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NACHRUF<br />
Achtsamkeit ist alles<br />
Der Name Thich Nhat Hanh ist aus den Regalen der Orell-Füssli-Buchhandlungen<br />
nicht wegzudenken. Die Lehren, Konzepte und Gedanken des kürzlich verstorbenen<br />
vietnamesischen Mönchs sind zeitlos und gehen weit über das Thema Selbsthilfe hinaus.<br />
Sie wollen dabei helfen, die Welt für alle zu einem besseren Ort zu machen.<br />
TEXT: ERIK BRÜHLMANN<br />
Am 22. Januar 2<strong>02</strong>2 starb in einem buddhistischen<br />
Kloster in Vietnam ein Mönch im<br />
Alter von 95 Jahren. Das wäre wohl nicht<br />
einmal in Vietnam einer Meldung wert gewesen,<br />
hätte es sich bei diesem Mönch<br />
nicht um Thich Nhat Hanh gehandelt, den<br />
neben dem Dalai Lama wohl bekanntesten<br />
und einflussreichsten Vertreter der buddhistischen<br />
Lehre der Neuzeit. Thay – Lehrer<br />
–, wie er von seinen Schülern genannt<br />
wurde, starb an dem Ort, an dem er im Alter<br />
von 16 Jahren zum Mönch ordiniert worden<br />
war. Der Kreis hatte sich geschlossen.<br />
Mit der Lehre zu den Menschen gehen<br />
Zeit seines Mönchslebens war Thich Nhat<br />
Hanh ein Vertreter des engagierten Buddhismus.<br />
Statt sich in die Einsamkeit eines Klosters<br />
zurückzuziehen, zog er es vor, zu den<br />
Menschen zu gehen und seine Lehren zu verbreiten.<br />
Er war einer der ersten sechs Mönche<br />
Vietnams, die ein Fahrrad fuhren. In den<br />
1950er-Jahren engagierte sich Thay in der<br />
Bewegung zur Erneuerung des Buddhismus.<br />
Er studierte in den frühen 1960er-Jahren in<br />
den USA in Princeton und an der Columbia<br />
University, bevor er in seine Heimat zurückkehrte<br />
und dort den Intersein-Orden und die<br />
Schule der Jugend für Soziale Dienste (SYSS)<br />
begründete. Der Orden verstand sich während<br />
des Vietnamkriegs als spirituelle Widerstandsbewegung,<br />
die Schule half den<br />
Dörfern auf dem Land beim Wiederaufbau<br />
von Schulen und Krankenhäusern. Thich<br />
Nhat Han war zum sozialen Aktivisten geworden,<br />
der bald in Europa und den USA für<br />
den Frieden warb und ein Ende des Kriegs<br />
forderte. Er traf Martin Luther King, der ihn<br />
1967 für den Friedensnobelpreis nominierte.<br />
Die Folge: Nord- und Südvietnam erklärten<br />
Thay zur Persona non grata; von nun an<br />
musste der Mönch im Exil leben.<br />
Plum Village<br />
Thich Nhat Han hörte nicht auf, seine Botschaft<br />
von Frieden und Brüderlichkeit zu<br />
Der vietnamesische Mönch Thich Nhat Hanh (1926–2<strong>02</strong>2)<br />
veröffentlichte in seinem langen Leben über 100 Bücher.<br />
verbreiten. 1969 leitete er gar die buddhistische<br />
Delegation bei den Pariser Friedensgesprächen<br />
– in dem Land, das bald für viele<br />
Jahre seine Heimat werden sollte. 1975<br />
gründete er in der Nähe von Paris die<br />
Sweet-Potato-Gemeinschaft, sieben Jahre<br />
später Plum Village östlich von Bordeaux,<br />
das sich von einem ländlichen Gehöft zum<br />
heute wohl grössten und bekanntesten buddhistischen<br />
Kloster des Westens entwickelte.<br />
200 Mönche und Nonnen unterweisen<br />
dort jedes Jahr rund 10 000 Menschen in der<br />
Kunst des achtsamen Lebens. Auch Thich<br />
Nhat Han lehrte hier viele Jahre lang, zudem<br />
war er ein gefragter Redner auf internationalen<br />
Bühnen und Kongressen. 2005<br />
durfte der Mönch sogar das erste Mal wieder<br />
nach Vietnam reisen. 2014 fand seine<br />
Tätigkeit jedoch ein jähes Ende. Kurz nach<br />
seinem 88. Geburtstag erlitt Thay einen<br />
Schlaganfall. Er zog sich aus der Öffentlichkeit<br />
zurück und verbrachte die letzten Jahre<br />
seines Lebens in der Abgeschiedenheit des<br />
Tu-Hieu-Tempels in Vietnam.<br />
Ein Teil des grossen Ganzen<br />
Thich Nhat Han veröffentlichte Zeit seines<br />
Lebens unzählige Bücher, mit denen er<br />
den Menschen in aller Welt sein Verständnis<br />
von Buddhismus näherbringen wollte.<br />
Ein zentrales Element ist dabei die Achtsamkeit,<br />
ein Begriff, der heute ebenso überstrapaziert<br />
ist wie «Nachhaltigkeit». Anders<br />
als bei den meisten Selbsthilfegurus<br />
dient Achtsamkeit bei Thich Nhat Han<br />
nicht einfach der Selbstoptimierung. «Alles,<br />
was wir für uns selbst tun, tun wir auch<br />
für andere, und alles, was wir für andere<br />
tun, tun wir auch für uns selbst», sagte er<br />
einmal. Oder wie es der englische Schrift-<br />
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