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K ULTUR<br />
Michael Köhlmeier braucht man eigentlich nicht vorzustellen:<br />
mehr als 80 Bücher hat er veröffentlicht, darunter so Großartiges<br />
wie „Abendland“, „Geschwister Lenobel“ oder jüngst „Matou“.<br />
Neben der großen Romanform liebt er auch die kleinen lyrischen<br />
Texte, ist ein ausgewiesener Märchenspezialist und Sagenkenner<br />
und hat, wie er selbst gesteht, einen kleinen Hang zur Albernheit.<br />
Von Lia Buchner<br />
Michael Köhlmeier klettert auf<br />
die Bühne des großen Rathaussaals<br />
in Telfs – und ist leicht verstimmt.<br />
Einiges an diesem Leseabend hatte<br />
sich anders entwickelt, als erwartet:<br />
Lorenz Helfer, sein Sohn, Maler<br />
und Illustrator einiger seiner Bücher,<br />
konnte ihn unerwartet nicht<br />
nach Telfs begleiten. Frajo Köhle,<br />
der die Lesung musikalisch veredeln<br />
sollte, sagte knapp vor der<br />
Veranstaltung wegen eines Trauerfalls<br />
ab. Nun also sitzt Köhlmeier<br />
mit Robert Renk von der Wagnerschen<br />
Buchhandlung allein auf<br />
der Bühne. Renk lenkt mit einigen<br />
geschickten Fragen die Aufmerksamkeit<br />
auf die beiden letzterschienenen<br />
Bücher, „Gedankenspiele<br />
über das Gelingen“ und „Dr. Melchiors<br />
lustige Tiere“, Köhlmeier<br />
liest ein, zwei Absätze – und das<br />
Wunder geschieht. Die Lust am<br />
Text, die Lust am Erzählen wischt<br />
die Verstimmung fort, als sei sie nie<br />
dagewesen. Köhlmeier beginnt zu<br />
erzählen.<br />
ÜBER DEN HECHT. Wie „Dr.<br />
Melchiors lustige Tiere“ als Weihnachtsgeschenk<br />
von 100 Vierzeilern<br />
für seinen Sohn Lorenz entstanden<br />
ist, der einen ähnlichen Humor<br />
hat wie er, was dann manchmal<br />
zu Albernheiten der beiden und<br />
einem strengen Blick von Monika<br />
Helfer führt („Wir haben sehr<br />
viel gelacht“). Wie der Reim dieser<br />
Kurzgedichte über Tiere („auch unbeliebte<br />
wie der Bandwurm“) ihm<br />
einen strengen sprachlichen Weg<br />
aufzwang und gedankliche Umwege<br />
nötig machte („nicht auf jedes Wort<br />
reimt sich etwas“). Beispiel? „Warum<br />
erscheint uns grad der Hecht<br />
/ So ehrlich glaubwürdig und echt<br />
/ Der eine meint, es bleibt geheim<br />
/ Der andre sagt, es liegt am Reim.“<br />
Mit Hang zur Albernheit<br />
Michael Köhlmeier zu Gast in der Bücherei Telfs<br />
ÜBER BOB DYLAN. Dass der<br />
Reim an sich etwas aus der Mode<br />
gekommen zu sein scheint, oder<br />
besser: sich in die Songtexte verlagert<br />
hat, wo er ja auch herkommt,<br />
da Lyrik von Lyra kommt, einem<br />
Vorläuferinstrument der Gitarre<br />
und folgerichtig Bob Dylan die<br />
Urform des Lyrikers darstellt und<br />
der Literaturnobelpreis an ihn auf<br />
jeden Fall in Ordnung geht.<br />
ÜBER DIE ERZÄHLLUST.<br />
Wie er als Kind in einer erzählenden<br />
Familie aufgewachsen ist:<br />
Die Großmutter erzählte ihm Märchen,<br />
bei denen er nie genau wusste,<br />
ob sie erfunden sind oder der<br />
Nachbarin gerade passiert waren.<br />
Der Vater, ein Historiker, erzählte<br />
ihm die Weltgeschichte (Achtung:<br />
griechische Mythologie), als ob er<br />
persönlich dabei gewesen wäre. Die<br />
Mutter erzählte gegen ihr Heimweh<br />
an, die lesewütige Schwester<br />
gab ihm nach jedem Kapitel eine<br />
Zusammenfassung. Kurz: Michael<br />
Köhlmeier war als Kind zum Zuhören<br />
verdammt – und lacht sehr,<br />
dass gerade er dann Schriftsteller<br />
geworden ist.<br />
ÜBER DIE KLEINEN FOR-<br />
MEN. Apropos Märchen. Märchen<br />
sind „wie Schwarzbrot für einen<br />
Schriftsteller, wie die Primzahlen<br />
der Literatur“. Sie zeigen, wie Texte<br />
funktionieren. Allein das einleitende<br />
„Es war einmal“ setzt für jegliches<br />
Schicksal den Präzedenzfall<br />
in der Vergangenheit: jemandem<br />
anderen ist es auch schon so ergangen,<br />
also bin ich nicht allein mit<br />
meinem Erleben. Und erweitert gilt<br />
das auch für den Roman: was den<br />
Buddenbrocks schon passiert ist,<br />
kann für mich also gar nicht mehr<br />
völlig neu und gefährlich sein.<br />
Oder die zweite, lehrreiche kleine<br />
Form, der Witz. „Der Witz ist ein<br />
Miniatur-Drama“ mit einer klaren<br />
Dreiakter Struktur: Anfang – Höhepunkt<br />
– Pointe. Gute Witzeerzähler<br />
haben auch immer ein gutes<br />
Gespür für Dramaturgie. „Als Autor<br />
kann man so viel vom Witz lernen,<br />
vor allem, dass es oft weniger auf<br />
den Inhalt, als auf die Form ankommt,<br />
denn wie schnell ein Witz<br />
Zu Gast in der Bücherei Telfs (v.l.): Matou, Robert Renk, Michael Köhlmeier.<br />
durch schlechtes Erzählen vergeigt<br />
ist, hat jeder schon erlebt.“<br />
ÜBER MATOU. Wie die Hauptfigur<br />
in Köhlmeiers letztem Roman<br />
„Matou“ – ein Kater mit sieben Leben<br />
– einen neuen Namen bekam,<br />
nämlich Matou. Denn während<br />
des vierjährigen Schreibprozesses<br />
hieß der Kater „Monsieur Katerchen“,<br />
was für Köhlmeier auch immer<br />
als Titel des Romans feststand.<br />
Bis der Verlag („und diesen Leuten<br />
vertraue ich blind“) befand, das<br />
klänge einfach zu sehr nach Kinderbuch.<br />
Wie nach ein paar Schockminuten<br />
die gemeinsame Suche nach<br />
einem geeigneten Namen losging,<br />
bis irgendwer „Matou“ vorschlug,<br />
die familiäre französische Form für<br />
Kater. Das Matou-Porträt auf dem<br />
Cover des Buches hat übrigens Monika<br />
Helfer gezeichnet.<br />
ÜBER SCHRIFTS<strong>TE</strong>LLER.<br />
Köhlmeiers Exkurse zwischen<br />
den sehr erheiternden Vierzeiler-<br />
Lesungen aus „Dr. Melchiors lustige<br />
Tiere“ streifen natürlich auch<br />
Schriftstellerkollegen, wenn man<br />
das so salopp zu einem wie Thomas<br />
Mann sagen darf. Manns legendär<br />
straffer Zeitplan – vormittags schreiben,<br />
nachmittags Korrespondenz<br />
und bitte Stille im Haus – oder<br />
Manns Zuneigung zu Kindern, die<br />
er so feinfühlig beschreiben konnte.<br />
Auch an Monika Helfer, seiner<br />
Frau und Autorin der wunderbaren<br />
autobiografischen Trilogie „Die<br />
Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“,<br />
bewundert er diese Fähigkeit, sich<br />
100 Vierzeiler über Tiere. „Auch Kalauer<br />
dürfen sein.“ <br />
RS-Fotos: Buchner<br />
in Kinderseelen hineinzuversetzen.<br />
Und was man als Schrifstellerpaar<br />
voneinander lernen kann. Und warum<br />
die „Non-Maigret“-Romane<br />
von Georges Simenon so großartig<br />
atmosphärisch sind. Und…<br />
NOCH EIN VIERZEILER.<br />
Zum Abschluss noch ein letzter<br />
Vierzeiler, der nach einem weiteren<br />
namhaften Schriftstellerkollegen<br />
klingt:<br />
Bedenke Haifisch, was du tust /<br />
Wenn du nicht rastest und nicht<br />
ruhst / Sag, spürst du nicht den<br />
Wipfelhauch / Du Mörder, wart,<br />
bald ruhst du auch.<br />
Wer Dr. Melchior ist, konnte übrigens<br />
nicht aufgeklärt werden.<br />
RUNDSCHAU Seite 24 6./7. Juli 2022