbegriff<br />
glei<strong>ch</strong> demjenigen Swedenborgs vollkommen: "Die Verbindung von Willen und<br />
Verstand ma<strong>ch</strong>t den eigentli<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en aus." (18). "Deshalb hat der Arzt nur den<br />
inneren Mens<strong>ch</strong>en in Ordnung zu bringen, das heißt Wollen und Denken miteinander<br />
zu verbinden." (20). Hahnemann stellte fest, "der Geist sei der S<strong>ch</strong>lüssel zum Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Allen seinen Na<strong>ch</strong>folgern haben si<strong>ch</strong> die Gemütssymptome als die wi<strong>ch</strong>tigsten<br />
im Arzneimittel- wie im Krankheitsbild erwiesen. Der Mens<strong>ch</strong> besteht aus dem, was er<br />
denkt und was er liebt, aus sonst ni<strong>ch</strong>ts." (24). "Das erste am Mens<strong>ch</strong>en ist sein Willen,<br />
das zweite sein Verstand, das letzte sein Äußeres bis zu seiner Peripherie, seinen Organen,<br />
Haut, Haaren, Nägel usw." (31). "Im Mens<strong>ch</strong>en liegt diese zentrale Leitung im Gehirn,<br />
und von ihm aus werden alle Nervenzellen beherrs<strong>ch</strong>t." (39). "Dur<strong>ch</strong> göttli<strong>ch</strong>e<br />
Ausstattung hat der Mens<strong>ch</strong> in si<strong>ch</strong> ein primäres Ordnungszentrum, das in der grauen<br />
Substanz des Gehirns angeordnet ist." (50). "Denken und Wollen bilden einen Zustand<br />
im Mens<strong>ch</strong>en, der den Zustand, in dem er si<strong>ch</strong> befindet, erkennen läßt. Solange der<br />
Mens<strong>ch</strong> das denkt, was wahr ist und an dem, was für alle seine Na<strong>ch</strong>barn gut ist, an<br />
Aufri<strong>ch</strong>tigkeit und Gere<strong>ch</strong>tigkeit festhält, so lange wird der Mens<strong>ch</strong> auf Erden frei sein<br />
von der Anfälligkeit für Krankheit, denn das war der Zustand, für den er ers<strong>ch</strong>affen war.<br />
Solange er si<strong>ch</strong> in diesem Stand hielt und seine Integrität wahrte, blieb er unempfängli<strong>ch</strong><br />
für Krankheit und würde kein Fluidum verbreiten, das zur Infektion führt. Do<strong>ch</strong> als<br />
der Mens<strong>ch</strong> anfing, Dinge zu wollen, die seinem fals<strong>ch</strong>en Denken entsprangen, geriet er<br />
in einen Zustand, der seinem Inneren ganz entspra<strong>ch</strong>. So wie sein Willen und Verstand<br />
sind, wird au<strong>ch</strong> das Äußere des Mens<strong>ch</strong>en sein. So wie das Leben oder der Wille ist<br />
au<strong>ch</strong> der Körper des Mens<strong>ch</strong>en, und da beide auf dieser Erde eines sind, wird von ihm
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 76<br />
eine Aura entwickelt, die verderbt, entspre<strong>ch</strong>end seinem Weg von der Tugend und Gere<strong>ch</strong>tigkeit<br />
zum Bösen" (206).<br />
Jeder Kenner hört aus diesen Aussagen Kents die Stimme Swedenborgs spre<strong>ch</strong>en. Denno<strong>ch</strong><br />
seien die folgenden Verglei<strong>ch</strong>stexte aus den Werken des Sehers zitiert. Das Gemüt<br />
(mens) definiert er folgendermaßen: "Zwei Anlagen bestimmen das Leben des Mens<strong>ch</strong>en,<br />
Wille und Verstand genannt. Sie unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> zwar voneinander, sind aber<br />
do<strong>ch</strong> so bes<strong>ch</strong>affen, daß sie eine Einheit darstellen sollen, und wenn das der Fall ist,<br />
werden sie als Gemüt bezei<strong>ch</strong>net. Sie bilden daher das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gemüt, und auf ihnen<br />
beruht das ganze Leben des Mens<strong>ch</strong>en." (NJ 28). Bei wiedergeborenen (geistig regenerierten)<br />
Mens<strong>ch</strong>en wird das gespaltene Gemüt wieder eine Ganzheit: "Beim wiedergeborenen<br />
Mens<strong>ch</strong>en bilden Verstand und Wille ein (ganzheitli<strong>ch</strong>es) Gemüt." (HG<br />
9300). Das Gemüt (der Mentalberei<strong>ch</strong>) hat seinen Sitz im Gehirn (GLW 273). "Der Wille<br />
zusammen mit dem Verstand ist im Gehirn in seinen Anfängen und im Körper in seinen<br />
Ableitungen" (GLW 403). Kent und seinen S<strong>ch</strong>ülern haben si<strong>ch</strong> die Gemütssymtome<br />
von daher als die beherrs<strong>ch</strong>enden eingeprägt. Das ist aus swedenborgs<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t na<strong>ch</strong>vollziehbar,<br />
denn die Anfänge des körperli<strong>ch</strong>en Prozesses (Physiologie) liegen in der<br />
Mentalstruktur (Gemüt) des Mens<strong>ch</strong>en. Es gibt eine "Entspre<strong>ch</strong>ung zwis<strong>ch</strong>en Gemüt<br />
und Körper" (GLW 273). "Weil der Mens<strong>ch</strong> ein Himmel und au<strong>ch</strong> eine Welt in kleinster<br />
Gestalt ist, na<strong>ch</strong> dem Bilde des größten … darum findet si<strong>ch</strong> bei ihm sowohl die geistige<br />
als au<strong>ch</strong> die natürli<strong>ch</strong>e Welt: die innerli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong>e, die zu seinem Gemüt gehören<br />
und si<strong>ch</strong> auf Verstand und Willen beziehen, bilden seine geistige Welt, die äußerli<strong>ch</strong>en<br />
aber, die seinem Körper angehören und si<strong>ch</strong> auf dessen Sinne und Handlungen beziehen,<br />
stellen seine natürli<strong>ch</strong>e Welt dar. Als Entspre<strong>ch</strong>endes wird daher alles bezei<strong>ch</strong>net,<br />
was in seiner natürli<strong>ch</strong>en Welt, also in seinem Körper und dessen Sinnen und Handlungen,<br />
aus seiner geistigen Welt heraus entsteht, also aus seinem Gemüt und dessen<br />
Verstand und Willen." (HH 90).<br />
Swedenborg geht von der Leibli<strong>ch</strong>keit des Geistigen (Geistleibli<strong>ch</strong>keit) aus, die au<strong>ch</strong> bei<br />
Kent zum Vors<strong>ch</strong>ein kommt. Im folgenden Text erwähnt Kent die innere Lunge:<br />
"S<strong>ch</strong>windsu<strong>ch</strong>t ist ein tuberkulöser Zustand der Lunge, der aber seinerseits die Folge<br />
von Störungen des inneren Mens<strong>ch</strong>en ist, die in der 'inneren' Lunge wirken, lange vor<br />
dem Zusammenbru<strong>ch</strong> der Gewebe." (70). "Als wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Homöopathen müssen<br />
wir erkennen, daß die Muskeln, Nerven, Bänder und die anderen Teile des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Körpers ein Bild sind, das dem einsi<strong>ch</strong>tigen Arzt den inneren Mens<strong>ch</strong>en offenbart.<br />
Man kann ni<strong>ch</strong>t vom toten Körper her das Leben verstehen, sondern muß den Körper<br />
vom Leben her begreifen." (18f). Die geistige Leibli<strong>ch</strong>keit, die si<strong>ch</strong> unsi<strong>ch</strong>tbar unseren<br />
materiellen Augen während des Erdenlebens entwickelt (Prozess der Wiedergeburt),<br />
tritt na<strong>ch</strong> der Trennung des Geistlebens von der materiellen Leibli<strong>ch</strong>keit (also na<strong>ch</strong> dem<br />
sogenannten Tod) in Ers<strong>ch</strong>einung. Aufgrund jahrzehntelanger spiritueller Erfahrungen
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 77<br />
versi<strong>ch</strong>ert uns Swedenborg: "Die Gestalt des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Geistes ist die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e.<br />
Mit anderen Worten: der Geist ist au<strong>ch</strong> hinsi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong> seiner Gestalt Mens<strong>ch</strong>." (HH 453).<br />
Dieser geistigen Leibli<strong>ch</strong>keit gelten die homöopathis<strong>ch</strong>en Heilbemühungen; der materielle<br />
Körper profitiert ledigli<strong>ch</strong> davon.<br />
2.4. Kents methodis<strong>ch</strong>er Halt beim Gemütsbegriff und Swedenborgs<br />
Höllenreise<br />
Kent gibt deutli<strong>ch</strong> zu verstehen, daß er bei seiner Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> den geistigen Ursa<strong>ch</strong>en<br />
der Krankheiten über den Gemütsbegriff ni<strong>ch</strong>t hinausgehen mö<strong>ch</strong>te: "Wir haben ni<strong>ch</strong>t<br />
die Absi<strong>ch</strong>t bis jenseits von Wollen und Denken vorzudringen" (18). Kent ma<strong>ch</strong>t offenbar<br />
aus methodis<strong>ch</strong>en Gründen, um ni<strong>ch</strong>t ins Uferlose abzugleiten, beim Gemütsbegriff<br />
Halt und nimmt ihn als relativen Anfangspunkt seiner Theorie des homöopathis<strong>ch</strong>en<br />
Heilens.<br />
Do<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> Swedenborg steht das Gemüt mit Geistern in Verbindung, so dass die Ursa<strong>ch</strong>en<br />
der Krankheiten bis in die Welt der Geister zurückverfolgt werden können. Dazu<br />
die folgende Kostprobe: "Alle Höllengeister führen Krankheiten herbei, (wiewohl mit<br />
Unters<strong>ch</strong>ied,) aus dem Grund, weil alle Höllen in den Lüsten und Begierden des Bösen<br />
sind, mithin im Gegensatz zu dem, was dem Himmel angehört. Daher wirken sie aus<br />
dem Gegensatz auf den Mens<strong>ch</strong>en ein. Der Himmel, wel<strong>ch</strong>er der Größte Mens<strong>ch</strong> ist, erhält<br />
alles im Zusammenhang und im unversehrten Stand; die Hölle, weil sie den Gegensatz<br />
bildet, zerstört und zerreißt alles. Wenn daher höllis<strong>ch</strong>e Geister nahe gebra<strong>ch</strong>t werden<br />
(applicantur), führen sie Krankheiten und zuletzt den Tod herbei. Aber es wird ihnen<br />
ni<strong>ch</strong>t zugelassen, bis in die eigentli<strong>ch</strong>en festen Teile des Leibes einzufließen, au<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t in die Teile, aus denen die Eingeweide, Organe und Glieder des Mens<strong>ch</strong>en bestehen,<br />
sondern nur in die Lüste und Fals<strong>ch</strong>heiten. Nur wenn der Mens<strong>ch</strong> in eine Krankheit<br />
fällt, dann fließen sie in sol<strong>ch</strong>e Unreinigkeiten ein, die der Krankheit angehören;<br />
denn es existiert dur<strong>ch</strong>aus ni<strong>ch</strong>ts beim Mens<strong>ch</strong>en, wenn ni<strong>ch</strong>t au<strong>ch</strong> eine Ursa<strong>ch</strong>e in der<br />
geistigen Welt vorhanden ist. Wäre das Natürli<strong>ch</strong>e beim Mens<strong>ch</strong>en vom Geistigen getrennt,<br />
so wäre es von aller Ursa<strong>ch</strong>e der Existenz, somit au<strong>ch</strong> von aller Lebenskraft (vitali)<br />
getrennt. Dies hindert jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, daß der Mens<strong>ch</strong> auf natürli<strong>ch</strong>e Weise geheilt<br />
werden kann, denn mit sol<strong>ch</strong>en Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen. Daß<br />
es si<strong>ch</strong> so verhält, wurde mir dur<strong>ch</strong> viele Erfahrung zu wissen gegeben, und zwar so oft<br />
und so lange, daß gar kein Zweifel übrig blieb. Es wurden mir nämli<strong>ch</strong> böse Geister aus<br />
sol<strong>ch</strong>en Orten oft und lange nahe gebra<strong>ch</strong>t, und je na<strong>ch</strong> ihrer Gegenwart verursa<strong>ch</strong>ten<br />
sie S<strong>ch</strong>merzen und au<strong>ch</strong> Krankheiten. Es wurde mir gezeigt, wo sie waren und von wel<strong>ch</strong>er<br />
Art sie waren, und es wurde au<strong>ch</strong> gesagt, woher sie waren. Ein Gewisser, der bei<br />
Leibesleben ein sehr großer Ehebre<strong>ch</strong>er gewesen war und seine größte Lust darin gesu<strong>ch</strong>t<br />
hatte, mit mehreren Frauen die Ehe zu bre<strong>ch</strong>en, die er (aber) glei<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong>her ver-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 78<br />
stieß und vers<strong>ch</strong>mähte, derselbe setzte ein sol<strong>ch</strong>es Leben bis in sein Greisenalter fort.<br />
Überdies war er au<strong>ch</strong> dem Wohlleben ergeben, und wollte niemand Gutes tun und einen<br />
Dienst leisten, außer um seiner selbst willen, und hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> seines ehebre<strong>ch</strong>eris<strong>ch</strong>en<br />
Treibens wegen. Derselbe war (na<strong>ch</strong> seinem Tod) einige Tage bei mir; er ers<strong>ch</strong>ien<br />
unter den Füßen, und als mir die Sphäre seines Lebens mitgeteilt wurde, erregte er,<br />
wohin er nur kam, in den Kno<strong>ch</strong>enhäuten und den Nerven daselbst einen S<strong>ch</strong>merz, so<br />
namentli<strong>ch</strong> in den Zehen an der linken Fußsohle; und als ihm zugelassen wurde, weiter<br />
hinaufzudringen, au<strong>ch</strong> in den Teilen, wo er jeweils war, hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> in den Kno<strong>ch</strong>enhäuten<br />
der Lenden, ferner in den Häuten der Brustbeine unter dem Zwer<strong>ch</strong>fell, wie au<strong>ch</strong><br />
in den Zähnen von innen her. Während seine Sphäre wirkte, verursa<strong>ch</strong>te er au<strong>ch</strong> dem<br />
Magen eine große Bes<strong>ch</strong>werde." (HG 5713f).<br />
2.5. Der Mens<strong>ch</strong> als Bürger zweier Welten<br />
Es kann hier nur angedeutet werden, daß hinter dem Verständnis von Gesundheit und<br />
Krankheit, das Swedenborg und Kent vortragen, eine Anthropologie steht, die den Mens<strong>ch</strong>en<br />
als einen Bürger zweier Welten sieht. Der Mens<strong>ch</strong> ist dasjenige Wesen, das genau<br />
auf die S<strong>ch</strong>nittstelle zwis<strong>ch</strong>en dem materiellen und dem geistigen Kosmos gestellt<br />
worden ist. Bezügli<strong>ch</strong> der materiellen S<strong>ch</strong>öpfung ist der Mens<strong>ch</strong> dessen Krone; aber mit<br />
Blick auf die von ihm nur geahnten geistigen Welten ist er ni<strong>ch</strong>t viel mehr als ein Embryo<br />
im Mutterleib. Swedenborg s<strong>ch</strong>reibt: "Der Mens<strong>ch</strong> ist ges<strong>ch</strong>affen, um glei<strong>ch</strong>zeitig<br />
in der geistigen und in der natürli<strong>ch</strong>en Welt zu sein." (NJ 36). Kent vertritt ebenfalls<br />
diese Lehre Swedenborgs von den Dualwelten: "Dem Mens<strong>ch</strong>en kommen zwei Welten<br />
zum Bewußtsein: Die Welt der Gedanken und die Welt der Materie; also die der immateriellen<br />
Substanz, und die der materiellen Substanz." (99). "Es gibt zwei Rei<strong>ch</strong>e oder<br />
Welten: Die Welt der Ursa<strong>ch</strong>en und die Welt der Konsequenzen 44 . In dieser äußeren<br />
oder physikalis<strong>ch</strong>en Welt können wir nur mit den Augen sehen, mit den Fingern fühlen,<br />
mit der Nase rie<strong>ch</strong>en, mit den Ohren hören. Sol<strong>ch</strong>er Art ist das Rei<strong>ch</strong> der Auswirkungen.<br />
Die Welt der Ursa<strong>ch</strong>e ist unsi<strong>ch</strong>tbar, ni<strong>ch</strong>t mit den fünf Sinnen zu entdecken. Es ist<br />
die Gedankenwelt und sie kann nur dur<strong>ch</strong> Verstehen entdeckt werden. Was wir um uns<br />
sehen, ist nur die Welt des Endli<strong>ch</strong>en, aber die Welt der Ursa<strong>ch</strong>e ist unsi<strong>ch</strong>tbar." (110).<br />
"Die beiden Welten, die der Bewegung, der Kraft und die der Trägheit, existieren zusammen.<br />
Da ist eine Welt des Lebens und eine der toten Materie. Das Rei<strong>ch</strong> der Gedanken<br />
und das der Materie sind die Rei<strong>ch</strong>e der Ursa<strong>ch</strong>e und der Wirkung." (126).<br />
44 I<strong>ch</strong> habe an dieser Stelle die Übersetzung von Dr. med. Jost Künzli von Fimmelsberg berücksi<strong>ch</strong>tigt,<br />
weil hier der Zusammenhang mit Swedenborgs Welt der Wirkungen deutli<strong>ch</strong>er wird.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 79<br />
2.6. Ursa<strong>ch</strong>e und Wirkung<br />
Die Dualweltentheorie führt zu einem gegenüber dem gewöhnli<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>gebrau<strong>ch</strong><br />
veränderten Verständnis von Ursa<strong>ch</strong>e und Wirkung. Wer wie Swedenborg die höheren<br />
Welten ges<strong>ch</strong>aut und erfahren hat, der weiß: UR-Sa<strong>ch</strong>en im e<strong>ch</strong>ten Sinne des Wortes<br />
gibt es auf der materiellen Ebene nirgends. Hier gibt es nur Wirkungen, und was wir<br />
hier Ursa<strong>ch</strong>e nennen, das sollte besser VOR-Gang (das, was einem bestimmten Ereignis<br />
vorangeht), Dur<strong>ch</strong>führung oder von mir aus au<strong>ch</strong> äußere Ursa<strong>ch</strong>e genannt werden. Dieser<br />
swedenborgs<strong>ch</strong>en Einsi<strong>ch</strong>t entspre<strong>ch</strong>end s<strong>ch</strong>reibt Kent: "Alles und jedes, was vor<br />
unseren Augen ers<strong>ch</strong>eint, ist nur die Verkörperung seiner Ursa<strong>ch</strong>en, und es gibt keine<br />
anderen Ursa<strong>ch</strong>en als die inneren." (68). "alles, was man sehen, fühlen, beoba<strong>ch</strong>ten<br />
oder mit dem Mikroskop erfassen kann, ist äußerli<strong>ch</strong> und Auswirkung." (135). "Innere<br />
Übel fließen ab in die äußere Ers<strong>ch</strong>einungsform und die Homöopathie wird fortfahren,<br />
sie mehr und mehr hervorzutreiben und vers<strong>ch</strong>afft damit dem Organismus eine verhältnismäßig<br />
große Freiheit." (213). Die Homöopathie unterstützt das In-Ers<strong>ch</strong>einung-<br />
Treten von Krankheiten auf der körperli<strong>ch</strong>en Ebene. Der vertikale Ursa<strong>ch</strong>enbegriff - der<br />
Gegensatz dazu wäre der horizontale Ursa<strong>ch</strong>enbegriff, der VOR-Gänge in der Raum-Zeit-<br />
Welt mit UR-Sa<strong>ch</strong>en verwe<strong>ch</strong>selt - führt zu einer Kette des Seienden. Dazu Kent: "Alles<br />
geht von Ihm (Gott) aus und die ganze Kette vom Hö<strong>ch</strong>sten bis zur letzten Materie ist<br />
auf diese Weise verbunden." (98f). "Ni<strong>ch</strong>ts kann existieren, wenn seine Ursa<strong>ch</strong>e ni<strong>ch</strong>t<br />
ständig in es hineinströmt." (99).<br />
Einige Verglei<strong>ch</strong>stexte aus den Werken Swedenborgs belegen au<strong>ch</strong> in diesem Punkt die<br />
Parallelität der Ans<strong>ch</strong>auungen: Die Naturalisten (Materialisten) "bedenken ni<strong>ch</strong>t, daß<br />
das Bestehen ein immerwährendes Entstehen ist oder, was das glei<strong>ch</strong>e, daß die Fortpflanzung<br />
eine immerwährende S<strong>ch</strong>öpfung ist und bedenken ni<strong>ch</strong>t, daß die Wirkung die<br />
Fortdauer der Ursa<strong>ch</strong>e ist, und daß, wenn die Ursa<strong>ch</strong>e aufhört, au<strong>ch</strong> die Wirkung aufhört,<br />
und daß daher jede Wirkung ohne den Einfluß der Ursa<strong>ch</strong>e urplötzli<strong>ch</strong> zuni<strong>ch</strong>te<br />
wird." (HG 5116). "Alle Dinge in der natürli<strong>ch</strong>en Welt sind Wirkungen, während alle<br />
Dinge in der geistigen Welt Ursa<strong>ch</strong>en dieser Wirkungen sind. Etwas Natürli<strong>ch</strong>es, das<br />
seinen Ursprung ni<strong>ch</strong>t aus Geistigen hätte, gibt es ni<strong>ch</strong>t." (GLW 134). Diesen Ursa<strong>ch</strong>enbegriff<br />
wendet Swedenborg au<strong>ch</strong> auf die Krankheiten an: "Weil von der Entspre<strong>ch</strong>ung<br />
der Krankheiten gehandelt werden soll, so muß man wissen, daß au<strong>ch</strong> alle Krankheiten<br />
im Mens<strong>ch</strong>en eine Entspre<strong>ch</strong>ung mit der geistigen Welt haben; denn was in der ganzen<br />
Natur keine Entspre<strong>ch</strong>ung hat mit der geistigen Welt, das kann ni<strong>ch</strong>t existieren, denn<br />
es hat keine Ursa<strong>ch</strong>e, aus der es entsteht, folgli<strong>ch</strong> (au<strong>ch</strong> keine), kraft derer es besteht."<br />
(HG 5711).<br />
Aus dem Gesagten ist klar, daß Bazillen, die ja Ers<strong>ch</strong>einungen auf der materiellen Daseinsebene<br />
sind, ni<strong>ch</strong>t die Ursa<strong>ch</strong>en, sondern nur die Bedingungen für das Auftreten
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 80<br />
von Krankheiten sein können. In diesem Milieu kann si<strong>ch</strong> die s<strong>ch</strong>on vorher, ursä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong><br />
vorhandene Krankheit verwirkli<strong>ch</strong>en oder auswirken. Kent: "Sobald der Mens<strong>ch</strong> ein liederli<strong>ch</strong>es<br />
Leben führt, ist er anfällig für äußere Einflüsse und je liederli<strong>ch</strong>er er lebt, desto<br />
anfälliger wird er für die Atmossphäre, in der er lebt. Wenn er liederli<strong>ch</strong> denkt, dann<br />
lebt er au<strong>ch</strong> liederli<strong>ch</strong> und ma<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> krank dur<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Gewohnheiten im Denken<br />
und Handeln. Diesen gestörten Gemütszustand hat Hahnamann sehr si<strong>ch</strong>er erkannt,<br />
denn er lehrt uns immer wieder, daß besonders auf den Gemütszustand zu a<strong>ch</strong>ten ist."<br />
(68). "Der Mens<strong>ch</strong> wird ni<strong>ch</strong>t aus äußerem Anlaß krank. Weder dur<strong>ch</strong> Bakterien no<strong>ch</strong><br />
dur<strong>ch</strong> die Umgebung, sondern aus Ursa<strong>ch</strong>en, die in ihm selbst liegen." (39). "Die Unordnung<br />
kommt von innen, aber viele Störungen, die diese Unordnung vers<strong>ch</strong>limmern,<br />
kommen von außen." (56). "Bazillen sind keine Krankheitsursa<strong>ch</strong>e, sie kommen immer<br />
erst im Gefolge der Krankheit." (70). "Der Einsatz der feinsten Präzisionsinstrumente<br />
ermögli<strong>ch</strong>t uns das Erkennen der feinsten Krankheitsauswirkungen, die das Ergebnis<br />
der immateriellen Dinge sind, wie zum Beispiel die Bakterien, die feinste Form tieris<strong>ch</strong>en<br />
oder pflanzli<strong>ch</strong>en Lebens. Aber die Ursa<strong>ch</strong>e der Krankheit ist millionenfa<strong>ch</strong> subtiler<br />
als diese und ist dem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Auge unerrei<strong>ch</strong>bar. Die feinsten si<strong>ch</strong>tbaren Dinge<br />
sind nur Auswirkungen der no<strong>ch</strong> viel feineren Dinge, so daß die Ursa<strong>ch</strong>e bei letzteren<br />
bleibt." (114). "Bakterien können Ursa<strong>ch</strong>en enthalten, weil die Ursa<strong>ch</strong>en bis ins Äußere<br />
hinaus wirken. Aber die erste Ursa<strong>ch</strong>e ist ni<strong>ch</strong>t der Bazillus, dieser selbst hat seine<br />
Ursa<strong>ch</strong>en." (166).<br />
2.7. Die Substanzialität des Geistigen<br />
Dem Materialismus ist das Geistige immer nur ein Epiphänomen der Materie des Gehirns.<br />
Aus der erwiesenen Abhängigkeit geistiger Prozesse vom Gehirn folgert man, daß<br />
der Geist ni<strong>ch</strong>t unabhängig von jener Grauen Substanz existieren kann. Dieser S<strong>ch</strong>luß<br />
ist freili<strong>ch</strong> genauso töri<strong>ch</strong>t wie der, daß Autofahrer keine Fußgänger sein können, nur<br />
weil sie als Autofahrer immer im Auto anzutreffen sind und jeder Motors<strong>ch</strong>aden dem<br />
Autofahrerdasein ein Ende bereitet. Swedenborg hingegen spri<strong>ch</strong>t von der Substanzialität<br />
des Geistigen. "Die göttli<strong>ch</strong>e Liebe und die göttli<strong>ch</strong>e Weisheit ist Substanz und<br />
Form." (GLW 40). Die Substanzialität des Geistigen finden wir au<strong>ch</strong> bei Kent: "Substanz<br />
in geistartiger Form ist ebenso eindeutig Substanz, wie in konkreter Form der Materie."<br />
(96). "Kann si<strong>ch</strong> der Mens<strong>ch</strong> Energie als etwas Substanzhaftes vorstellen, dann kann er<br />
si<strong>ch</strong> besser etwas Substanzhaftes vorstellen, das Energie besitzt." (97). "Wir werden<br />
dur<strong>ch</strong> fortgesetzte Bes<strong>ch</strong>äftigung mit der Frage na<strong>ch</strong> der immateriellen Substanz sehen,<br />
daß wir einigen Grund haben festzustellen, daß Energie ni<strong>ch</strong>t Energie aus si<strong>ch</strong> heraus<br />
ist, sondern daß es eine kraftvolle Substanz ist, die uns von der Intelligenz ges<strong>ch</strong>enkt<br />
wird, die selbst eine Substanz ist." (98).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 81<br />
Die Homöopathie heilt, indem sie beim Kranken Substanzen ergänzt. Die Potenzierung<br />
der Materia medica dient ihrer Substanzialisierung. Kent: "Wir potenzieren unsere Mittel<br />
au<strong>ch</strong> um zu ihrem feinstoffli<strong>ch</strong>en Gehalt vorzudringen, das heißt, zum Wesen und<br />
der Qualität des Mittels selbst. Damit ein Mittel homöopathis<strong>ch</strong> wird, muß es zur Qualität<br />
und zur Wirkung der Krankheitsursa<strong>ch</strong>e ähnli<strong>ch</strong> sein." (111). Na<strong>ch</strong> Swedenborg liegt<br />
aller Materie ursprüngli<strong>ch</strong> Substanz zugrunde: "Das Materielle hat seinen Ursprung im<br />
Substanziellen (materialia suam originem ducunt ex substantialibus)" (EL 207). "Das<br />
Substantielle ist der Anfang des Materiellen." (EL 328). Die Krankheit entsteht auf der<br />
seelis<strong>ch</strong>-substantiellen Ebene und pflanzt si<strong>ch</strong> von dort aus na<strong>ch</strong> unten fort. Homöopathis<strong>ch</strong>es<br />
Heilen will den Kranken dort errei<strong>ch</strong>en, wo er ursä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> krank ist.<br />
Die Weisheit der Alten sah im Geist die Ursa<strong>ch</strong>e der Materie. Die Neuzeit hingegen<br />
sieht in der Materie die Ursa<strong>ch</strong>e für den Geist und leugnet jede Form von Metaphysik.<br />
Swedenborg ebenso wie die Homöopathie und ihre großen Denker werden erst dann eine<br />
Renaissance erleben, wenn der Geist wieder als das anerkannt wird, was er ist: die<br />
Ursa<strong>ch</strong>e aller Dinge.<br />
Homöopathie und die Neue Kir<strong>ch</strong>e<br />
von Elinore Peebles<br />
Viele Gemeinsamkeiten bestehen zwis<strong>ch</strong>en Emanuel Swedenborg, dem religiösen Reformer,<br />
und Samuel Hahnemann, dem medizinis<strong>ch</strong>en Rebell. Beide besaßen eine beinahe<br />
unbegrenzte Neugier und einen fähigen Verstand gepaart mit einer geistigen Vision,<br />
und beide widmeten si<strong>ch</strong> dem Dienst an der Mens<strong>ch</strong>heit, Swedenborg in seiner Su<strong>ch</strong>e<br />
na<strong>ch</strong> der wahren Bedeutung unseres Lebens auf Erden und unseres geistigen Wa<strong>ch</strong>stums<br />
dur<strong>ch</strong> die Wiedergeburt und Hahnemann in seinem Streben na<strong>ch</strong> Verständnis<br />
und Heilung von Krankheit. Beide wirkten na<strong>ch</strong>haltig auf das spätere religiöse und medizinis<strong>ch</strong>e<br />
Denken. Swedenborgs S<strong>ch</strong>riften haben die dogmatis<strong>ch</strong>e Theologie der Vergangenheit<br />
herausgefordert und verändert, und Hahnemann bra<strong>ch</strong> die Herrs<strong>ch</strong>aft der<br />
wirkungslosen und oft tödli<strong>ch</strong>en medizinis<strong>ch</strong>en Praxis seiner Tage.<br />
Meine früheste Erinnerung daran, von einer mögli<strong>ch</strong>en Beziehung zwis<strong>ch</strong>en der Homöopathie<br />
und der Neuen Kir<strong>ch</strong>e gehört zu haben, führt mi<strong>ch</strong> in mein siebentes Lebensjahr<br />
zurück, als i<strong>ch</strong> erstmals bei sonntägli<strong>ch</strong>en Versammlungen von Homöopathen der näheren<br />
Umgebung anwesend war, die si<strong>ch</strong> im Büro meines Vaters trafen, um Arzneimittel<br />
vorzubereiten und Aufzei<strong>ch</strong>nungen ihrer Fälle zu verglei<strong>ch</strong>en. Von den Fünfen, die<br />
mehr oder weniger regelmäßig kamen, waren drei Swedenborgianer, so dass sie gut<br />
qualifiziert waren, die beiden Disziplinen zu verglei<strong>ch</strong>en. Ziemli<strong>ch</strong> früh lernte i<strong>ch</strong>, diese
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 82<br />
Verbindung als eine Tatsa<strong>ch</strong>e meines Lebens zu akzeptieren, und als i<strong>ch</strong> heranwu<strong>ch</strong>s,<br />
ging i<strong>ch</strong> anderen Leuten damit auf die Nerven, bis eines Tages ein Verwandter, der uns<br />
besu<strong>ch</strong>te, sagte: "Hört auf meine liebe Cousine, eine gute Swedenborgianerin und Hahnemannianerin!<br />
Hört man sie so reden, dann könnte man glauben, Homöopathie lasse<br />
Tote auferstehen."<br />
Dana<strong>ch</strong> erwarb i<strong>ch</strong> etwas mehr Zurückhaltung und begann mit Constantin Hering übereinzustimmen,<br />
dem "Vater der amerikanis<strong>ch</strong>en Homöopathie," der "Herings Gesetz"<br />
formulierte und 1850 ges<strong>ch</strong>rieben haben soll: "Während die Swedenborgianer aus gutem<br />
Grund eine homöopathis<strong>ch</strong>e Behandlung bevorzugen dürften, gibt es überhaupt<br />
keinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer sein sollten." 45 Er fühlte,<br />
dass es die Wissens<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t nötig hatte, si<strong>ch</strong> selbst dur<strong>ch</strong> eine religiöse Lehre zu beweisen<br />
und es daher au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t versu<strong>ch</strong>en sollte. Denno<strong>ch</strong> war er, als ein Mitglied der<br />
Neuen Kir<strong>ch</strong>e in Philadelphia, jederzeit bereit, die philosophis<strong>ch</strong>en Ähnli<strong>ch</strong>keiten zu<br />
diskutieren, wie es au<strong>ch</strong> viele seiner Kollegen waren.<br />
Über diesen Gegenstand gibt es einige interessante Bros<strong>ch</strong>üren in der Bü<strong>ch</strong>erei der<br />
Swedenborg S<strong>ch</strong>ool of Religion in Newton, Massa<strong>ch</strong>usetts. Insbesondere eine, "A Defense<br />
of Homeopythy against its New Chur<strong>ch</strong> Assailants" 46 (Eine Verteidigung der Homöopathie<br />
gegen ihre neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gegner), ist von besonderem Interesse. Hering ebenso<br />
wie Ri<strong>ch</strong>ard de Charms lieferten Beiträge dazu. Dr. William Holcombe, der später ein<br />
Mitglied der Neuen Kir<strong>ch</strong>e in Cincinnati wurde, nahm die negative Position sehr na<strong>ch</strong>drückli<strong>ch</strong><br />
ein, indem er s<strong>ch</strong>rieb, dass er viele Jahre lang ein allopathis<strong>ch</strong>er Arzt gewesen<br />
sei und die Absi<strong>ch</strong>t habe, ein sol<strong>ch</strong>er für den Rest seines Lebens zu bleiben. Denno<strong>ch</strong><br />
wurde er 1851 ein homöopathis<strong>ch</strong>er Arzt, der nun mit derselben Leidens<strong>ch</strong>aft zu ihrer<br />
Verteidigung s<strong>ch</strong>rieb und, gemäß seiner Biographie, so gründli<strong>ch</strong> konvertierte, dass er<br />
als der "Vater der südli<strong>ch</strong>en Homöopathie" bekannt ist.<br />
Constantin Hering wurde von der medizinis<strong>ch</strong>en Vereinigung beauftragt, die Homöopathie<br />
als einen medizinis<strong>ch</strong>en Irrweg zu entlarven, aber er musste Deuts<strong>ch</strong>land verlassen,<br />
als ihn seine Na<strong>ch</strong>fors<strong>ch</strong>ungen veranlassten, diese Heilweise tiefergehend zu studieren<br />
und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> genau die Wissens<strong>ch</strong>aft zu praktizieren, die er in Verruf bringen<br />
sollte. Klugerweise ging er na<strong>ch</strong> Amerika. De Charms erzählt uns, dass Hering, ein Lutheraner,<br />
von einem lutheris<strong>ch</strong>en Geistli<strong>ch</strong>en bes<strong>ch</strong>uldigt wurde, mit den Worten, "dass<br />
er als ein Homöopath, den Teufel mit Beelzebub, dem Obersten der Teufel, austreibe." 47<br />
45 Constantin Hering, in Ri<strong>ch</strong>ard de Charms, Homeopathy and the New Chur<strong>ch</strong>, Bros<strong>ch</strong>üre in der Bü<strong>ch</strong>erei<br />
der Swedenborg S<strong>ch</strong>ool of Religion, Newton, Mass.<br />
46 Ri<strong>ch</strong>ard de Charms, A Defense of Homeopathy against its New Chur<strong>ch</strong> Assailants (Philadelphia: New<br />
Jerusalem Press, 1854).<br />
47 ebenda S. 6.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 83<br />
Vor vielen Jahren, als mein Interesse an diesem Gegenstand erwa<strong>ch</strong>te, überras<strong>ch</strong>te<br />
mi<strong>ch</strong> die Entdeckung der großen Anzahl homöopathis<strong>ch</strong>er Ärzte, die, mit meinen Worten<br />
gesagt, "unkir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Swedenborgianer" waren. Denn, obglei<strong>ch</strong> nur eine Minderheit<br />
aktive Kir<strong>ch</strong>enmitglieder waren, glaubten sehr viel mehr, dass die Vertrautheit mit<br />
Swedenborgs S<strong>ch</strong>riften hilfrei<strong>ch</strong> in der Ausübung ihrer homöopathis<strong>ch</strong>en Therapien sei.<br />
Indem i<strong>ch</strong> über Homöopathie s<strong>ch</strong>reibe, besonders für jene, die womögli<strong>ch</strong> wenig von ihr<br />
wissen, s<strong>ch</strong>eint es sinnvoll, mit der Einführung des Gründers dieser Wissens<strong>ch</strong>aft zu<br />
beginnen. Samuel Hahnemann wurde in Meißen in Sa<strong>ch</strong>sen 1755 als das älteste Kind<br />
einer großen und armseligen Familie geboren. Sein Vater, ein Prozellanarbeiter, s<strong>ch</strong>eint<br />
besondere Qualitäten bei seinem Sohn erkannt zu haben. Er ermutigte sein Interesse an<br />
der Natur, gab ihm Unterri<strong>ch</strong>t im Denken, lehrte ihn, na<strong>ch</strong> Gründen in allen Dingen zu<br />
s<strong>ch</strong>auen und unterstützte seinen Wuns<strong>ch</strong>, Arzt zu werden.<br />
Hahnemann arbeitete si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> zwei Jahre vormedizinis<strong>ch</strong>er Studien, indem er einem<br />
wohlhabenden Grie<strong>ch</strong>en Deuts<strong>ch</strong> und Französis<strong>ch</strong> lehrte und englis<strong>ch</strong>e Bü<strong>ch</strong>er ins<br />
Deuts<strong>ch</strong>e übersetzte. Mit einigen finanziellen S<strong>ch</strong>wierigkeiten bra<strong>ch</strong>te er si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> die<br />
letzten zwei Jahre an der Universität Erlangen. Als er 1779 die Abs<strong>ch</strong>lussprüfung bestand<br />
und zu praktizieren begann, beherrs<strong>ch</strong>te er zusätzli<strong>ch</strong> zu seiner Mutterspra<strong>ch</strong>e<br />
Deuts<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> den Angaben von William Harvey King 48 , Lateinis<strong>ch</strong>, Grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>, Englis<strong>ch</strong>,<br />
Hebräis<strong>ch</strong>, Syris<strong>ch</strong>, Italienis<strong>ch</strong>, Arabis<strong>ch</strong> und Spanis<strong>ch</strong>. Er verfügte außerdem<br />
über Kenntnisse des Chaldäis<strong>ch</strong>en und, wie einige no<strong>ch</strong> hinzufügen, des Sanskrit. Da er<br />
zunehmend unzufrieden war mit den drastis<strong>ch</strong>en medizinis<strong>ch</strong>en Behandlungen, die<br />
damals gang und gäbe waren, und befür<strong>ch</strong>tete, den Kranken mehr zu verletzen als zu<br />
helfen, gab er vorübergehend seine medizinis<strong>ch</strong>e Praxis auf und we<strong>ch</strong>selte zur Chemie,<br />
eine si<strong>ch</strong> neu entwickelnde Wissens<strong>ch</strong>aft. 1784 war Hahnemann gut bekannt als Chemielehrer<br />
für seine sowohl originellen als au<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>mal kühnen Experimente.<br />
Während dieses berufli<strong>ch</strong>en Zwis<strong>ch</strong>enspiels, bekam er den Auftrag, die Materia Medica<br />
des s<strong>ch</strong>ottis<strong>ch</strong>en Arztes William Cullen ins Deuts<strong>ch</strong>e zu übersetzen. In diesem Werk<br />
fand er eine ihm allzu phantastis<strong>ch</strong> ers<strong>ch</strong>einende Erörterung der Art und Weise, wie<br />
Chinarinde bei der Behandlung von Malaria wirke. Daher ents<strong>ch</strong>ied si<strong>ch</strong> Hahnemann<br />
ein Experiment dur<strong>ch</strong>zuführen, indem er selbst eine Dosis dieser Arznei nahm. Zu seiner<br />
großen Überras<strong>ch</strong>ung entdeckte er, dass sie in ihm die Symptome der Malaria hervorbra<strong>ch</strong>te.<br />
Hahnemann war so sehr beeindruckt, dass er daraufhin begann, mit anderen<br />
Arzneien zu experimentieren. Hahnemann fand heraus, dass das Arzneimittel in jedem<br />
Fall bei einer gesunden Person die Symptome der Krankheit hervorbra<strong>ch</strong>te, die es<br />
bei einer kranken heilte.<br />
48 William Harvey King, The History of Homeopthy and Its Institutions (New York: Lewis, 1905), Bd. 1,<br />
S. 24.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 84<br />
Dadur<strong>ch</strong> überzeugt, eine si<strong>ch</strong>ere Methode der Behandlung von Krankheiten gefunden<br />
zu haben, bes<strong>ch</strong>ritt er einen Weg, von dem er nie mehr abwi<strong>ch</strong>. Diese neue medizinis<strong>ch</strong>e<br />
Methode nannte er Homöopathie (grie<strong>ch</strong>. ähnli<strong>ch</strong>es Leiden) und wählte als ihr Motto<br />
"Similia similibus curentur" (Ähnli<strong>ch</strong>es soll dur<strong>ch</strong> Ähnli<strong>ch</strong>es geheilt werden). Hahnemanns<br />
spätere Fors<strong>ch</strong>ung in Medizinges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te deckte einige Beziehungen zu dieser<br />
Theorie oder diesem Ansatz in den S<strong>ch</strong>riften hinduistis<strong>ch</strong>er Weiser (ca. <strong>2000</strong> v. Chr.) bis<br />
hin zu Hippokrates (ca. 460 v. Chr.) auf.<br />
Kurz zuvor entdeckte Hahnemann, warum si<strong>ch</strong> die Ähnli<strong>ch</strong>keitstheorie ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong>gesetzt<br />
hatte. Zuerst experimentierte er, indem er kleine Dosen der medizinis<strong>ch</strong>en Substanzen<br />
gesunden Familienmitgliedern und Freunden gab, die si<strong>ch</strong> freiwillig bereit erklärt<br />
hatten, geprüft zu werden, und ans<strong>ch</strong>ließend ihre Reaktionen aufzei<strong>ch</strong>nete, die sie<br />
in Form von Symptomen produzierten. Dann verordnete er die passende Medizin jenen<br />
Patienten, deren Symptome denen entspra<strong>ch</strong>en, die bei der gesunden Person verursa<strong>ch</strong>t<br />
wurden. Die meisten benutzten Arzneien waren mehr oder weniger giftig und Hahnemann<br />
wußte, dass der Körper versu<strong>ch</strong>en würde, sie so s<strong>ch</strong>nell wie mögli<strong>ch</strong> auszus<strong>ch</strong>eiden,<br />
aber dann verdünnte er sie bis zu dem Punkt, wo sie vertragen werden konnten. Er<br />
fand heraus, dass die Patienten, obglei<strong>ch</strong> sie si<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>mal für kurze Zeit besser fühlten,<br />
ni<strong>ch</strong>t wirkli<strong>ch</strong> geheilt wurden und die Krankheit immer no<strong>ch</strong> aktiv war, sobald die<br />
Substanz wieder abgesetzt wurde. Unter Beibehaltung seiner grundlegenden Voraussetzung<br />
fuhr er fort zu experimentieren. Dabei entdeckte er zufällig den folgenden Zusammenhang:<br />
Wenn ein Fläs<strong>ch</strong><strong>ch</strong>en mit einer verdünnten Arznei s<strong>ch</strong>arf gegen eine harte<br />
Oberflä<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>lagen wurde, was er Vers<strong>ch</strong>üttelung nannte, und der Inhalt einer<br />
gesunden Person verabrei<strong>ch</strong>t wurde, dann hatte die glei<strong>ch</strong>wohl no<strong>ch</strong> immer giftige Arznei<br />
in ihrer verdünnten Form einen viel weiteren Aktionsumfang entwickelt. Er setzte<br />
diesen Prozess mehrfa<strong>ch</strong> fort: Zuerst fügte er einem Teil des rohen Arzneistoffes neun<br />
Teile eines Verdünnungsmittels hinzu und unterwarf den Behälter dann der Vers<strong>ch</strong>üttelung.<br />
Diese Verdünnung nannte er eine Einerpotenz. Dann verdünnte er einen Teil dieser<br />
Mis<strong>ch</strong>ung mit neun Teilen eines Verdünnungsmittels und erhielt na<strong>ch</strong> der Vers<strong>ch</strong>üttelung<br />
eine sogenannte Zweierpotenz. Bei der Fortsetzung dieses Prozesses errei<strong>ch</strong>te er<br />
eine 30er Potenz, in der keine Spur mehr der ursprüngli<strong>ch</strong>en Arznei na<strong>ch</strong>weisbar war.<br />
Glei<strong>ch</strong>wohl blieben ihre medizinis<strong>ch</strong>en Eigens<strong>ch</strong>aften erhalten und waren sehr erhöht.<br />
Die Vers<strong>ch</strong>üttelung, die ursprüngli<strong>ch</strong> mühsam eigenhändig getan wurde, wird jetzt<br />
dur<strong>ch</strong> ho<strong>ch</strong>entwickelte Mas<strong>ch</strong>inen erledigt, und die Energie kann in die Tausende erhöht<br />
werden.<br />
Jüngste Fors<strong>ch</strong>ungen in England lassen s<strong>ch</strong>ließen, dass die molekularen Muster au<strong>ch</strong><br />
bei zunehmender Verdünnung dieselben bleiben aber die verborgene Energie anwä<strong>ch</strong>st.<br />
Jetzt werden Versu<strong>ch</strong>e gema<strong>ch</strong>t, um herauszufinden, wel<strong>ch</strong>e Art von Energie beteiligt<br />
ist und warum sie zunimmt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 85<br />
Große Anstrengungen werden unternommen, um mehr darüber herauszufinden, warum<br />
Homöopathie so funktioniert wie sie funktioniert. Vieles davon ist Methodologie. Die<br />
Doktoren unters<strong>ch</strong>eiden si<strong>ch</strong> oft in der Praxis, aber fast alle stimmen ihren drei Grundprinzipien<br />
zu: Das Ähnli<strong>ch</strong>e kommt an die Krankheit heran und ebenso entweder die<br />
kleinste Einzeldosis oder wenige Wiederholungen der angezeigten Medizin. Die meisten<br />
homöopathis<strong>ch</strong> bereiteten Arzneimittel stammen aus natürli<strong>ch</strong>en Quellen im Tier-,<br />
Pflanzen und Mineralrei<strong>ch</strong>. Hahnemann lehrte, alle Dinge in der Natur seien lebende<br />
Wesenheiten und es sei notwendig, medizinis<strong>ch</strong>e Substanzen jenseits ihres materiellen<br />
Zustandes zu entwickeln und ihre immaterielle Kraft, die geistig-lebendige Kraft,<br />
Krankheiten zu behandeln, zu ers<strong>ch</strong>ließen. Die Krankheiten hatten seiner Meinung<br />
na<strong>ch</strong> eine immaterielle Ursa<strong>ch</strong>e, die s<strong>ch</strong>on vorhanden sei, bevor die si<strong>ch</strong>tbaren materiellen<br />
Symptome ers<strong>ch</strong>ienen.<br />
Nirgends in Hahnemanns umfangrei<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riften, und i<strong>ch</strong> habe alles ins Englis<strong>ch</strong>e<br />
Übersetzte gelesen, erwähnt er Swedenborg oder ma<strong>ch</strong>t irgendeinen direkten Verweis<br />
auf seine S<strong>ch</strong>riften. Aber in vielen Paragraphen während der se<strong>ch</strong>s Ausgaben seines<br />
Organons der Heilkunst setzt er körperli<strong>ch</strong>e Gesundheit mit geistiger Gesundheit glei<strong>ch</strong>.<br />
In seiner Analyse der <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten, die er für einen Ausdruck des vererbten<br />
Bösen hielt, ist seine Behandlung auf die Auss<strong>ch</strong>ließung oder Veränderung ihrer<br />
zerstöreris<strong>ch</strong>en Kraft geri<strong>ch</strong>tet, so dass ihre Wirkung in zukünftigen Generationen geringer<br />
sein möge. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ist die homöopathis<strong>ch</strong>e Werts<strong>ch</strong>ätzung konstitutioneller<br />
Behandlung von Kindheit an auf dieses Ziel ausgeri<strong>ch</strong>tet.<br />
In Hahnemanns Briefen und anderen S<strong>ch</strong>riften kann man seine allmähli<strong>ch</strong>e Veränderung<br />
von einem rein physiologis<strong>ch</strong>en Zugang zu den Ursa<strong>ch</strong>en der Krankheit hin zu einer<br />
mehr geistigen Verursa<strong>ch</strong>ung sehen. In der ersten Ausgabe seines Organons bezieht<br />
er si<strong>ch</strong> auf ein "heilendes Prinzip im Mens<strong>ch</strong>en, von dem das Wesen ni<strong>ch</strong>t bekannt<br />
ist" 49 . Seine Su<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einer jenseits des Si<strong>ch</strong>tbaren liegenden korrigierenden<br />
Wirkung der Heilmittel setzte er während seiner letzten Jahre fort, und dur<strong>ch</strong> seine<br />
Werke hindur<strong>ch</strong> ist sein Glaube, dass in Krankheiten eine immaterielle geistartige Kraft<br />
existiert, offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>. Er nannte sie die "Lebenskraft", die dur<strong>ch</strong> eine ähnli<strong>ch</strong>e aber<br />
vers<strong>ch</strong>iedene Lebenskraft in den Medikamenten getroffen werden muss.<br />
Swedenborg s<strong>ch</strong>rieb in der "Göttli<strong>ch</strong>en Liebe und Weisheit": "Alle Tiere, die größeren<br />
wie die kleineren, leiten ihre Entstehung vom Geistigen in seinem letzten, dem natürli<strong>ch</strong>en<br />
Grad ab." Ebenso: "Die Formbildung in beiden Rei<strong>ch</strong>en verdankt ihre Entstehung<br />
einem geistigen Einfließen." (GLW 346). Dies s<strong>ch</strong>eint eine Beziehung zwis<strong>ch</strong>en Swedenborgs<br />
Lehren und denen von Hahnemann nahezulegen, und mag ein Grund dafür<br />
49 Samuel Hahnemann, Organon of the Art of Healing, übers. von R. E. Dugeon, 1. Auflage (Philadelphia:<br />
Hahnemann Publishing Society, 1810).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 86<br />
sein, dass einige Swedenborgianer eine homöopathis<strong>ch</strong>e Behandlung ihrer Krankheiten<br />
bevorzugt haben. Hahnemann s<strong>ch</strong>reibt: "Von s<strong>ch</strong>ädli<strong>ch</strong>en Einwirkungen auf den gesunden<br />
Organism, dur<strong>ch</strong> die feindli<strong>ch</strong>en Potenzen, wel<strong>ch</strong>e von der Außenwelt her das harmonis<strong>ch</strong>e<br />
Lebensspiel stören, kann unsere Lebenskraft als geistartige Dynamis ni<strong>ch</strong>t<br />
anders denn auf geistartige (dynamis<strong>ch</strong>e) Weise ergriffen und afficirt werden und alle<br />
sol<strong>ch</strong>e krankhafte Verstimmungen (die Krankheiten) können au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> den Heilkünstler<br />
ni<strong>ch</strong>t anders von ihr entfernt werden, als dur<strong>ch</strong> geistartige (dynamis<strong>ch</strong>e, virtuelle)<br />
Umstimmungskräfte der dienli<strong>ch</strong>en Arzneien auf unsere geistartige Lebenskraft" 50 .<br />
Wiederum in der "Göttli<strong>ch</strong>en Liebe und Weisheit" lesen wir: "Der Mens<strong>ch</strong> wird aufgrund<br />
seines erbli<strong>ch</strong>en Gebre<strong>ch</strong>ens in Böses aller Art hineingeboren, das dort im Äußersten<br />
seinen Sitz hat. Dieses Gebre<strong>ch</strong>en aber werde nur entfernt, wenn die höheren<br />
Grade aufges<strong>ch</strong>lossen werden" (GLW 432).<br />
Hahnemann teilte Krankheiten in drei Kategorien ein: (1) die, die der Einzelperson und<br />
ihrer Umgebung angehören und si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> ihre Situation entwickeln; (2) konstitutionelle<br />
Vererbung, für die wir besonders empfängli<strong>ch</strong> sind; und (3) Krankheiten, die aus der<br />
Volksgemeins<strong>ch</strong>aft herkommen, das heißt konkrete Berei<strong>ch</strong>e des Übels, der Epidemien<br />
und Seu<strong>ch</strong>en, die kommen und gehen; sie übertragen ihre zerstöreris<strong>ch</strong>e Kraft auf Personen,<br />
die sie ni<strong>ch</strong>t verursa<strong>ch</strong>t haben und deswegen in keiner Weise geistig für ihren<br />
Einfluß verantwortli<strong>ch</strong> sind. Der zweiten und dritten Art muss, so Hahnemann, auf der<br />
dynamis<strong>ch</strong>en Ebene begegnet werden, um ihre Wirkungen vom Organismus zu entfernen.<br />
Hahnemann erkannte, dass zusätzli<strong>ch</strong> zur geistigen Kraft, die von einem "wohltätigen<br />
S<strong>ch</strong>öpfer" ges<strong>ch</strong>affen wurde, um die Einflüsse zu lenken, damit der Körper im Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t<br />
gehalten werden kann, ein entspre<strong>ch</strong>endes körperli<strong>ch</strong>es System vorhanden<br />
sein muss, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>es erstens die Gesundheit erhalten werden kann und dessen<br />
ho<strong>ch</strong>individuellen Ausdrucksweisen zweitens dur<strong>ch</strong> den ganzen physis<strong>ch</strong>en Körper<br />
verbreitet sind.<br />
Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> bes<strong>ch</strong>rieb Hahnemann damit das Immunsystem, das normalerweise sofort<br />
reagiert, um die materiellen Wirkungen der krankma<strong>ch</strong>enden Einflüsse zu entfernen.<br />
Aber er stellte au<strong>ch</strong> die These auf, dass es nur dann in der beabsi<strong>ch</strong>tigten Weise<br />
funktioniert, wenn der entspre<strong>ch</strong>ende geistige Einfluß in Ordnung ist. Weil das häufig<br />
ni<strong>ch</strong>t der Fall ist, kann Hilfe, die dur<strong>ch</strong> Medikamente bereitgestellt wird, erforderli<strong>ch</strong><br />
sein.<br />
50 Ebenda, übers. von William Boerike, M. D., 6. Auflage (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1922), S. 103.<br />
Organon § 16.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 87<br />
Im 16. Jahrhundert s<strong>ch</strong>rieb ein englis<strong>ch</strong>er Arzt, dass "unsere Körper ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> verdorbene<br />
und ansteckende Ursa<strong>ch</strong>en verletzt werden können, außer dass in ihnen ein<br />
bestimmter Stoff ist, der geeignet ist, sie zu empfangen, andernfalls würden alle Mens<strong>ch</strong>en<br />
krank werden, sobald einer krank wird." 51 Und in unseren Tagen sagte der kürzli<strong>ch</strong><br />
verstorbene René Dubos, ein Mikrobiologe am Rockefeller Institut for Medical Resear<strong>ch</strong><br />
na<strong>ch</strong> einer vorurteilsfreien Prüfung der ganzen Mikrobentheorie von Krankheiten,<br />
dass "der Mens<strong>ch</strong> immer eine große Anzahl von potentiell gefährli<strong>ch</strong>en Mikroben<br />
beherbergt und in seinen Geweben alles für ihr Leben Erforderli<strong>ch</strong>e hat. Die meisten<br />
von ihnen bleiben wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>lafend, aber einige werden si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> trotz<br />
der Anwesenheit von spezifis<strong>ch</strong>en Antikörpern ausbreiten, wenn die normale Physiologie<br />
des Körpers gestört wird." 52 Er setzte einen Zustand des biologis<strong>ch</strong>en Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>ts<br />
zwis<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong> und Mikrobe voraus, der instabil wird dur<strong>ch</strong> eine Abwei<strong>ch</strong>ung<br />
vom normalen Zustand, eine emotionale, eine ernährungsbedingte, eine umweltbedingte<br />
oder eine Abwei<strong>ch</strong>ung aufgrund ausgiebiger und massiver Behandlung mit Medikamenten.<br />
James Tyler Kent fügte eine Anzahl von Hahnemanns verstreuten Angaben zusammen<br />
und fand heraus, dass die Erklärung für die offensi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Unfähigkeit der geistartigen<br />
Kraft, den materiellen Organismus immer im Glei<strong>ch</strong>gewi<strong>ch</strong>t zu halten - wobei er annahm,<br />
dass dies in einer längst vergangenen Zeit mögli<strong>ch</strong> war -, darin bestehen muss,<br />
dass die Mens<strong>ch</strong>heit es während vieler Generationen dem Bösen und Fals<strong>ch</strong>en erlaubt<br />
hat, si<strong>ch</strong> einzus<strong>ch</strong>lei<strong>ch</strong>en, womit es zu s<strong>ch</strong>wierig wurde, die guten Einflüsse in der Vorherrs<strong>ch</strong>aft<br />
zu halten. No<strong>ch</strong> und no<strong>ch</strong> erinnert er uns daran, dass Gesundheit vom Geistigen<br />
zum Körperli<strong>ch</strong>en fließt, d.h. vom Innersten zum Äußersten und von oben na<strong>ch</strong><br />
unten. Swedenborg sagt dasselbe in den "Himmlis<strong>ch</strong>en Geheimnissen", indem er feststellt,<br />
dass "der Einfluss" immer vom inneren zum äußeren verläuft (HG 6322).<br />
Außerdem fasst Kent den Sinn mehrerer Paragraphen der vers<strong>ch</strong>iedenen Ausgaben des<br />
Organons mit den folgenden Worten zusammen: "Fals<strong>ch</strong>heiten, die mit dem harmonis<strong>ch</strong>en<br />
Einfluß im Konflikt geraten, werden im physis<strong>ch</strong>en Organismus dur<strong>ch</strong> ihre natürli<strong>ch</strong>en<br />
Entspre<strong>ch</strong>ungen gesehen, und das sind die Symptome, die uns sagen, wel<strong>ch</strong>e<br />
Medizin sie entfernen wird und es der immateriellen Lebenskraft, wel<strong>ch</strong>e alle Teile des<br />
Körpers dur<strong>ch</strong>dringt, erlaubt wieder für die himmlis<strong>ch</strong>en Einflüsse empfängli<strong>ch</strong> zu sein.<br />
Daher ist Gehorsam gegenüber den geistigen und natürli<strong>ch</strong>en Gesetzen die absolute Be-<br />
51 British Homeopathic Journal<br />
52 Aus einem Gesprä<strong>ch</strong> mit René Dubos, M. D. (später ers<strong>ch</strong>ien es im British Homeopathic Journal), in<br />
dem er eine Abhandlung von John Caius aus dem Jahre 1552 zitiert.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 88<br />
dingung für Gesundheit sowohl in der Seele als au<strong>ch</strong> im Körper. Jede Abwei<strong>ch</strong>ung mag<br />
geistige und natürli<strong>ch</strong>e Krankheit bringen." 53<br />
Kent sagt uns, Hahnemann war der Meinung, dass es drei Grade in der Kraft gebe und<br />
alle Objekte in der natürli<strong>ch</strong>en Welt ihnen entspre<strong>ch</strong>en. Swedenborg bringt das so zum<br />
Ausdruck: "Die ganze natürli<strong>ch</strong>e Welt entspri<strong>ch</strong>t der geistigen Welt" (HH 89). Hahnemanns<br />
philosophis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riften zeigen ein teilweises Verständnis von Swedenborgs<br />
Lehre des universalen Mens<strong>ch</strong>en (Maximus Homo), obglei<strong>ch</strong> er beide Begriffe ni<strong>ch</strong>t benutzt.<br />
Er spri<strong>ch</strong>t eher davon, dass jede Person eine Vergegenständli<strong>ch</strong>ung des "kollektiven<br />
geistigen Mens<strong>ch</strong>en" ist und glaubt, dass jeder Teil eines Individums seine natürli<strong>ch</strong>e<br />
Entspre<strong>ch</strong>ung mit diesem geistig vergegenständli<strong>ch</strong>ten Mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en hat.<br />
Swedenborg sagt in den "Himmlis<strong>ch</strong>en Geheimnissen", dass das wahre Prinzip der Heilung<br />
die göttli<strong>ch</strong>e Liebe ist, die vom mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Wesen des Herrn und einem Leben<br />
des göttli<strong>ch</strong> Wahren bis zu den höllis<strong>ch</strong>en Geistern in den Leibern der Mens<strong>ch</strong>en gebra<strong>ch</strong>t<br />
wurde, so dass diese Geister veranlasst werden zu wei<strong>ch</strong>en. Er fügt hinzu: "Dies<br />
hindert jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, dass der Mens<strong>ch</strong> auf natürli<strong>ch</strong>e Weise geheilt werden kann, denn<br />
mit sol<strong>ch</strong>en Mitteln wirkt die Vorsehung des Herrn zusammen." (HG 5713).<br />
Hahnemann unters<strong>ch</strong>eidet zwis<strong>ch</strong>en dem langsamen Prozess der Heilung oder Hemmung<br />
des Forts<strong>ch</strong>reitens von (1) <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten und der Bes<strong>ch</strong>äftigung mit<br />
(2) Krankheiten auf der natürli<strong>ch</strong>en Ebene, die die geistige Kraft ni<strong>ch</strong>t so gründli<strong>ch</strong> stören.<br />
Den <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten muss auf der geistigen Ebene begegnet werden und<br />
sie müssen so weit als mögli<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> immaterielle Kräfte überwunden werden, die<br />
dur<strong>ch</strong> Potenzierung (Verdünnung und Vers<strong>ch</strong>üttelung) entwickelt werden. Die an zweiter<br />
Stelle genannten Krankheiten dur<strong>ch</strong> niedrigere Potenzen der medizinis<strong>ch</strong>en Substanzen,<br />
aber immer no<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> eine immaterielle Kraft. Kent fühlte, dass das Dur<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>reiten<br />
einer homöopathis<strong>ch</strong>en Behandlung <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>er Krankheiten, wie von Hahnemann<br />
bespro<strong>ch</strong>en, dem Wiedergeburtsprozess analog war, so wie er dur<strong>ch</strong> Swedenborg<br />
bes<strong>ch</strong>rieben wurde. Vor ni<strong>ch</strong>t langer Zeit s<strong>ch</strong>rieb Dr. Twentyman im British Homeopathic<br />
Journal: "Man nahm an, dass Kent ein reiner Hahnemannianer war, aber das<br />
war er selbstverständli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Er war eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg."<br />
54<br />
Vor einigen Jahren folgerten Fors<strong>ch</strong>er in England, dass Hahnemanns Infinitesimaldosen<br />
Energie waren, obglei<strong>ch</strong> es ni<strong>ch</strong>t klar war, was für eine Art von Energie oder wie sie<br />
si<strong>ch</strong> entwickelte. In seinem Organon stellt Hahnemann fest: "Die Lehre von der Teilbar-<br />
53 James Tyler Kent, M. D., Lectures on Homeopathic Philosophy (Lancaster, Pa.: Examiner Printing<br />
House, 1900).<br />
54 British Homeopathic Journal (July-October 1956), S. 260.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 89<br />
keit der Materie lehrt uns, dass Energie nie geteilt wird bis zu dem Punkt, wo sie aufhören<br />
würde, etwas zu sein und alle Eigens<strong>ch</strong>aften des Ganzen teilen würde." 55 Swedenborg<br />
s<strong>ch</strong>rieb in der "Eheli<strong>ch</strong>en Liebe": "Alles Geteilte ist mehr und mehr vielfa<strong>ch</strong>, ni<strong>ch</strong>t<br />
aber mehr und mehr einfa<strong>ch</strong>, weil das immer wieder Geteilte immer näher kommt dem<br />
Unendli<strong>ch</strong>en, in wel<strong>ch</strong>em auf unendli<strong>ch</strong>e Weise alles ist." (EL 329). Und in der "Wahren<br />
Christli<strong>ch</strong>en Religion": "Dies stimmt au<strong>ch</strong> überein mit der Weisheit der Alten, wona<strong>ch</strong><br />
alle Dinge bis ins Unendli<strong>ch</strong>e teilbar sind." (WCR 33).<br />
Es gibt keine Aufzei<strong>ch</strong>nung, dass Hahnemann jemals irgendeiner kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Organisation<br />
anges<strong>ch</strong>lossen war, aber er nannte seine Arbeiten eine "von Gott gegebene Philosophie".<br />
Seine S<strong>ch</strong>riften zeigen einen festen Glauben an die Entspre<strong>ch</strong>ung der natürli<strong>ch</strong>en<br />
mit den geistigen Dingen. Sein medizinis<strong>ch</strong>es System ist si<strong>ch</strong>er von dieser Voraussetzung<br />
aus entwickelt.<br />
Wie Swedenborg war au<strong>ch</strong> Hahnemann ein Mens<strong>ch</strong>, der seiner Sa<strong>ch</strong>e ganz hingegeben<br />
war. Denno<strong>ch</strong> war er, als er in Paris 88jährig starb, ernü<strong>ch</strong>tert, enttäus<strong>ch</strong>t und unfähig,<br />
die Tatsa<strong>ch</strong>e zu akzeptieren, dass seine langjährige Fors<strong>ch</strong>ung und logis<strong>ch</strong>e Argumentation<br />
von so vielen seiner Zeitgenossen verworfen oder verspottet wurde.<br />
Obwohl ihr Gründer ernü<strong>ch</strong>tert war, wird Homöopathie heute in vielen Staaten der ganzen<br />
Welt praktiziert und anerkannt. Glei<strong>ch</strong>wohl ist die Homöopathie in den Vereinigten<br />
Staaten, wo eine materialistis<strong>ch</strong>e und me<strong>ch</strong>anistis<strong>ch</strong>e Vorgehensweise die Medizin seit<br />
den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts dominiert hat, bis vor kurzem allgemein ignoriert<br />
worden.<br />
Auf der organisatoris<strong>ch</strong>en Ebene ist die Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Swedenborgkir<strong>ch</strong>e ähnli<strong>ch</strong> gewesen.<br />
Beinahe bis ans Ende des 19. Jahrhunderts gab es, über das ganze Land verstreut,<br />
viele neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aften und Gruppen, die Swedenborg rezipierten.<br />
Während desselben Zeitraums gab es homöopathis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ulen und Krankenhäuser in<br />
beinahe jedem Staat. In den späteren Jahren des 19. Jahrhunderts gab es 70.000 praktizierende<br />
Homöopathen und einige Millionen homöopathis<strong>ch</strong>e Patienten. Sowohl die<br />
Homöopathie, als au<strong>ch</strong> der Swedenborgianismus verloren jedo<strong>ch</strong> nummeris<strong>ch</strong> im frühen<br />
20. Jahrhundert an Boden, ein Trend, der bis vor kurzem angedauert hat. Jetzt gibt es<br />
ein unters<strong>ch</strong>welliges Interesse an Hömöopathie im ganzen Land und ebenso neue Zei<strong>ch</strong>en<br />
eines We<strong>ch</strong>sels und einer verstärken Wirkung na<strong>ch</strong> außen bei den Swedenborgianern.<br />
Viellei<strong>ch</strong>t geht unsere Kultur jetzt dur<strong>ch</strong> ein Wiedererwa<strong>ch</strong>en der geistigen Dimension<br />
entgegen.<br />
Informierte Swedenborgianer haben traditionellerweise wenig S<strong>ch</strong>wierigkeit, eine medizinis<strong>ch</strong>e<br />
Philosophie zu akzeptieren, die auf der immateriellen, unsi<strong>ch</strong>tbaren und akti-<br />
55 Hahnemann, Organon, Dudgeon Hg., S. 301.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 90<br />
vierten Kraft des Geistes basiert. Ihre Interpretation dur<strong>ch</strong> Kent und seine Analyse der<br />
geistigen Entspre<strong>ch</strong>ungen, die zwis<strong>ch</strong>en homöopathis<strong>ch</strong>en Heilsubstanzen und den Organen<br />
des Körpers bestehen, ist sehr lesenswert. Es ist oft gesagt worden, dass er<br />
glaubte, Swedenborgs Wissens<strong>ch</strong>aft der Entspre<strong>ch</strong>ungen sei in Harmonie mit dem, was<br />
er die Jahre hindur<strong>ch</strong> gelernt hatte und ihm eine Hilfe in der Bestimmung der Wirkungen<br />
seiner Verordnungen war. 56<br />
Wir können das illustrieren, indem wir als Beispiel Swedenborgs Erklärung der Entspre<strong>ch</strong>ung<br />
zwis<strong>ch</strong>en Gold und dem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Herz anführen. Gold entspri<strong>ch</strong>t der<br />
Liebe: "Das Herz im Worte Gottes bezei<strong>ch</strong>net den Willen und au<strong>ch</strong> das Gute der Liebe ...<br />
Daher werden dem Herzen au<strong>ch</strong> Neigungen zuges<strong>ch</strong>rieben, obglei<strong>ch</strong> sie weder in ihn<br />
sind, no<strong>ch</strong> aus ihm hervorgehen." (HH 95). Vor einigen Jahren bestätigte eine Fors<strong>ch</strong>ung<br />
am Massa<strong>ch</strong>usetts Institute of Te<strong>ch</strong>nology die mögli<strong>ch</strong>e Verwands<strong>ch</strong>aft bestimmter<br />
Metalle mit bestimmten Organen. Sie bemerkten, dass ein nennenswerter<br />
Prozentsatz von Gold im Herzen gefunden werde und keine Spur davon in irgendeinem<br />
anderen Organ. Homöopathen benutzen potenziertes Aurum (Gold) bei der Behandlung<br />
einiger Herzbes<strong>ch</strong>werden.<br />
Es gibt no<strong>ch</strong> viel mehr Ähnli<strong>ch</strong>keiten in den S<strong>ch</strong>riften Swedenborgs und Hahnemanns,<br />
und jeder, der geneigt ist, sie weiter zu verglei<strong>ch</strong>en, wird unweigerli<strong>ch</strong> ein Interesse an<br />
diesen Zusammenhängen entwickeln. I<strong>ch</strong> habe mi<strong>ch</strong> man<strong>ch</strong>mal dabei ertappt, dass i<strong>ch</strong><br />
über diese Entspre<strong>ch</strong>ungen regelre<strong>ch</strong>t verblüfft war. Wie konnten sie entstehen? Dur<strong>ch</strong><br />
die Vorstellung einer allgemeinen, den Dingen zugrundeliegenden Wahrheit? Oder gibt<br />
es eine auffindbare, historis<strong>ch</strong>e Verbindung zwis<strong>ch</strong>en Swedenborg und Hahnemann?<br />
Wir wissen, dass si<strong>ch</strong> die zwei Männer nie trafen, aber Hahnemann in Berührung war<br />
mit Johann Wolfgang von Goethe und Heinri<strong>ch</strong> Heine und mögli<strong>ch</strong>erweise au<strong>ch</strong> für sie<br />
Rezepte ausgestellt hatte; beide waren vertraut mit der spirituellen Seite der Philosophie<br />
Swedenborgs und von ihr angetan. Jahre hindur<strong>ch</strong> haben viele Leute versu<strong>ch</strong>t, eine<br />
Antwort zu finden, aber wenn ni<strong>ch</strong>t einige unübersetzte Briefe oder andere Papiere ans<br />
Tagesli<strong>ch</strong>t kommen, wird eine tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> belegbare Verbindung ein Geheimnis bleiben.<br />
In diesem Punkt jedo<strong>ch</strong> sind wir si<strong>ch</strong>er, wenn wir sagen, dass jeder Mens<strong>ch</strong> auf seine<br />
eigene Weise si<strong>ch</strong> von ähnli<strong>ch</strong>en Wahrnehmungen tiefer geistiger Realitäten, die das<br />
ganze Universum dur<strong>ch</strong>dringen, Anregungen holt. Für sol<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>en, deren Herangehensweise<br />
an das Leben weiterhin geistige Realitäten eins<strong>ch</strong>ließt, mag eine ho<strong>ch</strong>entwickelte<br />
geistige Philosophie von dem einen genommen werden und ein zusammenhängender<br />
Zugang zur Gesundheit und Heilung von dem anderen. Swedenborg und<br />
56 Thomas L. Bradford, Life and Letters of Hahnemann (Philadelphia: Boericke & Tafel, 1895).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 91<br />
Hahnemann müssen als wi<strong>ch</strong>tige Führer und Quellen der Inspiration ers<strong>ch</strong>einen, da unser<br />
Jahrhundert versu<strong>ch</strong>t, seine geistigen Wurzeln wiederzuentdecken.<br />
Homöopathie und Neue Kir<strong>ch</strong>e in den USA<br />
des 19. Jahrhunderts 57<br />
von Maguerite Block<br />
Die früheste Verbindung der Homöopathie mit der Neuen Kir<strong>ch</strong>e ges<strong>ch</strong>ah dur<strong>ch</strong> Dr.<br />
Hans Bur<strong>ch</strong> Gram (1786 - 1840), der si<strong>ch</strong> 1825 in New York City niederließ und ein<br />
Mitglied der New Yorker Gesells<strong>ch</strong>aft der Swedenborgianer wurde. Dr. Gram, der in<br />
Deuts<strong>ch</strong>land bei Hahnemann persönli<strong>ch</strong> studiert und beträ<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Verfolgungen bei<br />
seinem Versu<strong>ch</strong>, die neuen Methoden in Kopenhagen einzuführen, erlitten hatte, war<br />
der erste homöopathis<strong>ch</strong>e Arzt in Amerika. Er war ni<strong>ch</strong>t nur bei der Bekehrung einer<br />
Anzahl prominenter New Yorker Ärzte zu den neuen Lehren erfolgrei<strong>ch</strong>, sondern au<strong>ch</strong><br />
darin, dass er sie mit Mitgliedern der Neuen Kir<strong>ch</strong>e bekannt ma<strong>ch</strong>te. 1826 übersetzte er<br />
Hahnemanns Abhandlung "Geist der homöopathis<strong>ch</strong>en Heillehre" 58 . Die Homöopathie<br />
ging wie ein Lauffeuer dur<strong>ch</strong> die Neue Kir<strong>ch</strong>e. Ihre Periodika sind voll von Erörterungen<br />
ihrer Beziehung zu den Lehren Swedenborgs, und ein großer Teil ihrer Mitglieder nahm<br />
sie an. Zwei der größten Firmen homöopathis<strong>ch</strong>er Pharmazeuten in Amerika, Boericke<br />
und Tafel in Philadelphia und Otis Clapp in Boston, wurden von Neukir<strong>ch</strong>enleuten gegründet.<br />
Diese Männer waren außerdem in der Publikation homöopathis<strong>ch</strong>er Literatur<br />
aktiv, Boericke besaß den maßgebli<strong>ch</strong>en Kapitalanteil am Hahnemann Publishing House.<br />
59 Bald s<strong>ch</strong>on war eine große Anzahl homöopathis<strong>ch</strong>er Ärzte ebenfalls in die Mitgliedslisten<br />
der Neuen Kir<strong>ch</strong>e einges<strong>ch</strong>rieben, einige von ihnen wurden später ordinierte<br />
Pfarrer. 60<br />
Die Gründe für diese Verbindung zwis<strong>ch</strong>en den beiden Lehren sind ausführli<strong>ch</strong> in Publikationen<br />
der Neuen Kir<strong>ch</strong>e dargelegt worden. Ans<strong>ch</strong>einend hat es allerdings keinen<br />
direkten Einfluss der S<strong>ch</strong>riften Swedenborgs auf Hahnemann selbst gegeben, obglei<strong>ch</strong><br />
es wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong> ist, dass er mit einigen anatomis<strong>ch</strong>en Werken seiner früheren Jahre<br />
57 Den folgenden Einblick in frühe Verbindungen und Kontroversen der Homöopathie mit der Neuen<br />
Kir<strong>ch</strong>e in den Vereinigten Staaten des 19. Jahrhunderts entnehmen wir dem Bu<strong>ch</strong> von Maguerite<br />
Block, The New Chur<strong>ch</strong> in the New World, 1984, S. 161-165.<br />
58 Dr. Wm. H. Holcombe, The Truth about Homeopathy, S. 8f; New Jerusalem Messenger, Bd. 39, S. 168.<br />
59 New Chur<strong>ch</strong> Review, Bd. 36, S. 207; New Chur<strong>ch</strong> Life, Bd. 22, S. 113-115.<br />
60 New Chur<strong>ch</strong> Messenger, Bd. 108, S. 96, 175.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 92<br />
vertraut war. 61 Das hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Verbindungsglied zwis<strong>ch</strong>en ihnen s<strong>ch</strong>eint Paracelsus<br />
zu sein, dessen gründli<strong>ch</strong>e Studenten beide, Hahnemann und Swedenborg, waren und<br />
dessen Lehre der "Signaturen" für einen Großteil der Ähnli<strong>ch</strong>keit zwis<strong>ch</strong>en ihren Theorien<br />
verantwortli<strong>ch</strong> ist. Für Hahnemann war, ebenso wie für Swedenborg, Krankheit eine<br />
Angelegenheit des Geistes oder, wie Hahnemann es formuliert: "Dynamis<strong>ch</strong>e Abirrungen<br />
unseres Geistes, glei<strong>ch</strong>wie Leben, das si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Empfindungen und Vorgänge<br />
kundtut". Die Psora, die <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Krankheiten verursa<strong>ch</strong>te, war ein Miasma oder ein<br />
böser Geist, der den Körper dur<strong>ch</strong>drang und si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> als ein Einbru<strong>ch</strong> kundgab.<br />
62 Mit Bezug auf das Verhältnis zwis<strong>ch</strong>en den beiden Lehren s<strong>ch</strong>rieb Dr. William E.<br />
Payne, von Bath, Me., wie folgt: "Mit diesem Versu<strong>ch</strong>, die Wissens<strong>ch</strong>aft der Medizin in<br />
ihrer ordentli<strong>ch</strong>en Verbindung mit den Lehren der Kir<strong>ch</strong>e darzustellen, habe i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong>,<br />
dessen bin i<strong>ch</strong> mir bewußt, auf eine Ebene von endloser Ausdehnung begeben … Alle<br />
geistigen Krankheiten haben, wie wir uns bemühen werden, ihm Laufe unserer Bemerkungen<br />
zu zeigen, ihr Pendant in den Krankheiten des natürli<strong>ch</strong>en Körpers; oder anders<br />
gesagt, alle Krankheiten des natürli<strong>ch</strong>en Körpers sind die Endausformungen geistiger<br />
Unordnungen oder böser Neigungen des Gemüts. Und während das Gebiet des geistigen<br />
Arztes bes<strong>ch</strong>ränkt ist auf die geistige Ebene, indem er besonders den Krankheiten des<br />
Gemüts dient, ist glei<strong>ch</strong>erweise die Gegend des natürli<strong>ch</strong>en Arztes auf die natürli<strong>ch</strong>e<br />
Ebene bes<strong>ch</strong>ränkt, indem er vor allem für die Krankheiten des natürli<strong>ch</strong>en Körpers zuständig<br />
ist … Den Skeptizismus, der im S<strong>ch</strong>oße der Kir<strong>ch</strong>e und in den Gemütern Außenstehender<br />
existiert, mag man im wa<strong>ch</strong>senden Unglauben an die Nützli<strong>ch</strong>keit aller Heilmittel<br />
erkennen, als sol<strong>ch</strong>er stellt er si<strong>ch</strong> in den Gemüters von Akademikern und Ni<strong>ch</strong>t-<br />
Akademikern dar. Wie im einen Fall fals<strong>ch</strong>e Prinzipien zur Unterdrückung moralis<strong>ch</strong>er<br />
Verdorbenheit benutzt werden, so werden im anderen Fall Medikamente zur Unterdrückung<br />
körperli<strong>ch</strong>er Krankheit benutzt, oder aber die Wirkungen einer Krankheit<br />
werden anstelle der eigentli<strong>ch</strong>en Krankheit entfernt, wie in den Fällen der Entfernung<br />
von Tumoren mit dem Messer, damit das Äußere des Körpers gesund und s<strong>ch</strong>ön<br />
s<strong>ch</strong>eint, während dieselbe innere Ursa<strong>ch</strong>e bleibt, weiterhin in das Äußere fließt und si<strong>ch</strong><br />
viellei<strong>ch</strong>t sogar in einer widerli<strong>ch</strong>eren Form als zuvor zeigen wird." 63<br />
Der Artikel fährt fort: "Zwei neue Methoden zur Behandlung von Krankheiten haben<br />
si<strong>ch</strong> jüngst Neukir<strong>ch</strong>enleuten empfohlen. Die eine, die Hydropathie, oder, wie sie<br />
man<strong>ch</strong>mal genannt wird, das Kalt-Wasser-System der Heilung; und die anderen, die<br />
Homöopathie, oder das medizinis<strong>ch</strong>e System, das den Nutzen spezieller Heilmittel anerkennt.<br />
Das erstere ist sehr jungen Datums und hat si<strong>ch</strong> Neukir<strong>ch</strong>enleuten aufgrund<br />
61 New Chur<strong>ch</strong> Review, Bd. 31, S. 290.<br />
62 Morris Fishbein, The Medical Follies, S. 31-34.<br />
63 New<strong>ch</strong>ur<strong>ch</strong>man, Bd. 2, S. 509-513.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 93<br />
der allgemeinen Entspre<strong>ch</strong>ung des Wassers empfohlen. Ungefähr ein halbes Jahrhundert<br />
ist vergangen seit die Prinzipien des letzteren der Welt zuerst bekannt gema<strong>ch</strong>t<br />
wurden in Gestalt einer Wissens<strong>ch</strong>aft und si<strong>ch</strong> Neukir<strong>ch</strong>enleuten empfahlen, wie man<br />
nun sehen kann, hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> daher, dass es den Ursprung aller Krankheiten auf immaterielle,<br />
geistige Ursa<strong>ch</strong>en zurückführt … Swedenborg sagt: 'Die Krankheiten entspre<strong>ch</strong>en<br />
den Begierden und Leidens<strong>ch</strong>aften des Gemüts (animi). Diese sind au<strong>ch</strong> die<br />
Entstehungsgründe der Krankheiten, denn diese sind im allgemeinen Unmäßigkeit, allerlei<br />
Üppigkeit, rein sinnli<strong>ch</strong>e Vergnügungen, dann au<strong>ch</strong> Neid, Haß, Ra<strong>ch</strong>e, Unzu<strong>ch</strong>t<br />
und derglei<strong>ch</strong>en, was das Inwendigere des Mens<strong>ch</strong>en zerstört; und wenn dieses zerstört<br />
ist, leidet das Auswendigere und zieht dem Mens<strong>ch</strong>en Krankheit und dadur<strong>ch</strong> den Tod<br />
zu.' (HG 5712) … Wenn der Einfluss des Lebens wilder und grausamer Tiere, giftiger<br />
Pflanzen und Mineralien in die natürli<strong>ch</strong>e Welt frei und ungehindert ist, dann wird natürli<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit ni<strong>ch</strong>t vorkommen, denn dieses Leben fließt frei dur<strong>ch</strong> das Gemüt, da<br />
es ja na<strong>ch</strong> seiner eigenen äußersten Form, entweder auf der tieris<strong>ch</strong>en, der pflanzli<strong>ch</strong>en<br />
oder der mineralis<strong>ch</strong>en Stufe, strebt. Diese Form allein kann es aufnehmen, ohne die<br />
Gewalt, die ihr dur<strong>ch</strong> ein Leben, das wesentli<strong>ch</strong> von ihrem eigenen Leben abwei<strong>ch</strong>t, angetan<br />
würde. 'Daher sehen wir', Swedenborg zitierend, 'dass alle Objekte und Gegenstände<br />
der natürli<strong>ch</strong>en Welt als eine Art Si<strong>ch</strong>erheitsventil dienen, wenn der Ausdruck<br />
erlaubt ist, zum S<strong>ch</strong>utz des natürli<strong>ch</strong>en Lebens des Mens<strong>ch</strong>en. Ohne diese könnte er<br />
ni<strong>ch</strong>t einen Augenblick existieren.' … Wenn si<strong>ch</strong> eine Krankheit gezeigt hat, 'dann wird<br />
es notwendig, um den natürli<strong>ch</strong>en Körper wieder zur Aufnahme seines eigenen Lebens<br />
herzustellen, also einen Zustand der Gesundheit herbeizuführen, dass die Sperre überwunden<br />
wird, dass die Neigung, die eingesperrt ist, und nun in den natürli<strong>ch</strong>en Körpers<br />
als ihr äußerstes Aufnahmeorgan fließt, wieder abwärts in ihr ureigenstes Aufnahmegefäß<br />
fließt und den natürli<strong>ch</strong>en Körper verläßt, der nur ein aufnehmendes Organ seines<br />
eigenen, ihm angemessenden Lebens ist. Um das zu bewirken, muss das Äußerste des<br />
Krankheit oder der bösen Neigungen, das im Körper tätig ist, um etwas Aufnehmendes<br />
zu formen, in dieselbe Ebene eingeführt werden, um das unordentli<strong>ch</strong>e Leben aufzunehmen.'<br />
Quecksilber produziert dieselben bösen Wirkungen wie Syphilis, Ähnli<strong>ch</strong>es<br />
heilt Ähnli<strong>ch</strong>es, daher heilt Quecksilber Syphilis." 64<br />
In einem Artikel mit der Übers<strong>ch</strong>rift "Have the Principles of Homoeopathy an Affinity<br />
with the Doctrines of the New Chur<strong>ch</strong>?" (Haben die Prinzipien der Homöopathy eine<br />
Ähnli<strong>ch</strong>keit mit den Lehren der Neuen Kir<strong>ch</strong>e?) erläutert Rev. Ri<strong>ch</strong>ard de Charms seine<br />
Theorien der Verbindung. "Es ist ni<strong>ch</strong>t wahr, dass eine Krankheit dur<strong>ch</strong> eine andere<br />
ähnli<strong>ch</strong>e Krankheit ausgetrieben wird. Wie wir gezeigt haben, ist das ni<strong>ch</strong>t die Theorie<br />
einer hömöopathis<strong>ch</strong>en Heilung. Die Theorie ist, dass die bösen Geister der Hölle, die<br />
64 Ebenda, S. 520, 532, 541f.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 94<br />
Krankheit im mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Organismus erregen, dadur<strong>ch</strong>, dass sie in mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gifte<br />
fließen, die ihnen entspre<strong>ch</strong>en und wel<strong>ch</strong>e die Sünde darin (im mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Organismus)<br />
erzeugt hat, abgeleitet und von diesem Organismus abgezogen dadur<strong>ch</strong> werden,<br />
dass ihnen ein dankbareres Feld für ihre höllis<strong>ch</strong>en Aktivitäten geboten wird, nämli<strong>ch</strong><br />
jene ähnli<strong>ch</strong>en Gifte, die mit den Höllen jener Geister im Tier-, Pflanzen- oder Mineralrei<strong>ch</strong><br />
unterhalb des Mens<strong>ch</strong>en korrespondieren. In diese niedrigeren Gifte oder ihre<br />
Wirkungen gehen die höllis<strong>ch</strong>en Geister freiwillig und dur<strong>ch</strong> göttli<strong>ch</strong>e Zulassung, ni<strong>ch</strong>t<br />
Zwang, weil sie ein größeres Vergnügen in einem äußerli<strong>ch</strong>eren Grund ihrer Aktivität<br />
fühlen." 65 Diese ausgefallene Theorie wurde von vers<strong>ch</strong>iedenen neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Ärzten,<br />
Homöopathen und Allopathen, s<strong>ch</strong>arf kritisiert. Dr. William H. Holcombe, ein allopathis<strong>ch</strong>er<br />
Arzt, der später zur Homöopathie konvertierte, s<strong>ch</strong>rieb: "Wenn eine Person Arsen<br />
s<strong>ch</strong>luckt, dann ist es keineswegs so, dass si<strong>ch</strong> die Geister in die Arsenmoleküle stürzen,<br />
ihre bösartige Aktivität zeigen und dann im Arsen aus dem Körper fahren. Sie bemä<strong>ch</strong>tigen<br />
si<strong>ch</strong> ledigli<strong>ch</strong> des Arsens als eines Wirkstoffes im Äußersten, dur<strong>ch</strong> den sie die<br />
Zerstörung in seinem Körper bewerkstelligen mö<strong>ch</strong>ten, die sie in seiner Seele anri<strong>ch</strong>ten<br />
würden. Ein <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>es Gegenmittel verhindert den höllis<strong>ch</strong>en Einfluss, indem es die<br />
Form der Substanz verändert … Der Eintritt des Teufels in die S<strong>ch</strong>weine ist eine immerwiederkehrende<br />
Illustration bei homöopathis<strong>ch</strong>en Neukir<strong>ch</strong>enleuten, aber die beiden<br />
wi<strong>ch</strong>tigsten Punkte werden übersehen. Die Teufel verlassen die zwei Männer mit<br />
großem Widerwillen, indem sie ihre Bitte, in die S<strong>ch</strong>weine zu gehen, mit den mißbilligenden<br />
Worten einleiten: 'Wenn du uns austreibst'. Die Sphäre der göttli<strong>ch</strong>en Liebe<br />
quälte sie, so dass sie willig wurden, ihre höhere Sphäre der Wirksamkeit zu verlassen<br />
zugunsten einer niedrigeren und (im Widerspru<strong>ch</strong> zur Hypothese von Herrn de<br />
Charms) weniger angenehmeren." 66 Eine andere ni<strong>ch</strong>t zustimmende Meinung kam Dr.<br />
William M. Murdo<strong>ch</strong>, einem anderen allopathis<strong>ch</strong>en, neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Arzt: "I<strong>ch</strong> versi<strong>ch</strong>ere<br />
in aller Wahrheit, dass i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t fähig bin ein einziges Prinzip und kaum einen einzigen<br />
Ausdruck in den Werken Swedenborgs zu finden, der als eine Unterstützung der<br />
Vorstellung aufgefasst werden kann, dass Ähnli<strong>ch</strong>es Ähnli<strong>ch</strong>es heilt, Similia similibus<br />
curantur. Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>eint mir das genau das Prinzip zu sein, wel<strong>ch</strong>es unser Herr zurückwies,<br />
als er lehrte, dass es unmögli<strong>ch</strong> sei, Teufel dur<strong>ch</strong> Beelzebub, den Obersten der<br />
Teufel, auszutreiben … Außerdem glaube i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, dass ein religiöses Journal ein passendes<br />
Medium ist, Kontroversen über medizinis<strong>ch</strong>e Theorien auszutragen … Ärzte era<strong>ch</strong>ten<br />
die Meinungen Geistli<strong>ch</strong>er über medizinis<strong>ch</strong>e Angelegenheiten für gänzli<strong>ch</strong><br />
wertlos." 67<br />
65 New Chur<strong>ch</strong> Repository, Bd. 3, S. 506.<br />
66 Ebenda, S. 542-544.<br />
67 New Chur<strong>ch</strong> Messenger, Bd. 2, S. 112.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 95<br />
Dr. Charles S. Mack, Professor am Homoeopathic Medical College der Universität Mi<strong>ch</strong>igan<br />
und später ein neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Geistli<strong>ch</strong>er, widmet in seinem Bu<strong>ch</strong> "Philosophy in<br />
Homoeopathy" mehrere Seiten der Beziehung der Homöopathie zu Swedenborgs Philosophie.<br />
Sein Glaube ist, dass "die Theorie der Homöopathie gänzli<strong>ch</strong> annehmbar zu sein<br />
s<strong>ch</strong>eint für den Glauben, dass wir Empfänger des Lebens von der ersten Quelle des Lebens<br />
sind und, wenn Heilung vorkommt, Empfänger der Gesundheit, die Krankheit ersetzt."<br />
68<br />
Homöopathie - das göttli<strong>ch</strong>e Naturheilgesetz<br />
von Dagmar Strauß<br />
Zunä<strong>ch</strong>st sollen die Begriffe Homöopathie, Allopathie und Naturheilkunde erklärt werden:<br />
Es gibt die Allopathie (heute meist mit "S<strong>ch</strong>ulmedizin" glei<strong>ch</strong>gesetzt); der Begriff<br />
ist abgeleitet von allos = anders, gegensätzli<strong>ch</strong>; und pathos = Leiden. Es gibt die Homöopathie,<br />
abgeleitet von homoios = ähnli<strong>ch</strong>. Und es gibt die Naturheilkunde; ihr therapeutis<strong>ch</strong>er<br />
Ansatz entspri<strong>ch</strong>t häufig dem allopathis<strong>ch</strong>en Vorgehen, sie verwendet aber<br />
überwiegend natürli<strong>ch</strong>e Drogen.<br />
Homöopathie nimmt unter den drei großen Therapieri<strong>ch</strong>tungen eine Sonderstellung ein.<br />
Sie unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> von den anderen Ri<strong>ch</strong>tungen dur<strong>ch</strong> ein ganz eigenes Denkmodell<br />
mit spezieller Krankheits- und Gesundheitslehre, das auf strengen Gesetzen beruht. Um<br />
die Homöopathie verstehen zu können, muß man si<strong>ch</strong> vom herkömmli<strong>ch</strong>en Krankheitsund<br />
Gesundheitsverständnis lösen. Der Unters<strong>ch</strong>ied zwis<strong>ch</strong>en Homöopathie und Allopathie<br />
wird am deutli<strong>ch</strong>sten anhand der Entwicklung und Entdeckung der homöopathis<strong>ch</strong>en<br />
Heilgesetze.<br />
Die Entdeckung des homöopathis<strong>ch</strong>en Heilgesetzes dur<strong>ch</strong> Samuel<br />
Hahnemann 1790<br />
Samuel Hahnemann wurde 1755 in Meißen geboren. Sein Vater war Porzellanmaler,<br />
und die Familie war ni<strong>ch</strong>t sehr wohlhabend. Samuel war ein sehr intelligentes und<br />
spra<strong>ch</strong>begabtes Kind, aber seine Eltern hatten ni<strong>ch</strong>t die finanziellen Mögli<strong>ch</strong>keiten, ihn<br />
auf eine höhere S<strong>ch</strong>ule zu bringen. Dank seiner großen Begabung fand si<strong>ch</strong> ein Gönner,<br />
der dem jungen Hahnemann eine höhere S<strong>ch</strong>ulbildung finanzierte. Da er s<strong>ch</strong>on in jungen<br />
Jahren 5 Spra<strong>ch</strong>en fließend spre<strong>ch</strong>en konnte, war es ihm mögli<strong>ch</strong>, si<strong>ch</strong> seinen größten<br />
Traum zu erfüllen, - Arzt zu werden.<br />
68 Dr. C. S. Mack, Philosophy in Homeopathy, S. 90-99.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 96<br />
Sein Medizinstudium finanzierte er si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> Übersetzen von pharmazeutis<strong>ch</strong>er, <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>er<br />
und medizinis<strong>ch</strong>er Literatur. Alle fremdspra<strong>ch</strong>ige Fa<strong>ch</strong>literatur ging damals<br />
dur<strong>ch</strong> seine Hände und so erlangte er s<strong>ch</strong>on in frühen Jahren das größte fa<strong>ch</strong>übergreifende<br />
Wissen seiner Zeit.<br />
Zehn Jahre später, 1790, ließ er si<strong>ch</strong> das erste Mal als praktis<strong>ch</strong>er Arzt nieder. Er bemerkte<br />
allerdings s<strong>ch</strong>on bald eine große Unsi<strong>ch</strong>erheit im Umgang mit den Patienten,<br />
obwohl er über ein großes medizinis<strong>ch</strong>es Wissen verfügte. Er spürte, daß es an allgemeingültigen<br />
Gesetzen zur Behandlung von Kranken fehlte. Wie konnte er si<strong>ch</strong>er sein,<br />
einem Patienten ni<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> mehr zu s<strong>ch</strong>aden? Wie konnte er wissen, ob er einen kranken<br />
Mens<strong>ch</strong>en wirkli<strong>ch</strong> zu größerer Gesundheit, oder ob er ihn nur in no<strong>ch</strong> größeres<br />
Leid führte? Wo waren die Ri<strong>ch</strong>tlinien zur Behandlung von kranken Mens<strong>ch</strong>en?<br />
Es gab so viele unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>e Meinungen zur Behandlung der vers<strong>ch</strong>iedenen Krankheiten.<br />
Jede Fakultät hielt nur ihre Therapie für die heilbringende. Versammelten si<strong>ch</strong><br />
fünf Ärzte um ein Krankenbett, so gab es fünf Diagnosen und fünf Therapien. Das konnte<br />
ni<strong>ch</strong>t die wahre Heilkunde sein. Eine Heilung darf ni<strong>ch</strong>t von Meinungen abhängen.<br />
Wel<strong>ch</strong>er Meinung und wel<strong>ch</strong>em Arzt sollte er sein Vertrauen s<strong>ch</strong>enken? Es mußte do<strong>ch</strong><br />
ein allgemeingültiges Gesetz zur Heilung von kranken Mens<strong>ch</strong>en geben! Solange dieses<br />
ni<strong>ch</strong>t gefunden war, solange wollte er keinen Patienten mehr anfassen. S<strong>ch</strong>on ein Jahr<br />
später, 1791, hängte er deshalb seinen Arztkittel an den Nagel. Ab jetzt versu<strong>ch</strong>te er,<br />
seine Frau Henriette und die stetig ansteigende Kinderzahl mit Übersetzertätigkeiten<br />
mehr s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t als re<strong>ch</strong>t zu ernähren.<br />
1790 mußte er ein Werk des Engländers Cullen übersetzen, der u. a. bes<strong>ch</strong>rieb, wie<br />
man We<strong>ch</strong>selfieber mit Chinarinde erfolgrei<strong>ch</strong> heilen konnte. Cullen erklärte den heilsamen<br />
Einfluß auf das We<strong>ch</strong>selfieber dur<strong>ch</strong> die "magenstärkende Wirkung" der Chinarinde.<br />
Darüber wunderte si<strong>ch</strong> Hahnemann sehr, denn er kannte viele Substanzen, die<br />
no<strong>ch</strong> viel kräftiger auf den Magen einwirkten, aber keinerlei Einfluß auf das We<strong>ch</strong>selfieber<br />
zeigten. Dies konnte also ni<strong>ch</strong>t das Wirkprinzip sein. Es mußte etwas in der Chinarinde<br />
geben, das direkt auf das Fieber einwirkte. Er überlegte, wie man wohl die heilsame<br />
Wirkung der Chinarinde ergründen könnte, ohne auf Spekulationen angewiesen<br />
zu sein.<br />
Da bekam er einen göttli<strong>ch</strong>en Einfall: "Was passiert wohl, wenn ein Gesunder die glei<strong>ch</strong>e<br />
Menge Chinarinde einnimmt, die Cullen als heilsam bei We<strong>ch</strong>selfieber bes<strong>ch</strong>rieben<br />
hat? Um die Wirkungen einer Arznei zu erfors<strong>ch</strong>en, ist es wohl das Beste, sie als Gesunder<br />
einzunehmen!" Um also der Wahrheit ein wenig näher zu kommen, nahm er -<br />
trotz des gesundheitli<strong>ch</strong>en Risikos - die Chinarinde in der Dosierung ein, wie sie Cullen<br />
als heilsam bei We<strong>ch</strong>selfieber empfahl.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 97<br />
S<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> einigen Tagen spürte er eine Veränderung in seinem Befinden; es stellten<br />
si<strong>ch</strong> Symptome ein, die er ganz sorgfältig und penibel aufs<strong>ch</strong>rieb. Sein alter gesunder<br />
Zustand, wie er ihn von si<strong>ch</strong> selber kannte, vers<strong>ch</strong>wand, und Befindensveränderungen<br />
auf allen Ebenen stellten si<strong>ch</strong> ein. Er war ers<strong>ch</strong>öpft, sein sonst ruhiges Wesen verwandelte<br />
si<strong>ch</strong> in nervöse Reizbarkeit, Unruhe und depressive Stimmung. Im Kopf hatte er<br />
das Gefühl, als ob das Gehirn gegen den S<strong>ch</strong>ädel s<strong>ch</strong>lüge. In den Gliedern spürte er<br />
Taubheitsgefühle und Zittern.<br />
Na<strong>ch</strong> ein paar Tagen s<strong>ch</strong>aute er si<strong>ch</strong> diese Symptomenauflistung an und stellte zu seiner<br />
Überras<strong>ch</strong>ung fest, daß er Symptome entwickelte, die einem We<strong>ch</strong>selfieber täus<strong>ch</strong>end<br />
ähnli<strong>ch</strong> waren. Er setzte die Arznei ab und die Symptome vers<strong>ch</strong>wanden na<strong>ch</strong><br />
einigen Tagen. Sein alter gesunder Zustand kehrte auf allen Ebenen zurück. Das konnte<br />
aber au<strong>ch</strong> nur ein Zufall sein, und so fing er no<strong>ch</strong>mals an, die Arznei einzunehmen, und<br />
wieder stellten si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> ein paar Tagen diese Befindensveränderungen ein. Es setzte die<br />
Arznei erneut ab und alle Veränderungen vers<strong>ch</strong>wanden und der alte gesunde Zustand<br />
kehrte zurück.<br />
Um si<strong>ch</strong>er zu gehen, gab er die Chinarinde gesunden Verwandten und Bekannten, und<br />
zu seinem Erstaunen stellten si<strong>ch</strong> bei allen "Prüfern" mehr oder weniger stark diese<br />
speziellen Befindensveränderungen ein. Wurde die Arznei abgesetzt, so vers<strong>ch</strong>wanden<br />
alle Symptome und der jeweils alte gesunde Zustand kehrte zurück. Hahnemann notierte<br />
au<strong>ch</strong> die Symptome der anderen "Prüfer" ganz penibel und erstellte so ein Prüfungsprotokoll<br />
der Chinarinde bei Prüfung am gesunden Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Angeregt dur<strong>ch</strong> diese Entdeckung erwa<strong>ch</strong>te sein Fors<strong>ch</strong>ergeist und nun begann er eifrig,<br />
alle damaligen Arzneisubstanzen auf ihre Mögli<strong>ch</strong>keit, das gesunde mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Befinden zu verändern, zu untersu<strong>ch</strong>en. Er "prüfte" alle Substanzen an si<strong>ch</strong>, seinen<br />
Freunden und Bekannten.<br />
Für die Prüfung benutzte er ganz geringe Mengen der Ursubstanz, die tägli<strong>ch</strong> mehrmals<br />
eingenommen wurden, bis si<strong>ch</strong> deutli<strong>ch</strong> wahrnehmbare objektive und subjektive Befindensveränderungen<br />
einstellten. Alle auftretenden Befindensveränderungen, die si<strong>ch</strong> auf<br />
der geistigen, emotionalen und körperli<strong>ch</strong>en Ebene einstellten, wurden genau protokolliert<br />
und ausgewertet. Na<strong>ch</strong>dem er viele der damals übli<strong>ch</strong>en Arzneien genau geprüft<br />
und "Prüfungsprotokolle" erstellt hatte, begann er au<strong>ch</strong> Substanzen zu prüfen, die no<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>t als Arznei verwendet wurden, um deren Potential, das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Befinden zu<br />
verändern, zu erfors<strong>ch</strong>en. Die Prüfung der Tollkirs<strong>ch</strong>e z. B. erbra<strong>ch</strong>te folgende <strong>ch</strong>arakteristis<strong>ch</strong>e<br />
Befindensänderungen: Ho<strong>ch</strong>roter Kopf, weite Pupillen, durstlos trotz trockenen<br />
Mundes, starke Unruhe, Halluzinationen, Halss<strong>ch</strong>merzen und Ohrens<strong>ch</strong>merzen re<strong>ch</strong>ts,<br />
starkes Herzklopfen usw. Die Sammlung an Prüfungsprotokollen sämtli<strong>ch</strong>er Arzneien
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 98<br />
stelle er zur "Reinen Arzneimittelprüfung" zusammen und stellte fest: Jede Arznei ma<strong>ch</strong>t<br />
krank! Jede, ohne Ausnahme.<br />
Ein Gesunder, der eine Arznei einnimmt, wird zum Arzneikranken mit arzneispezifis<strong>ch</strong>er<br />
Symptomatik! Wird die Arznei abgesetzt, so vers<strong>ch</strong>windet diese Arzneikrankheit und der<br />
alte gesunde Zustand kehrt zurück. Das nennt man Arzneimittelprüfung. Als Hahnemann<br />
ungefähr 60 - 80 Arzneien auf ihre ihnen innewohnende Wirksamkeit hin geprüft hatte<br />
und so über ein sehr genaues Arzneiwissen verfügte, eröffnete er seine Praxis, denn er<br />
wollte nun sehen, was er mit diesem Wissen praktis<strong>ch</strong> anfangen konnte.<br />
Kam eine Mutter mit einem ho<strong>ch</strong>fiebernden Kind, so s<strong>ch</strong>aute si<strong>ch</strong> Hahnemann sehr genau<br />
diese Befindensveränderungen an. Zeigte dieses Kind z. B. einen ho<strong>ch</strong>roten Kopf,<br />
erweiterte Pupillen, Unruhe, Halss<strong>ch</strong>merzen, Ohrens<strong>ch</strong>merzen und Halluzinationen, so<br />
fragte er si<strong>ch</strong>: "Bei wel<strong>ch</strong>er Arzneieinnahme ging es mir ähnli<strong>ch</strong>, wie nun diesem kranken<br />
Kind? Bei der Tollkirs<strong>ch</strong>enprüfung fühlte i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong> wie si<strong>ch</strong> dieses Kind<br />
jetzt fühlen muß. Er gab nun dem Kind die Tollkirs<strong>ch</strong>enurtinktur in ganz geringer Dosis<br />
mehrmals am Tag. Das Kind reagierte sehr heftig auf die Arznei, denn das Fieber stieg<br />
no<strong>ch</strong> einmal an, die S<strong>ch</strong>merzen und au<strong>ch</strong> die Unruhe wurden stärker, aber s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> 1<br />
- 2 Tagen klangen alle Krankheitsers<strong>ch</strong>einungen ab und das Kind wurde auf allen Ebenen<br />
wieder gesund. So arbeitete er nun tägli<strong>ch</strong> mit Dutzenden Patienten, indem er si<strong>ch</strong><br />
immer wieder genau ihre Befindensveränderungen s<strong>ch</strong>ildern ließ und überlegte, bei<br />
wel<strong>ch</strong>er Arznei er ähnli<strong>ch</strong>e Prüfungssymptome entwickelte, wie sie nun dieser kranke<br />
Mens<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ilderte. Als er Hunderte von Patienten erfolgrei<strong>ch</strong> behandelt hatte, gab es für<br />
ihn keinen Zweifel mehr an seiner Heillehre und er formulierte sie das erste Mal öffentli<strong>ch</strong>,<br />
indem er die Grundgesetze zur Heilung von kranken Mens<strong>ch</strong>en aufführte.<br />
1. Grundsatz: "Ähnli<strong>ch</strong>es werde mit Ähnli<strong>ch</strong>em geheilt."<br />
Eine Arznei, die einen kranken Mens<strong>ch</strong>en gesund ma<strong>ch</strong>t, muß bei Prüfung am Gesunden<br />
ein ähnli<strong>ch</strong>es Ers<strong>ch</strong>einungsbild hervorrufen!<br />
2. Grundsatz: "Prüfung der Arznei am Gesunden"<br />
Die Arzneien dürfen ni<strong>ch</strong>t am kranken Mens<strong>ch</strong>en geprüft werden, weil sein Organismus<br />
s<strong>ch</strong>on krankhaft gestört ist und so keine reinen Arzneireaktionen zu erwarten sind.<br />
Au<strong>ch</strong> sollten kranke Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t no<strong>ch</strong> zusätzli<strong>ch</strong> belastet werden. Der gesunde<br />
Mens<strong>ch</strong> stellt si<strong>ch</strong> zu Verfügung, damit dem kranken Mens<strong>ch</strong>en geholfen werden kann.<br />
3. Grundsatz: "Verwendung von potenzierter Arznei"<br />
Und wie kam es nun dazu? Hahnemann nahm an Anfang no<strong>ch</strong> ganz geringe Dosen der<br />
Ursubstanz (in unserem Fall die Tollkirs<strong>ch</strong>entinktur) und verabrei<strong>ch</strong>te sie mehrmals<br />
tägli<strong>ch</strong>, na<strong>ch</strong> dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzip ausgewählt, dem Kind mit dem hohen Fieber. Es
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 99<br />
erfolgten zuerst unangenehme "Erstvers<strong>ch</strong>limmerungen" der herrs<strong>ch</strong>enden Symptome.<br />
Aber Hahnemann wollte sanft heilen, ohne starke Erstvers<strong>ch</strong>limmerungen, und er<br />
s<strong>ch</strong>rieb diese heftigen Reaktionen der no<strong>ch</strong> starken Giftigkeit der Substanz zu. Also<br />
mußte er die Dosis verringern. Er fing aber ni<strong>ch</strong>t an, die Arznei zu halbieren, zu dritteln<br />
oder zu vierteln, so wie wir es täten, sondern er nahm ein Teil Tollkirs<strong>ch</strong>entinktur mit<br />
100 Teilen Alkohol-Wassergemis<strong>ch</strong> und vers<strong>ch</strong>üttelte es zehn Mal kräftig, um es gut zu<br />
vermengen, und bes<strong>ch</strong>riftete die Flas<strong>ch</strong>e mit Tollkirs<strong>ch</strong>e C 1 = Centesimal 1; Verhältnis<br />
Tollkirs<strong>ch</strong>e zu Lösungsmittel 1 : 99<br />
All seine Arzneien "verdünnte" er zu einer C 1. Nun verordnete er nur no<strong>ch</strong> die Arzneien<br />
in der C 1 und beoba<strong>ch</strong>tete die auftretenden Reaktionen. Die Erstvers<strong>ch</strong>limmerungen<br />
waren ni<strong>ch</strong>t mehr so heftig, die Heilwirkung blieb jedo<strong>ch</strong> erhalten. Also ging er daran,<br />
die Arznei no<strong>ch</strong> "ungiftiger" zu ma<strong>ch</strong>en. Er nahm von der Tollkirs<strong>ch</strong>e C 1 einen Teil,<br />
vers<strong>ch</strong>üttelte ihn zehn Mal kräftig mit 100 Teilen Lösungsmittel und bes<strong>ch</strong>riftete die<br />
Flas<strong>ch</strong>e mit Tollkirs<strong>ch</strong>e C 2 .<br />
Au<strong>ch</strong> diese Dosierung prüfte er wieder an seinen Patienten. Die heftigen Erstreaktionen<br />
wurden immer sanfter, die erwüns<strong>ch</strong>te heilende Wirkung hielt jedo<strong>ch</strong> an. Bei der C 6<br />
stellte er kaum no<strong>ch</strong> Erstvers<strong>ch</strong>limmerungen fest. Mit dieser Dosierung, die keine Vers<strong>ch</strong>limmerungen<br />
mehr bewirkte, hätte er si<strong>ch</strong> eigentli<strong>ch</strong> zufrieden geben können. Aber<br />
da erwa<strong>ch</strong>te abermals Hahnemanns Fors<strong>ch</strong>ergeist. Nun wollte er gerne wissen, ab wel<strong>ch</strong>er<br />
Verdünnung keine Wirksamkeit der Arznei mehr spürbar war. Also fuhr er mit<br />
dem Verringern der Arzneidosis fort und prüfte jede Dosis auf ihre Wirksamkeit am<br />
kranken Mens<strong>ch</strong>en. Zu seiner Überras<strong>ch</strong>ung war es aber ni<strong>ch</strong>t so, wie man lei<strong>ch</strong>t hätte<br />
vermuten können, daß die Arzneien um so weniger Wirkungen zeigten, je höher er potenzierte,<br />
sondern zu seinem großen Erstaunen mußte er das Gegenteil erfahren: Je<br />
stärker er die Dosis verkleinerte (verdünnte und vers<strong>ch</strong>üttelte), um so stärker wurde ihre<br />
Heilwirkung (es gab keine Erstvers<strong>ch</strong>limmerungen mehr) und um so seltener mußte<br />
er die Gaben wiederholen. Konnte das mit re<strong>ch</strong>ten Dingen zugehen?<br />
Hahnemann war ein gewissenhafter Arzt und er prüfte seine Entdeckung immer und<br />
immer wieder, bevor er jemandem davon erzählte. Zu seiner Überras<strong>ch</strong>ung war es die C<br />
30, die am s<strong>ch</strong>nellsten und sanftesten eine Heilung bewirkte. Erst als er Hunderte von<br />
Patienten mit einer C 30 s<strong>ch</strong>nell, sanft und si<strong>ch</strong>er von ihrem Übel befreit hatte, ging er<br />
damit an die Öffentli<strong>ch</strong>keit. Man erklärte ihn für verrückt und viele seiner (mittlerweile)<br />
großen Anhängers<strong>ch</strong>ar wandten si<strong>ch</strong> von ihm ab. In den immateriellen Berei<strong>ch</strong> wollten<br />
ihm nur wenige folgen und viele, die zwar zunä<strong>ch</strong>st Anhänger der "Ähnli<strong>ch</strong>keitslehre"<br />
waren, konnten diesen Weg ni<strong>ch</strong>t mitgehen und weigerten si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong>, es zumindest zu<br />
versu<strong>ch</strong>en.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 100<br />
Hahnemann jedo<strong>ch</strong> ließ si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t beirren. Sein Ruf als wundersamer Heiler ging nun<br />
s<strong>ch</strong>on weit über Deuts<strong>ch</strong>lands Grenzen hinaus und viele Patienten aus aller Welt pilgerten<br />
zu ihm, um von ihren Krankheiten befreit zu werden. Hahnemann fing an, alle mögli<strong>ch</strong>en<br />
Substanzen aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierrei<strong>ch</strong> auf ihre Fähigkeit zu prüfen,<br />
das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Befinden zu verändern. Alle Stoffe wurden auf eine C 30 ho<strong>ch</strong>potenziert<br />
und erst dann von den Prüfern eingenommen. Er potenzierte au<strong>ch</strong> Substanzen,<br />
die in der Ursubstanz, au<strong>ch</strong> in größeren Mengen genossen, keinerlei Arzneikraft aufwiesen<br />
- und mußte wieder zu seinem Erstaunen feststellen, daß sie, in der C 30 eingenommen,<br />
eine große Kraft besaßen, das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Befinden zu verändern.<br />
James Tyler Kent s<strong>ch</strong>reibt: "Die Kraft kommt von innen, von einem Zentrum her: Deshalb<br />
potenzieren wir unsere Medikamente höher und höher, um eben diesem Zentrum<br />
näher zu kommen, denn je näher dem Zentrum, desto intensiver ist die Kraft. In diesem<br />
Sinne wird das Medikament dur<strong>ch</strong> die Potenzierung immer stärker. Materiell wird das<br />
Medikment immer s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>er."<br />
Was ges<strong>ch</strong>ieht aber bei dem so umstrittenen Potenzierungsprozess? Man kann si<strong>ch</strong> das<br />
folgendermaßen vorstellen: Hinter jeder Materie steht ja die geistige Kraft, die das Äußere<br />
formt. Swedenborg sagt: "Alles materiell Si<strong>ch</strong>tbare hat seine Ursa<strong>ch</strong>e im dahinterliegenden<br />
Geistigen." Dur<strong>ch</strong> den Verdünnungs- und Vers<strong>ch</strong>üttelungsprozeß wird nun<br />
das Geistige oder die Information vom Informationsträger gelöst. Die grobe Außens<strong>ch</strong>ale<br />
wird na<strong>ch</strong> und na<strong>ch</strong> entfernt und die dahinterliegende Kraft kann si<strong>ch</strong> mehr und mehr<br />
entfalten. Diese Kraft wird nun an einen neutralen Informationsträger gebunden (Alkohol-Wassergemis<strong>ch</strong><br />
oder Mil<strong>ch</strong>zucker). Diese von der materiellen Bindung losgelöste<br />
Arzneikraft vemag nun, unmittelbar auf die seelis<strong>ch</strong>e Ebene einzuwirken.<br />
Hahnemann fand also heraus, daß eine ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>e Arznei heilen konnte, sofern sie<br />
na<strong>ch</strong> dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzip verordnet wurde. Daran gab es ni<strong>ch</strong>ts zu rütteln, denn<br />
die tägli<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>nellen und sanften Heilungen waren Beweis genug. Jetzt setzte er wieder<br />
seinen logis<strong>ch</strong>en Verstand ein und kam zu dem S<strong>ch</strong>luß: "Wenn eine ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>e<br />
Arznei heilend wirkt, so muß die Quelle der Erkrankung (logis<strong>ch</strong>erweise) au<strong>ch</strong> im<br />
ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> liegen."<br />
Diesen ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> nannte er Lebenskraft oder Dynamis. Ni<strong>ch</strong>t der Körper ist<br />
der eigentli<strong>ch</strong>e Träger der Krankheit, sondern die Kraft, wel<strong>ch</strong>e diesen Körper ges<strong>ch</strong>affen<br />
hat, ihn unterhält, Störungen reguliert und ihn na<strong>ch</strong> dem Tode wieder verläßt. Die<br />
Lebenskraft kann man ni<strong>ch</strong>t sehen, messen oder anfassen, man erkennt sie nur an den<br />
Manifestationen, die sie im Körper hinterläßt. Krankheiten können wir niemals sehen,<br />
ebensowenig wie wir das Leben selbst sehen können. Die Lebenskraft ist ni<strong>ch</strong>t direkt<br />
na<strong>ch</strong>weisbar, denn sie steht hinter der Chemie und die organis<strong>ch</strong>e Chemie entsteht nur<br />
dur<strong>ch</strong> diese dynamis<strong>ch</strong>e Kraft. Normalerweise spürt man die Tätigkeit der Lebenskraft
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 101<br />
ni<strong>ch</strong>t. Kommt es aber zu einer Verstimmung, so sagt man: "I<strong>ch</strong> spüre …" Die Funktionen<br />
der Organe, wie des Magens, der Leber, der Nieren usw., spürt man normalerweise<br />
ni<strong>ch</strong>t; in dem Moment aber, wo im immateriellen Berei<strong>ch</strong> (Lebenskraftebene) eine Störung<br />
vorhanden ist, sagt man: "I<strong>ch</strong> spüre meinen Magen, Übelkeit, S<strong>ch</strong>merzen usw."<br />
Erst die Störung dringt zum Bewußtsein vor; wenn alles normal ist, spürt der Mens<strong>ch</strong><br />
ni<strong>ch</strong>ts! Beginnt man mit den heutigen diagnostis<strong>ch</strong>en Geräten eine Untersu<strong>ch</strong>ung, würde<br />
man zu diesem Zeitpunkt no<strong>ch</strong> kein Ergebnis erhalten, organis<strong>ch</strong> ist alles in Ordnung,<br />
aber der Patient hat s<strong>ch</strong>on Befindensveränderungen gegenüber seinem gesunden<br />
Zustand. Der Prüfer spürt dur<strong>ch</strong> die künstli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit Befindensveränderungen,<br />
und der gesunde Mens<strong>ch</strong> spürt bei Eintreten der natürli<strong>ch</strong>en Krankheit Befindensveränderungen.<br />
Ein häufiges Beispiel: Ein Patient beklagt Magendruck, Übelkeit, Empfindli<strong>ch</strong>keit gegen<br />
bestimmte Nahrungsmittel usw. Er geht zu einem S<strong>ch</strong>ulmediziner, aber der kann ni<strong>ch</strong>ts<br />
entdecken. So wird der Patient na<strong>ch</strong> Hause ges<strong>ch</strong>ickt ohne Ergebnis. Der Patient fühlt<br />
si<strong>ch</strong> immer no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t wohl, die Bes<strong>ch</strong>werden bleiben oder werden immer s<strong>ch</strong>limmer.<br />
Jedes Jahr geht er zur Untersu<strong>ch</strong>ung ohne Ergebnis. Jahre später entdeckt man ein Magenges<strong>ch</strong>wür,<br />
das nun endli<strong>ch</strong> medikamentös behandelt werden kann. Das Magenges<strong>ch</strong>wür<br />
ist ni<strong>ch</strong>t die Krankheit, sondern das Endresultat der Krankheit! Die si<strong>ch</strong>tbaren<br />
Zellstrukturveränderungen, die man mit den heutigen Geräten messen kann, sind das<br />
Endresultat der Krankheit, ni<strong>ch</strong>t aber die Krankheit selbst. Veränderungen in den Empfindungen<br />
verraten uns den Beginn der Erkrankungen, no<strong>ch</strong> bevor Zellstrukturveränderungen<br />
si<strong>ch</strong>tbar sind. Ni<strong>ch</strong>t die Magenges<strong>ch</strong>würe sind die Krankheit, sondern der Prozeß<br />
der Entstehung des Magenges<strong>ch</strong>würes. Eine lokale Behandlung dieses Endergebnisses<br />
berührt die dahinterliegende Störung ni<strong>ch</strong>t. Der Patient war s<strong>ch</strong>on krank, als er die Befindensveränderungen<br />
feststellte und sagte: "I<strong>ch</strong> spüre …" - da beginnt s<strong>ch</strong>on die<br />
Krankheit.<br />
Hahnemann arbeitete Tag und Na<strong>ch</strong>t an der Erweiterung seiner Lehre. Er und seine<br />
S<strong>ch</strong>üler prüften immer neue Substanzen auf ihre Fähigkeit, das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Befinden<br />
zu verändern. Je mehr Mittel gefunden wurden, um so mehr Mens<strong>ch</strong>en konnte geholfen<br />
werden. Er heilte tägli<strong>ch</strong> viele kranke Mens<strong>ch</strong>en mit seinen "dynamisierten Arzneien" -<br />
wie er sie nannte - verordnet na<strong>ch</strong> dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzip. Viele Jahre arbeitete er<br />
sehr erfolgrei<strong>ch</strong> in seiner Praxis, bis er einige Male bei hartnäckig <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> kranken<br />
Mens<strong>ch</strong>en beoba<strong>ch</strong>tete, daß die Krankheit na<strong>ch</strong> anfängli<strong>ch</strong>er Besserung immer wieder<br />
in alter Stärke zurückkehrte. Er wollte aber ni<strong>ch</strong>t nur kurzfristig heilen, sondern<br />
s<strong>ch</strong>nell, sanft, si<strong>ch</strong>er und vor allem dauerhaft. An der Wahl der Arznei konnte es ni<strong>ch</strong>t<br />
liegen, da zumindest jedesmal eine kurzfristige Besserung eintrat. An dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzip<br />
konnte es au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t liegen. Aber woran lag es dann? Um der Sa<strong>ch</strong>e auf
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 102<br />
den Grund zu gehen, fing er nun ganz penibel an, die <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> kranken Patienten genauestens<br />
zu befragen. Er nahm die Gesamtheit der Symptome des <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> kranken<br />
Patienten auf, und zwar vom Beginn bis zu ihrem Jetztzustand. So erhielt er ein umfassendes<br />
Bild der vorherrs<strong>ch</strong>enden Krankheit. Au<strong>ch</strong> die Krankenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Vorfahren<br />
nahm er genauestens unter die Lupe. Hahnemann erstellte 12 Jahre lang über jeden<br />
<strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> erkrankten Patienten ein umfangrei<strong>ch</strong>es Krankenjournal mit allen Aufzei<strong>ch</strong>nungen.<br />
Er vergli<strong>ch</strong> alle Patientenberi<strong>ch</strong>te miteinander, arbeitete gemeinsame Züge<br />
heraus und vereinigte alles zu einem großen Ganzen.<br />
Hahnemann erkannte ganz bestimmte Zusammenhänge, Gesetzmäßigkeiten und Vererbungsmuster,<br />
die er in drei große Gruppen einteilte. Er nannte sie die Psora, Sykosis<br />
und Syphilis. Alle zusammen wurden unter dem Begriff "Miasmen" oder au<strong>ch</strong> "Vers<strong>ch</strong>mutzungen"<br />
zusammengefasst. Er stellte fest, daß die Neigungen zu bestimmten<br />
<strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten s<strong>ch</strong>on vom Geburt an im Mens<strong>ch</strong>en verankert sind und ni<strong>ch</strong>t<br />
dur<strong>ch</strong> äußere Einflüsse hervorgerufen werden. Die Miasmen prägen das Individuum<br />
und bestimmen die inneren Neigungen zu bestimmten <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Leiden und Empfängli<strong>ch</strong>keiten<br />
für bestimmte äußere Krankheitseinflüsse!<br />
Beispiele für Miasmen: Die Psora = der konstitutionelle Zustand des Mangels, der<br />
Hemmung oder der Organunterfunktion. Die Sykose = der konstitutionelle Zustand der<br />
Übers<strong>ch</strong>wengli<strong>ch</strong>keit, Ausuferung oder der Organüberfunktion. Die Syphilis = der konstitutionelle<br />
Zustand der Zerstörung, Degeneration und Aggression oder der pervertierten<br />
Organfunktion.<br />
In Bezug auf die Haut bedeutet das: Ein Mens<strong>ch</strong>, der unter dem psoris<strong>ch</strong>en Miasma geboren<br />
ist, neigt zu trockenen, s<strong>ch</strong>uppenden und lei<strong>ch</strong>t unterdrückbaren Hautauss<strong>ch</strong>lägen<br />
(Organunterfunktion). Ein Mens<strong>ch</strong>, der unter dem sykotis<strong>ch</strong>en Miasma geboren ist,<br />
neigt zu Wu<strong>ch</strong>erungen wie Warzen, Polypen, Fibrome, Kondylomen, Muttermalen usw.<br />
(Organüberfunktion). Ein Mens<strong>ch</strong>, der unter dem syphilitis<strong>ch</strong>en Miasma geboren ist,<br />
neigt zu Ges<strong>ch</strong>würen, Rhagaden, Fissuren usw. (zerstörende oder pervertierte Organfunktionen)<br />
Hahnemann erkannte, daß diese erbli<strong>ch</strong>en "Vers<strong>ch</strong>mutzungen" (Miasmen) immer eine<br />
Grunderkrankung als Ursa<strong>ch</strong>e hatten, die si<strong>ch</strong> dynamis<strong>ch</strong> an die Lebenskraft heftete<br />
und so als Organs<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en und innere Empfängli<strong>ch</strong>keiten für Krankheiten an die<br />
Na<strong>ch</strong>kommen weitergegeben wurde.<br />
Miasmen ma<strong>ch</strong>en also erst für bestimmte Krankheiten empfängli<strong>ch</strong> und prägen die Folgekrankheiten<br />
na<strong>ch</strong> Unterdrückung eines Lokalübels dur<strong>ch</strong> allopathis<strong>ch</strong>e Arzneien. Die<br />
Miasmen sind die Prägungen des Mens<strong>ch</strong>en dur<strong>ch</strong> seine Vorfahren, Umwelt und Lebensweise.<br />
Der Mens<strong>ch</strong> wird immer so krank, wie seine vererbte Prägung es zuläßt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 103<br />
Kent s<strong>ch</strong>reibt (immer zitiert aus: "Zur Theorie der Homöopathie: Kents Vorlesungen<br />
über Hahnemanns Organon"): "Man kann in vielen Familien Charakteristika und Besonderheiten<br />
im Erbgang weitergehen sehen. Zuerst die subjektiven Symptome, später<br />
objektive, dur<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>e si<strong>ch</strong> die Anfangsstadien jeder Krankheit ausdrücken. Aber<br />
während si<strong>ch</strong> bei einem Familienmitglied die pathologis<strong>ch</strong>e Anlage S<strong>ch</strong>ritt für S<strong>ch</strong>ritt<br />
zum Krebs entwickelt, kann dieselbe Anlage bei einem anderen Familienmitglied zur<br />
TBC führen usw. - aber wie gesagt aus derselben Anlage." "Na<strong>ch</strong>kommen bekommen<br />
nur die innere Krankheit, ni<strong>ch</strong>t mehr die äußeren Manifestationen."<br />
Den Miasmen liegt immer eine bösartige und aggressive Erkrankung zu Grunde, die<br />
keinerlei Selbstheilungstendenz aufweist und erst mit dem Tod des Patienten erlis<strong>ch</strong>t.<br />
Bei seinem Studium der <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten beoba<strong>ch</strong>tete Hahnemann, daß der Beginn<br />
des Krankseins fast immer in der Behandlung eines Lokalübels lag.<br />
Hahnemann fand z. B. heraus, daß Patienten, die an der Lungens<strong>ch</strong>windsu<strong>ch</strong>t erkrankten,<br />
in jüngeren Jahren alle einen Bläs<strong>ch</strong>enauss<strong>ch</strong>lag, hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en den Fingern<br />
hatten, wel<strong>ch</strong>er mit den damals übli<strong>ch</strong>en Salben unterdrückt wurde. Da stellte si<strong>ch</strong><br />
ihm die Frage: "Was hat die Unterdrückung einer Krankheit mit der Krankheit zu tun,<br />
die na<strong>ch</strong>her folgt?" In der Homöopathie sind die Bakterien und Viren nur die Auslöser<br />
ni<strong>ch</strong>t aber die Ursa<strong>ch</strong>e einer Erkrankung. Wären die Bakterien und Viren die eigentli<strong>ch</strong>e<br />
Ursa<strong>ch</strong>e, so müßte si<strong>ch</strong> unabdingbar jedes Individuum anstecken, was jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
der Fall ist. Die Ursa<strong>ch</strong>en der Erkrankungen sind immer die inneren vererbten Empfängli<strong>ch</strong>keiten.<br />
Dazu Kent: "Die Bakterientheorie will uns glauben ma<strong>ch</strong>en, die göttli<strong>ch</strong>e Vorsehung hätte<br />
diese unendli<strong>ch</strong> kleinen Wesen ges<strong>ch</strong>affen, den Mens<strong>ch</strong>en krank zu ma<strong>ch</strong>en." "Die<br />
Bakterien mögen no<strong>ch</strong> von der Ursa<strong>ch</strong>e enthalten, da die Ursa<strong>ch</strong>en bis in die si<strong>ch</strong>tbaren<br />
Endzustände fortwirken, aber die wahre, tiefste Grundursa<strong>ch</strong>e ist ni<strong>ch</strong>t in ihnen, die<br />
Bakterien selbst haben eine Ursa<strong>ch</strong>e." "Ni<strong>ch</strong>t von äußeren Ursa<strong>ch</strong>en wird der Mens<strong>ch</strong><br />
krank, ni<strong>ch</strong>t von Mikroben no<strong>ch</strong> sogar von Umwelteinflüssen, sondern nur von Ursa<strong>ch</strong>en,<br />
die in ihm selbst liegen. Begreift der homöopathis<strong>ch</strong>e Arzt dies ni<strong>ch</strong>t, so fehlt ihm<br />
eine e<strong>ch</strong>te und wahre Vorstellung von der Krankheit. Entgleisung, Störung im Innersten,<br />
im leitenden Zentrum - ein Zuwenig oder Zuviel - das ist die erste Etappe zur<br />
Krankheit, darauf folgen dann die ersten äußeren Anzei<strong>ch</strong>en, und zwar zuerst in Form<br />
subjektiver, später dann objektiver Symptome. Alle Krankheiten auf Erden sind nur das<br />
Spiegelbild dessen, was im Innern des Mens<strong>ch</strong>en ist. Wäre es ni<strong>ch</strong>t so, wäre er ni<strong>ch</strong>t<br />
empfängli<strong>ch</strong> für Krankheit, könnte er ni<strong>ch</strong>t entwickeln, enthüllen, was in ihm ist. Das<br />
Bild dessen, was im Inneren ist, kommt bei der Krankheit heraus. Wie der Mens<strong>ch</strong><br />
denkt, so sein Leben." Mens<strong>ch</strong>en z. B., die eine Neigung zu Dur<strong>ch</strong>fall haben, infizieren<br />
si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on damit, wenn im letzten Haus in der Straße jemand an Dur<strong>ch</strong>fall erkrankt ist.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 104<br />
Die glei<strong>ch</strong>en Mens<strong>ch</strong>en können in einen Raum mit 50 Mens<strong>ch</strong>en, die eine Bron<strong>ch</strong>itis<br />
haben, gehen, ohne si<strong>ch</strong> anzustecken.<br />
Es gibt in der heutigen Zeit niemanden mehr, der ohne starke miasmatis<strong>ch</strong>e Belastung<br />
auf die Welt kommt. Dur<strong>ch</strong> die jahrhundertealte Unterdrückung von Krankheiten werden<br />
diese Miasmen immer vielfältiger, bösartiger und au<strong>ch</strong> aggressiver. Kent: "Die Miasmen,<br />
wel<strong>ch</strong>e die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Rasse heutzutage krank ma<strong>ch</strong>en, sind dur<strong>ch</strong> allopathis<strong>ch</strong>e<br />
Behandlung no<strong>ch</strong> tausendfa<strong>ch</strong> komplizierter gema<strong>ch</strong>t worden." (Kents Erkenntnis<br />
um 1900!)<br />
Jedes Individuum kommt mit einer bestimmten Stärke an Lebenskraft auf die Welt und<br />
mit einer bestimmten Stärke der mitgebra<strong>ch</strong>ten Miasmen (die si<strong>ch</strong> an die Lebenskraft<br />
als störendes und zerstörendes Element anheften). Jeder von uns hat seine individuelle<br />
Neigung zu <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten. Der eine neigt zu Rheuma, der nä<strong>ch</strong>ste zu Asthma,<br />
wieder der nä<strong>ch</strong>ste zu Diabetes usw.<br />
Kent: "Wir haben zwei Dinge auseinander zu halten, den akuten Zustand, dur<strong>ch</strong> die<br />
Krankheit hervorgerufen und den darunterliegenden <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Zustand, den natürli<strong>ch</strong>en<br />
Zustand jedes Patienten, der unter Miasmen geboren ist."<br />
Warum erkrankt einer an dieser, der andere an jener <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Erkrankung? Wir<br />
sind immer nur so gesund wie unsere Vorfahren! Normalerweise hält die Lebenskraft<br />
die Miasmen in "S<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>" sie s<strong>ch</strong>lummern in der Tiefe und können ni<strong>ch</strong>t erwa<strong>ch</strong>en.<br />
Deshalb sind Kinder normalerweise sehr gesund und neigen eigentli<strong>ch</strong> kaum zu <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en<br />
Krankheiten, da ihre Lebenskraft no<strong>ch</strong> ungetrübt ist. Erst im Alter, wenn die Lebenskraft<br />
auf natürli<strong>ch</strong>e Weise na<strong>ch</strong>läßt, beginnen die <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Leiden hervorzubre<strong>ch</strong>en.<br />
Aber wie sieht es heutzutage aus? Wie viele <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> kranke Kinder gibt es in<br />
dieser Generation, spri<strong>ch</strong>, wie viele Kinder gibt es eigentli<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong>, die ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on vom<br />
Säuglingsalter an <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> krank sind? Die Miasmen werden von Generation zu Generation<br />
stärker und die Lebenskraft sinkt im Gegensatz dazu!<br />
Hahnemann begann alle seine Mittel dahingehend zu untersu<strong>ch</strong>en, wel<strong>ch</strong>e auslös<strong>ch</strong>enden<br />
Wirkungen sie auf diese vererbten Miasmen besitzen und teilte die gesamten Arzneien<br />
au<strong>ch</strong> in diese Gruppen ein. Es gibt somit die psoris<strong>ch</strong>en, sykotis<strong>ch</strong>en und syphilitis<strong>ch</strong>en<br />
Arzneien. Hatte er einmal das vorherrs<strong>ch</strong>ende Miasma beim Patienten erkannt,<br />
so nahm er eine Arznei, die die Kraft besaß, auf diese Miasmen s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>end einzuwirken<br />
und erzielte dadur<strong>ch</strong> dauerhafte Erfolge bei der Heilung von - aus allopathis<strong>ch</strong>er<br />
Si<strong>ch</strong>t - unheilbar kranken Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Alle Maßnahmen, wel<strong>ch</strong>e die Lebenskraft s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>en, lassen die Miasmen hervorbre<strong>ch</strong>en.<br />
S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>end auf die Lebenskraft wirken: s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>te Lebensweise, Nahrungs- und<br />
Umweltgifte, wenig S<strong>ch</strong>laf, Allopathie, Impfungen, Kummer usw. Gute Ernährung, gute
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 105<br />
Lebensweise wirken stärkend auf die Lebenskraft, aber ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>end auf die Miasmen.<br />
Einzig und allein die Homöopathie vermag direkt auf die vererbten Vers<strong>ch</strong>mutzungen<br />
reinigend und s<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>end einzuwirken. Die Patienten werden im Laufe der<br />
Therapie immer belastbarer. Hahnemann widmete den Rest seines Lebens nur no<strong>ch</strong> der<br />
Erfors<strong>ch</strong>ung und Therapie der <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten und starb im hohen Alter von<br />
88 Jahren 1843 in Paris.<br />
Wie sieht die Homöopathie heute aus?<br />
Sie hat si<strong>ch</strong> in den letzten 200 Jahren in ihren Grundzügen ni<strong>ch</strong>t verändert. Die Homöopathie<br />
ist das göttli<strong>ch</strong>e Naturgesetz zur Heilung von kranken Mens<strong>ch</strong>en und wird si<strong>ch</strong><br />
au<strong>ch</strong> in Zukunft in ihren Grundlagen ni<strong>ch</strong>t ändern. Hahnemanns Na<strong>ch</strong>folger prüften<br />
ständig neue Arzneien, und so können wir heute auf einen S<strong>ch</strong>atz von nahezu <strong>2000</strong> geprüften<br />
Arzneien aus dem Pflanzen-, Mineral- und Tierrei<strong>ch</strong> zurückgreifen. Einem Homöopathen<br />
ist es heute unmögli<strong>ch</strong>, in seinem Leben alle Arzneien am eigenen Leibe zu<br />
prüfen. Deshalb stehen die gesamten "Prüfungsprotokolle" als Arzneimittellehre dem<br />
Therapeuten zum Na<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>lagen zur Verfügung.<br />
Wie findet der Homöopath das ähnli<strong>ch</strong>ste Arzneimittel für den Patienten?<br />
Ein Patient mit Asthma kommt in die Praxis. Zuerst erfragt der Homöopath die lokalen<br />
Asthmasymptome. Wie zeigen si<strong>ch</strong> die genauen individuellen Befindensveränderungen<br />
bei diesem Patienten? Zu wel<strong>ch</strong>er Tageszeit ist die Atemnot am s<strong>ch</strong>limmsten? Was bessert<br />
die Bes<strong>ch</strong>werden? Wann traten das erste Mal diese Atemnotsymptome auf usw.? Alles<br />
wird genauestens abgefragt und festgehalten. Dann wird die gesamte Krankenges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
aufgenommen. An wel<strong>ch</strong>en Krankheiten leidet der Patient no<strong>ch</strong>? Was für<br />
Krankheiten hatte er s<strong>ch</strong>on in seinem Leben? Es wird versu<strong>ch</strong>t, die <strong>ch</strong>ronologis<strong>ch</strong>e Reihenfolge<br />
präzise na<strong>ch</strong>zuvollziehen! Wel<strong>ch</strong>e Nahrungsmittelverlangen und -abneigungen<br />
hat der Patient? Wel<strong>ch</strong>e individuellen Persönli<strong>ch</strong>keitsmerkmale sind vorhanden, z. B.<br />
auf der emotionalen Ebene? Wel<strong>ch</strong>e Ängste bestehen, wel<strong>ch</strong>e Impulse? Wie ist das<br />
Temperament? Wie ist das persönli<strong>ch</strong>e Lebensumfeld? Wel<strong>ch</strong>e Probleme gibt es im tägli<strong>ch</strong>en<br />
Leben? Gibt es auf der geistigen Ebene Probleme? Wie ist es mit der Konzentration<br />
usw.? Wel<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en oder s<strong>ch</strong>weren Erkrankungen tau<strong>ch</strong>en in der Familie und<br />
bei den Vorfahren auf? Ungefähr 1 - 2 Stunden dauert so eine erste Befragung des Patienten.<br />
Jede individuelle Information, die die Persönli<strong>ch</strong>keit <strong>ch</strong>arakterisiert, ist für den<br />
Homöopathen wi<strong>ch</strong>tig und führt ihn zu dem ähnli<strong>ch</strong>sten Mittel. Es ist oft ni<strong>ch</strong>t einfa<strong>ch</strong><br />
für die Patienten, die Bes<strong>ch</strong>werden genau zu bes<strong>ch</strong>reiben, da im allgemeinen sol<strong>ch</strong>e individuellen<br />
Symptome keine Bea<strong>ch</strong>tung finden. Jede Information, die der Homöopath<br />
von dem Patienten erhält, ist wie ein Teil eines Puzzles, das na<strong>ch</strong> der Befragung sorgfäl-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 106<br />
tig zusammengesetzt werden muß bis ein ähnli<strong>ch</strong>es Bild entsteht, wie es bei der Prüfung<br />
am Gesunden (bes<strong>ch</strong>rieben in den Prüfungsprotokollen) aufgetau<strong>ch</strong>t ist. Die Arznei<br />
wird na<strong>ch</strong> dem S<strong>ch</strong>lüssel-S<strong>ch</strong>loß-Prinzip ausgesu<strong>ch</strong>t. Der Patient erhält nun seine persönli<strong>ch</strong>e<br />
Arznei in einer C 30 oder C 200 in Form von kleinen Mil<strong>ch</strong>zuckerkügel<strong>ch</strong>en<br />
als einmalige Gabe verabrei<strong>ch</strong>t. Der Patient wird fragen, was er denn ab nun regelmäßig<br />
einnehmen solle und wird die Antwort erhalten - "vorerst ni<strong>ch</strong>ts mehr!" - Und hier stoßen<br />
wir bei den Patienten wie au<strong>ch</strong> bei der S<strong>ch</strong>ulmedizin auf große Skepsis. Um dieses<br />
zu verstehen, wollen wir no<strong>ch</strong> einmal zusammenfassen und uns die zwei vers<strong>ch</strong>iedenen<br />
Therapieri<strong>ch</strong>tungen betra<strong>ch</strong>ten. Zuerst einmal die uns geläufige Allopathie (S<strong>ch</strong>ulmedizin).<br />
Allopathis<strong>ch</strong>e Verordnung der Arznei<br />
Wir wissen jetzt, daß jede Arznei krank ma<strong>ch</strong>t - ohne Ausnahme. Nimmt ein gesunder<br />
Mens<strong>ch</strong> eine Arzneisubstanz regelmäßig ein, so bekommt er Befindesveränderungen<br />
und er wird arzneispezifis<strong>ch</strong> krank. Setzt er die Arznei ab, so vers<strong>ch</strong>winden die arzneispezifis<strong>ch</strong>en<br />
Krankheitssymptome und es kehrt der alte gesunde Zustand zurück. (Arzneimittelprüfung<br />
am Gesunden!)<br />
Was passiert bei der allopathis<strong>ch</strong>en Verordnung der Arznei? Wie erleben wir die Behandlung<br />
unserer Leiden dur<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>ulmedizin? Nehmen wir als Beispiel Halsentzündung:<br />
Ein Patient kommt damit zum Arzt. Bei der Untersu<strong>ch</strong>ung stellt si<strong>ch</strong> heraus,<br />
daß der Hals entzündet und vereitert ist. Als Therapie wird ein Antibiotikum vers<strong>ch</strong>rieben<br />
mit dem Hinweis, es jeden Tag mehrmals für die Dauer von mindestens 6 - 10 Tagen<br />
einzunehmen. Der Patient nimmt seine Tabletten tägli<strong>ch</strong> 3 x ein und stellt na<strong>ch</strong> ein<br />
bis zwei Tagen fest, daß die S<strong>ch</strong>merzen na<strong>ch</strong>lassen und si<strong>ch</strong> die Vereiterung zurückbildet.<br />
Er nimmt die Arznei no<strong>ch</strong> für den vorges<strong>ch</strong>riebenen Zeitraum weiter. Die Halsentzündung<br />
ist s<strong>ch</strong>einbar "geheilt" oder besser gesagt "vers<strong>ch</strong>wunden". Der Patient fühlt<br />
si<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> re<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>, sieht no<strong>ch</strong> mitgenommen aus, was man der gerade überstandenen<br />
Krankheit zus<strong>ch</strong>reibt. Der Allgemeinzustand bessert si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> mit der Zeit und<br />
gerade in dem Moment, wo der Patient si<strong>ch</strong> ri<strong>ch</strong>tig gut fühlt, steckt er si<strong>ch</strong> erneut mit<br />
einer Halsentzündung an.<br />
Was ist passiert? Jede Arznei ma<strong>ch</strong>t krank! Der Patient nimmt eine gegensätzli<strong>ch</strong>e Arznei<br />
ein, solange bis der alte Zustand vers<strong>ch</strong>windet! (Genauso wie es einem gesunden<br />
Mens<strong>ch</strong>en bei Einnahme einer Arznei passiert). Nimmt ein Gesunder eine Arznei ein, so<br />
vers<strong>ch</strong>windet der gesunde Zustand und er wird arzneikrank. Wird die Arznei abgesetzt,<br />
so vers<strong>ch</strong>windet die künstli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit und der alte gesunde Zustand kehrt zurück.<br />
Beim kranken Mens<strong>ch</strong>en aber, der eine gegensätzli<strong>ch</strong>e Arznei regelmäßig einnimmt,<br />
vers<strong>ch</strong>windet der alte kranke Zustand. Dem Körper wird eine künstli<strong>ch</strong>e Krank-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 107<br />
heit übergestüplt, die na<strong>ch</strong> Absetzen der Arznei wieder vers<strong>ch</strong>windet und der "alte Zustand"<br />
(in unserem Fall die Halsentzündung) kehrt zurück. Dieses Spiel kennen wir von<br />
der normalen Medizin zur Genüge, weshalb die Wartezimmer voll sind mit Patienten,<br />
deren Erkrankungen ständig wieder auftreten oder besser gesagt "zurückkehren". Die<br />
Patienten meinen, daß sie si<strong>ch</strong> beim Wiederauftreten der Halsentzündungen erneut angesteckt<br />
hätten, aber na<strong>ch</strong> Absetzen der gegensätzli<strong>ch</strong>en Arznei kehrt die alte Halsentzündung<br />
wieder zurück, um endli<strong>ch</strong> ausgeheilt zu werden. Die Patienten mit wiederauftretender<br />
Halsentzündung, Bron<strong>ch</strong>itis, Ohrenentzündungen usw. plagen si<strong>ch</strong> immer mit<br />
ein und derselben Krankheit herum. Bleiben allerdings na<strong>ch</strong> einer gegensätzli<strong>ch</strong>en Therapie<br />
die Bes<strong>ch</strong>werden dauerhaft vers<strong>ch</strong>wunden, so tau<strong>ch</strong>t dieselbe Krankheit später auf<br />
einer tieferliegenden S<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>t wieder auf, mit glei<strong>ch</strong>er Stärke und glei<strong>ch</strong>er Hartnäckigkeit<br />
(dies wird aber von der S<strong>ch</strong>ulmedizin als "neue" Krankheit angesehen). Es nützt<br />
ni<strong>ch</strong>ts, die gegensätzli<strong>ch</strong>e Arznei nur einmal einzunehmen, da die gegensätzli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit<br />
immer stärker sein muß, als die vorherrs<strong>ch</strong>ende natürli<strong>ch</strong>e Krankheit.<br />
Dies wird dur<strong>ch</strong> das mehrmals tägli<strong>ch</strong> und wiederholte einnehmen der grobstoffli<strong>ch</strong>en,<br />
gegensätzli<strong>ch</strong>en Arznei errei<strong>ch</strong>t. Die natürli<strong>ch</strong>e Krankheit vers<strong>ch</strong>windet während der<br />
Einnahme langsam und es kommt zur Unterdrückung. Setzt man das Antibiotikum zu<br />
früh ab, so bleiben die Halss<strong>ch</strong>merzen bestehen. Die allopathis<strong>ch</strong>e (gegensätzli<strong>ch</strong>e) Therapie<br />
muß deshalb immer so lange eingenommen werden, bis der alte kranke Zustand<br />
vers<strong>ch</strong>windet. Die Allopathie ma<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> dieses Gesetz der Wirkung der künstli<strong>ch</strong>en<br />
Arzneikrankheit für eine s<strong>ch</strong>einbare Heilung zunutze. Patienten mit <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Leiden<br />
müssen fast ohne Ausnahme ständig eine Arznei einnehmen, denn wenn sie die Arznei<br />
absetzen, kehrt der alte kranke Zustand zurück. Es hat si<strong>ch</strong> an der eigentli<strong>ch</strong>en Krankheit<br />
ni<strong>ch</strong>ts verändert. Die Symptome vers<strong>ch</strong>winden nur, solange die gegensätzli<strong>ch</strong>e<br />
Arznei eingenommen wird. Die sogenannten Nebenwirkungen, die si<strong>ch</strong> bei langem Gebrau<strong>ch</strong><br />
einstellen, sind die eigentli<strong>ch</strong>en "Prüfungsymptome", die bei Prüfung am Gesunden<br />
klarer herauskommen würden. Wird eine gegensätzli<strong>ch</strong>e Arznei zu lange eingenommen,<br />
kommt es u. U. au<strong>ch</strong> zu irreparablen Organs<strong>ch</strong>äden!<br />
Wir kennen dieses Problem au<strong>ch</strong> bei den <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Kopfs<strong>ch</strong>merzen (Migräne), die<br />
mit S<strong>ch</strong>merztabletten kurzfristig beseitigt werden. Klingt die Arzneikraft der S<strong>ch</strong>merztablette<br />
ab, kommt der Kopfs<strong>ch</strong>merz unerbittli<strong>ch</strong> zurück und eine neue Tablette muß<br />
eingenommen werden. Am eigentli<strong>ch</strong>en Zustand ändert si<strong>ch</strong> auf Dauer ni<strong>ch</strong>ts! Da es oft<br />
na<strong>ch</strong> Monaten und Jahren zu einem Gewöhnungseffekt kommt, muß die Dosis ständig<br />
erhöht werden, um eine stärkere Arzneikrankheit zu erzeugen. Als "Nebenwirkungen"<br />
(Arzneiprüfungsers<strong>ch</strong>einungen) treten dann Magenges<strong>ch</strong>würe und Nierenleiden auf.<br />
Der Patient wird aufgefordert, diese Tabletten ni<strong>ch</strong>t mehr einzunehmen und der alte<br />
Kopfs<strong>ch</strong>merz kehrt zurück (meist no<strong>ch</strong> sehr verstärkt), und dazu gesellt si<strong>ch</strong> ein Magenund<br />
Nierenleiden. Jede Arznei ma<strong>ch</strong>t krank!
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 108<br />
Bei der Rheumabehandlung war es übli<strong>ch</strong>, Goldspritzen zu verabrei<strong>ch</strong>en mit dem Erfolg,<br />
daß der alte kranke Rheumazustand vers<strong>ch</strong>wand (allerdings nur, solange die Spritzen<br />
verabrei<strong>ch</strong>t wurden). Ni<strong>ch</strong>t selten traten Gemütsveränderungen (als unerwüns<strong>ch</strong>te Nebenwirkungen),<br />
wie s<strong>ch</strong>were Depressionen mit Selbstmordneigung, auf, und zwar mit<br />
dem Bedürfnis, si<strong>ch</strong> aus dem Fenster zu stürzen. Liest man in den Prüfungsprotokollen<br />
der reinen Arzneimittellehre unter "Gold", so findet man genau diese Gemütsbes<strong>ch</strong>reibungen<br />
wieder. Jeder Homöopath weiß, daß hier eine künstli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit erzwungen<br />
wird. Der Patient taus<strong>ch</strong>t das s<strong>ch</strong>were Rheumaleiden gegen ein s<strong>ch</strong>weres (lebensgefährli<strong>ch</strong>es)<br />
Gemütsleiden ein.<br />
Ein wahrer Therapeut kann nur ein Ziel haben, nämli<strong>ch</strong> die völlige Arzneifreiheit des<br />
Patienten, nie aber die Abhängigkeit von Arzneien. Bei ständiger Arzneieinnahme - evtl.<br />
über Monate und Jahre kann nie von Heilung gespro<strong>ch</strong>en werden. Wahre Heilung ist<br />
dann gegeben, wenn si<strong>ch</strong> der Patient auf einer stabilen Gesundheitsebene befindet, ohne<br />
ständig eine Arznei einzunehmen. Aber wie wirkt nun die homöopathis<strong>ch</strong>e Arznei,<br />
und warum geben die Homöopathen nur eine einmalige Dosis einer C 30 oder C 200?<br />
Homöopathis<strong>ch</strong>e Verordnung der Arznei<br />
In der Homöopathie nutzen wir die künstli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit um die Lebenskraft zu<br />
reizen, damit sie die heilenden Reaktionen in Gang setzt. Wir müssen aber ni<strong>ch</strong>t ständig<br />
unsere Arznei wiederholen, um dem Organismus eine Arzneikrankheit aufzuzwingen,<br />
damit der alte, kranke Zustand während der Einnahme vers<strong>ch</strong>windet. Unsere dynamisierten<br />
Substanzen wirken genau auf der Ebene, auf der si<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> die eigentli<strong>ch</strong>en dynamis<strong>ch</strong>en<br />
Krankheitsges<strong>ch</strong>ehen abspielen. Die primäre Erkrankung liegt im Ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>en.<br />
Dur<strong>ch</strong> die Potenzierung wirkt die Arznei nun auf der glei<strong>ch</strong>en Ebene wie der<br />
primäre Prozess der Erkrankung. Wir setzten mit unserer individuellen dynamis<strong>ch</strong>en<br />
Arznei einen Reiz auf der Lebenskraftebene, der dur<strong>ch</strong> die Potenzierung au<strong>ch</strong> etwas<br />
stärker ist als die vorherrs<strong>ch</strong>ende natürli<strong>ch</strong>e Krankheit. Die Lebenskraft sieht in unserer<br />
Arznei einen massiven Störfaktor, (einen die Ordnung störenden äußeren Krankheitseinfluß),<br />
gegen den sie si<strong>ch</strong> zur Wehr setzen muß. Und genau dies will der Homöopath<br />
errei<strong>ch</strong>en! Um die Ordnung im Organismus wiederherzustellen, beginnt sie nun - angeregt<br />
dur<strong>ch</strong> diesen künstli<strong>ch</strong>en Krankheitsreiz - alles zu unternehmen, um Abwehrme<strong>ch</strong>anismen<br />
dagegen in Gang zu setzen. Sie weiß genau, was sie für Abwehrmaßnahmen<br />
ergreifen muß und beginnt, Nervenimpulse auszusenden, Abwehrkörper in Gang zu<br />
setzten, Fieber zu produzieren usw. Da aber unser künstli<strong>ch</strong>er Arzneireiz der natürli<strong>ch</strong>en<br />
Krankheit sehr ähnli<strong>ch</strong> ist, setzt sie nun genau die Abwehrme<strong>ch</strong>anismen in Gang,<br />
die au<strong>ch</strong> nötig gewesen wären, um die natürli<strong>ch</strong>e Krankheit zu überwinden. Man hält der<br />
Lebenskraft sozusagen ein "Spiegelbild" der erlittenen Krankheit vor. Sie war gewis-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 109<br />
sermaßen "betriebsblind" für die natürli<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Krankheit und hatte keine Mögli<strong>ch</strong>keit<br />
dagegenzusteuern.<br />
Nur wenn der Arzneireiz stärker ist, als die vorherrs<strong>ch</strong>ende natürli<strong>ch</strong>e Krankheit, erkennt<br />
die Lebenskraft den Reiz als äußeren "Krankheitseinfluß" an und beginnt mit den<br />
heilenden Abwehrme<strong>ch</strong>anismen. Dur<strong>ch</strong> die vers<strong>ch</strong>iedenen Potenzierungsstufen haben<br />
wir die Mögli<strong>ch</strong>keit, die Reizkraft zu bestimmen. Es gibt keine Arznei, die heilt! Es gibt<br />
nur eine heilende Reaktion der Lebenskraft auf einen ähnli<strong>ch</strong>en Arzneireiz!<br />
Mit der einmaligen Gabe unserer Arznei in der Potenzierung C 30 oder C 200 setzen<br />
wir eine Initialzündung und reizen die Lebenskraft zur Abwehrreaktion gegen unsere<br />
künstli<strong>ch</strong> gesetzte Arzneikrankheit. Ist erst der Reiz gesetzt, so beginnen die Regulierungen<br />
der Lebenskraft, die si<strong>ch</strong> dann über mehrere Tage bis zu einigen Wo<strong>ch</strong>en hin<br />
erstrecken können. Der Patient beginnt, die Auswirkungen der Arznei zu spüren, es<br />
stellen si<strong>ch</strong> jetzt Befindesveränderungen ein, die er mögli<strong>ch</strong>st genau aufzei<strong>ch</strong>net, damit<br />
der Homöopath diese Reaktion kontrollieren kann. Nur dur<strong>ch</strong> die Kontrolle der Befindensveränderungen,<br />
die unter dem Gesi<strong>ch</strong>tspunkt ganz spezieller Heilgesetze betra<strong>ch</strong>tet<br />
werden, kann der Homöopath erkennen, ob er wirkli<strong>ch</strong> die ähnli<strong>ch</strong>ste Arznei gewählt<br />
hat. Er wird si<strong>ch</strong> die Befindensveränderungen im Gemütsberei<strong>ch</strong>, im Gefühlsberei<strong>ch</strong><br />
und im körperli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> genauestens vom Patienten s<strong>ch</strong>ildern lassen. Er muß<br />
jetzt genau beleu<strong>ch</strong>ten, ob die Reaktionen im Sinne der Gesetze erfolgen und der Patient<br />
so zu einer stabileren Gesundheitsebene geführt wird. Hat der Homöopath ni<strong>ch</strong>t die<br />
ähnli<strong>ch</strong>ste Arznei, sonders aus Versehen eine Arznei gewählt, die dem Patienten ni<strong>ch</strong>t<br />
ähnli<strong>ch</strong> ist, so kann u. U. au<strong>ch</strong> diese Substanz zur Unterdrückung der Bes<strong>ch</strong>werden führen,<br />
denn dann wirkt au<strong>ch</strong> die potenzierte Substanz allopathis<strong>ch</strong>. Denn ni<strong>ch</strong>t die Arznei<br />
ist homöopathis<strong>ch</strong>, sondern die Verordnung!<br />
Krankheits- und Heilgesetze aus der Si<strong>ch</strong>t der Homöopathie<br />
Konstantin Hering (1800-1880) erkannten dur<strong>ch</strong> genaues Beoba<strong>ch</strong>ten der Arzneireaktionen<br />
die Gesetze, die das Leben und die Krankheit beherrs<strong>ch</strong>en und daß sie mit den<br />
therapeutis<strong>ch</strong>en Gesetzen harmonieren. Die Lebenskraft reagiert immer na<strong>ch</strong> festen Gesetzen,<br />
sowohl bei der Erkrankung als au<strong>ch</strong> bei der Heilung. Die S<strong>ch</strong>ulmedizin und die<br />
Homöopathie arbeiten na<strong>ch</strong> dem glei<strong>ch</strong>en Naturgesetz, aber nur die Homöopathie nutzt<br />
das Wissen um es heilbringend einzusetzen.<br />
1. Gesetz: Eine Heilung verläuft immer von innen na<strong>ch</strong> außen!<br />
Die Lebenskraft reagiert auf einen äußeren Krankheitseinfluß immer zentrifugal, das<br />
heißt, sie versu<strong>ch</strong>t die Störung ihrer Ordnung na<strong>ch</strong> außen hin auf die körperli<strong>ch</strong>e Ebene<br />
abzuleiten - am besten no<strong>ch</strong> auf die Haut. Au<strong>ch</strong> bei einer positiven Reaktion auf einen<br />
homöopathis<strong>ch</strong>en Reiz wird sie versu<strong>ch</strong>en, die innere Krankheit na<strong>ch</strong> außen abzuleiten.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 110<br />
Unser Beispiel: Der Patient mit dem Asthma beri<strong>ch</strong>tet na<strong>ch</strong> einiger Zeit, daß seine<br />
Atembes<strong>ch</strong>werden lei<strong>ch</strong>ter werden, er jetzt aber einen Hautauss<strong>ch</strong>lag zu beklagen hat.<br />
Hier weiß der Homöopath, daß er eine gute und ähnli<strong>ch</strong>e Arznei verordnet hat, denn die<br />
Reaktion geht von innen na<strong>ch</strong> außen, von der Lunge zur Haut. Von einem "edlen" zu einem<br />
"unedlen" Organ. Die Lebenskraft kann jetzt die Krankheit zentrifugal na<strong>ch</strong> außen<br />
hin ableiten. Dies wäre ein optimaler Heilungsverlauf. Au<strong>ch</strong> der Hautauss<strong>ch</strong>lag wird<br />
na<strong>ch</strong> weiterer Behandlung vers<strong>ch</strong>winden, und zwar ohne eine na<strong>ch</strong>folgende Krankheit<br />
auf einer anderen Ebene zu erzwingen. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, untersteht<br />
diesem Gesetz, denn sie arbeitet von innen na<strong>ch</strong> außen, d. h. von ihrem Kern<br />
aus. Das "Leben" ist innen und ni<strong>ch</strong>t außen.<br />
Kent: "Die Entwicklung einer Krankheit, ebenso gut wie der Heilungsprozeß, verfolgt<br />
eine bestimmt Linie, die von einem Ausgangspunkt an zum Endpunkt verläuft: vom<br />
Mens<strong>ch</strong>en zu seinen Organen und ni<strong>ch</strong>t umgekehrt von den Organen zum Mens<strong>ch</strong>en."<br />
Der Innere Mens<strong>ch</strong> ist der ewige unsterbli<strong>ch</strong>e Mens<strong>ch</strong>. Swedenborg sagt: "Der Mens<strong>ch</strong><br />
ist ni<strong>ch</strong>t dadur<strong>ch</strong> Mens<strong>ch</strong>, weil er wie ein Mens<strong>ch</strong> aussieht, sondern weil er das Wahre<br />
zu denken und das Gute zu wollen vermag." Swedenborg sagt sinngemäß: Jede Person<br />
hat ihre spezifis<strong>ch</strong>e geistleibli<strong>ch</strong>e Seinsweise, in der si<strong>ch</strong> ihr "innerer Mens<strong>ch</strong>" darstellt.<br />
Dieser innere Mens<strong>ch</strong> ist während des physis<strong>ch</strong>en Lebens im äußeren Mens<strong>ch</strong>en als<br />
dessen inneres Modell verborgen. Der leibli<strong>ch</strong>e Tod tangiert den inneren Mens<strong>ch</strong>en<br />
überhaupt ni<strong>ch</strong>t, er ist nur eine Versetzung des Mens<strong>ch</strong>en aus der irdis<strong>ch</strong>en in eine andere,<br />
geistigere Seinsweise, in eine andere Art der Leibli<strong>ch</strong>keit, die anderen Dimensionen.<br />
Die Kontinuität seines Bewustseins erfährt keine Unterbre<strong>ch</strong>ung.<br />
2. Gesetz: Heilung verläuft immer von oben na<strong>ch</strong> unten!<br />
Der Patient mit dem Asthma produziert jetzt einen Hautauss<strong>ch</strong>lag im Gesi<strong>ch</strong>t, der na<strong>ch</strong><br />
einiger Zeit zu den Füßen wandert. So erkennt der Homöopath, daß au<strong>ch</strong> weiterhin die<br />
Heilung in ri<strong>ch</strong>tiger Ri<strong>ch</strong>tung verläuft, bis der Hautauss<strong>ch</strong>lag ganz vers<strong>ch</strong>windet.<br />
3. Gesetz: Heilung verläuft in umgekehrter Ri<strong>ch</strong>tung des Ers<strong>ch</strong>einens, sozusagen ein<br />
Rückwärtsabrollen der unterdrückten Krankheiten!<br />
Beispiel: Der Patient mit dem Asthma beri<strong>ch</strong>tet uns beim Erstgesprä<strong>ch</strong>, daß er ni<strong>ch</strong>t<br />
s<strong>ch</strong>on immer an Asthma, sondern davor an <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>er Bron<strong>ch</strong>itis litt, die jahrelang mit<br />
allopathis<strong>ch</strong>en Arzneien behandelt wurde. Vor der <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Bron<strong>ch</strong>itis plagten ihn<br />
ständige Halss<strong>ch</strong>merzen, die au<strong>ch</strong> "erfolgrei<strong>ch</strong>" allopathis<strong>ch</strong> therapiert wurden. Ganz<br />
früher, als Kind, hatte er <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Hautauss<strong>ch</strong>läge, die dur<strong>ch</strong> viele Salbenkuren zum<br />
"Vers<strong>ch</strong>winden" gebra<strong>ch</strong>t wurden.<br />
Der Homöopath verabrei<strong>ch</strong>t nun sein individuelles Atemnots- und Persönli<strong>ch</strong>keitsmittel<br />
und dana<strong>ch</strong> beri<strong>ch</strong>tet der Patient, daß die Atemnot weniger wurde, si<strong>ch</strong> dafür aber die
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 111<br />
alten Symptome der Bron<strong>ch</strong>itis bemerkbar ma<strong>ch</strong>ten. Wieder einige Zeit später hörten<br />
die Hustensymptome auf und er bekam eine sehr starke Halsentzündung, die mit Auftreten<br />
des ihm bekannten Hautauss<strong>ch</strong>lages aufhörte.<br />
Ein Wiederaufrollen der alten Bes<strong>ch</strong>werden zeigt dem Homöopathen, daß hier eine sehr<br />
vitale Lebenskraft vorhanden und eine Heilung no<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong> ist. Bei s<strong>ch</strong>weren, fortges<strong>ch</strong>rittenen<br />
<strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheiten und bei sehr alten Mens<strong>ch</strong>en erfolgt oft eine Besserung<br />
ohne das Wiederaufrollen der alten Bes<strong>ch</strong>werden, was auf eine s<strong>ch</strong>wa<strong>ch</strong>e Lebenskraft<br />
hinweist; eine vollständige Heilung ist hier kaum no<strong>ch</strong> mögli<strong>ch</strong>. Dieses oft<br />
unangenehme Aufarbeiten der alten Bes<strong>ch</strong>werden ist für die Patienten sehr lästig und<br />
meist unverständli<strong>ch</strong>, für die vollständige Heilung aber dringend notwendig.<br />
Ein Beispiel, wie Krankheiten na<strong>ch</strong> dem Naturgesetz verlaufen: Nehmen wir einmal an,<br />
ein Patient leidet unter Akne. Er geht zum Hautarzt, der ihm na<strong>ch</strong> kurzer Diagnostik eine<br />
Salbe verordnet. Der Patient wendet sie regelmäßig an, und na<strong>ch</strong> einiger Zeit wird<br />
die Haut besser, die Entzündungen bilden si<strong>ch</strong> zurück. Der Hautarzt ist zufrieden, denn<br />
er war erfolgrei<strong>ch</strong> und hat geheilt! Nun ist der Patient einige Zeit sehr glückli<strong>ch</strong>, aber<br />
auf einmal "überfällt" ihn ein neues Leiden, es stellt si<strong>ch</strong> eine hartnäckige Bron<strong>ch</strong>itis<br />
ein. Jetzt ist ni<strong>ch</strong>t mehr der Hautarzt zuständig, sondern der Lungenfa<strong>ch</strong>arzt, der die<br />
Bron<strong>ch</strong>ien und Lungen genauestens untersu<strong>ch</strong>t und eine Antibiotikabehandlung für<br />
notwendig era<strong>ch</strong>tet. Die Bron<strong>ch</strong>itis ist zwar sehr hartnäckig, aber na<strong>ch</strong> Erhöhung der<br />
Dosis vers<strong>ch</strong>windet au<strong>ch</strong> sie dauerhaft. Au<strong>ch</strong> der Lungenfa<strong>ch</strong>arzt ist zufrieden und entläßt<br />
den Patienten als geheilt! Wieder geht es einige Zeit gut, do<strong>ch</strong> dann tau<strong>ch</strong>t eine lästige<br />
S<strong>ch</strong>laflosigkeit auf. Weder der Hautarzt no<strong>ch</strong> der Lungenfa<strong>ch</strong>arzt sind nun zuständig,<br />
ein Gang zum Hausarzt wird weiterhelfen. Der Patient bekommt S<strong>ch</strong>laftabletten, die<br />
au<strong>ch</strong> prompt wirken. Der Hausarzt ist zufrieden, denn sein Patient kann wieder s<strong>ch</strong>lafen.<br />
Zwar muß die Dosis von Monat zu Monat erhöht werden, aber Hauptsa<strong>ch</strong>e, er kann<br />
wieder s<strong>ch</strong>lafen. Auf einmal bemerkt der Patient eine Veränderung in seinem Gemüt; es<br />
stellen si<strong>ch</strong> Ängste ein, die er vorher no<strong>ch</strong> nie kannte; au<strong>ch</strong> die Freunde sagen, daß er<br />
si<strong>ch</strong> irgendwie verändert hat. Ein Nervenarzt wird ihm empfohlen, der au<strong>ch</strong> einige gute<br />
und zuverlässige Psy<strong>ch</strong>opharmaka in der S<strong>ch</strong>ublade bereit hält.<br />
Jeder Fa<strong>ch</strong>arzt hat geheilt! Aber was hat die eine Erkrankung mit der vorherigen zu tun?<br />
Findet unser Patient nun den Weg zum Homöopathen, so wird dieser in einer langen<br />
und ausführli<strong>ch</strong>en Befragung (Erstanamnese) S<strong>ch</strong>ritt für S<strong>ch</strong>ritt die Reihenfolge der Erkrankungen<br />
abfragen und si<strong>ch</strong> alle Symptome genau bes<strong>ch</strong>reiben lassen. Besonders die<br />
subjektiven Empfindungen und Ängste müssen vom Patienten genau ges<strong>ch</strong>ildert werden.<br />
Nun erhält er seine individuelle Arznei, wel<strong>ch</strong>e die Gesamtheit seiner Bes<strong>ch</strong>werden<br />
abdeckt und zum individuellen Charakter paßt. Ist die Arznei gut gewählt, beginnt ein<br />
"Rückwärtsabrollen" oder "Hinauswerfen" der alten Bes<strong>ch</strong>werden - bis hin zur alten
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 112<br />
Akne, die s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>windet. Nun kann endli<strong>ch</strong> die anfängli<strong>ch</strong>e natürli<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit geheilt werden. Es ist für einen Fa<strong>ch</strong>arzt, der nur ein Organgebiet behandelt,<br />
sehr s<strong>ch</strong>wer zu erkennen, daß die Bron<strong>ch</strong>itis z. B. nur die Akne auf der Bron<strong>ch</strong>ienebene<br />
ist. Wird ein Hautauss<strong>ch</strong>lag dur<strong>ch</strong> äußerli<strong>ch</strong>e Maßnahmen behandelt, so wird die dahinterliegende<br />
Krankheitskraft ni<strong>ch</strong>t berührt, denn die Krankheit ist der Prozeß der Entstehung<br />
des Hautauss<strong>ch</strong>lages, und die Hautveränderungen sind nur das Endresultat der<br />
Krankheit. Wird der Hautauss<strong>ch</strong>lag zum Vers<strong>ch</strong>winden gebra<strong>ch</strong>t, verändert das ni<strong>ch</strong>ts<br />
an der dahinterliegenden Krankheitskraft, die nun gezwungen ist, si<strong>ch</strong> gegen ein anderes<br />
(meist lebensnotwendigeres) Organ zu wenden. Kent: "Dur<strong>ch</strong> allopathis<strong>ch</strong>e "Heilung"<br />
(Unterdrückung) hat er, was an der Oberflä<strong>ch</strong>e und damit relativ harmlos war, in<br />
die Tiefe hineingedrückt, und als Folge dieser wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Ignoranz befindet si<strong>ch</strong><br />
der Kranke nun auf dem Pfade zum Tode." Kent: "… innere Übel fließen in äußere Manifestationen,<br />
die Homöopathie fährt fort, auswärts zu treiben, dadur<strong>ch</strong> wird das Innere,<br />
werden die edleren Organe entlastet und befreit, das Innere wird relativ krankheitsfrei."<br />
Die Bron<strong>ch</strong>ien können nur organspezifis<strong>ch</strong> reagieren und daher keinen "Hautauss<strong>ch</strong>lag"<br />
produzieren (Wenn sie es könnten, wäre die gesetzmäßige Abfolge lei<strong>ch</strong>ter erkennbar<br />
und weniger lei<strong>ch</strong>t zu übersehen!). Die glei<strong>ch</strong>e Kraft, die diesen Hautauss<strong>ch</strong>lag hervorbra<strong>ch</strong>te,<br />
wird nun im Bron<strong>ch</strong>ialberei<strong>ch</strong> eine ihm adäquate Erkrankung bewirken, z. B.<br />
eine Bron<strong>ch</strong>itis. Ein lei<strong>ch</strong>ter Hautauss<strong>ch</strong>lag, der unterdrückt wurde, bewirkt au<strong>ch</strong> nur<br />
eine lei<strong>ch</strong>te Erkrankung der Bron<strong>ch</strong>ien. Eine s<strong>ch</strong>were Neurodermitis, die man mit äußeren<br />
Maßnahmen zum Vers<strong>ch</strong>winden gebra<strong>ch</strong>t hat, bewirkt auf der Ebene der Atmungsorgane<br />
eine adäquat s<strong>ch</strong>were Erkrankung, z. B. Asthma oder eine Lungenentzündung<br />
(die im Gegensatz zum unterdrückten Hautauss<strong>ch</strong>lag beide lebensgefährli<strong>ch</strong> sind!).<br />
"Je s<strong>ch</strong>werer eine unterdrückte Krankheit, desto s<strong>ch</strong>werer ist die na<strong>ch</strong>folgende innere<br />
Erkrankung." Mit diesem Wissen wird ein Homöopath einen Hautauss<strong>ch</strong>lag NIE mit äußerli<strong>ch</strong>en<br />
Anwendungen behandeln, sondern immer die innere Krankheit und Empfängli<strong>ch</strong>keit<br />
beeinflussen wollen. Um diese Krankheitsgesetze no<strong>ch</strong> besser verständli<strong>ch</strong> zu<br />
ma<strong>ch</strong>en, will i<strong>ch</strong> im Folgenden aus der Si<strong>ch</strong>t der Homöopathie auf die drei Ebenen des<br />
Daseins genauer eingehen. Grundsätzli<strong>ch</strong> müssen wir uns dabei vergegenwärtigen, daß<br />
das Gesetz ni<strong>ch</strong>t nur die si<strong>ch</strong>tbaren, sondern au<strong>ch</strong> die unsi<strong>ch</strong>tbaren Dinge beherrs<strong>ch</strong>t.<br />
Die drei Ebenen des Daseins<br />
Zum einen gibt es die si<strong>ch</strong>tbare körperli<strong>ch</strong>e Ebene und zum anderen die unsi<strong>ch</strong>tbare<br />
emotionale sowie die geistige Ebene. Konstantin Hering, ein bedeutender S<strong>ch</strong>üler Hahnemanns<br />
und Swedenborgs, hat beoba<strong>ch</strong>tet, daß die Lebenskraft immer bestrebt ist, den<br />
inneren Mens<strong>ch</strong>en, spri<strong>ch</strong> die emotionale und geistige Ebene, gesund zu erhalten. Alle<br />
äußeren Krankheitseinflüsse, die auf der unsi<strong>ch</strong>tbaren Lebenskraftebene einfließen,<br />
werden, soweit mögli<strong>ch</strong>, sofort zentrifugal auf den körperli<strong>ch</strong>en Berei<strong>ch</strong> abgeleitet (am
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 113<br />
besten auf die Haut), damit der wi<strong>ch</strong>tigere, innere Mens<strong>ch</strong>, die emotionale und geistige<br />
Ebene, von dieser Störung ni<strong>ch</strong>t berührt wird. Der innere Mens<strong>ch</strong> ist der ewige Mens<strong>ch</strong>,<br />
der vom Tod ni<strong>ch</strong>t berührt wird. Dieser innere ewige Mens<strong>ch</strong> muß gesund bleiben! Die<br />
Haut s<strong>ch</strong>ützt den inneren Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Laufen die äußerli<strong>ch</strong>en Unterdrückungen zu massiv ab und die ererbten Strukturen lassen<br />
es zu, so wandert die Krankheit immer weiter na<strong>ch</strong> innen, zu zentraleren Berei<strong>ch</strong>en,<br />
bis sie s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> die körperli<strong>ch</strong>e Ebene verlassen muß und auf den emotionalen Berei<strong>ch</strong><br />
überwe<strong>ch</strong>selt. (siehe Beispiel beim 3. Heilgesetz). Es können si<strong>ch</strong> Reizbarkeiten,<br />
Unzufriedenheiten, Ängste, qualvolle Ängste, Apathie, Unlust, Depression bis hin zur<br />
Selbtsmordneigung einstellen (siehe das Beispiel Goldtherapie bei Rheumakranken).<br />
Um in der Terminologie von Swedenborg zu spre<strong>ch</strong>en, gibt es somit ein Äußeres, Inneres<br />
und Innerstes. Das Äußerste des Mens<strong>ch</strong>en ist die körperli<strong>ch</strong>e Ebene, das Innere ist<br />
die emotionale oder Gefühlsebene und das Innerste ist die geistige oder Verstandesebene.<br />
Diese Dreiheit steht ni<strong>ch</strong>t nebeneinander sondern ist ineinander vers<strong>ch</strong>a<strong>ch</strong>telt (siehe<br />
Zei<strong>ch</strong>nung). Alles Ges<strong>ch</strong>affene ist na<strong>ch</strong> dieser "Dreifaltigkeit" aufgebaut. Die körperli<strong>ch</strong>e<br />
Ebene wiederum hat au<strong>ch</strong> ein Äußeres, Inneres und Innerstes. Zum äußeren körperli<strong>ch</strong>en<br />
Berei<strong>ch</strong> gehören (von außen na<strong>ch</strong> innen betra<strong>ch</strong>tet): Haut, S<strong>ch</strong>leimhaut, Muskeln,<br />
Kno<strong>ch</strong>en, Bänder, Gelenke usw. Zum Inneren zählt man die edleren Organe. Die<br />
Wi<strong>ch</strong>tigkeit eines Organes ri<strong>ch</strong>tet si<strong>ch</strong> na<strong>ch</strong> der S<strong>ch</strong>ädigung, die der Gesamtorganismus<br />
erfährt, wenn das Organ verletzt wird. Von außen na<strong>ch</strong> innen betra<strong>ch</strong>tet zählen dazu<br />
Magen, Darm, Blase, Niere, Lunge, Leber. Zum Innersten auf der körperli<strong>ch</strong>en Ebene<br />
zählen die Hormondrüsen, Herz und Gehirn. Zum emotionalen oder inneren Berei<strong>ch</strong> des<br />
Mens<strong>ch</strong>en zählen von außen na<strong>ch</strong> innen betra<strong>ch</strong>tet die Zufriedenheit, Gelassenheit, Urvertrauen,<br />
Selbstwertgefühl, Kontaktfähigkeit, Gemeins<strong>ch</strong>aftsempfinden und Liebesfähigkeit.<br />
Zum geistigen Berei<strong>ch</strong> zählen von außen na<strong>ch</strong> innen betra<strong>ch</strong>tet das Konzentrationsvermögen,<br />
Gedä<strong>ch</strong>tnisfähigkeit, logis<strong>ch</strong>es Denken, Vernunft, Selbsterkenntnis und<br />
Gotterkenntnis. Diese Einteilungen sind natürli<strong>ch</strong> nur "Arbeitsmodelle" um die Störungen<br />
und den Heilungsverlauf beurteilen zu könnnen. Diese Ebenen korrespondieren<br />
stark miteinander und greifen au<strong>ch</strong> ineinander über.<br />
Der äußerste Berei<strong>ch</strong> des Mens<strong>ch</strong>en, die Haut, hat au<strong>ch</strong> wieder ein Äußeres, Inneres<br />
und Innerstes. Das Prinzip des Äußeren, Inneren und Innersten läßt si<strong>ch</strong> beliebig weiter<br />
fortsetzen. Die ganze materielle und immaterielle S<strong>ch</strong>öpfung ist na<strong>ch</strong> diesem Prinzip<br />
aufgebaut. Sogar die kleinste Lebenseinheit, die Zelle, hat au<strong>ch</strong> ein Äußeres (Zellhaut),<br />
ein Inneres (Zellplasma) und ein Innerstes (Zellkern). Au<strong>ch</strong> der Zellkern hat ein Äußeres,<br />
Inneres usw. Die Apfelfru<strong>ch</strong>t besteht au<strong>ch</strong> aus ein Äußeres (Apfels<strong>ch</strong>ale), Inneres<br />
(Fru<strong>ch</strong>tfleis<strong>ch</strong>) und Innerstes (Apfelkerne). Der Himmel hat ein Äußeres (unterster
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 114<br />
Himmel), Inneres (Mittlerer Himmel), Innerstes (oberen Himmel). Die Hölle hat ebenfalls<br />
ein Äußeres (obere Hölle), Inneres (mittlere Hölle) und ein Innerstes (untere Hölle).<br />
Selbst der Bu<strong>ch</strong>stabe hat (wie wir von Swedenborg wissen) ein Äußeres (natürli<strong>ch</strong>en<br />
Sinn), Inneres (geistigen Sinn) und Innerstes (himmlis<strong>ch</strong>en Sinn).<br />
Die drei Ebenen des Daseins (na<strong>ch</strong> G. Vithoulkas "Die wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Homöopathie")
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 115<br />
Himmel und Hölle na<strong>ch</strong> Emanuel Swedenborg<br />
Krankheiten gehören auf die körperli<strong>ch</strong>e Ebene! Wird der Lebenskraft dur<strong>ch</strong> ständige<br />
Unterdrückungen die Mögli<strong>ch</strong>keit der Ausleitung auf die körperli<strong>ch</strong>e Ebene genommen,<br />
so kann sie die Krankheit vom inneren Mens<strong>ch</strong>en ni<strong>ch</strong>t mehr fernhalten und die<br />
Krankheiten dringen in den inneren Mens<strong>ch</strong>en ein. Bei einer guten homöopathis<strong>ch</strong>en<br />
Behandlung werden si<strong>ch</strong> die geistigen und emotionalen Bes<strong>ch</strong>werden zurückbilden,<br />
aber glei<strong>ch</strong>zeitig tau<strong>ch</strong>en auf der körperli<strong>ch</strong>en Ebene adäquate Bes<strong>ch</strong>werden auf. Für<br />
viele Patienten ist es s<strong>ch</strong>wer, diese Tatsa<strong>ch</strong>e einzusehen und ihre Notwendigkeit zu<br />
verstehen. Ein "Verpuffen" der Bes<strong>ch</strong>werden ist bei <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong> Kranken na<strong>ch</strong> den Gesetzen<br />
der Natur ni<strong>ch</strong>t mögli<strong>ch</strong>, sondern nur ein ausleiten, was meist ni<strong>ch</strong>t angenehm ist.<br />
Werden au<strong>ch</strong> die Probleme der emotionalen Ebene mit ständiger Einnahme von Psy<strong>ch</strong>opharmaka<br />
unterdrückt, so zieht si<strong>ch</strong> die Krankheit auf immer zentralere Berei<strong>ch</strong>e<br />
des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Daseins zurück. Auf der geistigen Ebene kann es nun zu Zerstreutheit,<br />
Vergeßli<strong>ch</strong>keit, Konzentrationss<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e, Stumpfheit, Lethargie, Paranoia, Geistesverwirrung<br />
und evtl. zu Alzheimer kommen. Man hat festgestellt, daß Patienten mit<br />
Geistesverwirrungen ni<strong>ch</strong>t mehr fähig sind körperli<strong>ch</strong> akut krank zu werden. Es sind<br />
keine Ausleitungsprozesse wie S<strong>ch</strong>nupfen, Husten und Fieber mehr mögli<strong>ch</strong>. Die
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 116<br />
Krankheit spielt si<strong>ch</strong> hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> auf der geistigen Ebene, auf der Ebene des inneren<br />
Mens<strong>ch</strong>en ab. Kent: "Aber der Kranke von heute wird einer ni<strong>ch</strong>t weniger gefährli<strong>ch</strong>en<br />
Therapie unterworfen, nur merkt man lang ni<strong>ch</strong>ts, da die Drogen seine geistigen Fähigkeiten<br />
herabsetzen." (Ausspru<strong>ch</strong> Kents um 1900!).<br />
Alzheimerkranke Mens<strong>ch</strong>en sind oft körperli<strong>ch</strong> relativ gesund, wissen aber ni<strong>ch</strong>t mehr,<br />
wer sie sind, wo sie wohnen, können die Angehörigen ni<strong>ch</strong>t mehr erkennen! Swedenborg:<br />
"Der Mens<strong>ch</strong> ist Mens<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> seinen Willen und Verstand!" Was passiert mit<br />
dem inneren Mens<strong>ch</strong>en dieser Alzheimerkranken, wenn der innere (hier kranke)<br />
Mens<strong>ch</strong> seinen Körper verlässt? Swedenborg: "... der leibli<strong>ch</strong>e Tod tangiert den inneren<br />
Mens<strong>ch</strong>en überhaupt ni<strong>ch</strong>t, er ist nur eine Versetzung des Mens<strong>ch</strong>en aus der irdis<strong>ch</strong>en<br />
in eine andere, geistigere Seinsweise". Was eine s<strong>ch</strong>einbare "Heilung" für den Körper<br />
ist, wird zum Unheil für den inneren ewigen Mens<strong>ch</strong>en. Die Mens<strong>ch</strong>en wollen ein genußvolles,<br />
vergnügli<strong>ch</strong>es äußeres Leben - und dazu passen diese lästigen Krankheiten<br />
ni<strong>ch</strong>t, die hässli<strong>ch</strong>en Hautauss<strong>ch</strong>läge usw. Die S<strong>ch</strong>ulmedizin betra<strong>ch</strong>tet den Mens<strong>ch</strong>en<br />
von außen her, und ist ein Hautauss<strong>ch</strong>lag vers<strong>ch</strong>wunden, so ist der Mens<strong>ch</strong> ans<strong>ch</strong>einend<br />
geheilt. Die Homöopathie betra<strong>ch</strong>tet den inneren Mens<strong>ch</strong>en und beoba<strong>ch</strong>tet alle<br />
Veränderungen auf der Geistes- und Gemütsebene.<br />
Die homöopathis<strong>ch</strong>e Therapie besteht ni<strong>ch</strong>t im Konsum von Arzneien, sondern ist ein<br />
Weg, den der Patient mit seinem Therapeuten geht. Der Therapeut hat das Ziel, diesen<br />
Patienten ohne regelmäßige Arzneieinnahme in einen freudvollen, zufriedenen und<br />
kraftvollen inneren Gesundheitszustand zu führen. Dana<strong>ch</strong> erst kommt au<strong>ch</strong> die Heilung<br />
des äußeren Mens<strong>ch</strong>en! "Denn unsere Trübsal, die zeitli<strong>ch</strong> und lei<strong>ch</strong>t ist, s<strong>ch</strong>afft<br />
eine ewige und über alle Maßen gewi<strong>ch</strong>tige Herrli<strong>ch</strong>keit, uns, die wir ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>auen auf<br />
das Si<strong>ch</strong>tbare, sondern auf das Unsi<strong>ch</strong>tbare. Darum werden wir ni<strong>ch</strong>t müde, sondern ob<br />
unser äußerli<strong>ch</strong>er Mens<strong>ch</strong> verdirbt, so wird do<strong>ch</strong> der innerli<strong>ch</strong>e von Tag zu Tag erneuert.<br />
Denn was si<strong>ch</strong>tbar ist, das ist zeitli<strong>ch</strong>, was aber unsi<strong>ch</strong>tbar ist, das ist ewig!" (2. Kor.<br />
4,16-18).<br />
Ein Homöopath erkennt die Stärke der Lebenskraft an ihrer Fähigkeit, Krankheiten auf<br />
der körperli<strong>ch</strong>en Ebene zu halten. Kommt z. B. ein Patient und beri<strong>ch</strong>tet, daß der Hautauss<strong>ch</strong>lag<br />
dur<strong>ch</strong> eine Vitaminsalbe s<strong>ch</strong>nell vers<strong>ch</strong>wunden ist, weiß der Homöopath, daß<br />
hier eine geringe Vitalität der Lebenskraft vorliegt. Kommt dagegen ein Kind mit Neurodermitis,<br />
das s<strong>ch</strong>on seit Jahren ohne "Erfolg" mit Cortisonsalbe behandelt wird, so<br />
kann man auf eine starke Lebenskraft, die si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t so s<strong>ch</strong>nell unterdrücken läßt,<br />
s<strong>ch</strong>ließen. Zusammenfassung: Werden die äußeren Ers<strong>ch</strong>einungen entfernt, bleiben die<br />
inneren Bedingungen unverändert, und die innere Krankheit s<strong>ch</strong>reitet im Laufe der Zeit<br />
weiter zum Zentrum. Wird eine Krankheit, die eine bestimmte Kraft besitzt, äußerli<strong>ch</strong>
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 117<br />
unterdrückt, wendet si<strong>ch</strong> die glei<strong>ch</strong>e Kraft gegen ein anderes meist lebenswi<strong>ch</strong>tigeres<br />
Organ. Eine wahrhafte Heilung verläuft immer von innen na<strong>ch</strong> außen.<br />
Au<strong>ch</strong> Swedenborg spri<strong>ch</strong>t im Homo Maximus S. 124f von dieser Ausleitung von innen<br />
na<strong>ch</strong> außen: "Denno<strong>ch</strong> gibt es umhers<strong>ch</strong>weifende Geister von der höllis<strong>ch</strong>en Rotte, wel<strong>ch</strong>e<br />
gefährli<strong>ch</strong>er sind als andere. Weil diese im Leibesleben gewöhnt waren, in die Neigungen<br />
des Mens<strong>ch</strong>en einzugehen, um ihm zu s<strong>ch</strong>aden, behalten sie au<strong>ch</strong> im andern<br />
Leben diese Begierde bei und su<strong>ch</strong>en auf alle Weise in den Ges<strong>ch</strong>mack beim Mens<strong>ch</strong>en<br />
einzugehen, und wenn sie in denselben eingegangen sind, besitzen sie sein Inwendiges,<br />
nämli<strong>ch</strong> das Leben seiner Gedanken und Neigungen, denn wie gesagt, sol<strong>ch</strong>es entspri<strong>ch</strong>t,<br />
und was entspri<strong>ch</strong>t, das wirkt zusammen. Von sol<strong>ch</strong>en werden sehr viele heutzutage<br />
besessen, denn es gibt heutzutage inwendigere Besessenheiten, ni<strong>ch</strong>t aber wie<br />
ehemals auswendigere [18. Jhd.] … Jene gefährli<strong>ch</strong>en Geister gehen hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> darauf<br />
aus, daß sie alle inneren Bande lösen, wel<strong>ch</strong>e sind die Neigungen zum Guten und<br />
Wahren, Gere<strong>ch</strong>ten und Billigen, die Fur<strong>ch</strong>t vor dem göttli<strong>ch</strong>en Gesetz, die S<strong>ch</strong>eu, der<br />
Gesells<strong>ch</strong>aft und dem Vaterland zu s<strong>ch</strong>aden. Es wurde mir au<strong>ch</strong> gezeigt, wie sie weggetrieben<br />
wurden (die höllis<strong>ch</strong>en Geister). Als sie nämli<strong>ch</strong> in die inwendigeren Teile des<br />
Haupts und Gehirns einzudringen meinten, wurden sie dur<strong>ch</strong> die Absonderungswege<br />
daselbst abgeführt und zuletzt gegen die äußeren Teile der Haut getrieben. Und herna<strong>ch</strong><br />
sah man, wie sie in eine Grube, die voll von ausgelöstem S<strong>ch</strong>mutz war, geworfen wurden.<br />
I<strong>ch</strong> wurde belehrt, daß sol<strong>ch</strong>e Geister den s<strong>ch</strong>mutzigen Grüb<strong>ch</strong>en auf der äußersten<br />
Haut, wo die Krätze ist, somit der Krätze selbst entspre<strong>ch</strong>en." (= Heilung von innen<br />
na<strong>ch</strong> außen!) Dur<strong>ch</strong> die allopathis<strong>ch</strong>en Behandlungen wird verhindert, diese höllis<strong>ch</strong>en<br />
Geister aus dem Inneren hinauszutreiben. Bei Alzheimer z. B. kann der Geist ni<strong>ch</strong>t<br />
mehr hinunter bis ins Natürli<strong>ch</strong>e hinein wirken! Dieser Mens<strong>ch</strong> hat alle Verstandesfähigkeit<br />
(Selbsterkenntnis und Gotterkenntnis) verloren. Es werden nur no<strong>ch</strong> die körperli<strong>ch</strong>en<br />
Bedürfnisse befriedigt! Hahnemann ging davon aus, daß eine homöopathis<strong>ch</strong>e<br />
Kur nur dann erfolgrei<strong>ch</strong> war, wenn si<strong>ch</strong> am Ende der Behandlung ein Hautauss<strong>ch</strong>lag<br />
zeigte - au<strong>ch</strong> bei den Patienten, die nie zuvor unter einen Hautauss<strong>ch</strong>lag litten! Ausleitung<br />
der "höllis<strong>ch</strong>en Rotte".<br />
Vom inneren ewigen Mens<strong>ch</strong>en aus betra<strong>ch</strong>tet, ist das, was wir übli<strong>ch</strong>erweise "Krankheit"<br />
nennen (also z.B. Husten, S<strong>ch</strong>nupfen, Fieber), ni<strong>ch</strong>t die eigentli<strong>ch</strong>e Krankheit, sondern<br />
vielmehr der Versu<strong>ch</strong> der Lebenskraft, die innere Ordnung wieder herzustellen!<br />
Krankheit ist so betra<strong>ch</strong>tet eigentli<strong>ch</strong> ein Heilprozess! Die Befindensveränderungen, die<br />
wir dabei verspüren, sind eben dieser Versu<strong>ch</strong> der Lebenskraft, die innere Krankheit zu<br />
überwinden um die Ordnung wieder herzustellen! Der juckende und brennende Krätzeauss<strong>ch</strong>lag<br />
auf der Haut ist ein notwendiger Heilprozess für den inneren Mens<strong>ch</strong>en!<br />
Dur<strong>ch</strong> äußere Behandlung mit Salben und derglei<strong>ch</strong>en kommt es zur Unterdrückung<br />
und die "höllis<strong>ch</strong>e Rotte" kann ins Inwendige des Mens<strong>ch</strong>en vordringen! Das was den
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 118<br />
äußeren Mens<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>einbar krank gema<strong>ch</strong>t hat, ist der Heilprozess des inneren Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Die homöopathis<strong>ch</strong>e Arzneiverordnung unterstützt diesen zentrifugalen Ausleitungsvorgang<br />
und wird au<strong>ch</strong> die Krätzebläs<strong>ch</strong>en zur Ausheilung bringen. Krankheitseinflüsse<br />
können wir ni<strong>ch</strong>t spüren. Wir merken ni<strong>ch</strong>t, wenn ein grippaler Infekt einfließt,<br />
erst wenn wir anfangen zu niesen, Halskratzen usw. si<strong>ch</strong> einstellt, dann erst spüren<br />
wir die Krankheit und sagen "I<strong>ch</strong> glaube, i<strong>ch</strong> werde krank". Tatsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> aber ist dies<br />
bereits der Versu<strong>ch</strong>, die Krankheit hinauszuleiten. Der eigentli<strong>ch</strong>e Abwehrprozeß ist<br />
s<strong>ch</strong>on - unbemerkt und unspürbar - im Inneren abgelaufen, no<strong>ch</strong> bevor wir Befindensveränderungen<br />
unseres gesunden Zustandes bemerken. Diese Befindensveränderung<br />
vom gesunden zum kranken Zustand ist aber s<strong>ch</strong>on der Heilungsversu<strong>ch</strong>, die Abwehrreaktion<br />
der Lebenskraft auf den immateriellen Krankheitseinfluß. Die Zeit vom ni<strong>ch</strong>t<br />
spürbaren Einfließen der Krankheit auf der ni<strong>ch</strong>tstoffli<strong>ch</strong>en Lebenskraftebene ins innere<br />
des Mens<strong>ch</strong>en bis zum Zeitpunkt der ersten Krankheitszei<strong>ch</strong>en nennt die S<strong>ch</strong>ulmedizin<br />
"Inkubationszeit". Aus homöopathis<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t ist "Krankheit" immer ein Heilversu<strong>ch</strong><br />
des Inneren Mens<strong>ch</strong>en. Krankheiten gehören auf die körperli<strong>ch</strong>e Ebene! Die S<strong>ch</strong>ulmedizin<br />
versu<strong>ch</strong>t alle Krankheiten auf der körperli<strong>ch</strong>en Ebene zum Vers<strong>ch</strong>winden zu bringen.<br />
Ist eine Krankheit äußerli<strong>ch</strong> si<strong>ch</strong>tbar vers<strong>ch</strong>wunden, so gilt der Patient als geheilt.<br />
Krankheits- und Ansteckungsgesetze<br />
Kent: "Die Vorgänge bei Krankheit, Heilung und Ansteckung glei<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> sehr, und die<br />
Prinzipien, die si<strong>ch</strong> auf's eine beziehen, gelten au<strong>ch</strong> beim anderen. Bei der Heilung haben<br />
wir den Vorteil, den Potenzgrad ändern zu können, und dadur<strong>ch</strong> ist es uns mögli<strong>ch</strong>,<br />
das Mittel genau der Empfängli<strong>ch</strong>keitsebene des Patienten anzupassen." Im Folgenden<br />
mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> sieben mögli<strong>ch</strong>e Reaktionen zeigen, wie die Lebenskraft auf einen äußeren<br />
Krankheitsreiz reagiert. Als Beispiel nehmen wir einen Patienten, der an einem <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en<br />
Dur<strong>ch</strong>fall als seiner natürli<strong>ch</strong>en Krankheit leidet.<br />
1. Diesem Patienten wird eine homöopathis<strong>ch</strong>e Arznei verordnet, die bei Prüfung am<br />
Gesunden einen ähnli<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>fall hervorruft. Dur<strong>ch</strong> den Potenzierungsvorgang ist<br />
der Reiz stärker als die vorherrs<strong>ch</strong>ende natürli<strong>ch</strong>e Krankheit. Reaktion: Der Dur<strong>ch</strong>fall<br />
wird geheilt.<br />
2. Der Patient steckt si<strong>ch</strong> mit einer akuten Magen-Darmgrippe an. Diese grassierende<br />
Grippe ist stärker als die vorherrs<strong>ch</strong>ende Krankheit. Der Patient dur<strong>ch</strong>lebt sie intensiv.<br />
Reaktion: Na<strong>ch</strong> Abklingen der neu dazukommenden Dur<strong>ch</strong>fallerkrankung ist au<strong>ch</strong> der<br />
<strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Dur<strong>ch</strong>fall geheilt. Diese hinzutretende natürli<strong>ch</strong>e Krankheit wirkt wie ein<br />
homöopathis<strong>ch</strong> verordnetes Arzneimittel.<br />
Ein Beispiel aus der Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te der Medizin, wie zwei natürli<strong>ch</strong>e Krankheiten si<strong>ch</strong> gegenseitig<br />
aufheben können: Julius Wagner von Jauregg (1857-1940) erlebte, wie si<strong>ch</strong>
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 119<br />
ein Patienten, der an progressiver Paralyse litt (forts<strong>ch</strong>reitende Lähmung), mit Malaria<br />
(We<strong>ch</strong>selfieber) ansteckte und diese Krankheit sehr heftig dur<strong>ch</strong>leiden mußte (trotz seiner<br />
s<strong>ch</strong>on s<strong>ch</strong>weren <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Krankheit). Zu seiner Überras<strong>ch</strong>ung war die Multiple<br />
Sklerose (forts<strong>ch</strong>reitende Lähmung) na<strong>ch</strong> Abklingen der Malaria vollständig geheilt! Eine<br />
stärkere natürli<strong>ch</strong>e Krankheit hat die vorherrs<strong>ch</strong>ende Krankheit dur<strong>ch</strong> das Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzip<br />
geheilt (Heilung dur<strong>ch</strong> Ansteckung einer ähnli<strong>ch</strong>en natürli<strong>ch</strong>en Krankheit!).<br />
Julius Wagner führte die Malaria- Behandlung bei progressiver Paralyse ein und<br />
erhielt 1927 den Nobelpreis. Das Heilgesetz, das hinter diesem Ges<strong>ch</strong>ehen wirkte, hat<br />
er ni<strong>ch</strong>t erkannt. Er erhielt 1927 für seine Entdeckung den Nobelpreis. So können au<strong>ch</strong><br />
heute no<strong>ch</strong> Patienten dur<strong>ch</strong> Ansteckung von ähnli<strong>ch</strong>en, stärkeren Krankheiten geheilt<br />
werden.<br />
3. Der Patient mit dem <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>en Dur<strong>ch</strong>fall wird mit einer ähnli<strong>ch</strong>en Krankheit konfrontiert,<br />
die ni<strong>ch</strong>t stärker ist, als die natürli<strong>ch</strong>e vorherrs<strong>ch</strong>ende Krankheit. Reaktion:<br />
keine Ansteckung und zu keiner weiteren Reaktion.<br />
4. Unser Patient bekommt eine allopathis<strong>ch</strong>e (gegensätzli<strong>ch</strong>e) Arznei verordnet. Dur<strong>ch</strong><br />
die häufige, regelmäßige Einnahme ist die Arznei stärker, als die vorherrs<strong>ch</strong>ende natürli<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit. Reaktion: Die natürli<strong>ch</strong>e Krankheit tritt zurück, sie vers<strong>ch</strong>windet<br />
s<strong>ch</strong>einbar. Der Patient bekommt eine künstli<strong>ch</strong>e Arzneikrankheit evtl. (je na<strong>ch</strong> Empfindli<strong>ch</strong>keit)<br />
mit Prüfungssymptomen. Na<strong>ch</strong> Absetzen der Arznei kehrt die alte natürli<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit zurück (S<strong>ch</strong>einheilung mit evtl. arzneispezifis<strong>ch</strong>en Prüfungssymptomen =<br />
Nebenwirkungen).<br />
5. Unser Patient steckt si<strong>ch</strong> mit einem akuten katarrhalis<strong>ch</strong>en Infekt an. Dieser Infekt<br />
ist eine gegensätzli<strong>ch</strong>e Krankheit (sie hat ni<strong>ch</strong>ts mit dem Dur<strong>ch</strong>fall zu tun). Reaktion:<br />
Während der Patient diese akute Grippe mit evtl. S<strong>ch</strong>nupfen und Fieber dur<strong>ch</strong>steht,<br />
vers<strong>ch</strong>windet der alte kranke Zustand und sein Stuhlgang ist normal. Klingen die Grippesymptome<br />
ab, so kehrt der alte <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Dur<strong>ch</strong>fall zurück. Diese Grippe hat wie eine<br />
allopathis<strong>ch</strong> gewählte Arznei gewirkt und die natürli<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>e Krankheit unterdrückt.<br />
6. Dem Patienten wird eine homöopathis<strong>ch</strong>e Arznei verordnet, die der vorherrs<strong>ch</strong>enden<br />
Krankheit nur in oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Teilberei<strong>ch</strong>en, ni<strong>ch</strong>t jedo<strong>ch</strong> "der Gesamtheit der Symptome"<br />
ähnli<strong>ch</strong> ist. Reaktion: Es kann zum "Vers<strong>ch</strong>winden" der vorherrs<strong>ch</strong>enden<br />
Krankheit kommen, jedo<strong>ch</strong> ohne glei<strong>ch</strong>zeitige Besserung des Allgemeinbefindens auf<br />
der Geistes- und Gemütsebene, eben der Ebene des inneren Mens<strong>ch</strong>en. Die natürli<strong>ch</strong>e<br />
Krankheit ist nur unterdrückt. Na<strong>ch</strong> Abklingen der homöopathis<strong>ch</strong>en Arzneiwirkung<br />
tau<strong>ch</strong>t die alte natürli<strong>ch</strong>e Krankheit wieder auf. ("Ni<strong>ch</strong>t die Arznei ist homöopathis<strong>ch</strong>,<br />
sondern die Verordnung").
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 120<br />
7. Unser Patient kommt mit vielen Mens<strong>ch</strong>en zusammen, die eine Bron<strong>ch</strong>itis haben.<br />
Diese Bron<strong>ch</strong>itis ist ni<strong>ch</strong>t stärker als sein natürli<strong>ch</strong>es Krankheitsleiden (<strong>ch</strong>ronis<strong>ch</strong>er<br />
Dur<strong>ch</strong>fall). Reaktion: Es kommt zu keiner Ansteckung.<br />
Wenn das homöopathis<strong>ch</strong>e Gesetz ein Naturgesetz ist, so muß es uns au<strong>ch</strong> im tägli<strong>ch</strong>en<br />
Leben begegnen.<br />
Das homöopathis<strong>ch</strong>e Prinzip im tägli<strong>ch</strong>en Leben!<br />
1. Bei Erfrierungen: Hier kommt das homöopathis<strong>ch</strong>e Prinzip sehr deutli<strong>ch</strong> zum Ausdruck.<br />
Keine Mutter kommt auf die Idee, über die froststarren Finger ihres Kindes heißes<br />
Wasser zu gießen (das wäre die allopathis<strong>ch</strong>e Behandlung), sondern sie nimmt ähnli<strong>ch</strong><br />
kalten S<strong>ch</strong>nee oder Wasser und reibt die Finger vorsi<strong>ch</strong>tig ein, bis die Dur<strong>ch</strong>blutung<br />
wieder in Gang kommt.<br />
2. Bei Verbrennungen: Hier ist die allgemeine (allopathis<strong>ch</strong>e) Behandlung, den betroffenen<br />
Teil sofort unter kaltes Wasser zu halten. Diese Behandlung hat zwar den Vorteil,<br />
daß dur<strong>ch</strong> den S<strong>ch</strong>ock momentan kein S<strong>ch</strong>merz spürbar ist, sobald jedo<strong>ch</strong> die Kühlung<br />
aufhört, treten sehr heftige S<strong>ch</strong>merzen auf und die Heilung dauert sehr lange. Dagegen<br />
steht die homöopathis<strong>ch</strong>e Behandlung: Bei Verbrennungen wird der betroffene Teil sofort<br />
mit ähnli<strong>ch</strong>er Hitze, z.B. sehr heißem Wasser oder erwärmtem Alkohol (wie Hahnemann<br />
empfiehlt), behandelt. Der S<strong>ch</strong>merz wird zwar zunä<strong>ch</strong>st no<strong>ch</strong> stärker, läßt aber<br />
s<strong>ch</strong>on na<strong>ch</strong> kurzer Zeit na<strong>ch</strong> und meist entstehen dann keine Brandblasen. Erfahrenen<br />
Kö<strong>ch</strong>en war dieses Gesetz s<strong>ch</strong>on immer sehr gut bekannt: Bei Verbrühungen und<br />
Verbrennungen wird der betroffene Teil immer wieder zur ähnli<strong>ch</strong> heißen Feuerstelle<br />
geführt; die S<strong>ch</strong>merzen lassen s<strong>ch</strong>nell na<strong>ch</strong> und es gibt keine Brandblasen.<br />
Homöopathis<strong>ch</strong>e Heilung im Alten Testament<br />
"Da s<strong>ch</strong>ickte er gegen das Volk die Vipern, die Brandnattern aus, die bissen das Volk<br />
und viel Volk von Israel starb. Das Volk kam zu Moses und sie spra<strong>ch</strong>en: Wir haben gesündigt,<br />
daß wir gegen ihn redeten und gegen di<strong>ch</strong>, setze di<strong>ch</strong> bei ihm ein, daß er die<br />
Vipern von uns wende. Moses setzte si<strong>ch</strong> ein für das Volk und Gott spra<strong>ch</strong> zu Moses:<br />
Ma<strong>ch</strong> dir eine Brandnatter und tue sie an eine Bannerstange und jeder Gebissene sehe<br />
sie an und er wird am Leben bleiben. Moses ma<strong>ch</strong>te die Viper aus Kupfer und tat sie an<br />
eine Bannerstange und so war es: Hatte die Viper einen Mann gebissen und blickte er<br />
auf die Viper von Kupfer so blieb er am Leben!" (Numeri 21). Tanz ums goldene Kalb:<br />
"Als Moses aber nahe zum Lager kam und das Kalb und das Tanzen sah, entbrannte<br />
sein Zorn, und er warf die Tafeln aus der Hand und zerbra<strong>ch</strong> sie unten am Berge und<br />
nahm das Kalb, das sie gema<strong>ch</strong>t hatten, und ließ es im Feuer zers<strong>ch</strong>melzen und zer-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 121<br />
malmte es zu Pulver und streute es aufs Wasser und gab es den Kindern Israel zu trinken."<br />
(Exodus 32).<br />
Zum S<strong>ch</strong>luß mö<strong>ch</strong>te i<strong>ch</strong> no<strong>ch</strong> aus Herbert Frits<strong>ch</strong>es Bu<strong>ch</strong> "Die Erhöhung der S<strong>ch</strong>lange"<br />
zitieren, in dem er si<strong>ch</strong> einige interessante Gedanken über die Wirksamkeit von homöopathis<strong>ch</strong>en<br />
Arzneien und dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzipes ma<strong>ch</strong>t: "Nun beruht aber die<br />
ganze Homöopathie darauf, daß es zahlrei<strong>ch</strong>e Kranke gibt, deren Symptome denen der<br />
geprüften Arzneien ähnli<strong>ch</strong> sind, daß also beispielsweise ein Patient mit Belladonna-<br />
Symptomen angetroffen werden kann, wel<strong>ch</strong>er ni<strong>ch</strong>t Belladonna als Arznei im Leibe<br />
hat. Au<strong>ch</strong> in ihm wirkt Belladonna, jedo<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t diejenige, die er etwa aus dem Weltbestande<br />
des Makrokosmos - von außen her - einverleibt bekommen hätte, sondern diejenige,<br />
die er von vornherein latent in si<strong>ch</strong> hatte und die ledigli<strong>ch</strong> jetzt, in Form seines<br />
Krankseins, aus den Tiefen seines Mens<strong>ch</strong>enorganismus freigeworden ist. So nur können<br />
wir es verstehen, sonst wäre unerklärli<strong>ch</strong>, daß in der Tat die Symptomengesamtheit<br />
der Erkrankungsfälle der Mens<strong>ch</strong>heit in ihren Signaturen den Signaturen der am Gesunden<br />
prüfbaren Arzneien entspre<strong>ch</strong>en. Daß der Makrokosmos im Entspre<strong>ch</strong>ungsverhältnis<br />
zum Mikrokosmos Mens<strong>ch</strong> steht, ist Urgut der Initiations-Erkenntnis von Hermes<br />
Trismegistos über Paracelsus bis zu Swedenborg und bis zur Gegenwart. Man muß<br />
das nur konkret genug nehmen. So konkret wie die Homöopathie es lehrt. Dann sieht<br />
man, daß alles, was das All enthält, au<strong>ch</strong> im Mens<strong>ch</strong>en latent vorhanden ist: die Belladonna,<br />
die Kröte, die spanis<strong>ch</strong>e Fliege, der S<strong>ch</strong>wefel, das Blei usw. Freili<strong>ch</strong> handelt es<br />
si<strong>ch</strong> bei sol<strong>ch</strong>em Im-Mens<strong>ch</strong>en-Vorhandensein ni<strong>ch</strong>t um ein stoffli<strong>ch</strong>es, sondern um ein<br />
Vorhandensein als S<strong>ch</strong>öpfungs-Prinzip, als okkulte "Eingebundenheit". Kommt es aber<br />
dahin, daß sie "eigen-sinnig" werden und mithin glei<strong>ch</strong>sam ins Physis<strong>ch</strong>e ausbre<strong>ch</strong>en,<br />
dann wirken sie, wie die ihnen jeweils entspre<strong>ch</strong>ende Arzneiprüfung am Gesunden, d.h.<br />
sie rufen Symptome hervor, sie ma<strong>ch</strong>en krank. Das Eigen-sinnig-Werden der dynamis<strong>ch</strong>en<br />
Prinzipien im Mens<strong>ch</strong>en, die Wendung ins krankma<strong>ch</strong>end Stoffli<strong>ch</strong>e, läßt si<strong>ch</strong><br />
beweisen. Gibt man Kranken, deren Symptomenbild auf S<strong>ch</strong>wefel hinweist, potenzierten<br />
S<strong>ch</strong>wefel als homöopathis<strong>ch</strong>e Arznei, so zeigt si<strong>ch</strong>, daß die Patienten während der<br />
Heilung ungeheuer zu nennende Mengen S<strong>ch</strong>wefel dur<strong>ch</strong> die Haut auss<strong>ch</strong>eiden, bis zu<br />
5,76 Gramm tägli<strong>ch</strong>, von der dynamisierten Arznei aus dem Gewebe ges<strong>ch</strong>wemmt. Ein<br />
Sieg des Geistes über die Materie. Der unerlaubt materiell gewordene, der eigen-sinnig<br />
"bockende" S<strong>ch</strong>wefel wird aus dem Organismus des Kranken hinausgedrängt. Dadur<strong>ch</strong>,<br />
daß der S<strong>ch</strong>wefel "dumm" wurde, kam es zu den S<strong>ch</strong>wefelsymptomen -: in sol<strong>ch</strong>em Sinne<br />
darf man sagen, Krankheit ist "Arzneiprüfung". Zuglei<strong>ch</strong> aber kam es zu einem Ausfall<br />
des S<strong>ch</strong>wefels als eines zum Mens<strong>ch</strong>en gehörigen dynamis<strong>ch</strong>en Prinzipes. Dieses<br />
dynamis<strong>ch</strong>e Prinzip hat si<strong>ch</strong> auf anar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Weise in etwas Materielles metamorphosiert<br />
und fehlt mithin nun im gesunden Zusammenspiel der Dynamis. Die daraufhin "in<br />
Ers<strong>ch</strong>einung tretenden" Symptome besagen ni<strong>ch</strong>t nur, daß "dumm" gewordener S<strong>ch</strong>we-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 122<br />
fel den Organismus vergiftete, sondern sie melden au<strong>ch</strong> den Hunger na<strong>ch</strong> dem an, was<br />
dem Kranken fehlt. "Was fehlt Ihnen?", fragt der Therapeut seinen Patienten. Der Therapeut,<br />
der angesi<strong>ch</strong>ts der Sulfur-Symptomatik des Kranken sieht, daß dynamisierter<br />
S<strong>ch</strong>wefel fehlt, verordnet sol<strong>ch</strong>en als die passende Arznei. Damit stillt er den Hunger,<br />
den hö<strong>ch</strong>st spezifis<strong>ch</strong>en Sulfur-Hunger - und stillt ihn ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> massive Gaben (denn<br />
davon fehlt ja ni<strong>ch</strong>ts, es ist im Gegenteil viel zu viel vorhanden), sondern dur<strong>ch</strong> Arznei-<br />
"Geist", wel<strong>ch</strong>er alsdann den "Sieg über die Materie", über den "dumm gewordenen"<br />
S<strong>ch</strong>wefel erwirkt, indem er ihn auss<strong>ch</strong>eidet. Die Symptome vers<strong>ch</strong>winden dann: die<br />
Symptome, wel<strong>ch</strong>e sowohl Hunger bekunden (na<strong>ch</strong> dem fehlenden dynamis<strong>ch</strong>en Prinzip),<br />
als au<strong>ch</strong> zuglei<strong>ch</strong> "Überfütterung" (mit der Materie, zu der si<strong>ch</strong> dieses Prinzip metamorphosiert<br />
hatte). Der Organismus hat das Fehlende wiedererlangt, Heilung = Wieder-Ganz-Werdung<br />
kann verbu<strong>ch</strong>t werden."<br />
Weiter heißt es an anderen Stellen: "Au<strong>ch</strong> Leibbrand kommt zu dem Ergebnis: 'Der<br />
Mens<strong>ch</strong> ist krank.' Er lebt im Grunde genommen aus dem Zentrum seiner S<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>e<br />
und 'Deine Gesundheit ist also entgiftete Krankheit'. 'Überdies tritt Erkrankung stets als<br />
S<strong>ch</strong>icksal auf. Nur in einem vollends sinn-entleerten Weltbild kann man die Meinung<br />
produzieren, so eindringli<strong>ch</strong>e Ereignisse wie das Erkranken kämen als peinli<strong>ch</strong>e Zufälle<br />
beim allgemeinen Hin und Her des kosmis<strong>ch</strong>en Getriebes zustande. Warum gerade i<strong>ch</strong>?,<br />
fragt der Kranke gern. Oberflä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ärzte beruhigen ihn dann mit Belehrungen über<br />
biologis<strong>ch</strong>es Malheur, z.B. mit Hinweisen auf eine als Unfall zu bewertende Infektion<br />
oder auf Diätfehler. Kann aber der wirkli<strong>ch</strong> zum Therapeuten taugen, der ni<strong>ch</strong>t spürt,<br />
daß jede Krankheit Ruf ist und damit Forderungen an den Kranken stellt? Daß Erkrankungen<br />
gegenüber die Einstellung Jakobs zu gelten habe: 'I<strong>ch</strong> lasse di<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t, du segnest<br />
mi<strong>ch</strong> denn!', sehen heute die Besten unter den Ärzten ein. Der Segen, der errungen<br />
werden soll, läßt si<strong>ch</strong> volkstümli<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong> ausdrücken, daß der Geheilte als besserer<br />
Mens<strong>ch</strong> aus seiner Erkrankung hervorgehen möge. Und das trifft präzis zu: Ein<br />
S<strong>ch</strong>ritt vorwärts in Ri<strong>ch</strong>tung e<strong>ch</strong>ter Mens<strong>ch</strong>werdung muß jedes Krank- und Geheiltwerden<br />
führen.' 'Das therapeutis<strong>ch</strong>e <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Mysterienwort 'Ecce homo!' - das ein Ni<strong>ch</strong>t-<br />
Christ ausrief, heißt auf Deuts<strong>ch</strong>: 'Sieh da: der Mens<strong>ch</strong>!' Pilatus entdeckte das heilsame<br />
Simile (das individuelle Heilmittel) des Homo sapiens, bevor er dieses Simile der den<br />
Homo sapiens erlösenden Passion preisgab. Na<strong>ch</strong> Maßgabe seiner ho<strong>ch</strong>potenzierten<br />
Dur<strong>ch</strong><strong>ch</strong>ristung gerät der Mens<strong>ch</strong> also ins Kraftfeld der Heilung. Im Erlöser wird Gott<br />
dem Mens<strong>ch</strong>en ähnli<strong>ch</strong> und damit zu dessen Simile, wel<strong>ch</strong>es dur<strong>ch</strong> ähnli<strong>ch</strong>es Leiden<br />
wirkt - Golgatha und sein Passions-Vorspiel sind mens<strong>ch</strong>enähnli<strong>ch</strong>es Leiden des mens<strong>ch</strong>enähnli<strong>ch</strong><br />
gewordenen Gottes, aber dieses wieder hat der Mens<strong>ch</strong> zu 'assimilieren',<br />
es hat dem Mens<strong>ch</strong>en vom Mens<strong>ch</strong>en her an- und eingeähnli<strong>ch</strong>t zu werden, damit es<br />
Heil erwirke." Ni<strong>ch</strong>t Glei<strong>ch</strong>es heilt, ni<strong>ch</strong>t Gegensätzli<strong>ch</strong>es heilt, sondern Ähnli<strong>ch</strong>es heilt<br />
Ähnli<strong>ch</strong>es!
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 123<br />
Swedenborg und Kent<br />
Über den Einfluß von Emanuel Swedenborg auf die homöopathis<strong>ch</strong>e<br />
Philosophie von James Tyler Kent<br />
von Dr. med. Emiel van Galen<br />
In der Ausübung der homöopathis<strong>ch</strong>en Heilkunde spielt heute die genuine - zumeist<br />
"klassis<strong>ch</strong>" genannte - Ri<strong>ch</strong>tung eine herausragende Rolle. Ein wi<strong>ch</strong>tiger Aspekt für die<br />
Homöopathie sind das Ausmaß an theoretis<strong>ch</strong>em Unterbau und die Regeln, die zu ihrem<br />
Gebrau<strong>ch</strong> als therapeutis<strong>ch</strong>em System entwickelt sind. Zwei Namen in der Homöopathie<br />
ragen dabei heraus: Constantin Hering wegen der großen praktis<strong>ch</strong>en Bedeutung des<br />
na<strong>ch</strong> ihm benannten "Gesetzes", mehr aber no<strong>ch</strong> James Tyler Kent, der einen Grundstein<br />
der klassis<strong>ch</strong>en Homöopathie in seinen "Lectures on Homoeopathic Philosophy" gelegt<br />
hat. Die klassis<strong>ch</strong>e Homöopathie von Hering und Kent basiert auf dem genauen Umgang<br />
mit dem Ähnli<strong>ch</strong>keitsgesetz von Hahnemann, wobei die Symptome in ein hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>es<br />
System gesetzt werden unter einer auffallenden Betonung der Gemütssymptome und<br />
sol<strong>ch</strong>er, die im jeweiligen Fall besonders eigenartig und merkwürdig sind.<br />
Diese Vorgehensweise unters<strong>ch</strong>eidet si<strong>ch</strong> radikal von denjenigen S<strong>ch</strong>ulen, die einzig<br />
und allein auf der Grundlage des Ähnli<strong>ch</strong>keitsprinzips Mittel in niedrigen Potenzen vers<strong>ch</strong>reiben.<br />
Dieser Konflikt, der die Versu<strong>ch</strong>e, die Homöopathie auf eine eindeutige<br />
Grundlage zurückzuführen, fortwährend behindert, ma<strong>ch</strong>t zuglei<strong>ch</strong> eine befriedigende<br />
Untersu<strong>ch</strong>ung ihrer philosophis<strong>ch</strong>en Grundlagen äußerst s<strong>ch</strong>wierig. In der Diskussion<br />
über diese Grundlage der homöopathis<strong>ch</strong>en Theorie und Praxis bleibt ein bestimmter<br />
Aspekt fortdauernd ungenannt; dies gilt au<strong>ch</strong> für die homöopathis<strong>ch</strong>e Ausbildung und<br />
für Veröffentli<strong>ch</strong>ungen über die Fors<strong>ch</strong>ung na<strong>ch</strong> den philosophis<strong>ch</strong>en Grundlagen. Die<br />
klassis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>ule ist nämli<strong>ch</strong>, so wie sie dur<strong>ch</strong> die Lehre und das Werk von Hering und<br />
Kent vor hundert Jahren begründet wurde, tiefgehend beeinflußt dur<strong>ch</strong> die im 18. Jahrhundert<br />
entstandenen philosophis<strong>ch</strong>en Ideen des s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en Gelehrten, Philosophen<br />
und Mystikers Emanuel Swedenborg.<br />
Dieser Artikel versu<strong>ch</strong>t, jene Lücke zu s<strong>ch</strong>ließen und einen Beitrag für die Grundlagenfors<strong>ch</strong>ung<br />
zu liefern, die notwendig ist, um die Homöopathie im heutigen Rahmen zu<br />
festigen und ihr glei<strong>ch</strong>zeitig eine stärkere und deutli<strong>ch</strong>ere eigene Identität innerhalb<br />
der allseitig bezweifelten "Werte-Freiheit" unserer naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Wirkli<strong>ch</strong>keit<br />
zu geben.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 124<br />
Emanuel Swedenborg (1688 - 1772)<br />
Der s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>e Gelehrte Emanuel Swedenborg dur<strong>ch</strong>lief während seines Lebens eine<br />
Entwicklung vom begnadeten Gelehrten, der als einer der ersten vers<strong>ch</strong>iedene Entdekkungen<br />
auf naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>em Gebiet ma<strong>ch</strong>te, zum Begründer einer Philosophie,<br />
die si<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zu einer eigenständigen Form <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er Theologie entwickeln sollte<br />
und in zunehmendem Maße stets mehr mystis<strong>ch</strong>e Elemente enthielt.<br />
Seine wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Grundhaltung wurde geprägt dur<strong>ch</strong> die Philosophie von Descartes,<br />
den Theorien von Isaac Newton und die aufkommenden Naturwissens<strong>ch</strong>aften. Im<br />
Jahr 1715 wurde Swedenborg dur<strong>ch</strong> den s<strong>ch</strong>wedis<strong>ch</strong>en König mit der Aufsi<strong>ch</strong>t des Bergbauwesens<br />
beauftragt, woraufhin er 1734 sein erstes Werk über die Mineralien veröffentli<strong>ch</strong>te:<br />
"Opera Philosophica et Mineralia" 69 Hierin entwickelte er seine Naturphilosophie<br />
mit Elementen von Descartes, Leibniz und dem englis<strong>ch</strong>en Philosophen Locke. In<br />
"De Cultu et Amore Dei" von 1745 bes<strong>ch</strong>rieb Swedenborg eine Nebeltheorie über die<br />
Entstehung des Weltalls, in wel<strong>ch</strong>er Gedanken des Philosophen Kant und des Naturgelehrten<br />
Laplace zu erkennen sind. Weiterhin ist Swedenborg bekannt geworden für seine<br />
originellen Ideen zur Anatomie und Psy<strong>ch</strong>ologie, die in "Oeconomia Regni Animalis" 70<br />
von 1741 und vor allem in "Regnum Animale" 71 von 1744 - 1745 zu finden sind. Offenbar<br />
war Swedenborg sein ganzes Leben lang bestrebt, zur allumfassenden Synthese zu<br />
kommen. In diesen Werken sind die Versu<strong>ch</strong>e, Verbindungen zwis<strong>ch</strong>en Körper und<br />
Psy<strong>ch</strong>e, zwis<strong>ch</strong>en unters<strong>ch</strong>iedli<strong>ch</strong>en Organen und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en der spirituellen<br />
und materiellen Welt zu legen, überall na<strong>ch</strong>zuweisen.<br />
Na<strong>ch</strong> 1745 geht die naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Vorgehensweise von Swedenborg fließend<br />
über in eine persönli<strong>ch</strong>e Theologie und - unter Einfluß spiritueller Erfahrungen - in eine<br />
persönli<strong>ch</strong>e Mystik. Dies ließ eine Vielzahl von geistli<strong>ch</strong>en Werken entstehen, die alle<br />
na<strong>ch</strong> seinem 57. Lebensjahr ges<strong>ch</strong>rieben sind. Sein bekanntestes geistli<strong>ch</strong>es Werk ist<br />
"Arcana Coelestia" aus den Jahren 1749 - 1756.<br />
Swedenborgs Einfluß<br />
Es ist wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>, daß Swedenborg wesentli<strong>ch</strong> häufiger gelesen wurde und viel mehr<br />
Einfluß hatte, als öffentli<strong>ch</strong> zugegeben wurde. Die Zurückhaltung liegt mögli<strong>ch</strong>erweise<br />
69 Swedenborg, E.: Opera Philosophica et Mineralia. 3 Vols. Friedri<strong>ch</strong> Hekel, Dresden, Leipzig 1734.<br />
70 Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oeconomia Regni Animalis, 1740 - 1741). 2 Vols.<br />
Übers. von A. Clissold. William Newberry, London 1845. Repr., Swedenborg Scientific Association,<br />
Philadelphia 1955.<br />
71 Swedenborg, E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) 2 Vols. Übers. von J.J.G. Wilkinson,<br />
William Newberry, London 1843, Repr. Bryn Athyn, Swedenborg Scientific Association, Philadelphia<br />
1960.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 125<br />
in Swedenborgs Lebensabs<strong>ch</strong>nitten als Mystiker begründet, die man<strong>ch</strong>mal nur s<strong>ch</strong>wer in<br />
einen Zusammenhang mit seiner "rationalen" und "wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en" Vorgehensweise<br />
und Publizistik aus den ersten fünfzig Jahren seines Lebens zu stellen sind. Unter<br />
berühmten Namen, die Swedenborg als Inspirationsquelle genannt haben, finden wir Coleridge,<br />
Carlyle, Tennyson, Goethe, Heine, Thoreau, Blake, Emerson, Baudelaire, de Balzac,<br />
Dostojewski, Ezra Pound, August Strindberg und Jorge Luis Borges.<br />
Der amerikanis<strong>ch</strong>e Transzendentalismus gilt als die geistige Bewegung, die die großen<br />
S<strong>ch</strong>riftsteller Neu Englands und der amerikanis<strong>ch</strong>en Ostküste im 19. Jahrhundert geformt<br />
hat. Au<strong>ch</strong> diese intellektuelle Bewegung ist tiefgehend dur<strong>ch</strong> die Philosophie Swedenborgs<br />
beeinflußt. 72<br />
Der Transzendentalismus<br />
Swedenborgs philosophis<strong>ch</strong>e Ideen errei<strong>ch</strong>ten um 1784 die Ostküste Amerikas und fügten<br />
si<strong>ch</strong> unmittelbar in das damalige intellektuelle Klima in diesem Teil der Neuen Welt<br />
ein. Die intellektuelle Strömung beruhte zu einem großen Teil auf dem Erstarken des<br />
neuen wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Verständnisses der Natur, aber es blieb au<strong>ch</strong> Raum für traditionelle<br />
Vorstellungen über die fundamentale Einheit der S<strong>ch</strong>öpfung und die alten platonis<strong>ch</strong>en<br />
Philosophien. In diese Synthese zwis<strong>ch</strong>en dem Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en und dem<br />
Mystis<strong>ch</strong>en fügte si<strong>ch</strong> die Philosophie Swedenborgs harmonis<strong>ch</strong> ein und führte zu einer<br />
neuen Art von Kir<strong>ch</strong>engemeins<strong>ch</strong>aft. Sie wurde "New Chur<strong>ch</strong>" genannt, die Mitglieder<br />
waren bekannt unter dem Namen "Swedenborgianer".<br />
Die Wurzeln der "New Chur<strong>ch</strong>" liegen in London (1789). Die "New Chur<strong>ch</strong>" in den Vereinigten<br />
Staaten wurde 1792 in Baltimore gegründet, und 1817 wurde in Philadelphia<br />
der erste Konvent der "Chur<strong>ch</strong> of the New Jerusalem" abgehalten. Au<strong>ch</strong> wenn die moderne<br />
Swedenborgs<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> immer auf der Theologie von Emanuel Swedenborg<br />
aufbaut, muß betont werden, daß Swedenborg selbst während seines Lebens niemals eine<br />
Kir<strong>ch</strong>e gegründet hat.<br />
In diesem Milieu war Raum für eine persönli<strong>ch</strong>e, <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Lebensüberzeugung, die<br />
si<strong>ch</strong> mühelos mit der aufkommenden "betra<strong>ch</strong>tenden Wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>keit" der Erleu<strong>ch</strong>tung,<br />
der Naturphilosphie des frühen Swedenborg, der mystis<strong>ch</strong>en Theologie des späten<br />
Swedenborg, neuen Auffassungen über die Literatur usw. verband 73 .<br />
72 Treuherz, F.: The Origins of Kents Homoeopathy. Journal of the American Institute of Homeopathy 77<br />
(1984) 130-150.<br />
73 Gardiner, H.: Swedenborg´s Philosophy and Modern Science. British Homoeopathic Journal 49<br />
(1960) 195-205.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 126<br />
In diese eklektis<strong>ch</strong>e Überzeugung paßte die Homöopathie als neue, ursprüngli<strong>ch</strong>e Heilkunde,<br />
die s<strong>ch</strong>on früh dur<strong>ch</strong> die Swedenborgianer übernommen wurde. Beide Systeme<br />
vers<strong>ch</strong>molzen miteinander. In der Verbindung der Philosophie Swedenborgs mit der<br />
Homöopathie im Amerika des 19. Jahrhunderts spielte Dr. Garth Wilkinson (1812 -<br />
1899) eine ents<strong>ch</strong>eidende Rolle 74 . Wilkinson war ein homöopathis<strong>ch</strong>er Arzt, der bekannt<br />
geworden ist, na<strong>ch</strong>dem er als erster - während seiner Ferien auf Island - die heilende<br />
Wirkung der As<strong>ch</strong>e des Vulkans Hecla erkannt hatte (Entstehung von Kno<strong>ch</strong>en-<br />
Exostosen). Er nahm daraufhin etwas Hecla-Lava mit na<strong>ch</strong> Hause und potenzierte sie.<br />
Neben seinen Verdiensten als homöopathis<strong>ch</strong>er Praktiker hat Wilkinson no<strong>ch</strong> in einem<br />
anderen Berei<strong>ch</strong> Bedeutung erlangt. Er übersetzte Swedenborgs Werke "Arcana Coelestia",<br />
"Regnum Animale" und "Oeconomia Regni Animalis" erstmals aus dem Lateinis<strong>ch</strong>en<br />
ins Englis<strong>ch</strong>e 75 .<br />
Ein Jahrhundert na<strong>ch</strong>dem Swedenborg sie verfaßt hatte, kamen seine Werke mit einer<br />
neuen intellektuellen Strömung und damit mit Vertretern der Homöopathie in Berührung.<br />
Dies führte unmittelbar zu einer "<strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>en Reaktion" 76 . Na<strong>ch</strong> Harris L. Coulter 77<br />
war Dr. Garth Wilkinson am Hahnemann-College in Philadelphia ausgebildet worden,<br />
wel<strong>ch</strong>es 1848 dur<strong>ch</strong> Constantin Hering erri<strong>ch</strong>tet worden war. Hering war zuglei<strong>ch</strong> Mitglied<br />
der ersten "Society of Swedenborgians" in Philadelphia. Au<strong>ch</strong> Hans Gram, der die<br />
Homöopathie als erster in Amerika eingeführt hatte (1825), Otis Clapp aus Neu England,<br />
John Ellis aus Mi<strong>ch</strong>igan und die Verleger Boericke und Tafel waren bekannte Swedenborgianer.<br />
Boericke und Tafel bra<strong>ch</strong>ten viele homöopathis<strong>ch</strong>e Bü<strong>ch</strong>er heraus, aber au<strong>ch</strong><br />
alle Übersetzungen der Werke Swedenborgs 78 . Garth Wilkinson war im übrigen über Henry<br />
James Sr. mit der Homöopathie in Berührung gekommen, einem einflußrei<strong>ch</strong>en Verleger<br />
und Vater der amerikanis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftsteller William und Henry James Jr. Henry James<br />
Sr. war bereits ein bedeutender Swedenborgianer und ein wi<strong>ch</strong>tiger Begründer des<br />
Transzendentialismus als literaris<strong>ch</strong>er Strömung an der Ostküste der Vereinigten Staaten<br />
79 .<br />
Die Beziehungen zwis<strong>ch</strong>en den Swedenborgianern und der Homöopathie waren demzufolge<br />
bereits sehr eng, und es war dann au<strong>ch</strong> selbstverständli<strong>ch</strong> und au<strong>ch</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong><br />
akzeptiert, si<strong>ch</strong> als Homöopath mit der "New Chur<strong>ch</strong>" zu verbinden. Die Position<br />
74 Treuherz, F. a.a.O.<br />
75 Swedenborg, E.: Animal Kingdom a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.<br />
76 Treuherz, F. : a.a.O.; Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.<br />
77 Coulter, H.L.: Divided Legacy. Vol. 3: Science and Ethics in American Medicine, 1800-1914. North Al-<br />
tantic Books, Ri<strong>ch</strong>mond/California.<br />
78 Tafel, R.L.: Documents on Swedenborg - Documents Concerning the Life and Character of Emanuel<br />
Swedenborg. 2 Vols., bound as 3. Swedenborg Society, London 1875, 1877.<br />
79 Campbell, A.: The Two Faces ... Robert Hale Ltd. London 1984; Treuherz, F.: a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 127<br />
von Constantin Hering ma<strong>ch</strong>t deutli<strong>ch</strong>, warum so viele Homöopathen dieser Zeit bei der<br />
Gemeins<strong>ch</strong>aft der Swedenborgianer Mitglied wurden. Ein vielsagendes Zitat von Hering:<br />
"Während die Swedenborgianer aus gutem Grund eine homöopathis<strong>ch</strong>e Behandlung bevorzugen<br />
dürften, gibt es überhaupt keinen Grund, warum alle Homöopathen Swedenborgianer<br />
sein sollten." 80<br />
Hering war der Überzeugung, daß Wissens<strong>ch</strong>aft si<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t zu beweisen hatte, indem sie<br />
eine religiöse Doktrin übernahm. Aber Philadelphia war ein Mittelpunkt der "New<br />
Chur<strong>ch</strong>". Viele Kollegen Herings und viele seiner S<strong>ch</strong>üler waren mit Swedenborgs Ideen<br />
in Berührung gekommen, und viellei<strong>ch</strong>t war es in dieser Zeit au<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong>aus Mode, Mitglied<br />
dieser etwas elitären, intellektuellen, aber au<strong>ch</strong> gesells<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Vereinigung zu<br />
sein. Hering war jedenfalls Mitglied der "New Chur<strong>ch</strong>" von Philadelphia und war jederzeit<br />
bereit, die philosophis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>nittstellen zwis<strong>ch</strong>en der Homöopathie Hahnemanns<br />
und der Lehre Swedenborgs zur Diskussion zu stellen.<br />
Es ist übrigens fragli<strong>ch</strong>, ob viele Homöopathen allein aus religiöser Überzeugung Mitglied<br />
der Swedenborgianis<strong>ch</strong>en "New Chur<strong>ch</strong>" wurden. Es gibt keine Hinweise darauf,<br />
daß die großen Homöopathen in der alltägli<strong>ch</strong>en Organisation der Kir<strong>ch</strong>engemeins<strong>ch</strong>aft<br />
eine Rolle spielten. Wahrs<strong>ch</strong>einli<strong>ch</strong>er ist, daß viele Homöopathen in der Philosophie<br />
Swedenborgs ein ausgearbeitetes System sahen, das ihnen dabei behilfli<strong>ch</strong> war, der Homöopathie<br />
ein festes Fundament zu geben.<br />
Swedenborg und Kent<br />
Na<strong>ch</strong> Pierre S<strong>ch</strong>midt 81 gehörte Kent erst na<strong>ch</strong> dem Tod seiner Ehefrau den Swedenborgianern<br />
an. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits Rektor der "Philadelphia Postgraduate<br />
S<strong>ch</strong>ool of Homeopathy". Diese Berührung mit der Philosophie Swedenborgs muß demna<strong>ch</strong><br />
in den Jahren zwis<strong>ch</strong>en 1888 und 1899 vermutet werden.<br />
80 Peebles, E.: Homeopathy and the New Chur<strong>ch</strong>. In: Homeopathy and the Swedenborgian Perspective.<br />
P. 468 - 472.<br />
81 S<strong>ch</strong>midt, P.: The Life of James Tyler Kent. British Homoeopathic Journal 53 (1964) 152-160.<br />
dto.: Biographie von James Tyler Kent, Zeits<strong>ch</strong>rift für Klassis<strong>ch</strong>e Homöopathie (ZKH) 6 (1962) 278-<br />
293.<br />
dto.: Biography of James Tyler Kent, BPh, MA, MD, 1849-1916. Voorwoord Final Edition Repertory, p.<br />
3-11.<br />
dto.: A Propos du Kentisme, Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 180-184.<br />
dto.: Le Kentisme et al biographie de J.T. Kent: Cahiers du Groupement Hahnemannien (1964) 140-<br />
155.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 128<br />
Na<strong>ch</strong> Aussage des Autors Frederic S<strong>ch</strong>mid 82 war Kents zweite Ehefrau Clara Louise jedo<strong>ch</strong><br />
eine führende Figur der Swedenborgianis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e in Philadelphia, und er ist<br />
dur<strong>ch</strong> sie mit Swedenborgs Gedankengut in Kontakt gekommen. Obwohl Garth Wilkinson<br />
als Homöopath und als Übersetzer Swedenborgs Bekanntheit erlangt hatte, gibt es keinen<br />
unmittelbaren Beweis dafür, daß Kent die Übersetzungen Wilkinsons wirkli<strong>ch</strong> gelesen<br />
hat.<br />
Kents Brief an Rev. W. F. Pendleton<br />
Der Einfluß seiner zweiten Ehefrau Clara Louise Kent (1856 - 1943) auf Kents Werk darf<br />
ni<strong>ch</strong>t unters<strong>ch</strong>ätzt werden 83 : "Das Repertorium wurde in einer dur<strong>ch</strong> Clara Louise Kent,<br />
82 S<strong>ch</strong>mid, F.W..: Reflections on the Tombstone of James Tyler Kent. Transactions of the Liga Medicorum<br />
Homoeopathica Internationalis, Sussex 1982, p.345.<br />
83 Kent, J.T.: Repertory of Homoeopathic Materia Medica. Ind. ed., repr. from 6th Am. ed. B. Jain Publi-<br />
shers, New Delhi.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 129<br />
der geliebten Witwe des berühmten Autors, revidierten Fassung veröffentli<strong>ch</strong>t." Der Autor<br />
dieses Aufsatzes entdeckte vor kurzem in der »Swedenborg Library«, Bryn Athyn<br />
(USA), einen Brief, den James Tyler Kent am 13. November 1900 ges<strong>ch</strong>rieben hatte. Er<br />
beweist, daß Kent ein Mitglied der swedenborgs<strong>ch</strong>en Neuen Kir<strong>ch</strong>e in Evanston gewesen<br />
ist. Der Empfänger ist Rev. W. F. Pendleton. Kent wohnte »Suite 707, 92 State<br />
Street, Chicago«. 84<br />
Laut Treuherz sind Kents "Lesser Writings" in dieser Hinsi<strong>ch</strong>t am bedeutendsten. Kents<br />
Verweise auf Swedenborg sind in seinen anderen Werken indirekter Natur 85 . Kent nannte<br />
seine Potenzreihe 30, 200, M 10M, 50M, CM, MM "Oktaven in der Reihe der Grade" 86<br />
(in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden" und dessen Ideen über<br />
die Unendli<strong>ch</strong>keit; siehe unten). Kent kommentierte Herings Heilgesetz wie folgt: "Das<br />
Zentrum des Mens<strong>ch</strong>en besteht aus Willen, Vernunft und Gedä<strong>ch</strong>tnis, und diese beeinflussen<br />
den physis<strong>ch</strong>en Organismus. Diese Vorstellung spielt in Anbetra<strong>ch</strong>t der Entwicklung<br />
der Symptome - vom Innersten zum Äußersten - eine Rolle ... Und diese Vorstellung<br />
wird praktis<strong>ch</strong> bei der Gewi<strong>ch</strong>tung der zu repertorisierenden Symptome angewandt<br />
... Die physis<strong>ch</strong>en Organe entspre<strong>ch</strong>en dem Zentrum des Mens<strong>ch</strong>en, dem Willen<br />
und der Vernunft." 87 (in Übereinstimmung mit Swedenborgs "Lehre von den Graden").<br />
S<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>reibt Kent in seinen "Lesser Writings": "Dur<strong>ch</strong> meine Vertrautheit mit<br />
Swedenborg habe i<strong>ch</strong> erkannt, daß die aus dem Worte Gottes hervorgebra<strong>ch</strong>te Entspre<strong>ch</strong>ung<br />
mit allem, was i<strong>ch</strong> erfahren habe, übereinstimmt." 88<br />
Bei der Neuauflage von Kents "Lectures on Homoeopathic Philosophy" ers<strong>ch</strong>ien unter<br />
anderem ein Vorwort von George G. Starkey: "Dr. Kent war zugestandenermaßen einem<br />
anderen genialen Geist zu Dank verpfli<strong>ch</strong>tet, Emanuel Swedenborg, dessen Rang als<br />
Wissens<strong>ch</strong>aftler und Fors<strong>ch</strong>er von den führenden Wissens<strong>ch</strong>aftlern und Fors<strong>ch</strong>ern in<br />
Europa und Amerika nur zögernd anerkannt wird. Mit einer genialen Begabung, die in<br />
einzigartiger Weise die Fähigkeiten der Intuition und des rationalen Denkens verband,<br />
84 Der Wortlaut des Briefes: »My dear Bishop, As the Rev. L. P. Mercer has organised a new society in<br />
Evanston, Mrs. Kent and myself desire to associate with it. We therefore request that you send us letters<br />
of dismissal su<strong>ch</strong> as it is proper for us to have, that we may unite here. Our first service was<br />
held last Sunday and there were twenty members of the New Chur<strong>ch</strong> present. Mr. Mercer told me<br />
there were forty New Chur<strong>ch</strong>men in rea<strong>ch</strong> of Evanston and he expected to make it his headquarters<br />
shortly. At present we have afternoon service but after the first of the year we expect to have morning<br />
service. Sincerely, J. T. Kent«. Eine Abbildung des Briefes findet man in »Homœopathic Links« 3<br />
(1994) 29 und am Ende dieser Veröffentli<strong>ch</strong>ung.<br />
85 Treuherz,F.: a.a.O.; Kent, J.T.: New Remedies, Clinical Cases, Lesser Writings, Aphorisms and Precepts.<br />
Erhart and Karl, Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.<br />
86 Treuherz, F.: a.a.O.<br />
87 Treuherz,F.: a.a.O.<br />
88 Kent , J.T.: New Remedies, Clinical Cases , Lesser Writings, Aphorisms and Precepts. Erhart and Karl<br />
Chicago 1926. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi 1981.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 130<br />
s<strong>ch</strong>uf Swedenborg neue Grundsätze. Einer davon ist die Lehre von den Reihen und Graden."<br />
89 Zudem soll Kent laut Starkey gesagt haben: "Meine ganze Lehre gründet si<strong>ch</strong> auf<br />
Hahnemann und Swedenborg; ihre Lehren entspre<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> vollkommen." 90<br />
Swedenborgs Lehre von den Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
Für Swedenborg war es von grundlegender Bedeutung, daß eine mystis<strong>ch</strong>e Entspre<strong>ch</strong>ung<br />
zwis<strong>ch</strong>en der geistigen Welt und unseren materiellen Dingen bestand. Swedenborg<br />
lehrte, daß Form und Funktion des Mens<strong>ch</strong>en (Mikrokosmos) einem Vorbild in der<br />
spirituellen, höheren Wirkli<strong>ch</strong>keit (Makrokosmos) na<strong>ch</strong>gestaltet waren. Alles, was dort<br />
in der höheren Welt bestand und ges<strong>ch</strong>ah, spiegelte si<strong>ch</strong> wider in dem Ähnli<strong>ch</strong>en, das<br />
si<strong>ch</strong> in der weltli<strong>ch</strong>en Wirkli<strong>ch</strong>keit auf der Erde befand. Diese Idee der "Entspre<strong>ch</strong>ungen"<br />
ist s<strong>ch</strong>on sehr alt und wird gemäß Swedenborg bereits auf vers<strong>ch</strong>iedene Weise in<br />
der al<strong>ch</strong>emistis<strong>ch</strong>en Tradition getroffen. Swedenborgs Lehre der Entspre<strong>ch</strong>ungen betra<strong>ch</strong>tete<br />
das Universum als ein symbolis<strong>ch</strong>es System, wel<strong>ch</strong>es in ein göttli<strong>ch</strong>es Li<strong>ch</strong>t<br />
gestellt werden kann, wenn au<strong>ch</strong> in vers<strong>ch</strong>iedenen Abstufungen. Es ist ein universeller<br />
Symbolismus, in dem alles in der Außenwelt Si<strong>ch</strong>tbare der Natur ein spirituelles Äquivalent<br />
in der Innenwelt hat. 91 Die Swedenborgianer betra<strong>ch</strong>teten die Lehre der Entspre<strong>ch</strong>ungen<br />
unmittelbar als ein Naturgesetz, das s<strong>ch</strong>on seit jeher bestanden hat. Diese Lehre<br />
ist das Kernstück der Theorie, in der Swedenborg die spirituelle Welt mit der materiellen<br />
Wirkli<strong>ch</strong>keit verbindet. Die Anhänger Swedenborgs fanden in der Homöopathie Hahnemanns<br />
ein wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>es System vor, das in den Begriffen der Heilkunde exakt<br />
mit den Prinzipien dieser Lehre übereinstimmte. Na<strong>ch</strong> Emerson: "Swedenborg sah und<br />
zeigte die Verbindungen zwis<strong>ch</strong>en der äußeren Welt und der Seelenlage." 92<br />
Swedenborgs Lehre von den Graden<br />
In "Oeconomia Regni Animalis" 93 und "Regnum Animale" 94 bes<strong>ch</strong>rieb Swedenborg seine<br />
Studien der Anatomie und der Psy<strong>ch</strong>ologie des Mens<strong>ch</strong>en; zwei Felder, die für Swedenborg<br />
übrigens in we<strong>ch</strong>selseitigem Bezug zueinander stehen. Swedenborg studierte die<br />
Anatomie, aber betra<strong>ch</strong>tete sie ni<strong>ch</strong>t allein als etwas Objektives, sondern wüns<strong>ch</strong>te die<br />
89 Starkey, G. G.: James Tyler Kent, voorwoord bij Lectures on Homoeopathic Philosophy. B. Jain Publi-<br />
shers, New Delhi.<br />
90 Starkey, G.G.: a.a.O.<br />
91 Edwards, P.: The Encyclopedia of Philosophy. Vol. 7/8. Macmillan Publishers, 1972.<br />
92 Treuherz, F.: a.a.O.<br />
93 Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom (Oecon. Regni Animalis 1740 - 1741) A. Clissold<br />
a.a.O.<br />
94 Swedenborg E.: Animal Kingdom (Regnum Animalis, 1744 - 1745) J.J.G. Wilkinson, a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 131<br />
Anatomie des Körpers au<strong>ch</strong> als "Königrei<strong>ch</strong> der Seele" zu sehen, etwas, das au<strong>ch</strong> in den<br />
Titeln seiner wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en Werke zum Ausdruck kommt.<br />
Swedenborg unters<strong>ch</strong>ied drei hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Strukturen im Mens<strong>ch</strong>en, die in Form einer<br />
Spirale miteinander verbunden sind. Obenauf stand die Seele mit dem Willen als Triebfeder,<br />
als Gefühl (für dieses Niveau gebrau<strong>ch</strong>t Swedenborg den Begriff "singular", einmalig/eigen).<br />
Das mittlere Niveau ist die Vernunft, mit dem Verstand und der Absi<strong>ch</strong>t<br />
(für dieses Niveau wird der Begriff "particular" gebrau<strong>ch</strong>t). Das niedrigste Niveau beinhaltet<br />
die Einbildung, die Erinnerung und das Verlangen und beeinflußt die Körperfunktionen.<br />
Dieses Niveau der Psy<strong>ch</strong>e wird "general (allgemein)" genannt.<br />
Dieser Bestandteil der Lehre Swedenborgs befindet si<strong>ch</strong> an mehreren Stellen in der Kentianis<strong>ch</strong>en<br />
Homöopathie wieder: in erster Linie ist es eine Erklärung für die dur<strong>ch</strong> Kent<br />
hervorgehobene Notwendigkeit zur Gewi<strong>ch</strong>tung der Symptome, mit anderen Worte, zur<br />
Bestimmung, wel<strong>ch</strong>e Symptome zu wel<strong>ch</strong>em Swedenborgs<strong>ch</strong>en Niveau der Psy<strong>ch</strong>e gehören.<br />
Es ist beinahe unglaubli<strong>ch</strong>, feststellen zu müssen, daß die Begriffe "particulars"<br />
und "generals" dur<strong>ch</strong> Kent aus dem Mens<strong>ch</strong>enbild Emanuel Swedenborgs entlehnt sein<br />
könnten. In Kents ursprüngli<strong>ch</strong>en Texten werden die Begriffe "particular" und "general"<br />
eingeführt und ihre Erläuterung in das Repertorium von Margret Tyler und John Weir<br />
übernommen. 95<br />
Na<strong>ch</strong> Kent liegt die Essenz des Mens<strong>ch</strong>seins in folgendem: "Der Mens<strong>ch</strong> hat Willen und<br />
Verstand, der Lei<strong>ch</strong>nam will und weiß ni<strong>ch</strong>ts. Beides, Willen und Verstand, ma<strong>ch</strong>en den<br />
Mens<strong>ch</strong>en aus. Zusammen ermögli<strong>ch</strong>en sie Leben und Aktivität, sie bilden den Körper<br />
und verursa<strong>ch</strong>en alles Körperli<strong>ch</strong>e. Wenn zwis<strong>ch</strong>en Willen und Verstand Glei<strong>ch</strong>klang<br />
herrs<strong>ch</strong>t, ist der Mens<strong>ch</strong> gesund." 96<br />
Die "particulars" sind die Symptome, die si<strong>ch</strong> auf dieses Gebiet von "Wille und<br />
Verstand" beziehen. Die Gemütssymptome haben Bezug zu den intellektuellen Funktionen,<br />
auf Emotion und Stimmung. Und die "generals" sind die Symptome, die den gesamten<br />
Mens<strong>ch</strong>en ergreifen.<br />
Die hierar<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Einteilung der Psy<strong>ch</strong>e in die genannten drei Niveaustufen in Swedenborgs<br />
"Lehre von den Graden" klingt in Kents "Use of the Repertory" dur<strong>ch</strong> 97 . "Zu berücksi<strong>ch</strong>tigende<br />
Symptome: Zuerst diejenigen, die si<strong>ch</strong> auf Liebesarten und Abneigungen,<br />
Wüns<strong>ch</strong>e und Aversionen beziehen (Swedenborgs Seele, das Einzigartige); dann<br />
95 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory - How to Study the Repertory - How to Use the Repertory, B.<br />
Jain Publishers, New Delhi.;<br />
Tyler, M.; Weir, J.: Repertorising - Ergänzung zum Rpertorium. B. Jain Publishers, New Delhi.<br />
96 Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900. Repr., B. Jain Publishers, New Delhi<br />
(repr. from 5th ed., 1954), Repr., Thorsons Publishers, Wellingborough 1979.<br />
97 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 132<br />
diejenigen, die zum vernünftigen Gemüt, dem sogenannten verständigen Gemüt, gehören<br />
(Swedenborgs Vernunft mit dem Verstand); drittens diejenigen, die mit dem Gedä<strong>ch</strong>tnis<br />
zu tun haben (Swedenborgs Erinnerung, die dritte Ebene)."<br />
In demselben "Use of the Repertory" kommt no<strong>ch</strong> eine ältere Facette Swedenborgs zum<br />
Vors<strong>ch</strong>ein: In seinen ersten anatomis<strong>ch</strong>en Studien hatte si<strong>ch</strong> Swedenborgs Interesse vor<br />
allem auf das Blut und die Körperflüssigkeiten geri<strong>ch</strong>tet, da er diese als essentiell für<br />
die Körperfunktionen era<strong>ch</strong>tete 98 . Kent setzt seine Anweisungen für den Gebrau<strong>ch</strong> des<br />
Repertoriums wie folgt fort: "Die nä<strong>ch</strong>sten Symptome, die am wi<strong>ch</strong>tigsten sind, sind diejenigen,<br />
die si<strong>ch</strong> auf den ganzen Leib oder sein Blut und die Körperflüssigkeiten beziehen:<br />
z. B. sein Empfinden für Hitze, Kälte, Wind, Ruhe, Na<strong>ch</strong>t, Tag, Zeit. Sie beinhalten<br />
beides: Symptom und Modalität." 99 Stammen die Bedeutung und die Auffassung von den<br />
typis<strong>ch</strong>en homöopathis<strong>ch</strong>en Modalitäten aus Swedenborgs frühestem anatomis<strong>ch</strong>em<br />
Werk ab?<br />
Die sogenannte Kents<strong>ch</strong>e Reihe von Potenzs<strong>ch</strong>ritten lehnt si<strong>ch</strong> ebenfalls an eine bedeutende<br />
Stelle von Swedenborg an. Dieser hatte eine komplexe Vorstellung von der Unendli<strong>ch</strong>keit,<br />
wobei vorausgesetzt wird, daß man si<strong>ch</strong> der Unendli<strong>ch</strong>keit s<strong>ch</strong>rittweise annähern<br />
sollte. Der Weg zur Unendli<strong>ch</strong>keit verlief in bestimmten Stufen oder Graden 100 .<br />
Na<strong>ch</strong> Kent haben Potenzen ihren Angriffspunkt in einem kranken Körper in Übereinstimmung<br />
mit dem Grad ihrer Verdünnung. Die hö<strong>ch</strong>sten Potenzen errei<strong>ch</strong>en das Mittelniveau<br />
(Gehirn) und viellei<strong>ch</strong>t das hö<strong>ch</strong>ste Niveau, die Seele. In dieser Vorstellung<br />
werden die Potenzen als Formen mentaler Energie gesehen, ein Gedanke, der in der<br />
klassis<strong>ch</strong>en Homöopathie zum Allgemeingut gehört 101 .<br />
Die Essenz in der Natur des Mens<strong>ch</strong>en wird na<strong>ch</strong> Swedenborg dur<strong>ch</strong> den grundlegenden<br />
spirituellen Impuls geregelt. Dies stimmt überein mit Hahnemanns Idee, daß Krankheit<br />
dur<strong>ch</strong> eine Verstimmung der "Lebenskraft", der Dynamis verursa<strong>ch</strong>t wird. Die Swedenborgianer<br />
betra<strong>ch</strong>teten Krankheit immer als eine Störung des innersten, psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en<br />
Kerns des Mens<strong>ch</strong>en, und darum ist Krankheit immer ein psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>es Problem, mit<br />
Symptomen und Facetten des Gemüts des Patienten und seiner spirituellen Existenz.<br />
Dies stimmt überein mit der prinzipiellen Vorrangigkeit, die Kent in seinen "Lectures"<br />
den psy<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>en Symptomen des Gemüts zuerkennt 102 .<br />
98 Gardiner, H.: a.a.O.;Swedenborg, E.: Economy of the Animal Kingdom, 2 Vols., Übers. von A.Clissold.<br />
William Newberry ... a.a.O.<br />
99 Kent, J.T.: addenda: Use of the Repertory ... a.a.O.<br />
100 Edwards, P. : a.a.O.; Gardiner, H.: a.a.O.; Peebles, E.: a.a.O.<br />
101 Kent, J.T.: Lectures on Homoeopathic Philosophy, Chicago 1900 ... a.a.O.; Treuherz, F.: a.a.O.<br />
102 Treuherz, F.: a.a.O.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 133<br />
Twentyman s<strong>ch</strong>loß hieraus im "British Homoeopathical Journal" von 1956 bereits: "Man<br />
nahm an, daß Kent ein reiner Hahnemannianer sei, aber das war er natürli<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t. Er<br />
war eine Synthese von Hahnemann und Swedenborg." 103<br />
Epilog<br />
Die Werke Kents haben au<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong> große Bedeutung, und es ist erstaunli<strong>ch</strong>, daß<br />
der Einfluß der philosophis<strong>ch</strong>en Ideen Emanuel Swedenborgs hierbei so lange ungenannt<br />
geblieben ist. Hierfür könnten die widerstreitenden Auffassungen in der Homöopahtie<br />
verantwortli<strong>ch</strong> gema<strong>ch</strong>t werden, die bemerkenswert viel Interesse gezeigt haben, Swedenborg<br />
zu vers<strong>ch</strong>weigen.<br />
Die Verbreitung der homöopathis<strong>ch</strong>en Lehre Kents in Europa verlief mögli<strong>ch</strong>erweise<br />
über zwei Wege: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ging Margret Tyler in die Vereinigten<br />
Staaten, um bei Kent Homöopathie zu studieren. Zurück in England, ermutigte sie andere<br />
homöopathis<strong>ch</strong>e Ärzte - finanziell unterstützt dur<strong>ch</strong> eine Zuwendung ihrer Mutter<br />
Lady Tyler -, bei Kent Studien zu betreiben. Einer der ersten, die hiervon Gebrau<strong>ch</strong><br />
ma<strong>ch</strong>te, war Dr. John Weir, der na<strong>ch</strong> seiner Rückkehr 1909 der Entwicklung der Homöopathie<br />
in England seinen Stempel aufdrückte 104 . Der Swedenborgianis<strong>ch</strong>e Einfluß ist<br />
au<strong>ch</strong> bei Margret Tyler und John Weir unübersehbar vorhanden: In ihrer S<strong>ch</strong>rift "Repertorising"<br />
betonen sie das Hierar<strong>ch</strong>isierungsprinzip als "The Grading of Symptoms" 105 .<br />
Swedenborg gebrau<strong>ch</strong>t an einer Stelle die Worte "The Grading of Degrees". Einen zweiten<br />
Weg der Verbreitung fand Kents Homöopathie dur<strong>ch</strong> Pierre S<strong>ch</strong>midt vor allem im<br />
französis<strong>ch</strong>- und deuts<strong>ch</strong>spra<strong>ch</strong>igen Gebiet 106 .<br />
Na<strong>ch</strong> dem einflußrei<strong>ch</strong>en französis<strong>ch</strong>en homöopathis<strong>ch</strong>en Arzt Denis Demarque, einem<br />
bedeutenden Gegner Swedenborgs und Kents, ist die Homöopathie in zwei parallele<br />
Strömungen ges<strong>ch</strong>ieden, von denen die eine dur<strong>ch</strong> den Gebrau<strong>ch</strong> eines materialistis<strong>ch</strong>en<br />
Konzepts gekennzei<strong>ch</strong>net ist, das das Festhalten an der Gewebelehre, der biologis<strong>ch</strong>en<br />
Meßbarkeit und den <strong>ch</strong>emis<strong>ch</strong>en Reaktionen beinhaltet. Auf der anderen Seite<br />
steht die vitalistis<strong>ch</strong>e Homöopathie, die an den überkommenen Ausgangspunkten Samuel<br />
Hahnemanns festhält 107 .<br />
103 Twentyman, R.: The Evolutionary Significance of Samuel Hahnemann. British Homoeopathic Journal<br />
64 (1975) 144 - 145. Editorial - The History of Homoeopathy. British Homoeopathic Journal 67 (1978)<br />
2.<br />
104 Campbell, A.: The Two Faces of Homeopathy. British Homoeopathic Journal 74 (1985) 1 - 10; Campbel,<br />
A.: The Two Faces Of Homeopathy. Robert Hale Limited, London 1984.<br />
105 Tyler, M.; Weir, J.: a.a.O.<br />
106 S<strong>ch</strong>midt, P.: The Life of James Tyler Kent ...a.a.O.; Le Kentisme et la biographie de J.T. Kent ... a.a.O.<br />
107 Demarque, D.: l´Homeopathie Medicine de l´Experience. Editions Coquemard, Angouleme 1968.;<br />
Demarque, D.: La secte et ses incarnations: Le Swedenborgisme at le Kentisme. Homeopathie (1988)
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 134<br />
Demarque spri<strong>ch</strong>t si<strong>ch</strong> dafür aus, daß die moderne Homöopathie vollständig freigema<strong>ch</strong>t<br />
werden muß von der früheren Mystik und Philosophie, die zur Entwicklung ihrer Theorie<br />
beigetragen haben, die aber jetzt einer Aufnahme der Homöopathie in die moderne<br />
wissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>e Heilkunde im Weg stehen. Demarque era<strong>ch</strong>tet dieses Erbe als nutzlos<br />
und meint, daß dieser Bestandteil am besten verleugnet werden sollte 108 . Es sollte deutli<strong>ch</strong><br />
geworden sein, daß der Autor dieses Artikels hiergegen Stellung bezieht.<br />
Quelle: "Zeits<strong>ch</strong>rift für Klassis<strong>ch</strong>e Homöopathie" 1 (1995) 19-29. Wir danken der S<strong>ch</strong>riftleitung für<br />
die Abdruckerlaubnis!<br />
Der gute Hirte<br />
von Thomas Noack<br />
"I<strong>ch</strong> bin der gute Hirte" (Joh 10,11), dieses Jesuswort steht im Gegensatz zu den Pharisäern,<br />
den s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten Hirten und blinden Blindenführern (Mt 15,14) des vorangegangenen<br />
Kapitels des Johannesevangeliums. Sie hätten das Volk weiden sollen und taten<br />
es ni<strong>ch</strong>t. Sol<strong>ch</strong>en Hirten gilt das Wort Eze<strong>ch</strong>iels, der selber einer priesterli<strong>ch</strong>en Familie<br />
entstammte und angesi<strong>ch</strong>ts des Babylonis<strong>ch</strong>en Exils ausrufen musste: "Weh den<br />
Hirten Israels, die nur si<strong>ch</strong> selbst weiden. Müssen die Hirten ni<strong>ch</strong>t die Herde weiden?"<br />
(Ez 34,2). In Johannes 10 begegnen uns diese Hirten, die hauptsä<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> ihren eigenen<br />
Vorteil im Auge haben, als Diebe, Räuber, Fremde und Lohnarbeiter. Den verdorbenen<br />
Hirten wird der eine gute Hirte gegenübergestellt.<br />
Ein weiterer Zusammenhang des 10. mit dem 9. Kapitel des Johannesevangeliums ist<br />
dur<strong>ch</strong> den Blindgeborenen gegeben. Denn dieser erkennt in Jesus den von Gott Gesandten<br />
und fällt anbetend vor ihm nieder (Proskynese in Joh 9,38 109 ), während die Pharisäer<br />
die Göttli<strong>ch</strong>keit Jesu ni<strong>ch</strong>t anerkennen wollen, weil er ihre unsinnigen Sabbatvors<strong>ch</strong>riften<br />
ni<strong>ch</strong>t bea<strong>ch</strong>tet. Der Blindgeborene, im inneren Sinn sind die Heiden gemeint<br />
(OE 239), ist ohne geistiges Li<strong>ch</strong>t, ohne Religionsunterri<strong>ch</strong>t, aufgewa<strong>ch</strong>sen und denno<strong>ch</strong><br />
oder gerade deswegen fähig, den Gottgesandten aus seinen Werken zu erkennen; er ge-<br />
28 - 33.; Julian, O.A.: Haffen, M.: Homoeopathic Materia Medica. Chicago 1904. Repr., B. Jain Publishers,<br />
New Delhi.; Seror, R.: XLVe Revue de presse homeopathique de langue anglaise. Cahiers de<br />
Biotherapie 90 (1986) 71 - 76.<br />
108 Treuherz, F.: a.a.O.<br />
109 Zur Proskynese vor Jahwe siehe in den Psalmen: "Werft eu<strong>ch</strong> nieder vor dem Herrn in heiliger<br />
Pra<strong>ch</strong>t." (29,2). "Kommt, wir werfen uns nieder und wollen uns beugen, niederknien vor dem Herrn,<br />
unserem S<strong>ch</strong>öpfer." (95,6). "Zu deinem heiligen Tempel hin will i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> niederwerfen und deinen<br />
Namen preisen" (138,2).
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 135<br />
hört zu denen (siehe Joh 10,3f), wel<strong>ch</strong>e die Stimme des guten Hirten erkennen können,<br />
si<strong>ch</strong> ihr anvertrauen und ihm na<strong>ch</strong>folgen.<br />
Das 10. Kapitel ist mit den vorangehenden s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> wie das Gute mit dem Wahren<br />
verbunden. Im 8. Kapitel sagte Jesus, wobei wir wissen müssen, dass das Li<strong>ch</strong>t dem<br />
Wahren entspri<strong>ch</strong>t: "I<strong>ch</strong> bin das Li<strong>ch</strong>t der Welt." (Joh 8,12), und im 9. Kapitel heilte er<br />
den Blindgeborenen und deutete seine Mission mit den Worten: "I<strong>ch</strong> bin zum Geri<strong>ch</strong>t in<br />
diese Welt gekommen, damit, die ni<strong>ch</strong>t sehen, sehend werden, und die sehen, blind<br />
werden." (Joh 9,39). Das Li<strong>ch</strong>t ist immer das Li<strong>ch</strong>t einer Quelle, vor allem der Sonne,<br />
und Jesus, insofern er der Sohn und das "Li<strong>ch</strong>t der Welt" ist, ist immer der Gesandte des<br />
Vaters, das heißt der göttli<strong>ch</strong>en Liebe. Das innere Li<strong>ch</strong>t, das des Mikrokosmos, ist immer<br />
das Li<strong>ch</strong>t der Liebe, - liebloses, kaltes Li<strong>ch</strong>t ist kein Li<strong>ch</strong>t aus dem Herzen des Vaters.<br />
Daher folgt der Offenbarung des Li<strong>ch</strong>tes nun in Johannes 10 die Enthüllung der fürsorgenden,<br />
uns weidenden Liebe. Jesus gibt si<strong>ch</strong> als der gute Hirte und damit letztli<strong>ch</strong> als<br />
der "Vater des Li<strong>ch</strong>ts" (Jak 1,17) zu erkennen.<br />
Im Glei<strong>ch</strong>nis vom guten Hirten ist die Tür das Kennzei<strong>ch</strong>en dafür, wer in guter und wer<br />
in böser Absi<strong>ch</strong>t kommt. "Wer ni<strong>ch</strong>t dur<strong>ch</strong> die Tür in den Hof der S<strong>ch</strong>afe hineingeht,<br />
sondern anderswo einsteigt, der ist ein Dieb und ein Räuber." (Joh 10,1). Die Tür, die ja<br />
eigens ges<strong>ch</strong>affen wurde, um den Zugang zu gewähren, ist ein Bild für den vom S<strong>ch</strong>öpfer<br />
vorgesehenen Zugang zu den S<strong>ch</strong>afen. Derjenige, der diesen, von Anbeginn an vorgesehenen<br />
Zugang zur Mens<strong>ch</strong>enwelt wählt, gibt si<strong>ch</strong> dadur<strong>ch</strong>, dass er dies kann, als<br />
der gute Hirte zu erkennen.<br />
Jesus sagt: "I<strong>ch</strong> bin die Tür zu den S<strong>ch</strong>afen." (Joh 10,7). Das heißt, dur<strong>ch</strong> das mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e<br />
Wesen Jesu kommt Gott zu uns Mens<strong>ch</strong>en. Unter diesem mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Wesen<br />
verstehen wir zunä<strong>ch</strong>st die leibli<strong>ch</strong>e Gestalt des irdis<strong>ch</strong>en Jesus, dann aber au<strong>ch</strong> dessen<br />
verherrli<strong>ch</strong>te Gestalt und seine Ers<strong>ch</strong>einungsform vor den Engeln. Au<strong>ch</strong> die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en<br />
Vorstellungen, dur<strong>ch</strong> die si<strong>ch</strong> Gott uns nähert, können unter dieser Tür verstanden<br />
werden. Der gute Hirte ist so gesehen daran erkennbar, dass er mit unseren Worten und<br />
unseren Gedanken zu uns spri<strong>ch</strong>t, si<strong>ch</strong> also seiner Zuhörers<strong>ch</strong>aft anpasst. Obwohl Gottes<br />
Gedanken ni<strong>ch</strong>t unsere Gedanken sind (siehe Jes 55,8f), redet er do<strong>ch</strong> auf mögli<strong>ch</strong>st<br />
einfa<strong>ch</strong>e, mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Weise zu uns. Je komplizierter hingegen jemand die Weisheiten,<br />
die er selber ni<strong>ch</strong>t verstanden hat, vorträgt, desto naheliegender ist der Verda<strong>ch</strong>t, dass<br />
dieser Seelenführer, seinen eigenen Ruf als ho<strong>ch</strong>angesehener Lehrer der Weisheit pflegen<br />
mö<strong>ch</strong>te, dass er also ein Dieb und Räuber ist, der si<strong>ch</strong> die Anerkennung seiner Person<br />
betrügeris<strong>ch</strong> vers<strong>ch</strong>affen will.<br />
Do<strong>ch</strong> die S<strong>ch</strong>afe können den guten Hirten erkennen. "Die S<strong>ch</strong>afe hören auf seine Stimme,<br />
und er ruft die eigenen S<strong>ch</strong>afe mit Namen und führt sie hinaus … die S<strong>ch</strong>afe folgen<br />
ihm, weil sie seine Stimme kennen. Einem Fremden aber werden sie ni<strong>ch</strong>t folgen, son-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 136<br />
dern sie werden ihm davonlaufen, weil sie die Stimme der Fremden ni<strong>ch</strong>t kennen." (Joh<br />
10,3-5). Dieses Sensorium hat si<strong>ch</strong> die Gemeinde immerhin bewahren können, die instinktive<br />
Erkenntnis dessen, der es gut mit ihr meint. Der Inhalt der Rede ist dabei belanglos,<br />
die Unters<strong>ch</strong>eidung des guten Hirten von den s<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>ten gelingt dur<strong>ch</strong> die<br />
Stimme. Den Inhalt göttli<strong>ch</strong>er Offenbarungsreden können wir oft ni<strong>ch</strong>t von Grund auf<br />
beurteilen, aber wir können darauf a<strong>ch</strong>ten, ob in den Worten die Stimme des guten Hirten<br />
erkennbar ist, der wir uns dann anvertrauen können, au<strong>ch</strong> wenn wir ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>on im<br />
vorhinein wissen, wohin sie uns führen wird.<br />
Die selbstlose Liebe des guten Hirten zeigt si<strong>ch</strong> darin, dass er sogar sein Leben für die<br />
S<strong>ch</strong>afe einsetzt (Joh 10,11). Darin unters<strong>ch</strong>eidet er si<strong>ch</strong> von den Lohnarbeitern, denen<br />
das Leben der S<strong>ch</strong>afe ni<strong>ch</strong>t das hö<strong>ch</strong>ste Gut ist. Ihnen geht es primär um den Lohn, um<br />
das Leben der S<strong>ch</strong>afe hingegen nur insoweit, als si<strong>ch</strong> damit Gewinne erwirts<strong>ch</strong>aften lassen.<br />
"Der Lohnarbeiter, der ni<strong>ch</strong>t Hirte ist, dem die S<strong>ch</strong>afe ni<strong>ch</strong>t gehören, der sieht den<br />
Wolf kommen und lässt die S<strong>ch</strong>afe im Sti<strong>ch</strong> und flieht, und der Wolf reißt und versprengt<br />
sie. Denn er ist ein Lohnarbeiter, und ihm liegt ni<strong>ch</strong>ts an den S<strong>ch</strong>afen." (Joh<br />
10,12f). Indem Jesus ganz und gar für die S<strong>ch</strong>afe lebt, ihr Wohlergehen zu seinem Lebensinhalt<br />
ma<strong>ch</strong>t, überwindet er die der Mens<strong>ch</strong>heit seit dem ersten Brudermord eingebrannte<br />
Natur. Diesen Bezug zu Genesis 4 hat Arthur S<strong>ch</strong>ult gesehen: "Im Gegensatz zu<br />
jener Kains-Natur, die da fragt: 'Bin i<strong>ch</strong> der Hüter meines Bruders?' und si<strong>ch</strong> in si<strong>ch</strong> selber<br />
abs<strong>ch</strong>ließt, ist der gute Hirte aufges<strong>ch</strong>lossen für alle Nöte seiner Mitmens<strong>ch</strong>en und<br />
opfert si<strong>ch</strong> in selbstloser Liebe für sie auf." 110 Abel, nota bene der S<strong>ch</strong>afhirt, wurde von<br />
Kain, der dem Irdis<strong>ch</strong>en dient (Ackerkne<strong>ch</strong>t), s<strong>ch</strong>on zu Beginn der Mens<strong>ch</strong>eitsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te<br />
ausgerottet, so dass seitdem die Verantwortungslosigkeit und Gefühlskälte in Gestalt<br />
der Kainsfrage "Bin i<strong>ch</strong> der Hüter meines Bruders?" die Signatur der gefallenen<br />
Mens<strong>ch</strong>heit ist. Jesus, der Abel der neuen S<strong>ch</strong>öpfung, ri<strong>ch</strong>tete das alte Ideal der Für-<br />
Sorge anstelle der Selbst-Sorge wieder auf. Allerdings konnte die Kainsmens<strong>ch</strong>eit au<strong>ch</strong><br />
dieses gere<strong>ch</strong>te Opfer, au<strong>ch</strong> diesen hingebungsvollen Lebenseinsatz, wiederum ni<strong>ch</strong>t ertragen<br />
und bra<strong>ch</strong>te den neuen Abel um. Do<strong>ch</strong> auf diesen Karfreitag folgte ein Ostermorgen.<br />
Dem 10. Kapitel s<strong>ch</strong>ließt si<strong>ch</strong> die Auferweckung des Lazarus an, wel<strong>ch</strong>e die bösen Hirten<br />
zu dem Ents<strong>ch</strong>luss treibt, Jesus töten zu wollen (Joh 11,53). Damit beginnt die Passionsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te.<br />
Das 10. Kapitel ist somit der Höhepunkt der Selbstoffenbarung des Vaters<br />
in der Gestalt des Sohnes. Jesus offenbart seine Einheit mit dem Vater, ja eigentli<strong>ch</strong><br />
sogar die Anwesenheit des Vaters in der Leibli<strong>ch</strong>keit Jesu. Anläßli<strong>ch</strong> des Tempelweihfestes<br />
sagt Jesus: "I<strong>ch</strong> und der Vater sind eins" (Joh 10,30) und ebenso, "dass in mir der<br />
Vater ist und i<strong>ch</strong> im Vater bin" (Joh 10,38). Das Tempelweihfest erinnert die Juden an<br />
110 Arthur S<strong>ch</strong>ult, Das Johannes-Evangelium als Offenbarung des kosmis<strong>ch</strong>en Christus, 1965, 237.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 137<br />
die Wiedereinweihung des Tempels, na<strong>ch</strong>dem der syris<strong>ch</strong>e König Antio<strong>ch</strong>us IV. den<br />
Jahwekult bei Todesstrafe verboten hatte. Jesus, der na<strong>ch</strong> Johannes 2 der wahre Jahwetempel<br />
ist, bringt hier also zum Ausdruck, dass fortan er die Gegenwart Jahwes in der<br />
Mens<strong>ch</strong>enwelt ist. Der gute Hirte offenbart si<strong>ch</strong> vollständig, zunä<strong>ch</strong>st seine Liebe, dann<br />
den Grund derselben, nämli<strong>ch</strong> die Anwesenheit des Vaters. Das Urgöttli<strong>ch</strong>e hat dur<strong>ch</strong><br />
Jesus, der die Tür ist, die Mens<strong>ch</strong>enwelt betreten. Das ist der Höhepunkt der öffentli<strong>ch</strong>en<br />
Selbstoffenbarung Jesu.<br />
Im Gesprä<strong>ch</strong> mit den Jüngern, also im esoteris<strong>ch</strong>en Teil des Johannesevangeliums, werden<br />
au<strong>ch</strong> später no<strong>ch</strong>mals die Höhen der Gotteserkenntnis erklommen, aber die Offenbarung<br />
des Gesandten vor der Welt hat in Johannes 10 den Gipfel errei<strong>ch</strong>t bzw., wenn<br />
man si<strong>ch</strong> die Reaktion der Juden ans<strong>ch</strong>aut (Joh 10,31.39), den Gipfel des Zumutbaren<br />
bereits übers<strong>ch</strong>ritten. In den Abs<strong>ch</strong>iedsreden wird Jesus sagen: "Wer mi<strong>ch</strong> gesehen hat,<br />
hat den Vater gesehen." (Joh 14,9). Und Thomas bekennt, den Ausnahmezustand der<br />
Auferstehung vor Augen habend: "Mein Herr und mein Gott!" (Joh 20,28). Und der Auferstandene<br />
erwidert, die Zeit der Kir<strong>ch</strong>e vor Augen habend: "Selig sind, die ni<strong>ch</strong>t sehen<br />
und do<strong>ch</strong> glauben." (Joh 30,29). Damit s<strong>ch</strong>ließt das Johannesevangelium (siehe Joh<br />
20,30f). Das 21. Kapitel öffnet dann no<strong>ch</strong> ein Fenster in die Zeit der Kir<strong>ch</strong>e und zeigt<br />
uns das S<strong>ch</strong>icksal der petrinis<strong>ch</strong>en Glaubenskir<strong>ch</strong>e und des johanneis<strong>ch</strong>en Geisteslebens<br />
bis zur Ankunft des neuen Jerusalems. Au<strong>ch</strong> das sind Höhepunkte, aber der gute<br />
Hirte ist das Hö<strong>ch</strong>ste der vorösterli<strong>ch</strong>en Liebesoffenbarung. Sie läd uns zu einem Leben<br />
des Vertrauens ein: "Der Herr ist mein Hirte, mir wird ni<strong>ch</strong>ts mangeln …" (Ps 23,1).<br />
Rom meldet si<strong>ch</strong> zurück<br />
Zur vatikanis<strong>ch</strong>en Erklärung "Dominus Iesus" (DI)<br />
von Thomas Noack<br />
Am 6. August <strong>2000</strong>, dem Fest der Verklärung des Herrn, verklärten si<strong>ch</strong> in Rom au<strong>ch</strong><br />
die Gesi<strong>ch</strong>tszüge bei Joseph Cardinal Ratzinger, dem Präfekten der vatikanis<strong>ch</strong>en Kongregation<br />
für die Glaubenslehre, als er seinen katholis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>afen die Einzigkeit und<br />
die Heilsuniversalität Jesu Christi und vor allem natürli<strong>ch</strong> seiner Kir<strong>ch</strong>e na<strong>ch</strong> einer Audienz<br />
beim Heiligen Vater erklären durfte. Diese S<strong>ch</strong>afe also wissen nun, was sie zu<br />
glauben haben. Nun lesen freili<strong>ch</strong> sol<strong>ch</strong>e innerkatholis<strong>ch</strong>en Erklärungen au<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>tkatholis<strong>ch</strong>e,<br />
ja sogar protestantis<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>äflein und promt geht es los, das lautstarke ökumenis<strong>ch</strong>e<br />
Blöken über diese jüngste Klarstellung aus Rom. Denn diese S<strong>ch</strong>äflein wissen<br />
nun ni<strong>ch</strong>t mehr, was sie glauben sollen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 138<br />
Dabei war man si<strong>ch</strong> am 31. Oktober des no<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t Heiligen Jahres 1999 do<strong>ch</strong> s<strong>ch</strong>on so<br />
einig. In der Gemeinsamen Feststellung des Lutheris<strong>ch</strong>en Weltbundes und der katholis<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e über die Re<strong>ch</strong>tfertigungslehre (siehe OT 1/00) spra<strong>ch</strong> man von der "römis<strong>ch</strong>-katholis<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e" und den "lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en". Und nun plötzli<strong>ch</strong> erklärt<br />
die Römerin: "Die kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gemeins<strong>ch</strong>aften …, die den gültigen Episkopat und die ursprüngli<strong>ch</strong>e<br />
und vollständige Wirkli<strong>ch</strong>keit des eu<strong>ch</strong>aristis<strong>ch</strong>en Mysteriums ni<strong>ch</strong>t bewahrt<br />
haben, sind ni<strong>ch</strong>t Kir<strong>ch</strong>en im eigentli<strong>ch</strong>en Sinn" (DI 17). Angespro<strong>ch</strong>en dürfen<br />
si<strong>ch</strong> die Kir<strong>ch</strong>en der Reformation fühlen, was allerdings jene evangelis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>enführer<br />
s<strong>ch</strong>merzt, "die no<strong>ch</strong> zu Jahresbeginn für den zum Heiligen Jahr ausgespro<strong>ch</strong>enen<br />
Ablass ein gutes Wort einlegten und mit dem Papst an die Heilige Pforte po<strong>ch</strong>ten, hinter<br />
der sie das ökumenis<strong>ch</strong>e Paradies wähnten" (Ulri<strong>ch</strong> Körtner). Do<strong>ch</strong> was kümmert sol<strong>ch</strong><br />
ökumenis<strong>ch</strong>es Wuns<strong>ch</strong>denken die Römerin, im Heiligen Jahr <strong>2000</strong> blüht sie auf, spri<strong>ch</strong>t<br />
Pius IX. selig, dem ihre Päpste die Unfehlbarkeit verdanken, und erklärt die reformatoris<strong>ch</strong>en<br />
Gemeins<strong>ch</strong>aften zu Randers<strong>ch</strong>einungen des Katholizismus. Soviel Klarheit<br />
ma<strong>ch</strong>t protestantis<strong>ch</strong>e Ökumenismuseiferer fassungslos.<br />
Die Römerin ist "die eine heilige katholis<strong>ch</strong>e und apostolis<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>e" (Konstantinopolitanis<strong>ch</strong>es<br />
Glaubensbekenntnis). "Die Gläubigen sind angehalten zu bekennen, dass es<br />
eine ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e, in der apostolis<strong>ch</strong>en Sukzession verwurzelte Kontinuität zwis<strong>ch</strong>en<br />
der von Christus gestifteten und der katholis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e gibt" (DI 16). "Es gibt also eine<br />
einzige Kir<strong>ch</strong>e Christi, die in der katholis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e subsistiert [= verwirkli<strong>ch</strong>t ist, siehe<br />
die Dogmatis<strong>ch</strong>e Konstitution "Lumen gentium" des Zweiten Vatikanis<strong>ch</strong>en Konzils]<br />
und vom Na<strong>ch</strong>folger Petri und von den Bis<strong>ch</strong>öfen in Gemeins<strong>ch</strong>aft mit ihm geleitet<br />
wird." (DI 17). Die Römerin bleibt si<strong>ch</strong> treu. Während man<strong>ch</strong>e lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en<br />
derzeit kaum ein wi<strong>ch</strong>tigeres Thema zu kennen s<strong>ch</strong>einen als die Wiedereingliederung<br />
in die historis<strong>ch</strong>e Sukzession im Bis<strong>ch</strong>ofsamt, grosse protestantis<strong>ch</strong>e Kir<strong>ch</strong>en die Frauenordination<br />
wieder problematisieren, oder in reformierten Gemeinden Veranstaltungen<br />
zum Reformationsfest abgesagt werden, weil man so etwas für ökumenis<strong>ch</strong> uns<strong>ch</strong>ickli<strong>ch</strong><br />
und den katholis<strong>ch</strong>en Partnern ni<strong>ch</strong>t mehr zumutbar hält, wiederholt die Römerin<br />
unbeeindruckt von diesem Balzgehabe "einige Glaubenswahrheiten" (DI 23), die "zum<br />
Glaubensgut der Kir<strong>ch</strong>e gehören" und s<strong>ch</strong>on mehrfa<strong>ch</strong> in "früheren Dokumenten des<br />
Lehramts vorgetragen" wurden (DI 3). So zum Beispiel am 18. November 1302 in der<br />
Bulle "Unam sanctam" von Bonifatius VIII.: "Wir erklären, sagen und definieren nun<br />
aber, daß es für jedes mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Ges<strong>ch</strong>öpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem<br />
Römis<strong>ch</strong>en Bis<strong>ch</strong>of unterworfen zu sein." Höre wohl, protestantis<strong>ch</strong>e (H)erde! In der<br />
Neuzeit drückt si<strong>ch</strong> die Römerin zwar etwas höfli<strong>ch</strong>er aus, do<strong>ch</strong> in der Sa<strong>ch</strong>e unna<strong>ch</strong>giebig.<br />
Swedenborgs Wesens<strong>ch</strong>au hat Bestand. "Babylon, die Große, die Mutter der Huren<br />
und der Greuel der Erde" (Offb. 17,5), das ist die Römerin (EO 729), und dies ist ihr
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 139<br />
Wesen: "Unter Babylon werden alle verstanden, die dur<strong>ch</strong> die Religion herrs<strong>ch</strong>en wollen."<br />
(JG 54).<br />
Der Mens<strong>ch</strong> als Ges<strong>ch</strong>öpf Gottes<br />
Körperli<strong>ch</strong>e Fehlhaltungen - geistige Zusammenhänge<br />
von Ingeborg Maier<br />
Vorbemerkung von Thomas Noack: "I<strong>ch</strong> bin der Herr, dein Arzt" (Ex 15,26), dieses göttli<strong>ch</strong>e Wort<br />
und das Beispiel Jesu Christi zeigen mir, daß Heil (für die Seele) und Heilung (für den Körper) zusammengehören.<br />
So nahm i<strong>ch</strong> im Juli dankbar die seltene Gelegenheit wahr, eine <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e Heilpraktikerin<br />
und eine Heilweise kennenzulernen - und zwar ni<strong>ch</strong>t nur theoretis<strong>ch</strong>, sondern am eigenen<br />
Leib -, die au<strong>ch</strong> im Li<strong>ch</strong>te der Entspre<strong>ch</strong>ungswissens<strong>ch</strong>aft vielverspre<strong>ch</strong>end ist. Denn die<br />
Grundte<strong>ch</strong>nik der Nervenreflextherapie am Fuß (= dem Natürli<strong>ch</strong>en) erinnerte mi<strong>ch</strong> spontan an<br />
Swedenborgs Wort: "Der letzte (natürli<strong>ch</strong>e) Grad ist Zusammenfassung, Behälter und Unterlage<br />
der vorhergehenden Grade." (GLW 209). Auf der körperli<strong>ch</strong>en Ebene bedeutet dies, dass über die<br />
Füsse, der ganze Mens<strong>ch</strong> errei<strong>ch</strong>t werden kann. Und wie wir ferner wissen, ist aller Wandel nur<br />
mit den Füssen, das heißt im natürli<strong>ch</strong>en Grad mögli<strong>ch</strong>. So begab i<strong>ch</strong> mi<strong>ch</strong> also zu Ingeborg Maier<br />
und war gespannt auf eine, wie si<strong>ch</strong> herausstellen sollte ereignisrei<strong>ch</strong>e, Therapiestunde. Daraufhin<br />
bat i<strong>ch</strong> Frau Maier, den Kern ihrer Behandlung kurz und prägnant in unserer Zeits<strong>ch</strong>rift vorzustellen.<br />
Wer si<strong>ch</strong> angespro<strong>ch</strong>en fühlt, mehr wissen mö<strong>ch</strong>te oder Hilfe su<strong>ch</strong>t, kann si<strong>ch</strong> an Ingeborg<br />
Maier, Dorfmühle 30, 73432 Aalen-Unterko<strong>ch</strong>en, Telefon 0 73 61 / 8 78 84 wenden.<br />
Die Biblis<strong>ch</strong>e Körpertherapie und Seelsorge ist eine Kurzzeittherapie mit sofortiger Anleitung<br />
zur Selbsthilfe. Die körperli<strong>ch</strong> therapeutis<strong>ch</strong>e Arbeit verbindet si<strong>ch</strong> mit der geistigen<br />
Zielri<strong>ch</strong>tung: Loslassen der alten, krankma<strong>ch</strong>enden Wege und dafür Hinwenden zur<br />
heilma<strong>ch</strong>enden Beziehung mit dem S<strong>ch</strong>öpfer, bzw. Bewußtma<strong>ch</strong>ung, daß der Mens<strong>ch</strong>,<br />
und zwar jeder glei<strong>ch</strong> wel<strong>ch</strong>er Religion, Ges<strong>ch</strong>öpf Gottes ist, für ein ewiges Leben wunderbar<br />
geda<strong>ch</strong>t und gema<strong>ch</strong>t. Das Wort aus l.Thess. 5,23-24 bes<strong>ch</strong>reibt umfassend Sinn<br />
und Zweck der Therapie: "Er aber, der Gott des Friedens, heilige eu<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong> und dur<strong>ch</strong>,<br />
und euer Geist ganz mit Seele und Leib möge in untadeliger Weise für die Wiederkunft<br />
unseres Herrn Jesus Christus bewahrt werden. Getreu ist er, der eu<strong>ch</strong> ruft; er wird's<br />
au<strong>ch</strong> tun."<br />
Zu den Fehlhaltungen: Der kranke und leidende Mens<strong>ch</strong> hat meist unbewußt mit geerbten<br />
und dur<strong>ch</strong> das Leben gewordenen inneren und äußeren Fehlhaltungen zu tun. Verstärkt<br />
dur<strong>ch</strong> Unkenntnis anatomis<strong>ch</strong>-statis<strong>ch</strong>er Ordnungskriterien rei<strong>ch</strong>en diese von der<br />
lei<strong>ch</strong>ten Verspannung bis hin zu ernsten Erkrankungen. Bei vielen S<strong>ch</strong>merzpatienten<br />
insbesondere, stimmt weder die Gesamthaltung no<strong>ch</strong> die psy<strong>ch</strong>ophysis<strong>ch</strong>e Gewi<strong>ch</strong>tung,<br />
der Körper ist ni<strong>ch</strong>t geweckt, Geist und Seele eingefleis<strong>ch</strong>t und in den tägli<strong>ch</strong>en Ge-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 140<br />
wohnheiten verweltli<strong>ch</strong>t. Verhärtungen und Verkrümmungen kennzei<strong>ch</strong>nen den verzweifelten<br />
und mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> sehr verständli<strong>ch</strong>en Kampf gegen Krankheit und S<strong>ch</strong>merz.<br />
Für den Laien ist es weitgehend unbekannt, daß jeder cm im Quers<strong>ch</strong>nitt eines Muskels<br />
25 kg Zug ausüben kann. D.h., daß si<strong>ch</strong> alle Kräfte, die notwendig sind, um die Gewi<strong>ch</strong>te,<br />
die ni<strong>ch</strong>t in Balance sind, zu halten, si<strong>ch</strong> zu einem enormen Kraftaufwand summieren.<br />
Wenn z.B. der Kopf nur 30 Grad na<strong>ch</strong> vorn gebeugt ist, erhöht si<strong>ch</strong> der Druck auf<br />
die Wirbel dur<strong>ch</strong> die Hebelwirkung im Rücken von 12,5 auf 85 kg. Wieviele Mens<strong>ch</strong>en<br />
laufen tägli<strong>ch</strong> mit hängendem Kopf herum! Wenn si<strong>ch</strong> Muskeln zusammenziehen werden<br />
sie kürzer und dicker, sie drücken aufeinander. Zwis<strong>ch</strong>en den Muskeln sind Arterien,<br />
Venen, Nerven, Lymphgefäße, und die Muskeln werden zu einer s<strong>ch</strong>merzenden<br />
S<strong>ch</strong>raubzwinge, die alles abklemmt.<br />
J. Lorber s<strong>ch</strong>reibt zu diesem Thema: "Der Hauptgrund zu einem S<strong>ch</strong>merze, den stets nur<br />
die Seele, nie aber das Fleis<strong>ch</strong> empfindet, liegt also im Drucke, den irgendein zu träge<br />
und somit au<strong>ch</strong> zu s<strong>ch</strong>wer gewordenes Fleis<strong>ch</strong> auf irgendeinen Lebensteil der Seele<br />
ausübt. Es ist daher zeitweilig jede Krankheit zu heilen, wenn man die Fleis<strong>ch</strong>masse zu<br />
erlei<strong>ch</strong>tern versteht …" (GEJ 5.75.5-6).<br />
Weg und Ziel der Therapie ist die Bewußtma<strong>ch</strong>ung und Lösung von Fehlhaltungen und<br />
die Zurückführung in eine s<strong>ch</strong>öpfungsgemäße Ordnung und Grundhaltung. Denn wir<br />
sind Tempel des Heiligen Geistes (l. Kor.6,19-20); und wir können und dürfen als Haupt<br />
und Verwalter unserer zunä<strong>ch</strong>st ganz eigenen Glieder, diese Gabe Gottes, die uns gegeben<br />
ist und uns ni<strong>ch</strong>t gehört, vom Innersten bis ins Äußerste mit Leben füllen und ausformen<br />
bis in die kleinsten Finger und Zehen, damit Gottes Geist ganz in uns ein- und<br />
dur<strong>ch</strong>fließen kann. Der ganze Mens<strong>ch</strong> ist veranlagt und befähigt, mit allen seinen Gliedern<br />
vollkommen lebendig zu werden, damit die Kinder Gottes den Herrn Jesus Christus<br />
s<strong>ch</strong>on in dieser Welt verkörpern können und ER endli<strong>ch</strong> wiederkommen kann. Römer<br />
8,19: "Denn das ängstli<strong>ch</strong>e Harren der Kreatur wartet darauf, daß die Kinder Gottes<br />
offenbar werden". Wer die Therapie erlebt hat, heil und gesund wurde, kann seinem<br />
"Nä<strong>ch</strong>sten" Wesentli<strong>ch</strong>es weitergeben!<br />
Begrenzung: Es wird kein Körperkult zur Verherrli<strong>ch</strong>ung des Leibes betrieben. Dem Patienten<br />
wird au<strong>ch</strong> kein krankheitsfreier Lebensverlauf angeboten, denn Krankheiten<br />
sind Chancen, mit Gottes Hilfe an Leib und Seele zu wa<strong>ch</strong>sen und zu reifen. Suggestivbehandlungen<br />
s<strong>ch</strong>ließen si<strong>ch</strong> selbst aus, denn das innerste Loslassen des Patienten<br />
kann nur in der freien Willensents<strong>ch</strong>eidung ges<strong>ch</strong>ehen. Verändert werden soll nur das,<br />
was veränderungsbedürftig, -nötig und -mögli<strong>ch</strong> ist.<br />
Die Behandlungsmethoden setzen si<strong>ch</strong> aus den na<strong>ch</strong>folgenden Therapien zusammen,<br />
die we<strong>ch</strong>selseitig, je na<strong>ch</strong> Erkrankungss<strong>ch</strong>werpunkt, bei jeder Behandlung zur Anwendung<br />
kommen. Die Nervenreflextherapie am Fuß ist Grundte<strong>ch</strong>nik, bzw. wi<strong>ch</strong>tigstes
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 141<br />
Handwerkszeug. Dur<strong>ch</strong> Hinzunahme der Biblis<strong>ch</strong>-therapeutis<strong>ch</strong>en Seelsorge (BTS), ist<br />
diese Arbeit ni<strong>ch</strong>t mit der übli<strong>ch</strong>en Reflexzonen-Massage zu verglei<strong>ch</strong>en. Am ehesten<br />
kommt sie einer Körper-Psy<strong>ch</strong>otherapie glei<strong>ch</strong>, mit dem Vorteil, daß über den Körper<br />
die meist unbewußten Ursa<strong>ch</strong>en, die zur Erkrankung führten, s<strong>ch</strong>neller aufgedeckt, bewußt<br />
gema<strong>ch</strong>t und geheilt werden können. Im "Homo Maximus" von Swedenborg ist<br />
auf Seite 193 sehr treffend der Beginn der Erkrankung im Inwendigeren des Mens<strong>ch</strong>en<br />
bes<strong>ch</strong>rieben: "Weil der Tod ni<strong>ch</strong>t anderswoher kommt als von der Sünde, und Sünde alles<br />
das ist, was gegen die göttli<strong>ch</strong>e Ordnung ist, deshalb vers<strong>ch</strong>ließt das Böse die allerkleinsten<br />
und ganz unsi<strong>ch</strong>tbaren Gefäße, aus wel<strong>ch</strong>en die zunä<strong>ch</strong>st größeren, ebenfalls<br />
unsi<strong>ch</strong>tbaren, zusammengefügt sind. Denn die allerkleinsten und ganz unsi<strong>ch</strong>tbaren<br />
Gefäße sind eine Fortsetzung des Inwendigeren des Mens<strong>ch</strong>en. Daher kommt die erste<br />
und inwendigste Stockung, und daher die erste und inwendigste Verderbnis, die ins<br />
Blut kommt. Wenn diese Verderbnis zunimmt, verursa<strong>ch</strong>t sie Krankheit und zuletzt den<br />
Tod". Die Fors<strong>ch</strong>ungsberi<strong>ch</strong>te der Psy<strong>ch</strong>oneuroimmunologie sagen zusammenfassend<br />
und vereinfa<strong>ch</strong>t aus, daß die Qualität des Denkens, Fühlens und Wollens eines Mens<strong>ch</strong>en<br />
(vgl. Swedenborgs Gemütsbegriff) entspre<strong>ch</strong>ende Hormone und Neurotransmitter<br />
(Botenstoffe) freisetzen, auf die das Immunsystem entspre<strong>ch</strong>end reagiert. Am bekanntesten<br />
sind die körpereigenen Opiate, die Endorphine, die s<strong>ch</strong>merz- und erregungsdämpfende<br />
Wirkung haben. So wird ein hoher Einfluß auf die Qualität der seelis<strong>ch</strong>-geistigen<br />
und körperli<strong>ch</strong>en Gesundheit ausgeübt. Wo die Liebe Gottes in Kraft, Vertrauen und<br />
Freude über das Denken und Fühlen in das Nervensystem kommt, hat dies öffnende,<br />
krankheitsumstimmende, und heilende Auswirkungen auf den ganzen Mens<strong>ch</strong>en.<br />
Nervenreflextherapie am Fuß (integrierte Lymphbehandlung; spezielle Nerven- und<br />
Muskelmassage; modifizierte Gelenkmobilisation): Behandlung des ganzen Mens<strong>ch</strong>en<br />
vorwiegend über die Reflexzonen im Mikrosystem seiner Füße; im motoris<strong>ch</strong>en Nervensystem<br />
der statis<strong>ch</strong>en und motoris<strong>ch</strong>en Muskulatur und der Beckenbänder. Behandlung<br />
des zentralen Nervensystems mit dem Einfluß auf die Organe sowie Arterien-, Venenund<br />
des Lymphsystems.<br />
S<strong>ch</strong>merzbewältigung- und Streßtraining: Überwindung akuter und <strong>ch</strong>ron. S<strong>ch</strong>merzzustände<br />
dur<strong>ch</strong> verhaltens- und verheißungstherapeutis<strong>ch</strong> orientierte Übungen zum<br />
inwendigen Loslassen. (Das Wort Gottes wird in heil-praktis<strong>ch</strong>e Anwendung gebra<strong>ch</strong>t,<br />
z.B. Matth. 16,25 u.a., die ein- und dur<strong>ch</strong>fließende Heilungskraft wird vom Patienten<br />
wahrgenommen)!<br />
Phytotherapie: Entstauung, Entgiftung und Ausleitung von Stoffwe<strong>ch</strong>sels<strong>ch</strong>lacken aus<br />
dem Körper dur<strong>ch</strong> pflanzli<strong>ch</strong>e Medikamente und Tees; ergänzt und unterstützt mit Mineralien<br />
und Vitaminen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 142<br />
Rücken- und Haltungss<strong>ch</strong>ulung: Rückgratstärkung; Korrektur zur lotgere<strong>ch</strong>ten Haltung<br />
der Wirbelsäule im Kreuz (Kreuzbein, lat. Os sacrum = heiliger Kno<strong>ch</strong>en). Hier ges<strong>ch</strong>ieht<br />
körperli<strong>ch</strong>e Beugung und Aufri<strong>ch</strong>tung in eine Wohlfühlhaltung, die si<strong>ch</strong> auf die<br />
Seele und den Geist entspre<strong>ch</strong>end auswirkt!<br />
Biblis<strong>ch</strong>-therapeutis<strong>ch</strong>e Seelsorge (BTS), therapiebegleitend, ist eine multiplurale<br />
psy<strong>ch</strong>otherapeutis<strong>ch</strong>e Anwendung von Gesprä<strong>ch</strong>s- und Verhaltenstherapie, Tiefenpsy<strong>ch</strong>ologie,<br />
Logotherapie sowie biblis<strong>ch</strong>e Seelsorge. Sie dient als Befreiungshilfe aus negativen<br />
körperli<strong>ch</strong>en und seelis<strong>ch</strong>en Gebundenheiten, Festlegungen und Abhängigkeiten.<br />
Wirkung der Behandlung: Dur<strong>ch</strong> die manuelle Stimulation der Nervenenden in den Füßen<br />
des Patienten (dort sind die S<strong>ch</strong>merzen des ganzen Körpers, au<strong>ch</strong> die unbewußt<br />
verdrängten, spürbar), und seinem bewußten, vertrauensvollen Loslassen, werden komprimierte<br />
Nerven, Blut- und Lymphgefäße befreit. Muskelverspannungen und -<br />
verhärtungen lösen si<strong>ch</strong>, ebenfalls Blockaden der Wirbelsäule und Gelenke. Es kommt<br />
zur Beruhigung und zum Ausglei<strong>ch</strong> zwis<strong>ch</strong>en dem willkürli<strong>ch</strong>en und vegetativen Nervensystem.<br />
Ein sofortiger Längenausglei<strong>ch</strong> der Muskulatur mit spürbarer Wärme,<br />
Lei<strong>ch</strong>tigkeit und Weite, dur<strong>ch</strong> die bessere Blutzirkulation ist die Folge. Patienten können<br />
si<strong>ch</strong> neu bewegen und überwinden ihre S<strong>ch</strong>merzen. Aufri<strong>ch</strong>tung aus gebeugter<br />
Haltung wird mögli<strong>ch</strong>, so daß si<strong>ch</strong> Kreislauf und Stoffwe<strong>ch</strong>sellage, besonders im Stützund<br />
Bewegungsapparat der Wirbelsäule, normalisieren und stabilisieren können. Ebenso<br />
kommt der Hormon- und Enzymhaushalt wieder in Ordnung. Wenn die Zu-, Dur<strong>ch</strong>und<br />
Abflußwege dur<strong>ch</strong> den Körper wieder frei geworden sind, können Muskeln und Organe<br />
Nahrung und evtl. Medikamente wirkungsvoller aufnehmen.<br />
Heilungsreaktionen als gewüns<strong>ch</strong>te Antworten des Körpers auf den gesetzten Reiz, weisen<br />
auf ein intaktes Immunsystem, auf eine Wende im Verlauf der Krankheit und auf<br />
Heilung hin; sie dienen der Haltungsfindung im Kreuz. Vorsorgebehandlungen verhindern<br />
späteren S<strong>ch</strong>aden und viel S<strong>ch</strong>merz!<br />
Zielgruppen: Kranke und gestreßte Mens<strong>ch</strong>en in jedem Alter. Kinder und ältere Mens<strong>ch</strong>en<br />
spre<strong>ch</strong>en besonders gut auf die lösende, ordnende, ausglei<strong>ch</strong>ende und das Immunsystem<br />
stärkende Behandlung an. S<strong>ch</strong>merz-Patienten mit akuten und <strong>ch</strong>ron. Gelenks-<br />
und/oder Wirbelsäulenerkrankungen mit Dur<strong>ch</strong>blutungsstörungen, Lähmungsund<br />
Erregungszuständen sowie psy<strong>ch</strong>osomatis<strong>ch</strong>en Erkrankungen bilden die Hauptgruppe.<br />
Am Immunsystem Ges<strong>ch</strong>wä<strong>ch</strong>te und Erkrankte, bei denen angebli<strong>ch</strong> "ni<strong>ch</strong>ts<br />
mehr zu ma<strong>ch</strong>en ist", haben gute Chancen Besserung und au<strong>ch</strong> Heilung zu erfahren,<br />
wenn sie si<strong>ch</strong> auf das Loslassen ganz einlassen (Römer 12,1-2)! Wo mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Kräfte<br />
und Künste an Grenzen stoßen, hat Gott immer no<strong>ch</strong> genügend Mögli<strong>ch</strong>keiten heilend<br />
einzugreifen.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 143<br />
Abs<strong>ch</strong>ließende Zusammenfassung: In Jesu Bild gestaltet zu werden heißt, si<strong>ch</strong> dur<strong>ch</strong><br />
den Prozeß der Heiligung (l.Thess.5,23-24) umprägen zu lassen. Es ist medizinis<strong>ch</strong>neurologis<strong>ch</strong>e<br />
Erkenntnis, daß Prägung nur dann ges<strong>ch</strong>ehen kann, wenn theoretis<strong>ch</strong>es<br />
Wissen mit körperli<strong>ch</strong>em Tun gekoppelt ist, sonst bleibt es Theorie und die alte Prägung<br />
wirkt weiter. Das Umprägen in Jesu Leben kann ni<strong>ch</strong>t sanfter und kürzer ges<strong>ch</strong>ehen, als<br />
dur<strong>ch</strong> sofortiges Loslassen ins Kreuz. So wie das Bibelwort Geistiges und Göttli<strong>ch</strong>es in<br />
si<strong>ch</strong> birgt, so enthält der Körper des Mens<strong>ch</strong>en Mögli<strong>ch</strong>keiten mit neuem Leben aus<br />
Gott gefüllt zu werden, sobald er geweckt, geöffnet, gereinigt und geweitet wird, wenn<br />
Haupt und Glieder in bewußter Beziehung zu- und miteinander leben. Der dur<strong>ch</strong> den<br />
innersten Willen gewirkte körperli<strong>ch</strong>e Lösungsme<strong>ch</strong>anismus, der in dieser Therapie<br />
zentral vermittelt wird, soll im Alltag reflexartig automatisiert werden. So kann der Patient<br />
lernen, in Krisen- und Ents<strong>ch</strong>eidungssituationen in der s<strong>ch</strong>öpfungsgemäßen<br />
Grundhaltung des Körpers im Kreuz gelöst und gesund zu bleiben. Die Folge ist e<strong>ch</strong>te<br />
Gelassenheit und dankbare Freude, weil innen und außen einander entspre<strong>ch</strong>en, und<br />
dies nun ganz natürli<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong> körperli<strong>ch</strong> zum Ausdruck kommen kann (1. Kor 6,20).<br />
Ein Fallbeispiel, vereinfa<strong>ch</strong>t wiedergegeben: Ein 3 1/2-jähriges Kind mit einer psy<strong>ch</strong>omotoris<strong>ch</strong>en<br />
Retardierung, als Nebenbefund eine Spina bifida occulta (ärztl. Diagnose)<br />
zwis<strong>ch</strong>en den Lendenwirbeln 4 und 5, wurde von der Mutter gebra<strong>ch</strong>t. Das Kind konnte<br />
ni<strong>ch</strong>t laufen, robbte auf dem Boden und beim Tragen auf dem Arm hingen die Beine<br />
s<strong>ch</strong>laff herunter waren dur<strong>ch</strong> Sauerstoffmangel blau und kalt. Die Mutter hatte eine<br />
S<strong>ch</strong>wangers<strong>ch</strong>aftspsy<strong>ch</strong>ose bei diesem ersten Kind, und starke depressive Phasen, weil<br />
sie si<strong>ch</strong> an der Behinderung ihres Kindes s<strong>ch</strong>uldig fühlte. Während der Arbeit an den<br />
Füßen des Kindes konnte i<strong>ch</strong> der Mutter mit biblis<strong>ch</strong>er Seelsorge helfen, ihre Gefühlssituation<br />
neu zu sehen und zu ordnen.<br />
Na<strong>ch</strong> ebenfalls zwei Behandlungen, rief mi<strong>ch</strong> die Mutter abends an und war sehr erregt,<br />
weil ihr Kind im Wohnzimmer stand und einige S<strong>ch</strong>ritte versu<strong>ch</strong>te. Zur dritten Stunde<br />
führte die Mutter das Kind bereits an der Hand und in der vierten lief es freudig dur<strong>ch</strong><br />
das Wartezimmer. Die Beine waren inzwis<strong>ch</strong>en gut dur<strong>ch</strong>blutet, warm und kräftig geworden,<br />
weil die Nervenleitungen vom Kopf bis zu den Füßen endli<strong>ch</strong> Kontakt miteinander<br />
hatten. In der siebten Stunde war das Kind bereits so kräftig, daß es au<strong>ch</strong> draußen<br />
laufen konnte. Es fand keine a<strong>ch</strong>te Stunde mehr statt.<br />
Die Mutter war voller Freude und dankte Gott sehr innigli<strong>ch</strong>, sie konnte die Heilung ihres<br />
Kindes kaum fassen. I<strong>ch</strong> glaube, daß das Kind bisher gar ni<strong>ch</strong>t wußte, wozu es die<br />
Füße überhaupt hat, sie wurden ihm bewußt gema<strong>ch</strong>t und belebt, und das hatte völlig<br />
ausgerei<strong>ch</strong>t! Die Gesamtkosten betrugen nur DM 350,-.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 144<br />
Na<strong>ch</strong>ruf<br />
Im Materialdienst 12/99 der Evangelis<strong>ch</strong>en Zentralstelle für Weltans<strong>ch</strong>auungsfragen<br />
ers<strong>ch</strong>ien ein Na<strong>ch</strong>ruf zum Tode von Friedemann Horn. Darin hebt Frau Dr. Gabriele Lademann-Priemer<br />
hervor: "Friedemann Horn war ein Mens<strong>ch</strong> mit einer großen geistigen<br />
Weite, und er war aus tiefem Herzen liebenswürdig … Sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Unters<strong>ch</strong>iede, au<strong>ch</strong> kritis<strong>ch</strong>e<br />
Anfragen an Swedenborgs Theologie stellten die mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>e Gemeins<strong>ch</strong>aft ni<strong>ch</strong>t<br />
in Frage. Horn redete Unters<strong>ch</strong>iede ni<strong>ch</strong>t s<strong>ch</strong>ön, um einer fals<strong>ch</strong>en Harmonie willen. Er<br />
hatte das Bestreben, die Neue Kir<strong>ch</strong>e aus der 'Sektenecke' zu befreien und ihr einen<br />
Platz und eine Stimme im Chor der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en zu vers<strong>ch</strong>affen. So nahm er in<br />
seinen letzten Lebensjahren Kontakt zum Ökumenis<strong>ch</strong>en Rat der Kir<strong>ch</strong>en auf. Au<strong>ch</strong><br />
vorher pflegte Horn ökumenis<strong>ch</strong>e Beziehungen. Er war viele Jahre Mitglied im Arbeitskreis<br />
'PSI und <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er Glaube' der EZW. Die Beziehungen zu den Mitgliedern des<br />
Arbeitskreises waren herzli<strong>ch</strong>, Horn war eine tragende Säule des Kreises und bra<strong>ch</strong>te<br />
viele Anregungen mit … Es hat Horn verletzt, daß gelegentli<strong>ch</strong> die Meinung vertreten<br />
wird, die Swedenborgianer nähmen den Tod ni<strong>ch</strong>t ri<strong>ch</strong>tig ernst oder ni<strong>ch</strong>t ernst genug,<br />
weil er für sie 'nur' der Dur<strong>ch</strong>gang in die Geistige Welt sei. Fünf Tage vor seinem Tod<br />
saß i<strong>ch</strong> mit Friedemann Horn in Züri<strong>ch</strong> auf einer Bank bei einer Friedhofskapelle nahe<br />
dem Züri<strong>ch</strong>see. Wir spra<strong>ch</strong>en über Krankheit und Tod. Er strahlte eine heitere Gelassenheit<br />
aus, aber er stellte zuglei<strong>ch</strong> mit tiefem Ernst die Frage: 'Was soll i<strong>ch</strong> antworten,<br />
wenn i<strong>ch</strong> in der Geistigen Welt gefragt werde? - Und i<strong>ch</strong> werde gefragt werden!'"<br />
Neuers<strong>ch</strong>einung<br />
Einigen Lesern ist Karl Dvorak no<strong>ch</strong> bekannt. Er war ein Kenner der <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Prophetie.<br />
In zahlrei<strong>ch</strong>en Vorträgen und Seminaren hat er sein Verständnis des inneren<br />
Weges und geistige Übungen gelehrt. Aus diesen Tonbändern haben nun seine Freunde<br />
ein Bu<strong>ch</strong> zusammengestellt: »Leben und Lehre Jesu Christi: Geistige Entspre<strong>ch</strong>ungsdeutung<br />
und Wiedergabe wi<strong>ch</strong>tiger Lebenslehren sowie Anregungen zur Tatna<strong>ch</strong>folge<br />
mit vielen geistigen Übungsanleitungen«. Es kann über Lothar Broß, Krankenhausstr.<br />
10a, D -64823 Groß Umstadt oder Maria Dvorak, Khittelstr. 7/16, A - 3100 St. Pölten<br />
zum Preis vom 39,- DM bezogen werden.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 145<br />
Syn<strong>ch</strong>ronisation des Videos<br />
"Animals and Parables in the Bible"<br />
Peter Keune vom Berliner Swedenborg-Zentrum beabsi<strong>ch</strong>tigt die Syn<strong>ch</strong>ronisation des<br />
Videos "Animals and Parables in the Bible" (Tiere und Glei<strong>ch</strong>nisse in der Bibel). Dieser<br />
Film führt sehr einfühlsam in die geistige Bedeutung der Tierwelt der Bibel ein. S<strong>ch</strong>on<br />
vor einigen Jahren wurde auf diese Weise "Swedenborg, the man who had to know" professionell<br />
syn<strong>ch</strong>ronisiert und ist seitdem unter dem Titel "Swedenborg: Fors<strong>ch</strong>er im<br />
Diesseits und Jenseits" erhältli<strong>ch</strong>. Für das neue Projekt wird nun ein Englis<strong>ch</strong>-Deuts<strong>ch</strong>-<br />
Übersetzer gesu<strong>ch</strong>t, der den Originaltext vom Tonband abs<strong>ch</strong>reiben kann, um ihn dann<br />
zu übersetzen. Interessenten wenden si<strong>ch</strong> bitte direkt an Peter Keune, S<strong>ch</strong>marjestrasse<br />
2, D - 14169 Berlin, Tel. 030 - 8011684.<br />
Einladung zur Jahrestagung<br />
Die Swedenborgtagung findet dieses Jahr vom 30. Mai bis 4. Juni statt. Unsere Referenten<br />
führen Sie in die Vorstellungswelt des nordis<strong>ch</strong>en Sehers ein und stehen Ihnen für<br />
Auskünfte zur Verfügung. Ein Bü<strong>ch</strong>ertis<strong>ch</strong> lädt zur Lektüre ein.<br />
Unsere Zusammenkunft bietet Ihnen zahlrei<strong>ch</strong>e Mögli<strong>ch</strong>keiten zu anregenden Gesprä<strong>ch</strong>en<br />
mit glei<strong>ch</strong>gesinnten Christen aus dem gesamten deuts<strong>ch</strong>en Spra<strong>ch</strong>raum. Beliebte<br />
Treffpunkte im Tagungshotel sind der Römerkeller und das gemütli<strong>ch</strong>e Café Christine.<br />
Familien mit Kindern sind herzli<strong>ch</strong> willkommen. Ein Kinderspielkreis wird na<strong>ch</strong> Abspra<strong>ch</strong>e<br />
mit den Eltern eingeri<strong>ch</strong>tet. Ausserdem bieten wir zwei Kinderna<strong>ch</strong>mittage<br />
über »Die Welt der Engel« an. Falls Sie ein Musikinstrument spielen, haben Sie keine<br />
S<strong>ch</strong>eu, es mitzubringen. Gerne wollen wir gemeinsam singen und musizieren.<br />
Das ausführli<strong>ch</strong>e Programm ist ab sofort beim Swedenborg Zentrum Züri<strong>ch</strong> erhältli<strong>ch</strong>.<br />
Dissertation von Gottlieb Flors<strong>ch</strong>ütz<br />
Dr. phil. Gottlieb Flors<strong>ch</strong>ütz, Jahrgang 1962, bietet unseren Lesern seine Doktorarbeit<br />
über "Swedenborgs verborgene Wirkung auf Kant" zum Preis von nur 10,- DM an. Die<br />
Arbeit wurde 1991 von der Philosophis<strong>ch</strong>en Fakultät der Christian-Albre<strong>ch</strong>ts-<br />
Universität zu Kiel als Dissertation mit dem Originaltitel "Swedenborg und die okkulten<br />
Phänomene aus der Si<strong>ch</strong>t von Kant und S<strong>ch</strong>openhauer" angenommen und wird gegenwärtig<br />
von der Swedenborg Scientific Association (USA) ins Englis<strong>ch</strong>e übersetzt.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 146<br />
Bei der kritis<strong>ch</strong>en Aufarbeitung der Kant-Swedenborg-Kontroverse stellt si<strong>ch</strong> heraus,<br />
daß Kant keineswegs nur der nü<strong>ch</strong>terne Rationalist war, als der er oft tituliert wird,<br />
sondern daß ihm sogar mystis<strong>ch</strong>e Ambitionen na<strong>ch</strong>zuweisen sind. Dies gilt vor allem<br />
für seine Frühs<strong>ch</strong>riften sowie für seine späten Vorlesungen über Metaphysik. Hier nähert<br />
si<strong>ch</strong> Kant der Jenseitslehre Swedenborgs wiederum soweit an wie zu Beginn seines<br />
Kontaktes mit dem nordis<strong>ch</strong>en Seher, von dessen hellseheris<strong>ch</strong>er Begabung er si<strong>ch</strong> anfangs<br />
fasziniert zeigte. Er nennt dessen Lehre vom moralis<strong>ch</strong>en Geisterrei<strong>ch</strong> "erhaben"<br />
und gesteht der mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Seele na<strong>ch</strong> dem Ableben die Fähigkeit zu "intellektueller<br />
Ans<strong>ch</strong>auung" zu, mittels derer sämtli<strong>ch</strong>e "okulten" Phänomene wie Telepathie, Hellsehen,<br />
Präkognition und "Kontakte" mit Verstorbenen mögli<strong>ch</strong> und erklärbar wären.<br />
Kants Na<strong>ch</strong>folger und Kritiker Arthur S<strong>ch</strong>openhauer (1788 - 1860) legt in seinen parapsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>en<br />
S<strong>ch</strong>riften "Versu<strong>ch</strong> über Geistersehn" (1851), "Von der ans<strong>ch</strong>einenden<br />
Absi<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>keit im S<strong>ch</strong>icksale des Einzelnen" (1851) und "Animalis<strong>ch</strong>er Magnetismus<br />
und Magie" (1836) ein überzeugendes Plädoyer für die E<strong>ch</strong>theit "okkulter" Phänomene<br />
ab. Seine parapsy<strong>ch</strong>ologis<strong>ch</strong>e Theorie, die no<strong>ch</strong> Hans Dries<strong>ch</strong> als "kurzes Lehrbu<strong>ch</strong> der<br />
Parapsy<strong>ch</strong>ologie" würdigte, kann dem modernen Parapsy<strong>ch</strong>ologen au<strong>ch</strong> heute no<strong>ch</strong><br />
wertvolle Anregungen bei seinen Erklärungsversu<strong>ch</strong>en paranormaler Phänomene geben,<br />
wennglei<strong>ch</strong> S<strong>ch</strong>openhauers me<strong>ch</strong>anistis<strong>ch</strong>er Naturbegriff erweitert werden müßte.<br />
Bei seiner Erklärung der geheimnisvollen Prophetie in sog. "Wahrträumen" finden si<strong>ch</strong><br />
erste Anklänge an C. G. Jungs Syn<strong>ch</strong>ronizitätstheorie, der Auffassung paranormaler<br />
Wahrnehmungen als akausaler Sinnzusammenhänge.<br />
Interessenten wenden si<strong>ch</strong> direkt an Dr. Flors<strong>ch</strong>ütz, Mangoldtstr. 19, 24106 Kiel, Telefon 0431 -<br />
542 131.<br />
Das Neue Testament<br />
und früh<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riften<br />
Das Neue Testament und früh<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riften. Übersetzt und kommentiert von Klaus Berger<br />
und Christiane Nord. 1373 Seiten. Leinen. DM 64,- / öS 467,- / sFr. 58.-<br />
Die vorliegende Übersetzung der ältesten S<strong>ch</strong>riften des Christentums ist in mehrfa<strong>ch</strong>er<br />
Hinsi<strong>ch</strong>t neuartig, in den Übersetzungsprinzipien, in der Kommentierung und im Umfang<br />
und der Anordnung der S<strong>ch</strong>riften. Na<strong>ch</strong> Swedenborg sind im Neuen Testament nur<br />
die vier Evangelien und die Offenbarung im eigentli<strong>ch</strong>en Sinne Gottes Wort (siehe HG<br />
10325). Das Neue Testament dürfte daher nur aus diesen fünf Bü<strong>ch</strong>ern bestehen. Die<br />
Apostelges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te und die Briefe könnten aus neukir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t in einem Ergänzungsband<br />
"Früh<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riften" ers<strong>ch</strong>einen. Und das genau ist der Grund, warum
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 147<br />
wir auf die Übersetzung von Berger / Nord hinweisen. Denn hier werden ni<strong>ch</strong>t nur die<br />
kanonis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riften des Neuen Testaments geboten, sondern au<strong>ch</strong> all die anderen,<br />
die bis zum Jahr 200 na<strong>ch</strong> Christus entstanden sind. Diese Fülle früh<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er S<strong>ch</strong>riften<br />
findet man in keiner anderen Ausgabe. Als evangelis<strong>ch</strong>er Theologe kann Berger<br />
selbstverständli<strong>ch</strong> Paulus und die anderen Briefe ni<strong>ch</strong>t aus dem Kanon entfernen, aber<br />
er relativiert diese Sammlung, indem er au<strong>ch</strong> andere früh<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>e S<strong>ch</strong>riften aufnimmt.<br />
Die Reihenfolge orientiert si<strong>ch</strong> am Entstehungsdatum der Texte. Diese historis<strong>ch</strong>e<br />
Einordnung ist bisher nirgends konsequent vollzogen. Nur am Rande sei bemerkt,<br />
dass Berger das Johannesevangelium auf die Zeit gegen Ende der se<strong>ch</strong>ziger Jahre des 1.<br />
Jahrhunderts datiert, womit er na<strong>ch</strong> unserer Überzeugung goldri<strong>ch</strong>tig liegt. Die Übersetzung<br />
will das Verständnis der Texte erlei<strong>ch</strong>tern, ohne ihre Herkunft aus einer anderen<br />
Kultur und Zeit, zu verleugnen. Den einzelnen Texten sind Kommentare vorangestellt,<br />
die die Entstehungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te, die theologieges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>e Bedeutung und die<br />
Wirkungsges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te erläutern. In den Fußnoten werden Sa<strong>ch</strong>erläuterungen und Übersetzungsalternativen<br />
gegeben.<br />
Aus unserer Korrespondenz<br />
Herr H. stellte uns die Frage na<strong>ch</strong> der Glaubwürdigkeit der Bibel: "Es interessiert mi<strong>ch</strong>,<br />
ob Swedenborg eine Inspiration zur Frage der Glaubwürdigkeit der Bibel hatte … Seit<br />
meiner Kindheit lässt mi<strong>ch</strong> diese Frage ni<strong>ch</strong>t los. Mein Pfarrer wollte mi<strong>ch</strong> wegen meinen<br />
Zweifeln ni<strong>ch</strong>t konfirmieren! Jetzt bin i<strong>ch</strong> 57 Jahre alt und su<strong>ch</strong>e immer no<strong>ch</strong>. Die<br />
Bü<strong>ch</strong>er namhafter Theologen nähren meine Zweifel." Unsere Antwort: Grundsätzli<strong>ch</strong><br />
sind aus swedenborgs<strong>ch</strong>er Si<strong>ch</strong>t die historis<strong>ch</strong>e und die göttli<strong>ch</strong>e Glaubwürdigkeit zu<br />
unters<strong>ch</strong>eiden. Swedenborgs Inspiration bezieht si<strong>ch</strong> eher auf die göttli<strong>ch</strong>e Glaubwürdigkeit.<br />
Er versi<strong>ch</strong>ert, dass in den Bü<strong>ch</strong>ern der Heiligen S<strong>ch</strong>rift ein geistiger und ein<br />
himmlis<strong>ch</strong>er Sinn enthalten sei. Sie handeln von der geistigen Wiedergeburt des Mens<strong>ch</strong>en<br />
und der Verherrli<strong>ch</strong>ung des Herrn. In diesem Sinne ist die Bibel Gottes Wort und<br />
vollkommen glaubwürdig. Die inneren Sinns<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>ten sind jedo<strong>ch</strong> im Bu<strong>ch</strong>staben verborgen<br />
wie die Seele im Leib. Zur historis<strong>ch</strong>en Glaubwürdigkeit äussert si<strong>ch</strong> Swedenborg<br />
ni<strong>ch</strong>t in dem Umfang und in der Weise wie es angesi<strong>ch</strong>ts des heutigen Problembewußtseins<br />
wüns<strong>ch</strong>enwert wäre. Deswegen kann i<strong>ch</strong> Sie nur darauf hinweisen,<br />
dass es neben den von Ihnen genannten "namhaften Theologen" Lüdemann, Ranke-<br />
Heinemann usw. au<strong>ch</strong> andere Stimmen gibt. Au<strong>ch</strong> die Ar<strong>ch</strong>äologie konnte wi<strong>ch</strong>tige Beiträge<br />
zur Eindämmung der totalen Infragestellung der historis<strong>ch</strong>en Glaubwürdigkeit leisten.<br />
Glei<strong>ch</strong>wohl ist die Bibel kein objektives Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tsbu<strong>ch</strong> - gibt es so etwas überhaupt?<br />
-; die biblis<strong>ch</strong>en Ges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>tsdarstellungen sind allesamt aus der Perspektive des
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 148<br />
Glaubens ges<strong>ch</strong>rieben, des Erwählungsglaubens im Alten Testament oder des Christusglaubens<br />
im Neuen Testament. In diesem Sinne sind sie tendenziös und subjektiv. Do<strong>ch</strong><br />
die Wahrheit, um die es im Leben eigentli<strong>ch</strong> geht, ist nie nackte historis<strong>ch</strong>e Wahrheit.<br />
Die Inspiration und Glaubwürdigkeit der Bibel besteht na<strong>ch</strong> unserem Glauben darin,<br />
dass si<strong>ch</strong> in den Worten, Taten und Visionen der biblis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>riftsteller die göttli<strong>ch</strong>e<br />
Wahrheit einfle<strong>ch</strong>ten konnte. Swedenborg s<strong>ch</strong>reibt: "Die Inspiration ist kein Diktat,<br />
sondern ein Einfluss aus dem Göttli<strong>ch</strong>en." (HG 9094).<br />
Neudruck der Tafelbibel?<br />
Der Swedenborg Verlag erwägt den Neudruck der Tafelbibel. Diese Übersetzung wurde<br />
in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts von dem Swedenborgianer und Spra<strong>ch</strong>gelehrten<br />
Dr. Leonhard Tafel (1800 - 1880) auf Anregung Theodor Müllensiefens angefertigt<br />
und später von seinem Sohn Ludwig Hermann Tafel (1840 - 1909) in zehnjähriger<br />
Arbeit gründli<strong>ch</strong> revidiert. L. H. Tafel war bestrebt, die Übersetzung seines Vaters<br />
im Sinne einer no<strong>ch</strong> genaueren Wiedergabe des Urtextes so zu verbessern, dass jedes<br />
hebräis<strong>ch</strong>e bzw. grie<strong>ch</strong>is<strong>ch</strong>e Wort dur<strong>ch</strong> ein- und dasselbe entspre<strong>ch</strong>ende deuts<strong>ch</strong>e<br />
Wort wiedergegeben wurde. Die Tafelbibel ist also eine sehr wörtli<strong>ch</strong>e Übersetzung und<br />
gehört damit demjenigen Übersetzungstyp an, den au<strong>ch</strong> Swedenborg, der freili<strong>ch</strong> au<strong>ch</strong><br />
die Urspra<strong>ch</strong>en beherrs<strong>ch</strong>te, bevorzugte. Ein Neudruck dieser Tafelbibel ist aber nur<br />
dann sinnvoll, wenn eine Na<strong>ch</strong>frage besteht und wenn wir tatkräftige Unterstützung<br />
beim Korrekturlesen erhalten. Daher bitten wir hiermit um Reaktionen aus unserer Lesers<strong>ch</strong>aft.<br />
Bei entspre<strong>ch</strong>endem E<strong>ch</strong>o könnte die Bibel fadengebunden mit Goldprägung<br />
zum Preis von 150,- bis 180,- DM angeboten werden.<br />
Seminar- und Besinnungswo<strong>ch</strong>e in Barendorf<br />
Das Swedenborg Zentrum Lüneburg lädt wieder zu einem Seminar- und Besinnungswo<strong>ch</strong>enende<br />
in Barendorf (bei Lüneburg) ein. Thema ist das Vaterunser. Die folgenden<br />
Vorträge sind vorgesehen: 1.) Einleitung - Von der Bedeutung des Gebetes (A. Kreu<strong>ch</strong>).<br />
2.) Von "Vater unser" bis "Dein Wille ges<strong>ch</strong>ehe" - Der Herr und seine Himmel für das<br />
Mens<strong>ch</strong>enges<strong>ch</strong>le<strong>ch</strong>t (P. Keune). 3.) Von "so auf Erden" bis "sondern erlöse uns von<br />
dem Bösen" - Der Weg des Mens<strong>ch</strong>en auf Erden in der Führung dur<strong>ch</strong> Gott. (S. Keune).<br />
4.) Feierstunde am Sonntag über den S<strong>ch</strong>lußvers "denn Dein ist das Rei<strong>ch</strong> …" (A.<br />
Kreu<strong>ch</strong>). Das Wo<strong>ch</strong>enende findet vom 29.9. (Beginn 19.30 Uhr) bis 1.10.<strong>2000</strong> (Ende 13<br />
Uhr) statt. Für Überna<strong>ch</strong>tung und Verpflegung entstehen Unkosten in Höhe von 150,-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 149<br />
DM plus 10,- DM Seminargebühr. Bei Anfragen und Anmeldung bitte 04131 - 37997 (A.<br />
Kreu<strong>ch</strong>) anrufen.<br />
Swedenborg tau<strong>ch</strong>t in gegenwärtige niederländis<strong>ch</strong>e<br />
Musikszene ein<br />
Martijn Padding (geb. 1956), ein niederländis<strong>ch</strong>er Komponist,<br />
s<strong>ch</strong>reibt eine Oper über Swedenborg<br />
"Kann i<strong>ch</strong> eines Tages viellei<strong>ch</strong>t eine Oper s<strong>ch</strong>reiben?" ist die Frage, die jedem Komponisten<br />
im Kopf herumgeht, der au<strong>ch</strong> nur einen lei<strong>ch</strong>ten Hang zum Theater hat. Oftmals<br />
verwirft er die Idee überhaupt oder er malt si<strong>ch</strong> aus, dass er s<strong>ch</strong>on die gesamte Produktion<br />
in Händen hält.<br />
Wir wissen ja, man kann mä<strong>ch</strong>tig alt werden und auf einen Opernauftrag warten. Man<br />
stelle si<strong>ch</strong> Martijn Paddings Überras<strong>ch</strong>ung vor, als vor ein paar Monaten das Telefon<br />
klingelte. "Es war Tadeusz Wielecki vom Wars<strong>ch</strong>auer Herbst Festival.," erinnert si<strong>ch</strong><br />
Padding, "und fragte, ob i<strong>ch</strong> gerne eine Oper s<strong>ch</strong>reiben würde." Wenn rosarote Zuckerwatte<br />
aus seinem Telefonhörer herausgedrungen wäre, er hätte ni<strong>ch</strong>t mehr überras<strong>ch</strong>t<br />
sein können. Grund für den Auftrag war Paddings Musik selbst. Ein Mitglied des künstleris<strong>ch</strong>en<br />
Festival-Auss<strong>ch</strong>usses hatte das S<strong>ch</strong>önberg-Ensemble mit der Aufführung von<br />
Paddings "Ein Haus mit einem Da<strong>ch</strong>" gehört und war von dem Stück so hingerissen,<br />
dass er alles unternahm, den Komponisten ausfindig zu ma<strong>ch</strong>en.<br />
Eben zu jener Zeit kursierten in Wars<strong>ch</strong>au Pläne für eine Trilogie, die auf Aufsätzen<br />
über Swedenborg, Blake und Oscar Milosz basierten, entnommen einer Sammlung des<br />
polnis<strong>ch</strong>en Nobelpreisträgers Czeslaw Milosz. Drei Komponisten wurden für das Projekt<br />
ausgewählt. Padding und sein Librettist Friso Haverkamp spra<strong>ch</strong>en si<strong>ch</strong> für Swedenborg<br />
(1688-1772) und für William Blake (1757-1827) als ihr Opernsujet aus.<br />
"Das Festival lud uns übers Wo<strong>ch</strong>enende na<strong>ch</strong> Polen ein. Es war ein seltsames Erlebnis.<br />
Wir wurden im Opernhaus von Lodsz herumgeführt. An einer bestimmten Stelle ließen<br />
sie mi<strong>ch</strong> alleine herumtappen, und als i<strong>ch</strong> einfa<strong>ch</strong> eine Tür öffnete, betrat i<strong>ch</strong> einen Probensaal<br />
mit 150 Ballerinas, die gerade übten. Da überkamen mi<strong>ch</strong> glückli<strong>ch</strong>e Erinnerungen,<br />
dass i<strong>ch</strong> einmal Ballett-Pianist (Korrepetitor) gewesen war. Deshalb fragte i<strong>ch</strong>,<br />
ob i<strong>ch</strong> Tänzerinnen in der Oper verwenden dürfe. "Si<strong>ch</strong>er, kein Problem," war die Antwort.<br />
Gerade re<strong>ch</strong>t! Voller Euphorie kehrten wir in die Niederlande zurück."<br />
Friso Haverkamp hat si<strong>ch</strong> seither gründli<strong>ch</strong> in die Werke Swedenborgs und Blakes eingelesen.<br />
"Swedenborg war ein Philosoph und Bergbauingenieur in Diensten des s<strong>ch</strong>we-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 150<br />
dis<strong>ch</strong>en Königs," erklärt Haverkamp. "Er stand im Zentrum des gesamten Spektrums<br />
der Naturwissens<strong>ch</strong>aften seiner Zeit. Ungefähr mit 56 Jahren befand si<strong>ch</strong> Swedenborg<br />
in einer persönli<strong>ch</strong>en Krise. Er bes<strong>ch</strong>reibt seine Visionen aus diesem Lebensabs<strong>ch</strong>nitt in<br />
demselben makellosen Latein, das er früher zur Erläuterung seiner naturwissens<strong>ch</strong>aftli<strong>ch</strong>en<br />
Themen benutzt hatte. Swedenborg entwirft ein verwirrendes Bild des Himmels,<br />
inklusive einer detaillierten Klassifikation der Engel. Dieses Werk, beträufelt mit <strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>er<br />
Inspiration, ist voller übers<strong>ch</strong>wengli<strong>ch</strong>er Frömmigkeit.<br />
Blake übernahm viele der Gedanken Swedenborgs, aber im Gegensatz zu Blake ist Swedenborgs<br />
Bes<strong>ch</strong>reibung der Engel staubtrocken. Sein altväterli<strong>ch</strong>es Bild von Tugend<br />
verblei<strong>ch</strong>t in eine freudlos korrekte, bu<strong>ch</strong>alteris<strong>ch</strong>e Auflistung neben der selbstsi<strong>ch</strong>eren<br />
Imagination des jungen Blake. In der Tat, unverdauli<strong>ch</strong>es Gefasel sind Swedenborgs<br />
Texte." Aber diese Tatsa<strong>ch</strong>e wird Haverkamp ni<strong>ch</strong>t davon abhalten, sie zu meistern.<br />
Falls er seinen Weg gefunden hat, wird ein Seiltänzer für drei Viertelstunden über dem<br />
Publikum s<strong>ch</strong>weben.<br />
Die Swedenborg-Oper mit dem Titel "Tattooed Tongues" (Tätowierte Zungen), S<strong>ch</strong>nipsel<br />
aus dem Jenseits, ist versu<strong>ch</strong>sweise für Oktober 2001 geplant. Das Werk erfordert zwei<br />
Vokalsolisten, einen elektronis<strong>ch</strong>en Chor und 33 Ballerinas. Auf ein gut Teil unter der<br />
Zahl der S<strong>ch</strong>wäne (der 150 Tänzerinnen) hatten Padding und Haverkamp gehofft, aber<br />
das ist besser als ni<strong>ch</strong>ts. Die Choreographie stammt von Amir Hosseinpour, der au<strong>ch</strong> bei<br />
der Oper "Hiero" von Guus Janssen [Komponist 1951- ] und Friso Haverkamp beteiligt<br />
war.<br />
Quelle: Donemus trackings. Vol.2, nr.1. - May <strong>2000</strong><br />
Der Komponist Daniel Glaus<br />
Der s<strong>ch</strong>weizer Komponist Daniel Glaus (Jahrgang 1957) s<strong>ch</strong>rieb eine 20minütige "Kir<strong>ch</strong>en<br />
(-Raum-) Musik" bestehend aus fünf Szenen für Alt, Spre<strong>ch</strong>er, Violine, Haupt- und<br />
Positivorgel mit Assistenten und S<strong>ch</strong>auspielerin ad libitum (na<strong>ch</strong> Belieben). Die Texte<br />
stammen von Daniel Glaus, Ernst Kappeler, Rudolf Steiner und Emanuel Swedenborg.<br />
Daniel Glaus ist Kir<strong>ch</strong>enmusiker an der Stadtkir<strong>ch</strong>e Biel und Lehrer für Orgel am dortigen<br />
Konservatorium und für Theorie und Neue Musik an der Musikho<strong>ch</strong>s<strong>ch</strong>ule Züri<strong>ch</strong>.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 151<br />
Hans Magnus Enzensberger<br />
Wo warst Du, Robert?<br />
Hans Magnus Enzensberger, Wo warst Du, Robert? Carl Hanser Verlag 1998, Halbleinen 34,00<br />
DM, 248,00 öS, 32,80 sfr. Die Tas<strong>ch</strong>enbu<strong>ch</strong>ausgabe für 16,50 DM ers<strong>ch</strong>eint im November <strong>2000</strong>.<br />
Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Er studierte Germanistik und Philosophie<br />
und begann 1957 seine s<strong>ch</strong>riftstelleris<strong>ch</strong>e Karriere mit zeitkritis<strong>ch</strong>er Lyrik. In<br />
den Se<strong>ch</strong>zigern veröffentli<strong>ch</strong>te er vor allem politik- und medienkritis<strong>ch</strong>e Essays. In den<br />
Siebzigern widmete er si<strong>ch</strong> dokumentaris<strong>ch</strong>en Arbeiten. Daneben war er au<strong>ch</strong> Herausgeber<br />
vers<strong>ch</strong>iedener Zeits<strong>ch</strong>riften. Mehrere Auszei<strong>ch</strong>nungen, wie der Georg-Bü<strong>ch</strong>ner-<br />
Preis oder der Heinri<strong>ch</strong>-Heine-Preis, ehren sein Werk.<br />
Enzensberger spielt mit Zeit und Raum. Ein Roman für junge Mens<strong>ch</strong>en und sol<strong>ch</strong>e, die<br />
es geblieben sind. Es war ein ganz gewöhnli<strong>ch</strong>er Tag, als Robert vers<strong>ch</strong>windet. Er sitzt<br />
in der Kü<strong>ch</strong>e und sieht fern. Da wird er plötzli<strong>ch</strong> in die gerade über den Bilds<strong>ch</strong>irm<br />
flimmernde Szene katapultiert und findet si<strong>ch</strong> an einem fremden Ort, in einer fremden<br />
Zeit wieder. Für Robert beginnt eine Zeitreise dur<strong>ch</strong> fast vier Jahrhunderte. Jedesmal<br />
springt er von einem historis<strong>ch</strong>en S<strong>ch</strong>auplatz zum anderen und erlebt hautnah spannende<br />
Abendteuer.<br />
Enzensbergers Kunst ist die Beiläufigkeit, die lockere, unangestrengte Erzählweise, mit<br />
der er Robert und uns - ganz beiläufig - au<strong>ch</strong> mit dem Dorflehrer Emanuel Tidemand<br />
bekannt ma<strong>ch</strong>t. Er "trug stets den glei<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>warzen, abges<strong>ch</strong>abten Anzug. Man sah<br />
ihm an, daß er ein ewiger Junggeselle war. Und dann die Augen! Blind war er ni<strong>ch</strong>t; er<br />
merkte alles. Aber dieser helle, silberne Glanz in seinen Pupillen - sol<strong>ch</strong>e Augen hatte<br />
Robert nur einmal zu Gesi<strong>ch</strong>t bekommen, bei einer blinden Na<strong>ch</strong>barin …" Und dieser<br />
Tidemand mit den seltsamen Augen kennt den Geisterseher, kennt Emanuel Swedenborg.<br />
Er "ist der Kolumbus der Geisterwelt und der Entdecker der himmlis<strong>ch</strong>en Wissens<strong>ch</strong>aften.<br />
Er verstand die Geheimspra<strong>ch</strong>e der Engel, und so man<strong>ch</strong>en s<strong>ch</strong>reckli<strong>ch</strong>en<br />
Streit hat er mit den Dämonen ausgetragen, die ihm das Leben s<strong>ch</strong>werma<strong>ch</strong>ten."<br />
Ein Prolog und ein Epilog, dazwis<strong>ch</strong>en sieben Zeitreisen und ein biss<strong>ch</strong>en Swedenborg,<br />
ein s<strong>ch</strong>önes Jugendbu<strong>ch</strong> über die Zeit. Was ist sie? "Ein Tag", so Gottfried Keller, "kann<br />
eine Perle sein. Und ein Jahrhundert ni<strong>ch</strong>ts." Und von den Zeitgenossen einer Epo<strong>ch</strong>e<br />
erlebt jeder eine andere Zeit, - seine Zeit.
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 152<br />
Klaas Huizing<br />
Das Ding an si<strong>ch</strong>: Ein Kant-Roman<br />
Klaas Huizing, Das Ding an si<strong>ch</strong>: Ein Kant-Roman <strong>2000</strong>. 236 Seiten, Kartoniert (au<strong>ch</strong> gebunden<br />
erhältli<strong>ch</strong>) 17,00 DM -124 öS - 16,00 sfr.<br />
Kant und die Folgen, ein in unseren Kreisen ni<strong>ch</strong>t unbekanntes Thema. Da mag es interessieren,<br />
was Klaas Huizing (geboren 1958), Ordinarius am Lehrstuhl für Systematis<strong>ch</strong>e<br />
Theologie der Universität Würzburg, über das "Ding an si<strong>ch</strong>" zu erzählen weiß.<br />
Der Philosoph Johann Georg Hamann (1730-1788) erhält unter mysteriösen Umständen<br />
eine S<strong>ch</strong>erbe mit dem Abdruck einer mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Hand, wobei ihm beri<strong>ch</strong>tet wird, der<br />
Abdruck zeige Adams Hand, mit der er einen Pakt mit dem Teufel ges<strong>ch</strong>lossen habe.<br />
Hamann zeigt dieses Stück seinem Freund-Feind Kant, und man bes<strong>ch</strong>ließt, sie zu untersu<strong>ch</strong>en.<br />
Die S<strong>ch</strong>erbe widersetzt si<strong>ch</strong> jedo<strong>ch</strong> ersten Versu<strong>ch</strong>en, ihr Material zu erkunden.<br />
So wird denn der Diener Kants, Martin Lampe, zu vers<strong>ch</strong>iedenen Koryphäen der<br />
Zeit entsandt - zu dem Naturfors<strong>ch</strong>er Prokop Divis<strong>ch</strong> (1696-1765), der mit Elektrizität<br />
experimentiert, zu den Physikern Denis Papin (1647-1712) und Tiberio Cavallo, die si<strong>ch</strong><br />
mit Hitze und Dampf bzw. Kälte und Eis befassen, und s<strong>ch</strong>ließli<strong>ch</strong> zu dem Mediziner<br />
Franz Anton Mesmer (1734-1815), dem Begründer der Lehre vom tieris<strong>ch</strong>en Magnetismus.<br />
Aber alle s<strong>ch</strong>eitern daran, das Geheimnis der S<strong>ch</strong>erbe zu enthüllen; sie bleibt<br />
unzerstörbar und wird Kant bei seinem Tode mit ins Grab gegeben.<br />
Huizing gelingt es, Philosophie in das Gewand eines amüsanten und intelligenten Romans<br />
zu verpacken. Die mysteriöse S<strong>ch</strong>erbe, sie ist das Ding an si<strong>ch</strong>, verblüfft, verunsi<strong>ch</strong>ert<br />
den großen Philosophen: "Ist dieses Ding hier die absolute und unzerstörbare Realität?<br />
Das kann und darf ni<strong>ch</strong>t sein! Darf ni<strong>ch</strong>t! Das Ding an si<strong>ch</strong> ist unerkennbar und<br />
wird auf ewig unerkennbar bleiben ... Ist unsere Vernunft nur fähig, diese Wirkli<strong>ch</strong>keit<br />
zu erkennen? Das kann und will i<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t glauben." (167). Und damit tönt das eigentli<strong>ch</strong>e<br />
Ziel des Romans an; es ist eine Kritik, der "Kritik der reinen Vernunft". Der Alleszermalmer,<br />
Eingeweihte erkennen darin den kantigen Verstand, kann eben do<strong>ch</strong> ni<strong>ch</strong>t<br />
alles zermalmen. Seine letzten Worte auf dem Sterbebett sollen gewesen sein: "Ni<strong>ch</strong>t<br />
alles läßt si<strong>ch</strong> zermalmen." Und Huizing fügt hinzu: "Bisher allerdings hat keiner der<br />
Biographen und Interpreten diese Worte ri<strong>ch</strong>tig gedeutet." (229). Und wo es in Gestalt<br />
einer uns<strong>ch</strong>einbaren S<strong>ch</strong>erbe so sehr um die den Sinnen und dem Verstand unzugängli<strong>ch</strong>e<br />
Realität geht, da kann au<strong>ch</strong> ein gewisser Geisterseher ni<strong>ch</strong>t allzu ferne sein …
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 153<br />
Handbu<strong>ch</strong> Religiöse Gemeins<strong>ch</strong>aften<br />
und Weltans<strong>ch</strong>auungen<br />
Handbu<strong>ch</strong> Religiöse Gemeins<strong>ch</strong>aften und Weltans<strong>ch</strong>auungen. Herausgegeben von Horst Reller,<br />
Hans Kre<strong>ch</strong> und Matthias Kleiminger. 5., neu bearbeitete und erweiterte Auflage <strong>2000</strong>. 168,00 DM<br />
- 1226 öS - 151,00 sfr.<br />
Das Handbu<strong>ch</strong> "Religiöse Gemeins<strong>ch</strong>aften und Weltans<strong>ch</strong>auungen" ist im August <strong>2000</strong><br />
in 5. völlig neu bearbeiteter und erweiterter Auflage auf den Bü<strong>ch</strong>ermarkt gekommen.<br />
Herausgeben wird es im Auftrag der Kir<strong>ch</strong>enleitung der Vereinigten Evangelis<strong>ch</strong>-Lutheris<strong>ch</strong>en<br />
Kir<strong>ch</strong>e Deuts<strong>ch</strong>lands (VELKD) von dem von der VELKD und dem<br />
Deuts<strong>ch</strong>en Nationalkomitee des Lutheris<strong>ch</strong>en Weltbundes (DNK/LWB) getragenen "Arbeitskreis<br />
Religiöse Gemeins<strong>ch</strong>aften". In den evangelis<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>en, im Religionsunterri<strong>ch</strong>t<br />
und darüber hinaus gilt dieses Handbu<strong>ch</strong>, das nunmehr au<strong>ch</strong> als CD-ROM verfügbar<br />
ist, als Standardwerk. Die Stellungnahmen sind von den geltenden Ordnungen<br />
des kir<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Lebens der Evangelis<strong>ch</strong>-lutheris<strong>ch</strong>en Kir<strong>ch</strong>e her entwickelt worden. Sie<br />
geben eine Orientierung im Umgang mit den religiösen Gemeins<strong>ch</strong>aften, tragen aber<br />
keinen kir<strong>ch</strong>enre<strong>ch</strong>tli<strong>ch</strong>en Charakter.<br />
Im Unters<strong>ch</strong>ied zur 4. Auflage 1993 ist die Neue Kir<strong>ch</strong>e in die Gruppe der Sondergemeins<strong>ch</strong>aften<br />
aufgenommen worden. Darunter versteht der Arbeitskreis "Gemeins<strong>ch</strong>aften,<br />
die teilweise Beziehungen zu den Kir<strong>ch</strong>en haben, aber Sonderlehren vertreten,<br />
die in einigen Fällen au<strong>ch</strong> sektiereris<strong>ch</strong>e Züge tragen; bei einigen dieser Gemeins<strong>ch</strong>aften<br />
sind die Mitglieder zuglei<strong>ch</strong> Glieder der Landeskir<strong>ch</strong>e". In der 4. Auflage<br />
gehörte die Neue Kir<strong>ch</strong>e no<strong>ch</strong> zu den Sekten, das heißt zu den "Gemeins<strong>ch</strong>aften, die mit<br />
<strong>ch</strong>ristli<strong>ch</strong>en Überlieferungen wesentli<strong>ch</strong>e außerbiblis<strong>ch</strong>e Wahrheits- und Offenbarungsquellen<br />
verbinden und in der Regel ökumenis<strong>ch</strong>e Beziehungen ablehnen". Der Artikel<br />
über die Neue Kir<strong>ch</strong>e ist sehr sa<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong> und kenntnisrei<strong>ch</strong> verfaßt.<br />
365 x Lebenskunst<br />
Im Gütersloher Verlagshaus ist "365 x Lebenskunst" in einer Auflage von 5000 Exemplaren<br />
ers<strong>ch</strong>ienen. Darin hat Horst Prießnitz Worte für jeden Tag von der Antike bis in<br />
die Gegenwart zusammengestellt. Au<strong>ch</strong> der folgende Text von Helen Keller, aus "Li<strong>ch</strong>t<br />
in mein Dunkel" (Swedenborg Verlag) wurde als Wegzehrung für den 4. November aufgenommen:<br />
"Wahrli<strong>ch</strong>, i<strong>ch</strong> habe in den Abgrund der Finsternis ges<strong>ch</strong>aut, aber mi<strong>ch</strong> ihrem<br />
lähmenden Einfluß ni<strong>ch</strong>t ergeben; im Geiste gehöre i<strong>ch</strong> zu denen, die im Morgenli<strong>ch</strong>t<br />
wandeln. Was hat das zu bedeuten, wenn alle dunklen, entmutigenden Stimmun-
OFFENE TORE: Jahrbu<strong>ch</strong> <strong>2000</strong> 154<br />
gen des mens<strong>ch</strong>li<strong>ch</strong>en Gemüts mi<strong>ch</strong> überfallen und mi<strong>ch</strong> so di<strong>ch</strong>t umwehen, wie die<br />
trockenen Blätter im Herbst? Andere sind vor mir diese Straße dahin gezogen, und i<strong>ch</strong><br />
weiß, daß dur<strong>ch</strong> die Wüste ebenso si<strong>ch</strong>er ein Weg zu Gott führt wie dur<strong>ch</strong> erfris<strong>ch</strong>ende<br />
grüne Auen und fru<strong>ch</strong>tbare Obstgärten. Au<strong>ch</strong> i<strong>ch</strong> bin tief gedemütigt worden und mußte<br />
mir meine Kleinheit inmitten der Grenzenlosigkeit der S<strong>ch</strong>öpfung eingestehen. Je mehr<br />
i<strong>ch</strong> lerne, desto weniger meine i<strong>ch</strong> zu wissen und je besser i<strong>ch</strong> die Erlebnisse zu werten<br />
weiß, die mir meine Sinne vermitteln, desto deutli<strong>ch</strong>er werden mir deren Mängel bewußt<br />
und ihre Unzulängli<strong>ch</strong>keit als Lebensgrundlage. Hin und wieder stehen mir die<br />
Gesi<strong>ch</strong>tspunkte des Optimisten und des Pessimisten so ges<strong>ch</strong>ickt ausgewogen vor Augen,<br />
daß i<strong>ch</strong> alle Geisteskraft benötige, um den Halt an einer praktis<strong>ch</strong>en Lebensphilosophie<br />
ni<strong>ch</strong>t zu verlieren, die mir ermögli<strong>ch</strong>t zu leben. Aber i<strong>ch</strong> gebrau<strong>ch</strong>e meinen Willen,<br />
erwähle das Leben und weise sein Gegenteil, das Ni<strong>ch</strong>ts, zurück."<br />
Gerhard Gollwitzer<br />
Im Süden, insbesondere in Stuttgart, verbindet si<strong>ch</strong> mit der Deuts<strong>ch</strong>en Swedenborg-Gesells<strong>ch</strong>aft<br />
au<strong>ch</strong> der Name Gollwitzer. Gerhard Gollwitzer, Bruder des Berliner<br />
Theologen Helmut, war hier lange Vorsitzender und prägende Persönli<strong>ch</strong>keit. Daher sei<br />
auf das folgende Bu<strong>ch</strong> hingewiesen: Helmut Gollwitzer: Skizzen eines Lebens: aus verstreuten<br />
Selbstzeugnissen gefunden und verbunden von Friedri<strong>ch</strong>-Wilhelm Marquardt,<br />
Guetersloh 1998. Der Bruder Gerhard wird mehrmals mit Hinweis auf die "mystis<strong>ch</strong>e<br />
Theologie Emanuel Swedenborgs" erwähnt.<br />
Bernhard Lang<br />
Bernhard Lang ist uns dur<strong>ch</strong> "Der Himmel: Eine Kulturges<strong>ch</strong>i<strong>ch</strong>te des ewigen Lebens",<br />
Frankfurt am Main 1990 bekannt, weil er in diesem Bu<strong>ch</strong> Swedenborgs Bedeutung bei<br />
der Geburt der modernen Himmelsvorstellung ausführli<strong>ch</strong> gewürdigt hat. Daher wird es<br />
unsere Leser interessieren, daß Professor Lang nun au<strong>ch</strong> eine Studie für die englis<strong>ch</strong>e<br />
Ausgabe von Swedenborgs "Himmel und Hölle" ges<strong>ch</strong>rieben hat, das im September<br />
<strong>2000</strong> bei der Swedenborg Foundation ers<strong>ch</strong>ienen ist.<br />
Swedenborg Zentrum, Apollostrasse 2, CH - 8032 Züri<strong>ch</strong><br />
S<strong>ch</strong>riftleitung: Thomas Noack