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One Day Magazin Ausgabe 2

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PROSOCIAL<br />

in Sierra Leone<br />

Im ersten <strong>Magazin</strong> von <strong>One</strong> <strong>Day</strong> habe ich schon kurz über die Arbeit von „commit and act“ mit Prosocial während der Ebola-Epidemie berichtet.<br />

Durch die Covid-Pandemie können wir uns inzwischen besser in die Menschen in Sierra Leone hineinversetzen.<br />

Manchmal wünsche ich mir, wir wären in Deutschland in der Pandemie so fortschrittlich und aufgeschlossen wie unsere Partner*innen in Sierra<br />

Leone, was neue Methoden wie „Prosocial“ betrifft. Dann könnten wir unsere eigenen Probleme kreativer und effizienter angehen. Die Erfahrungen<br />

mit Prosocial in unseren Projekten und Erfahrungsberichte von Kolleginnen und Kollegen weltweit aus unterschiedlichsten Bereichen -<br />

Schulen, Konzernen, öffentlichen Institutionen, Sport etc. - zeigen die vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten und die Wirksamkeit von Prosocial.<br />

Gehen wir noch mal ein paar Schritte zurück in der Zeit, ins Jahr 2014.<br />

Stell Dir vor, Du verlierst deinen liebsten<br />

Menschen durch den Ebola-Virus und<br />

darfst den Körper nicht einmal in einer feierlichen<br />

Zeremonie besetzen. Es kommen<br />

Menschen, die du noch nie gesehen hast, mit<br />

Anzügen wie Raumfahrer. Sie nehmen Dir den<br />

Körper des geliebten Menschen weg und verscharren<br />

ihn in einem Massengrab. Deine tief<br />

verwurzelte Kultur sagt, Du sollst den Verstorbenen<br />

waschen, ölen und in schöne Tücher<br />

hüllen. Alle Verwandten und Freunde sollen ihm<br />

die letzte Ehre erweisen und gemeinsam mit dir<br />

trauern. Aber auch das ist nicht erlaubt. Der<br />

Körper wird abgeholt, in eine Plastiktüte<br />

gesteckt und weggebracht. Eine Frau, die<br />

genau dies durchlebte, sagte in einem unserer<br />

Workshops zu mir, die traditionellen Riten nicht<br />

durchführen zu dürfen, sei für sie mindestens so<br />

schmerzhaft gewesen, wie ihren Bruder durch<br />

Ebola zu verlieren.<br />

Stell dir weiter vor du lebst in einer Großfamilie,<br />

mit vielen Familienmitgliedern unter einem<br />

Dach. Auf kleinem Raum, mit ein oder zwei Zimmern.<br />

Es ist heiß, es gibt weder fließendes<br />

Wasser noch Elektrizität, daher auch kein<br />

Fernsehen und keine Zerstreuung. Da ihr so arm<br />

seid, könnt ihr keine Essensvorräte anlegen. Bei<br />

einem Lockdown oder wenn ein Familienmitglied<br />

infiziert ist und die anderen in Quarantäne<br />

müssen, hungert ihr. Ihr sollt für drei Wochen in<br />

eurer Hütte bleiben. Um eure Ernährung küm-<br />

Seite 113<br />

mert sich niemand. Ihr wisst nicht genau, was<br />

ein Virus überhaupt ist und wie er sich verbreitet.<br />

Es erklärt euch auch keiner, warum die<br />

dreiwöchige Quarantäne so wichtig ist. Wenn<br />

innerhalb dieser Zeit ein weiteres Familienmitglied<br />

erkrankt, verlängert sich die Quarantäne<br />

um weitere drei Wochen.<br />

Das waren die Umstände, die unser Team um<br />

Hannah Bockarie zu Beginn der Ebola-<br />

Epidemie in Sierra Leone erlebte. Hannah und<br />

ich waren fast täglich in Kontakt und überlegten,<br />

wie wir unsere psychotherapeutischen<br />

Methoden zur Verhaltensänderung für diese<br />

Notsituation anpassen könnten. Wir wussten<br />

bereits aus Projekten mit Frauengruppen, dass<br />

Prosocial wirksam ist, wenn es darum geht, das<br />

Verhalten auch in großen Gruppen in Richtung<br />

Selbstverantwortung und Zusammenarbeit<br />

zum Wohl aller Gruppenmitglieder zu verändern.<br />

Vielleicht interessiert es dich, wie Prosocial<br />

überhaupt entstanden ist. Den Anstoß gab die<br />

Wirtschaftswissenschaftlerin Elinor Ostrom,<br />

deren Leidenschaft war herauszufinden, warum<br />

bestimmte Gruppen über Jahrzehnte hinweg<br />

gut zusammen arbeiteten, während andere<br />

Gruppen irgendwann zerbrachen, v.a. weil sie<br />

von einzelnen Gruppenmitgliedern ausgebeutet<br />

wurden und somit die individuellen Interessen<br />

über die gemeinschaftlichen Interessen die<br />

Oberhand gewannen. Die Prinzipien, die Elinor<br />

Ostrom in ihrer jahrzehntelangen, weltweiten<br />

Forschungsarbeit herauskristallisierte sind überraschend<br />

verständlich, pragmatisch und universell.<br />

Ihre Arbeit war bahnbrechend und warf<br />

ein ganz neues Licht auf vermeintliche Gewissheiten<br />

über unser Wirtschaftssystem und das<br />

menschliche Verhalten, so dass Elinor Ostrom<br />

2009 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften<br />

erhielt.<br />

Zwei weitere herausragende Wissenschaftler<br />

erkannten das Potential dieses Ansatzes für<br />

Gruppen aller Art, der Evolutionswissenschaftler<br />

David Sloan Wilson und der Verhaltenswissenschaftler<br />

Steven C. Hayes, einer der meistzitierten<br />

Psychologen unserer Zeit. Beide verbindet<br />

die Vision, das Leiden von Menschen zu<br />

verringern und Lösungen für die enormen Probleme<br />

zu finden, die uns weltweit bedrohen: die<br />

Klimaerwärmung, die fortschreitende Umweltzerstörung,<br />

Kriege und unzählige Geflüchtete,<br />

Armut, Hunger, Pandemien… die Liste<br />

ist lang.<br />

Es begann eine fruchtbare Kooperation zwischen<br />

den drei Forscher*innen und inzwischen<br />

sind tausende Menschen weltweit in die Weiterentwicklung<br />

und Anwendung von Prosocial involviert.<br />

Ein befreundeter australischer Kollege,<br />

Paul Atkins, hat ein tolles Buch zusammen mit<br />

Wilson und Hayes geschrieben, in dem die Prin-<br />

zipien und Anwendungsmöglichkeiten mit<br />

vielen Beispielen sehr gut erklärt werden (Prosocial:<br />

Using evolutionary science to build productive,<br />

equitable, and collaborative groups.<br />

2019, Context Press).<br />

Fakt ist, dass komplexe Probleme in allen<br />

Lebensbereichen die Zusammenarbeit in Gruppen<br />

erfordern und dass dabei immer wieder die<br />

gleichen Probleme auftreten. Gruppenmitglieder<br />

haben beispielsweise unterschiedliche<br />

Vorstellungen über gemeinsame Ziele oder<br />

über den Weg dorthin; Konflikte, Rechthaberei<br />

und Machtkämpfe verhindern eine effiziente<br />

Zusammenarbeit; einzelne Gruppenmitglieder<br />

verschaffen sich persönliche Vorteile zum<br />

Nachteil der anderen; unsoziales Verhalten<br />

bleibt ohne Konsequenzen; einige rackern sich<br />

ab, andere machen es sich bequem oder erteilen<br />

lediglich gute Ratschläge. Vielleicht<br />

erkennst du einiges davon aus eigenen Erfahrungen<br />

wieder.<br />

Prosocial stellt eine einfache Struktur zur Verfügung,<br />

die Gruppen hilft…<br />

1. mehr Bewusstheit über gemeinsame Werte<br />

sowie innere und äußere Barrieren zu<br />

gewinnen,<br />

2. die Beziehungen und die Sicherheit innerhalb<br />

der Gruppe zu verbessern und<br />

3. sinnvolle, stabilisierende Übereinkünfte in<br />

der Gruppe und mit wichtigen anderen Gruppen<br />

zu treffen.<br />

Ganz nebenbei beantworten wir auch die ewige<br />

Frage: “Was stimmt denn nun, sind Menschen<br />

egoistisch, selbstbezogen und beuten andere<br />

aus, wenn sich die Gelegenheit ergibt - oder<br />

sind Menschen im Grunde gut und sozial?”<br />

Die Antwort ist: es kommt darauf an :) Es kommt<br />

darauf an, welche Bedingungen wir schaffen,<br />

welches Verhalten belohnt wird oder für uns unangenehme<br />

Konsequenzen hat.<br />

Das Evolutionsprinzip „die/der Stärkere gewinnt“<br />

ist nur die halbe Wahrheit. Seit Menschen die<br />

Kooperation entdeckt haben, gibt es ein weiteres<br />

Prinzip: „die stärkste Gruppe gewinnt“. Und<br />

dieses Prinzip hatte so enorme Vorteile in der<br />

Evolution, dass sie uns Menschen zu all dem<br />

verholfen hat, was wir heute „Fortschritt“<br />

nennen, auch wenn keineswegs alles förderlich<br />

für ein gutes, gemeinsames Überleben ist, was<br />

unter diesem Namen passiert ist und noch<br />

heute geschieht. Unsere Fähigkeit zur Sprache<br />

ist vermutlich aus der Zusammenarbeit<br />

entstanden und noch heute wichtiger Teil einer<br />

gelingenden Zusammenarbeit - aber da sind<br />

sich die Forscher noch nicht ganz einig.<br />

Zuruck nach Bo, Sierra Leone:<br />

Ein Problem wie Ebola (oder Covid) kann ein einzelner<br />

Mensch nicht lösen. Dazu braucht es viele<br />

funktionierende Gruppen, die gut zusammenarbeiten.<br />

Prosocial während Ebola<br />

Durch Workshops in Prosocial in den Dörfern<br />

unseres Distrikts haben wir es geschafft, dass<br />

die Menschen selbst Lösungen für drängende<br />

Fragen gefunden haben, z.B. wie sie mit dem<br />

Konflikt umgehen sollen, dass sie ihre Toten<br />

unter allen Umständen ehren wollen, sich dabei<br />

jedoch fast sicher anstecken und damit ihre gesunden<br />

Familienmitglieder und sich selbst gefährden.<br />

Die Lösung hätte kein NGO-Mitarbeiter von<br />

außen finden können. Auf die Idee, den toten<br />

Körper durch den Stamm eines Bananenbaumes<br />

zu ersetzen, konnten nur die betroffenen<br />

Menschen selbst kommen. Und dies<br />

auch nur, weil sie in einer extrem bedrohlichen<br />

Situation, in der das Gehirn oft nicht mehr gut<br />

funktionieren kann, einen sicheren Raum in<br />

einem Workshop hatten, in dem sie in Ruhe<br />

kreativ werden konnten und offen alle inneren<br />

und äußeren Barrieren ansprechen konnten,<br />

ohne verurteilt zu werden. Weil sie wichtige Informationen<br />

über die Ansteckungsgefahren mit<br />

dem Virus lernten und zusätzlich zu den Vorgaben<br />

der Regierung in Sierra Leone weitere<br />

Regelungen finden konnten, die für ihre spezifischen<br />

Bedingungen geeignet waren, die Ansteckungsraten<br />

zu senken. Lösungen müssen<br />

lokal und individuell angepasst werden, um<br />

effizient zu sein. Ein abgelegenes Dorf im<br />

Dschungel muss andere Maßnahmen ergreifen<br />

als eine zentrale Stadt mit vielen Reisenden.<br />

So konnten wir im Distrikt Bo die Ansteckungsraten<br />

während der Ebola-Epidemie<br />

entscheidend senken. Wir haben vermutlich<br />

vielen Menschen das Leben gerettet oder sie<br />

vor den schweren Langzeitfolgen einer überstandenen<br />

Ebola-Infektion bewahrt.<br />

Wie Prosocial Gewaltbereitschaft<br />

reduzieren<br />

kann<br />

Inzwischen ist die Ebola-Gefahr in Sierra Leone<br />

glücklicherweise seit Jahren gebannt. Aber es<br />

gibt wichtige weitere Anwendungen von Prosocial.<br />

Es ist leider kulturell immer noch in vielen<br />

Gesellschaftsschichten akzeptiert, dass Männer<br />

gewalttätig sind, v.a. Frauen und Mädchen gegenüber.<br />

Die bedrohliche Armut, ein Jahrzehnt<br />

Bürgerkrieg, mangelnde Strafen trotz geltender<br />

Gesetze und andere Faktoren begünstigen dies.<br />

Es wird akzeptiert, dass Kinder in Familien oder<br />

Schulen zu Erziehungszwecken geschlagen<br />

werden (in Deutschland ist Gewalt in der<br />

Erziehung übrigens auch erst seit dem Jahr<br />

2000 gesetzlich verboten).<br />

Auch in diesem Bereich kann Prosocial eingesetzt<br />

werden. Unsere sierra-leonischen Trainer-<br />

*innen führen Prosocial Workshops in Dörfern<br />

durch, machen die geltenden Gesetze bekannter<br />

und entwickeln gemeinsam mit den<br />

Menschen vor Ort gewaltfreie Konfliktlösungen.<br />

Fahr bloß mit keinem Taxifahrer,<br />

dass ist lebensgefährlich!<br />

Am meisten beeindruckt hat mich in einem<br />

Prosocial Workshop auf einer meiner Reisen<br />

eine Gruppe von Motorrad-Taxifahrern. Diese<br />

sind im Land bekannt sind für ihre rüde Fahrweise<br />

und ihre Gewaltbereitschaft. Hannah sagt<br />

immer zu mir: „Fahr bloß kein Motorradtaxi, das<br />

ist lebensgefährlich!“ Die Fahrer wollten unbedingt<br />

zu unserem Workshop kommen und<br />

machten am ersten Tag begeistert bei den<br />

Übungen zu Achtsamkeit und Akzeptanz mit.<br />

Am zweiten Tag entwickelten sie mit der Prosocial-<br />

Struktur gemeinsame Werte für ihre<br />

Gruppe, z.B. dass die Passagiere sich bei ihnen<br />

sicher und gut aufgehoben fühlen sollen und<br />

sie die Verkehrsvorschriften und Rechte anderer<br />

respektieren werden. Sie präsentierten<br />

diese Ergebnisse voller Stolz. Die neuen Werte<br />

waren ihnen offensichtlich viel wichtiger als das<br />

gewalttätige Verhalten vorher. Sie vereinbarten<br />

konkrete neue Verhaltensweisen - kein Alkohol,<br />

keine Gewalt oder rüde Ausdrucksweise. Das<br />

Tragen eines Helmes und fester Schuhe, Die<br />

offizielle Anmeldung des Motorrads etc.<br />

Inzwischen gibt es eine Plakette für die Mitglieder<br />

der Vereinigung, zu der alle Motorrad-<br />

Taxifahrer der Stadt gehören. So erkennt jeder<br />

Passagier, dass es sich um einen verlässlichen<br />

Fahrer handelt. Die vorher verrufenen Männer<br />

werden respektiert und können den Lebensunterhalt<br />

für Ihre Familien bestreiten. Einige von<br />

ihnen helfen freiwillig dabei, Prosocial weiter zu<br />

verbreiten.<br />

In ähnlicher Weise setzen wir Prosocial für Paare<br />

mit Gewalt in der Beziehung oder für Frauen,<br />

die sich und ihre Kinder mit ganz geringen Mitteln<br />

durchbringen müssen und sich gegenseitig<br />

Mikrokredite geben ein. Es ist faszinierend, wie<br />

kreativ unsere sierra-leonischen Partner in der<br />

Anwendung von Prosocial sind.<br />

Weltweit werden die Prosocial-Prinzipien inzwischen<br />

für große Herausforderungen verwendet:<br />

zur Reduktion von sozialer Benachteiligung,<br />

Gewalt, Rassismus, Klimaveränderungen,<br />

Konflikten in Organisationen etc.<br />

Manchmal träume ich ein bisschen - dass sich<br />

in Deutschland Schulleiter*innen mit Vertreter-<br />

*innen von Lehrer*innen, Schüler*innen, Eltern<br />

und Gesundheitsexpert*innen zusammensetzen<br />

und in Prosocial-Workshops gemeinsame<br />

Werte finden. Dass die Ausrichtung an diesen<br />

Werten ihnen hilft, den Schulbetrieb mit kreativen<br />

Lösungen bei minimalem Ansteckungsrisiko<br />

möglichst weitgehend aufrecht zu erhalten.<br />

Oder dass sich verantwortliche<br />

Politiker*innen mit Fachleuten aus den wichtigsten<br />

Bereichen beraten und sich bei ihren<br />

Beschlüssen an gemeinsamen Werten orientieren.<br />

Die Ausrichtung an Werten führt zu<br />

mehr Freiheit und Einfallsreichtum, das können<br />

wir aktuell brauchen. Auch in dieser Krise<br />

können wir auf etwas Sinnvolles hin leben.<br />

„You may say,<br />

Iʼm dreamer…<br />

but I´m not the<br />

only one!“<br />

Manchmal werden Träume wahr, also lass uns<br />

zusammen träumen :)<br />

Wenn du mehr zu Prosocial lesen möchtest,<br />

schau mal auf die schöne Website:<br />

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