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TE KW 27

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K ULTUR<br />

Michael Köhlmeier braucht man eigentlich nicht vorzustellen:<br />

mehr als 80 Bücher hat er veröffentlicht, darunter so Großartiges<br />

wie „Abendland“, „Geschwister Lenobel“ oder jüngst „Matou“.<br />

Neben der großen Romanform liebt er auch die kleinen lyrischen<br />

Texte, ist ein ausgewiesener Märchenspezialist und Sagenkenner<br />

und hat, wie er selbst gesteht, einen kleinen Hang zur Albernheit.<br />

Von Lia Buchner<br />

Michael Köhlmeier klettert auf<br />

die Bühne des großen Rathaussaals<br />

in Telfs – und ist leicht verstimmt.<br />

Einiges an diesem Leseabend hatte<br />

sich anders entwickelt, als erwartet:<br />

Lorenz Helfer, sein Sohn, Maler<br />

und Illustrator einiger seiner Bücher,<br />

konnte ihn unerwartet nicht<br />

nach Telfs begleiten. Frajo Köhle,<br />

der die Lesung musikalisch veredeln<br />

sollte, sagte knapp vor der<br />

Veranstaltung wegen eines Trauerfalls<br />

ab. Nun also sitzt Köhlmeier<br />

mit Robert Renk von der Wagnerschen<br />

Buchhandlung allein auf<br />

der Bühne. Renk lenkt mit einigen<br />

geschickten Fragen die Aufmerksamkeit<br />

auf die beiden letzterschienenen<br />

Bücher, „Gedankenspiele<br />

über das Gelingen“ und „Dr. Melchiors<br />

lustige Tiere“, Köhlmeier<br />

liest ein, zwei Absätze – und das<br />

Wunder geschieht. Die Lust am<br />

Text, die Lust am Erzählen wischt<br />

die Verstimmung fort, als sei sie nie<br />

dagewesen. Köhlmeier beginnt zu<br />

erzählen.<br />

ÜBER DEN HECHT. Wie „Dr.<br />

Melchiors lustige Tiere“ als Weihnachtsgeschenk<br />

von 100 Vierzeilern<br />

für seinen Sohn Lorenz entstanden<br />

ist, der einen ähnlichen Humor<br />

hat wie er, was dann manchmal<br />

zu Albernheiten der beiden und<br />

einem strengen Blick von Monika<br />

Helfer führt („Wir haben sehr<br />

viel gelacht“). Wie der Reim dieser<br />

Kurzgedichte über Tiere („auch unbeliebte<br />

wie der Bandwurm“) ihm<br />

einen strengen sprachlichen Weg<br />

aufzwang und gedankliche Umwege<br />

nötig machte („nicht auf jedes Wort<br />

reimt sich etwas“). Beispiel? „Warum<br />

erscheint uns grad der Hecht<br />

/ So ehrlich glaubwürdig und echt<br />

/ Der eine meint, es bleibt geheim<br />

/ Der andre sagt, es liegt am Reim.“<br />

Mit Hang zur Albernheit<br />

Michael Köhlmeier zu Gast in der Bücherei Telfs<br />

ÜBER BOB DYLAN. Dass der<br />

Reim an sich etwas aus der Mode<br />

gekommen zu sein scheint, oder<br />

besser: sich in die Songtexte verlagert<br />

hat, wo er ja auch herkommt,<br />

da Lyrik von Lyra kommt, einem<br />

Vorläuferinstrument der Gitarre<br />

und folgerichtig Bob Dylan die<br />

Urform des Lyrikers darstellt und<br />

der Literaturnobelpreis an ihn auf<br />

jeden Fall in Ordnung geht.<br />

ÜBER DIE ERZÄHLLUST.<br />

Wie er als Kind in einer erzählenden<br />

Familie aufgewachsen ist:<br />

Die Großmutter erzählte ihm Märchen,<br />

bei denen er nie genau wusste,<br />

ob sie erfunden sind oder der<br />

Nachbarin gerade passiert waren.<br />

Der Vater, ein Historiker, erzählte<br />

ihm die Weltgeschichte (Achtung:<br />

griechische Mythologie), als ob er<br />

persönlich dabei gewesen wäre. Die<br />

Mutter erzählte gegen ihr Heimweh<br />

an, die lesewütige Schwester<br />

gab ihm nach jedem Kapitel eine<br />

Zusammenfassung. Kurz: Michael<br />

Köhlmeier war als Kind zum Zuhören<br />

verdammt – und lacht sehr,<br />

dass gerade er dann Schriftsteller<br />

geworden ist.<br />

ÜBER DIE KLEINEN FOR-<br />

MEN. Apropos Märchen. Märchen<br />

sind „wie Schwarzbrot für einen<br />

Schriftsteller, wie die Primzahlen<br />

der Literatur“. Sie zeigen, wie Texte<br />

funktionieren. Allein das einleitende<br />

„Es war einmal“ setzt für jegliches<br />

Schicksal den Präzedenzfall<br />

in der Vergangenheit: jemandem<br />

anderen ist es auch schon so ergangen,<br />

also bin ich nicht allein mit<br />

meinem Erleben. Und erweitert gilt<br />

das auch für den Roman: was den<br />

Buddenbrocks schon passiert ist,<br />

kann für mich also gar nicht mehr<br />

völlig neu und gefährlich sein.<br />

Oder die zweite, lehrreiche kleine<br />

Form, der Witz. „Der Witz ist ein<br />

Miniatur-Drama“ mit einer klaren<br />

Dreiakter Struktur: Anfang – Höhepunkt<br />

– Pointe. Gute Witzeerzähler<br />

haben auch immer ein gutes<br />

Gespür für Dramaturgie. „Als Autor<br />

kann man so viel vom Witz lernen,<br />

vor allem, dass es oft weniger auf<br />

den Inhalt, als auf die Form ankommt,<br />

denn wie schnell ein Witz<br />

Zu Gast in der Bücherei Telfs (v.l.): Matou, Robert Renk, Michael Köhlmeier.<br />

durch schlechtes Erzählen vergeigt<br />

ist, hat jeder schon erlebt.“<br />

ÜBER MATOU. Wie die Hauptfigur<br />

in Köhlmeiers letztem Roman<br />

„Matou“ – ein Kater mit sieben Leben<br />

– einen neuen Namen bekam,<br />

nämlich Matou. Denn während<br />

des vierjährigen Schreibprozesses<br />

hieß der Kater „Monsieur Katerchen“,<br />

was für Köhlmeier auch immer<br />

als Titel des Romans feststand.<br />

Bis der Verlag („und diesen Leuten<br />

vertraue ich blind“) befand, das<br />

klänge einfach zu sehr nach Kinderbuch.<br />

Wie nach ein paar Schockminuten<br />

die gemeinsame Suche nach<br />

einem geeigneten Namen losging,<br />

bis irgendwer „Matou“ vorschlug,<br />

die familiäre französische Form für<br />

Kater. Das Matou-Porträt auf dem<br />

Cover des Buches hat übrigens Monika<br />

Helfer gezeichnet.<br />

ÜBER SCHRIFTS<strong>TE</strong>LLER.<br />

Köhlmeiers Exkurse zwischen<br />

den sehr erheiternden Vierzeiler-<br />

Lesungen aus „Dr. Melchiors lustige<br />

Tiere“ streifen natürlich auch<br />

Schriftstellerkollegen, wenn man<br />

das so salopp zu einem wie Thomas<br />

Mann sagen darf. Manns legendär<br />

straffer Zeitplan – vormittags schreiben,<br />

nachmittags Korrespondenz<br />

und bitte Stille im Haus – oder<br />

Manns Zuneigung zu Kindern, die<br />

er so feinfühlig beschreiben konnte.<br />

Auch an Monika Helfer, seiner<br />

Frau und Autorin der wunderbaren<br />

autobiografischen Trilogie „Die<br />

Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“,<br />

bewundert er diese Fähigkeit, sich<br />

100 Vierzeiler über Tiere. „Auch Kalauer<br />

dürfen sein.“ <br />

RS-Fotos: Buchner<br />

in Kinderseelen hineinzuversetzen.<br />

Und was man als Schrifstellerpaar<br />

voneinander lernen kann. Und warum<br />

die „Non-Maigret“-Romane<br />

von Georges Simenon so großartig<br />

atmosphärisch sind. Und…<br />

NOCH EIN VIERZEILER.<br />

Zum Abschluss noch ein letzter<br />

Vierzeiler, der nach einem weiteren<br />

namhaften Schriftstellerkollegen<br />

klingt:<br />

Bedenke Haifisch, was du tust /<br />

Wenn du nicht rastest und nicht<br />

ruhst / Sag, spürst du nicht den<br />

Wipfelhauch / Du Mörder, wart,<br />

bald ruhst du auch.<br />

Wer Dr. Melchior ist, konnte übrigens<br />

nicht aufgeklärt werden.<br />

RUNDSCHAU Seite 24 6./7. Juli 2022

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