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Straubenhardt_2022

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Jetzt ist Weihnachten – eine Weihnachtsgeschichte<br />

Es war sechs Wochen vor Weihnachten, als Frau Klein<br />

das schwarzhaarige Mädchen in die erste Schulstunde<br />

mitbrachte. Schüchtern schaute es auf den Boden.<br />

„Meine Lieben, das ist Bahira, eure neue Mitschülerin“,<br />

stellte die Lehrerin sie vor. „Bahira ist aus Syrien mit ihrer<br />

Mutter nach Deutschland gekommen und möchte hier<br />

ein neues Zuhause finden. Sophie, darf sie sich neben<br />

dich setzen?“ Sophie zuckte zusammen. „Zu mir? Ja,<br />

warum nicht?“, stammelte sie.<br />

Bald war das Mädchen mit den großen, dunklen Augen<br />

ihre beste Freundin. In der Pause spielten sie Gummi twist<br />

oder tauschten Dinge aus ihren Vesperdosen. Schon<br />

nach kurzer Zeit war Bahira nicht mehr so schüchtern<br />

und fand noch mehr Freundinnen. Nur von ihrer Heimat<br />

sprach sie nicht gern. Wenn Sophie sie nach etwas fragte,<br />

wurde sie traurig und sagte: „Ist schön, aber gefährlich,<br />

ist Krieg. Meine Bruder noch da, habe ich große Angst.“<br />

Sophie dachte an ihren kleinen Bruder Leon, wie schön<br />

er es hatte mit seinen Tausenden von Spielsachen.<br />

Die Weihnachtszeit hatte begonnen. Sophie liebte sie:<br />

Plätzchen backen, Kerzen ziehen, den Adventskranz<br />

binden, die vielen Lichter und leckeren Düfte. Sie buk<br />

mit Bahira Ausstecher und brachte ihr ein paar Weihnachtslieder<br />

bei, was nicht besonders gut klappte. Sie<br />

mussten viel lachen, weil Bahira schwierige Wörter wie<br />

„verkündigen“ oder „auserkoren“ so lustig aussprach.<br />

Aber sie mochte die Weihnachtszeit auch. „Wie feiert<br />

man eigentlich in Syrien Weihnachten?“, fragte Sophie<br />

sie einmal. „Es gibt nicht das bei uns“, sagte Bahira.<br />

„Feiern andere Sachen“, ergänzte sie schnell.<br />

Eines Abends lag Sophie im Bett, draußen fiel leise<br />

Schnee vom Himmel. An ihrem Adventskalender waren<br />

noch fünf Türchen verschlossen. Mit einem Mal durchfuhr<br />

sie ein Gedanke, der sie nicht mehr losließ: Wenn<br />

es Weihnachten in Syrien nicht gab, wie verbrachte<br />

Bahira dann überhaupt Heiligabend? Das bedeutete ja,<br />

dass sie keinen Weihnachtsbaum hatte, den sie schmücken<br />

konnte, keine Lieder sang und vielleicht gar keine<br />

Geschenke bekam? Sophie machte dieser Gedanke<br />

traurig und sie beschloss, dass das nicht ging.<br />

Der nächste Tag war ein Samstag und sie saß mit ihren<br />

Eltern beim Frühstück. „Bei Bahira gibt es gar kein Weihnachten!“,<br />

erzählte sie bestürzt. „Ja, mein Schatz“, antwortete<br />

ihre Mutter. Sophie war aufgebracht darüber, dass<br />

sie das so gleichgültig sagte. „Aber das geht doch nicht!<br />

Sie hat dann keinen Christbaum und keine Geschenke<br />

und …“ – „Das ist Bahira auch nicht so wichtig“, sagte ihr<br />

Papa, „sie sind Muslime, die feiern kein Weihnachten.“<br />

Sophie ärgerte sich noch mehr. „Woher willst du denn<br />

wissen, ob es ihr wichtig ist? Ich möchte, dass Bahira mit<br />

uns Weihnachten feiert!“, sagte Sophie entschlossen.<br />

„Das kommt überhaupt nicht infrage“, erwiderte Papa<br />

und auch Mama schüttelte den Kopf. „Nein, Sophie,<br />

Weihnachten ist ein Familienfest“, erklärte ihre Mutter.<br />

„Bahiras Familie ist aber nicht da, sie sind im Krieg! Und<br />

Pfarrer Peters hat gesagt, Weihnachten ist das Fest des<br />

Friedens und der Liebe!“ Ihr Vater legte seine Zeitung zur<br />

Seite und schaute Sophie streng an. „Wir sind doch kein<br />

Wohlfahrtsverband.“ Sophie wusste zwar nicht, was das<br />

ist, aber sie merkte, dass für ihn das Gespräch beendet<br />

war.<br />

Dann kam Heiligabend. Papa, Oma, Sophie und Leon<br />

sahen sich das Krippenspiel der Kinderkirche an, Mama<br />

bereitete das Essen vor. Immer wieder dachte Sophie<br />

daran, wie traurig der Abend für Bahira sein musste. Zu<br />

Hause war der Tisch feierlich gedeckt, der Kartoffelsalat<br />

roch köstlich und der Baum strahlte in silbernem Glanz.<br />

Gerade wollte sich die Familie zum Essen hinsetzen, da<br />

klingelte es. „Was ist jetzt?“, fragte Sophie. „Jetzt ist Weihnachten!“,<br />

lächelte Mama und öffnete dem geladenen<br />

Gast die Tür.<br />

Die beiden Freundinnen erinnerten sich noch lange<br />

an diesen besonderen Weihnachtsabend, an dem ihre<br />

Kinderaugen um die Wette strahlten. ab/DEIKE<br />

Bild: Marion Söffker/DEIKE<br />

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