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Schwarzer Holunder

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<strong>Schwarzer</strong><br />

<strong>Holunder</strong><br />

Kurzgeschichten von<br />

Anne Gold<br />

Helen Liebendörfer<br />

-minu<br />

Elisa Monaco<br />

Rolf von Siebenthal<br />

Dani von Wattenwyl


<strong>Schwarzer</strong><br />

<strong>Holunder</strong><br />

Kurzgeschichten von<br />

Anne Gold<br />

Helen Liebendörfer<br />

-minu<br />

Elisa Monaco<br />

Rolf von Siebenthal<br />

Dani von Wattenwyl<br />

Friedrich Reinhardt Verlag


Alle Rechte vorbehalten<br />

© 2022 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel<br />

Projektleitung: Claudia Leuppi<br />

Korrektorat: Daniel Lüthi<br />

Cover: Morris Bussmann<br />

ISBN 978-3-7245-2582-0<br />

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur<br />

mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.<br />

www.reinhardt.ch


Inhalt<br />

Helen Liebendörfer:<br />

Viel Glück – buena suerte! 6<br />

Rolf von Siebenthal:<br />

Herzkönig50<br />

Elisa Monaco:<br />

<strong>Schwarzer</strong> <strong>Holunder</strong> 105<br />

Dani von Wattenwyl:<br />

… und Kurt lässt grüssen! 151<br />

Anne Gold:<br />

Der neue Nachbar 207<br />

-minu:<br />

Alltagsgeschichten269


Helen Liebendörfer<br />

Viel Glück –<br />

buena suerte!<br />

Der Ort war ein Geheimtipp. Lea stieg unternehmungslustig<br />

aus dem Wagen, band ihre blonden Haare zusammen,<br />

setzte den Sonnenhut auf und machte sich auf den<br />

Weg, alles zu erkunden. Sie hatte die mexikanische<br />

Tempelanlage als besonders eindrückliche, unbekannte<br />

Stätte empfohlen bekommen. Die zauberhafte Stimmung<br />

wurde tatsächlich kaum durch andere umherwandernde<br />

Touristen gestört. Eine feuchte Hitze lag<br />

über der ausgedehnten Anlage, so dass Lea lieber im<br />

Schatten der vielen Bäume umherschweifte. Hier schienen<br />

allerdings Tausende von Mücken auf sie gewartet zu<br />

haben, denn auch sie bevorzugten die schattigen Plätze.<br />

Zum Glück trug sie ihre langärmlige, blaue Bluse. Max<br />

hätte sicher leiden müssen, denn er trägt stets Shorts,<br />

dachte sie etwas schadenfroh. Er hatte jedoch nicht mitkommen<br />

wollen, denn alte Steine interessierten ihn<br />

wenig, liess er stets verlauten, wenn sie ihn für eine<br />

Besichtigung überreden wollte. Lea fragte sich einmal<br />

mehr, warum sie überhaupt zusammen auf diese Reise<br />

6


gegangen waren. Sie hatte insgeheim gehofft, dass sie<br />

durch die gemeinsamen Erlebnisse wieder zusammenfinden<br />

würden, aber leider musste sie sich mit dem<br />

Gegenteil abfinden. Max blieb lieber im Hotel und<br />

unterhielt sich mit dem Tablet, sei es an der Bar oder am<br />

Strand, während sie den Wunsch hatte, etwas zu erleben<br />

und Land und Leute kennenzulernen.<br />

Lea fühlte sich wie eine einsame Forscherin, während<br />

sie durch die Anlage wanderte. Sie entdeckte immer<br />

wieder mit dicken Wurzeln und Gestrüpp überwachsene<br />

Hügel, welche wohl weitere Zeugnisse aus der Maya-<br />

Zeit verbargen. Sie hätte noch stundenlang weitergehen<br />

und archäologische Strukturen entdecken können, aber<br />

sie wollte sich nicht verirren und schon gar nicht einer<br />

Schlange begegnen. Der historische Name dieses Ortes<br />

Calakmul war Chan, was Schlange bedeutete, daraus<br />

schloss sie, dass es hier viele Schlangen geben musste.<br />

Nachdem sie längere Zeit auf den verschiedenen Pfaden<br />

durchs Dickicht gelaufen war, fragte sie sich, ob sie sich<br />

nicht doch im unübersichtlichen Gelände verirrt habe.<br />

Es ging endlos weiter auf den kleinen, schmalen Wegen,<br />

die durch ein fast undurchdringliches Gewirr von Lianen,<br />

dickblättrigen Pflanzen, Büschen und Baumriesen<br />

führten. Folgte sie eventuell nur Trampelpfaden von<br />

Tieren? Und welche grösseren Tiere gab es wohl hier?<br />

Sie wünschte keinem zu begegnen. Es wurde ihr<br />

bewusst, dass es leichtsinnig war, ganz allein unterwegs<br />

zu sein, sie sollte besser umkehren! Da raschelte es ganz<br />

7


in ihrer Nähe – sie blieb erschrocken stehen. Doch es<br />

war zum Glück nur ein grosser Vogel, eine Art Fasan,<br />

dem ihr Auftauchen auch nicht passte, denn er flüchtete<br />

rasch ins Gebüsch.<br />

Sie wandte sich um und lief fast panikartig auf den<br />

Wegen zurück. Nirgends ein Mensch, der die Richtung<br />

weisen würde – das hatte sie nun von diesem Geheimtipp.<br />

Als sie endlich erleichtert aufatmend wieder zum<br />

Zentrum gelangte, fühlte sie sich durch die Hitze und<br />

die Aufregung ziemlich erschöpft. Sie setzte sich auf<br />

einen Stein, wischte sich den Schweiss von der Stirn,<br />

trank aus ihrer Wasserflasche, band ihre blonden Haare<br />

nochmals neu zusammen und versuchte, sich zu beruhigen.<br />

Schliesslich stieg sie trotz allem noch auf den hohen<br />

Tempel, der das Zentrum beherrschte. Die ungewohnt<br />

hohen Stufen machten ihr ziemlich zu schaffen. Die<br />

Aussicht von der Tempelplattform liess sie die Mühe des<br />

Aufstiegs jedoch sofort vergessen. Was für ein spektakulärer<br />

Blick! Der üppige Wald mit den Baumriesen<br />

erstreckte sich in undurchdringlich scheinendem Grün<br />

bis zum Horizont. Wohin man schaute, sah man nur<br />

einen unendlichen Blätterwald, fast wie ein grünes<br />

Meer. In der Nähe ragte ein hoher Tempel daraus empor.<br />

Ein lichter, weiter Himmel umfing alles. Lea blickte<br />

begeistert in die Runde.<br />

«Buena suerte», hörte sie eine leise Stimme neben sich.<br />

Lea zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte niemanden<br />

8


kommen sehen und sah überrascht eine alte Indio-Frau<br />

mit weissem Kleid, das mit farbenfrohen Stickereien<br />

versehen war. Wo war sie nur hergekommen? Lea hätte<br />

auf dem hohen Tempel keine Verkäuferin erwartet,<br />

obwohl die Indio-Frau hervorragend zur Landschaft<br />

passte. «Buena suerte», versicherte ihr die Frau noch<br />

einmal eindringlich und schaute sie mit grossem Ernst<br />

an, während sie ihr eine kleine Figur mit einem grinsenden<br />

Totenkopf entgegenstreckte. Lea machte ein abweisendes<br />

Gesicht und schaute wieder in die Ferne. Die<br />

grelle Sonne schmerzte fast in den Augen.<br />

«Santa muerte, santísima muerte!», murmelte die<br />

Indio-Frau und liess nicht locker. Sie hielt ihr die<br />

fremdartige Figur wieder auffordernd entgegen. Lea<br />

zögerte. Santa muerte? Sie kannte viele Heilige, den<br />

Heiligen Martin oder die Heilige Barbara, von einem<br />

Heiligen Tod hatte sie jedoch noch nie gehört. Natürlich<br />

wusste sie, dass die Indios die Toten verehrten und<br />

am 1. November, dem Día de los Muertos, zusammen<br />

mit den Seelen der Verstorbenen die ganze Nacht auf<br />

dem Friedhof zubrachten. Die Leute waren auf eine<br />

besondere Art fromm, das hatte sie schon beim Besuch<br />

von einigen Kirchen bemerkt, sie beteten intensiver,<br />

inbrünstiger. Der Gegensatz von Prunk und kostbaren<br />

Schätzen im Innern der Kirchen und der Schlichtheit<br />

und Armut bei der Bevölkerung in den Dörfern sprang<br />

sofort ins Auge. Aber dass dieses eigenartige, bekleidete<br />

Skelett eine Heilige sein und Glück bringen solle,<br />

9


konnte Lea nun doch nicht glauben. Glück und Tod –<br />

waren sie überhaupt vereinbar?<br />

«Muy vieja», versuchte es die Indio-Frau hartnäckig.<br />

Sie hatte Leas Zögern sofort bemerkt und offensichtlich<br />

so gedeutet, dass der Verkauf der Figur nur noch eine<br />

Sache der geduldigen Verhandlung sei. Lea betrachtete<br />

die Figur in der spröden Hand der Indio-Frau. Sehr<br />

alt, wie sie behauptete, schien sie nicht zu sein. Doch es<br />

ging ein eigenartiger Zauber von dem freundlich grinsenden<br />

Totenkopf aus. Die knochige rechte Hand hielt<br />

eine Kugel, genauso wie Christus die Weltkugel. Der<br />

blaue Umhang, welcher den Totenkopf und die ganze<br />

Gestalt bedeckte, erinnerte an die Kleidung von Maria.<br />

Die Verschmelzung von alten Indio-Kulturen und<br />

christlichen Bräuchen war deutlich zu sehen. Faszinierend!<br />

Die Indio-Frau mit dem faltenreichen Gesicht<br />

und den tiefschwarzen Haaren blickte sie auffordernd<br />

an.<br />

«Buena suerte», wiederholte sie mit eindringlicher,<br />

heiserer Stimme. Unsicher schaute Lea auf die Figur.<br />

Glück könnte sie brauchen, sehr sogar, doch es war<br />

natürlich Unsinn, zu glauben, dass ein bekleidetes,<br />

zwanzig Zentimeter grosses Skelett dazu verhelfen würde.<br />

Die Indio-Frau strich mit der Hand über den Kopf<br />

der Figur – es schien Lea wie eine Liebkosung – und<br />

murmelte etwas in ihrer Maya-Sprache. Wie unter<br />

einem geheimen Zwang hörte sich Lea fragen: «Quánto<br />

es?»<br />

10


«Quatro dólares.» Hatte sie sich verhört? Vier Dollar<br />

verlangte die Frau, das war viel Geld für die kleine<br />

Figur. Ohne nachzudenken entgegnete Lea: «Dos dólares.»<br />

«No, Santa muerte quatro dólares», war die kurze<br />

Antwort. Es schien, als gäbe es über den Preis nichts zu<br />

diskutieren. Leas Verhandlungsgeschick hielt sich in<br />

Grenzen. Dafür war ihr Freund Max zuständig, er<br />

konnte stets einen Preis herunterhandeln. Sie angelte<br />

ihren Geldbeutel aus der Bauchtasche und schaute nach.<br />

Sie besass gar keine Dollar mehr, nur mexikanische<br />

Pesos.<br />

«Pesos?», fragte sie.<br />

«Cien pesos.» Hundert Pesos waren mehr als vier<br />

Dollar, rechnete Lea nach. Aber kleinere Scheine befanden<br />

sich leider keine in ihrem Geldbeutel. So zog sie<br />

schliesslich einen 100-Pesoschein heraus und überreichte<br />

ihn der Indio-Frau. Feierlich legte diese ihr nun die<br />

kleine Figur in die Hand.<br />

«Se ve, se siente, la Santa está presente», murmelte sie<br />

und fügte etwas in ihrer Maya-Sprache hinzu, was in<br />

Leas Ohren wie eine Beschwörung klang. Dann drehte<br />

sie sich um und verschwand. «Man sieht es, man fühlt<br />

es, die Heilige ist anwesend», übersetzte Lea den Satz<br />

der Indio-Frau. Sie stand mit dem eigenartigen Gegenstand<br />

da, als ob sie aus einem Traum erwache. Was hatte<br />

sie nur bewogen, dieses bekleidete Skelett zu kaufen?<br />

Glück sollte es ihr bringen? Sie betrachtete es zweifelnd.<br />

11


Wenigstens wird die Figur nicht viel Platz im Koffer in<br />

Anspruch nehmen, und schwer ist sie auch nicht, rechtfertigte<br />

sich Lea in Gedanken versunken. Was wohl<br />

Max dazu sagen wird? Vermutlich wird er schallend<br />

lachen über meinen Kauf.<br />

Noch immer fühlte sich Lea ausgesprochen wohl an diesem<br />

magischen Ort. Der weite Himmel erstreckte sich<br />

über den unendlich scheinenden, grünen Dschungel,<br />

und der alte, hohe Tempel, welcher dazwischen herausragte,<br />

vermittelte den Eindruck, als ob er schon immer<br />

hier gestanden hätte und noch lange hier stehen würde.<br />

Was für ein Bild! Lea fühlte sich rundum glücklich. Sie<br />

würde diesen Moment auf dem Tempel nicht mehr vergessen,<br />

und die Figur in ihrer Hand würde sie immer<br />

daran erinnern. Das unwirkliche Erlebnis mit der weiss<br />

gekleideten Indio-Frau zusammen mit dem Blick in die<br />

Weite war auf jeden Fall hundert Pesos wert. Und vielleicht<br />

brachte die Figur ja tatsächlich ein wenig Glück?<br />

Lange sass Lea auf der Tempelplattform, sie wollte<br />

sie gar nicht mehr verlassen. Das Gefühl, hier oben<br />

vollkommen fern von der restlichen Welt zu sein, sorgenlos<br />

und frei, war wunderbar. Es machte sie ganz<br />

trunken. Schliesslich raffte sie sich auf, sie musste ja<br />

wieder zurückfahren und möglichst vor der Dunkelheit<br />

ankommen. Sie blickte in die Tiefe. Die hohen, steilen<br />

Stufen wieder hinunterzusteigen war eine Herausforderung,<br />

ja, dieser Abstieg brauchte etwas Mut. Die kleine<br />

12


Figur in der Hand machte ihr zusätzlich Schwierigkeiten,<br />

konnte sie sich doch nur einseitig festhalten.<br />

Langsam und vorsichtig kletterte Lea Stufe um Stufe<br />

abwärts und war schliesslich froh, unbeschadet unten<br />

anzukommen.<br />

Die Figur mit dem grinsenden Totenkopf wirkte am folgenden<br />

Tag ziemlich fehl am Platz unter ihren Sachen<br />

im Hotelzimmer am Strand von Tulum. Sie schien wie<br />

ein Gegenstand aus einer anderen Welt. Warum sie diese<br />

Santa muerte gekauft hatte, konnte sich Lea nicht<br />

erklären. Max hatte nicht einmal darüber gelacht, sondern<br />

nur den Kopf geschüttelt.<br />

«Ein grinsendes Skelett! Was du dir immer andrehen<br />

lässt!», hatte er dazu bemerkt und auf ihren Widerspruch,<br />

die Figur bringe Glück, nur überheblich gemeint:<br />

«Glück hat sie der Indio-Frau gebracht, mit hundert<br />

Pesos hat sie todsicher ein gutes Geschäft gemacht.»<br />

Lea musste ihm im Stillen recht geben, laut verteidigte<br />

sie jedoch ihren Kauf: «Es ist eine interessante Figur,<br />

eine Mischung aus alter Indiokultur und christlichen<br />

Motiven.»<br />

«Und angefertigt für gutgläubige Touristen!», meinte<br />

er spöttisch. Etwas beschämt stellte Lea die Figur auf<br />

den Nachttisch.<br />

«Wenn du dabei gewesen wärst, würdest du anders<br />

darüber reden.» Wie sollte sie Max den Moment auf<br />

dem Tempel beschreiben, dieses beglückende Gefühl,<br />

13


das sie dort oben überkommen hatte mit der Figur in<br />

der Hand und dem Blick über den unendlich scheinenden<br />

Wald, fernab von jeder Zivilisation?<br />

«Wenn ich dabei gewesen wäre, hätte ich dich sicher<br />

vor diesem unsinnigen Kauf bewahrt. Das Geld hättest<br />

du dir wirklich sparen können.»<br />

«Ich hätte mich ja gefreut, wenn du mitgekommen<br />

wärst», erwiderte Lea trotzig und mit deutlichem Vorwurf<br />

in der Stimme.<br />

Sie waren nun schon über ein Jahr zusammen, doch<br />

es schien ihr, als ob sich Max in den letzten Wochen<br />

verändert habe. Er war launisch geworden und wollte<br />

nichts mehr unternehmen, weder mit ihr noch mit seinen<br />

Freunden, während sie früher oft miteinander<br />

gelacht und viel erlebt hatten. Es gab selten einen<br />

gemeinsamen Gesprächsstoff. Fast wie bei einem alten<br />

Ehepaar, das sich nichts mehr zu sagen hat, dachte Lea<br />

und bemerkte nicht zum ersten Mal, dass sie sich mit<br />

Max langweilte. Meist klebte er am Tablet, es schienen<br />

fesselnde Spiele zu sein, die er damit machte. Sie hatte<br />

ihn schon mehrmals darauf angesprochen, doch er wollte<br />

nicht darüber reden.<br />

«Kommst du mit zum Schnorcheln?», fragte sie und<br />

blickte ihn auffordernd an, «es ist heute unser letzter<br />

Tag und die herrlich farbenfrohen Fische möchte ich<br />

gerne noch einmal sehen und auch den traumhaft schönen<br />

Strand zum letzten Mal geniessen.» Er zuckte mit<br />

den Schultern.<br />

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«Geh schon mal voraus, vielleicht komme ich nach»,<br />

murmelte er und blickte nicht von seinem Tablet auf.<br />

Lea stampfte leicht erbost mit dem Fuss. Seine Lustlosigkeit<br />

brachte sie zur Verzweiflung.<br />

«Du hättest gerade so gut daheimbleiben können –<br />

das wäre billiger gewesen», rief sie wütend und verliess<br />

das Zimmer.<br />

Als Lea nach drei Stunden zurückkehrte, sass Max<br />

immer noch am gleichen Ort – nur die kleine Maya-<br />

Figur stand nicht mehr da! Lea bemerkte es sofort.<br />

Suchend schaute sie um sich.<br />

«Wo ist meine Glücksfigur?», fragte sie erstaunt, «was<br />

hast du mit ihr gemacht?» Max blickte wütend hoch.<br />

Seine dunklen Augen funkelten.<br />

«Was heisst schon Glücksfigur? Sie hat kein Glück<br />

gebracht, wenn du es wissen willst. Ich habe eben meine<br />

letzten Ersparnisse verloren und aus Wut darüber habe<br />

ich sie an die Wand geworfen. Sie liegt zerschmettert am<br />

Boden. Das habe ich nun von deinem Glück!» Lea hielt<br />

den Atem an. Sie wusste nicht, was sie mehr entsetzte,<br />

die Wut von Max, die zerbrochene Figur oder die Worte<br />

über die verlorenen Ersparnisse.<br />

«Ich verstehe nicht, wovon du sprichst. Welche<br />

Ersparnisse?»<br />

«Meine!», schrie Max ausser sich und richtete sich in<br />

seinem Stuhl auf, «mein ganzes Geld ist weg.»<br />

«Dein Geld? Aber wieso denn? Ich begreife das nicht.»<br />

Max sank wieder zusammen und schwieg, es war ein<br />

15


düsteres, verbissenes Schweigen. Lea stand ratlos da, sie<br />

wusste nicht, wie sie alles einordnen sollte. Schliesslich<br />

suchte sie die einzelnen Teile ihrer Santa muerte zusammen.<br />

Der Kopf war abgebrochen, dazu auch ein Arm,<br />

und das Rückgrat wackelte erbärmlich. Sie sah jämmerlich<br />

aus.<br />

«Du hast meine Figur zerbrochen …», klagte sie leise.<br />

Max fuhr auf.<br />

«Mach dich nicht lächerlich. So eine Figur kannst du<br />

leicht wieder kaufen. Aber ich – mein Geld werde ich<br />

nie wieder zurückgewinnen.» Lea horchte auf.<br />

«Wieso zurückgewinnen?»<br />

«Tu nicht so, als ob du es nicht schon längst bemerkt<br />

hättest: Ich spiele», entgegnete er finster. Lea fiel es wie<br />

Schuppen von den Augen, natürlich, das war es! Darum<br />

zeigte Max seit Wochen keinerlei andere Interessen<br />

mehr und hatte sich nur noch mit dem Tablet beschäftigt.<br />

Er war dem Glücksspiel verfallen, und sie hatte<br />

nichts davon bemerkt. Es fiel ihr schwer, sich mit dem<br />

Gedanken anzufreunden.<br />

«Du spielst? Und du hast alles verloren?», fragte sie<br />

fassungslos, «aber man weiss doch, dass die Bank immer<br />

gewinnt. Schau doch nur die Casinos an, die riesigen<br />

Paläste. Wie konntest du nur. Ich begreife dich nicht …»<br />

«Du begreifst mich nie! Es ist auch gar nicht so, dass<br />

ich nicht immer wieder einmal gewonnen hätte, aber in<br />

den letzten Tagen geriet ich in eine unglaubliche Pechsträhne.<br />

Kannst du mir von deinem Konto etwas Geld<br />

16


überweisen? Ich bin sicher, ich werde alles wieder<br />

zurückgewinnen, oder wenigstens einen Teil davon.»<br />

Lea schüttelte entschieden den Kopf.<br />

«Nein. Von mir erhältst du kein Geld. Zuerst musst<br />

du dich von dieser Sucht befreien.»<br />

«Das ist keine Sucht! Ich habe nur mein Geld verloren.<br />

Du kannst mich doch jetzt nicht im Stich lassen»,<br />

rief Max aufgebracht, «jetzt, wo ich dich brauche.»<br />

«Du brauchst nicht mich, sondern nur mein Geld»,<br />

entgegnete sie verzweifelt, und diese Erkenntnis traf sie<br />

schwer. Sie blickte wehmütig auf die zerbrochene Figur<br />

in ihrer Hand.<br />

«Was kann eigentlich meine Figur dafür?»<br />

«Du hast gesagt, sie bringe Glück. Also habe ich sie in<br />

die Hand genommen, während ich meine letzten<br />

Ersparnisse setzte – und habe trotzdem verloren. Die<br />

Figur bringt kein Glück, verlass dich drauf.» Lea versuchte,<br />

die Teile zusammenzusetzen, während sie murmelte:<br />

«Das ist nicht das Glück, welches die Indio-Frau<br />

meinte.»<br />

«Aber mein Untergang! Santa muerte! Ach, lass mich<br />

in Ruhe.» Lea nickte. Ohne nachzudenken, meinte sie:<br />

«Genau das werde ich tun. Ich begleiche noch unsere<br />

Hotelrechnung, dann fliegen wir nach Hause und …<br />

und … du ziehst aus meiner Wohnung aus. Unsere<br />

Beziehung besteht schon seit Wochen nicht mehr. Ich<br />

durfte dich stets umsorgen, aber du hast dich kaum<br />

mehr für mich interessiert, jetzt reicht es.» Lea blickte<br />

17


auf ihre Figur. Es war, als hätte sie ihr die Entscheidung<br />

abgenommen. Sie war kaputt, genauso tot und zerbrochen<br />

wie ihre Beziehung und Liebe zu Max. Nur aus<br />

Mitleid und Pflichtgefühl wollte sie nicht bei ihm bleiben,<br />

er war alt genug, um selbst aus der Misere herauszufinden.<br />

Er hatte einen guten Job und würde nicht<br />

verhungern.<br />

Zu Hause angekommen, packte Lea den Koffer aus.<br />

Dabei fielen ihr die einzelnen Teile der Santa muerte in<br />

die Hände. Sie hatte es nicht gewagt, die Glücksfigur<br />

einfach wegzuwerfen. Solange die kleine Statue in ihren<br />

Händen war, konnte ihr nichts passieren, nichts Schlimmes<br />

jedenfalls, das fühlte sie genau. Im Netz hatte sie<br />

sich über die Figur und ihre Bedeutung schlau gemacht<br />

und gelesen, dass die Gläubigen eine frühere Todesgöttin<br />

christianisiert hatten. Man verehrte sie und bat mit<br />

Opfergaben um Liebe, Glück und Gesundheit. Der<br />

Glaube an sie bedeute, das Hässliche im Leben anzunehmen<br />

– dafür stehe Santa muerte, hatte sie gelesen.<br />

Lea dachte, das Hässliche in ihrem Leben war im<br />

Moment die Trennung von Max. Er hatte seit ihrem<br />

Streit kein Wort mehr mit ihr geredet, nicht einmal auf<br />

dem langen Flug von Mexiko zurück nach Europa.<br />

Nach der Rückkehr war er am gleichen Tag mit beleidigter<br />

Miene und ohne ein Wort des Abschieds ausgezogen.<br />

Sogar seine schmutzigen Socken hatte er aus dem<br />

Wäschekorb gefischt und mitgenommen. Nichts erinnerte<br />

18


mehr an ihn. Seither fühlte sich Lea wie ihre Figur: zerbrochen,<br />

kopflos und einarmig. Einerseits hatte sie ein<br />

schlechtes Gewissen, Max im Stich gelassen zu haben,<br />

andererseits wusste sie, dass die Beziehung schon vorher<br />

zu Ende gewesen war. Der Streit war nur noch der letzte<br />

Anstoss zur endgültigen Trennung gewesen.<br />

Lea legte die einzelnen Teile der Figur in eine Schachtel,<br />

schön geordnet, als ob sie noch ganz wäre und<br />

betrachtete sie sinnend. Sie strich mit der Hand über die<br />

kleine Statue und murmelte: «Hoffentlich wächst du<br />

wieder zusammen.» Und damit meinte sie weniger die<br />

Figur, sondern ihren eigenen, zerrissenen Zustand.<br />

Einige Wochen später setzte sie sich an den Computer,<br />

um endlich die Fotos der Reise in einem Album zu ordnen,<br />

als Erinnerung an Mexiko. Max hatte sich nicht<br />

mehr gemeldet, deshalb hatte sie die Bilder nicht ansehen<br />

wollen. Auch jetzt fiel es ihr recht schwer, sich mit<br />

der Reise auseinanderzusetzen. Bald merkte sie, dass sie<br />

die einmalige Aussicht vom Tempel in Calakmul mehrmals<br />

aufgenommen, jedoch weder die Indio-Frau noch<br />

Santa muerte fotografiert hatte. Wie schade! In der<br />

Erinnerung schien ihr die ganze Szene unwirklich, als<br />

hätte sie alles nur geträumt. Doch die Figur war vorhanden,<br />

und sie abzulichten, war rasch nachgeholt. Lea<br />

stand auf, lief zur Kommode, wo sie die Schachtel mit<br />

der kleinen Statue aufbewahrte, öffnete die Schublade,<br />

holte die Schachtel mit der Figur heraus – und erstarrte.<br />

19


Sie war nicht mehr zerbrochen!<br />

Kopfschüttelnd nahm sie sie vorsichtig in die Hand<br />

und betrachtete sie entgeistert und fassungslos von allen<br />

Seiten. Santa muerte schaute wieder genauso aus, wie sie<br />

sie erworben hatte. Ein unbeschreibliches Gefühl durchströmte<br />

Lea: Das Glück ist nicht zerbrochen, jubelte sie.<br />

Sie strich der Figur vorsichtig über den Kopf – wie war<br />

es möglich, dass sie wieder zusammengewachsen war?<br />

Das konnte doch nicht sein! Mit welcher Macht hatte<br />

sie sich da eingelassen? Bildete sie sich alles nur ein oder<br />

wurde sie wahnsinnig? Schliesslich gab es in jeder Familie<br />

jemanden, der einmal verrückt wurde.<br />

Zutiefst erschrocken legte sie die Figur in die Schachtel<br />

zurück, es war ihr, als hätte sie sich die Finger verbrannt.<br />

Während sie das bekleidete Skelett anstarrte,<br />

fühlte Lea Unruhe und Angst aufsteigen. Etwas war<br />

in ihr geordnetes Leben getreten, das nicht dazu gehörte,<br />

etwas Fremdes, Unheimliches. Wie sollte sie nur<br />

damit umgehen? Kurz entschlossen packte sie die<br />

Schachtel mit der Figur, legte sie in die Kommode<br />

zurück und schloss rasch die Schublade. Aufatmend<br />

wandte sie sich um und lief wieder zum Computer. Hätte<br />

sie nur die Indio-Frau fotografiert, dann wäre das<br />

Ganze weniger unwirklich, das Erlebnis greifbarer. Ihre<br />

Finger drehten sich nervös ineinander. Vielleicht hatte<br />

die Fantasie ihr einen Streich gespielt? Lea ging wieder<br />

zur Kommode, um die Figur noch einmal gründlich zu<br />

betrachten.<br />

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