Süssbittere Melancholie - Andreas Köhler
Süssbittere Melancholie - Andreas Köhler
Süssbittere Melancholie - Andreas Köhler
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<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong><br />
<strong>Süssbittere</strong> <strong>Melancholie</strong>
Vacillantis trutine<br />
libramine<br />
mens suspensa fluctuat<br />
et estuat<br />
in tumultus anxios,<br />
dum se vertit<br />
et bipertit<br />
motus in contrarios.<br />
O langueo!<br />
causam languoris video<br />
nec caveo,<br />
vivens et prudens pereo.<br />
Petrus Blesensis<br />
Wie der Waage Zünglein schwankt,<br />
genauso wankt<br />
mein Gemüte hin und her,<br />
bringt mehr und mehr<br />
mich aus meinem Gleichgewicht,<br />
stets sich wandelnd,<br />
mich misshandelnd:<br />
schlimmem Zustand gibt es nicht.<br />
O Todesnot!<br />
Nicht fliehe ich das Machtgebot,<br />
das mich bedroht,<br />
renn’ offnen Auges in den Tod.<br />
Carmina Burana: Peter von Blois / Carl Fischer
Me vacare studio<br />
vult Ratio.<br />
sed dum Amor alteram<br />
vult operam,<br />
in diversa rapior,<br />
Ratione<br />
cum Dione<br />
dimicante crucior.<br />
O langueo!<br />
causam languoris video<br />
nec caveo,<br />
vivens et prudens pereo.<br />
Petrus Blesensis<br />
Die Vernunft verlangt von mir,<br />
dass ich studier’,<br />
aber Amor weiss sehr gut,<br />
was besser tut:<br />
also reisst’s mich hin und her!<br />
Weisheit warnt mich,<br />
Lieb umgarnt mich,<br />
ach, wie wird das Herz mir schwer!<br />
O Todesnot!<br />
Nicht fliehe ich das Machtgebot,<br />
das mich bedroht,<br />
renn offnen Auges in den Tod.<br />
Carmina Burana: Peter von Blois / Carl Fischer
Vil süeziu senftiu tôterinne,<br />
war umbe weit ir tôten mir den lip,<br />
und i‘uch sô herzecîlchen minne,<br />
zewâre, frouwe, gar für elliu wîp?<br />
wênet ir ... ob ir mich tôtet,<br />
daz ich iuch danne niemer mê beschouwe?<br />
nein, iuwer minne hât mich des ernôtet<br />
daz iuwer sêle ist mîner sê1e frouwe.<br />
sol mir hie niht guot geschên<br />
von iuwerm werden lîbe,<br />
sô muoz mîn sêle iu des verjên<br />
dazs iuwer sêle dienet dort als einem<br />
reinen wîbe.<br />
Heinrich von Morungen<br />
O süsse, sanfte Töterin,<br />
warum wollt Ihr mein Leben töten,<br />
wo ich Euch so von Herzen liebe,<br />
in Wahrheit, Herrin, über alle Frauen?<br />
Wähnt Ihr ... Wenn Ihr mich tötet,<br />
dass ich Euch dann nie mehr schauen werde?<br />
Nein, die Liebe zu Euch hat mich gezwungen,<br />
dass Eure Seele meiner Seele Herrin ist.<br />
Soll mir hier kein Glück geschehn<br />
von Euerm edlen Leib,<br />
so sichert Euch doch meine Seele zu,<br />
dass sie dort Eurer Seele dienen wird wie einer<br />
reinen Frau.<br />
Manessische Liederhandschrift / Max Wehrli
Roter munt, wie du dich swachest!<br />
la din lachen sin!<br />
scheme dich, swenne du so lachest<br />
nach deme schaden din!<br />
dest niht wolgetan.<br />
owi so verlorner stunde,<br />
sol von minnechlichen munde<br />
solich unminne ergan!<br />
Walther von der Vogelweide<br />
Roter Mund, wie bringst du dich in Schande!<br />
Unterlass dein Lachen!<br />
Schäme dich, immer wenn du so lachst,<br />
um mir zu schaden!<br />
Das ist nicht gut gehandelt.<br />
Weh über die so ungenutzte Gelegenheit,<br />
wenn von einem liebreizenden Mund<br />
solche Unliebe ergeht.<br />
Carmina Burana / Hugo Kuhn
Suscipe, flos, florem,<br />
quia flos designat amorem!<br />
Illo de flore<br />
nimio sum captus amore.<br />
Hunc florem, Flora<br />
dulcissima, semper adora!<br />
...<br />
Carmina Burana / Carl Fischer<br />
Nimm, o Rose, die Rose,<br />
verklärend die Liebe, die grosse!<br />
Hat doch die schönste der Rosen,<br />
mir die Liebe erschlossen;<br />
Duft der Rose, o süsse,<br />
Rose, dich immer umfliesse!<br />
...
Durch Barbarei, Arabia,<br />
durch Harmanei in Persia,<br />
durchTartarei in Suria,<br />
durch Romanei in Türggia,<br />
Ibernia, der sprüng hab ich vergessen.<br />
Durch Preussen, Reussen, Eiffenlant,<br />
gen Litto, Liffen, übern strant,<br />
gen Tenmark, Sweden, in Prabant,<br />
durch Flandern, Frankreich, Engelant,<br />
und Schottenlant hab ich lang nicht<br />
gemessen.<br />
Durch Arragun, Kastilie,<br />
Granaten und Afferen,<br />
auss Portigal, Ispanie<br />
pis gen dem vinstern steren,<br />
von Provenz gen Marsilie -<br />
Oswald von Wolkenstein: Durch Barbarei, Arabia
in Races pei Saleren,<br />
daselben plaib ich in der e,<br />
mein ellend da zu meren<br />
vast ungeren.<br />
Auff ainem kofel rund und smal,<br />
mit dickem wald umbvangen,<br />
vil hoher perg und tieffe tal,<br />
stain, stauden, stück, snestangen,<br />
der sich ich täglich ane zal.<br />
noch aines zwingt mich pangen,<br />
das mir der klainen kindlin schal<br />
mein oren dick bedrangen<br />
hand durchgegangen.<br />
Oswald von Wolkenstein: Durch Barbarei, Arabia<br />
In Ratzes am Schlern:<br />
daselbst hänge ich im Ehestand fest,<br />
um mein Unglück hier zu vergrössern<br />
ganz gegen meinen Willen,<br />
auf einem engen runden Felsblock,<br />
umgeben von dichtem Wald.<br />
Viele hohe Berge und tiefe Täler,<br />
zahllose Steine, Stauden, Baumwurzeln<br />
und Schneestangen<br />
sehe ich täglich.<br />
Dazu bedrückt mich eines:<br />
dass mir das Geplärr der kleinen Kinder<br />
die oft geplagten Ohren<br />
durchdrungen hat.
So kompt ir muetter zue gebraust,<br />
zwar die beginnt zu schelten;<br />
gäb si mir eins mit der fawsst,<br />
des müsst ich ser entgelten<br />
si spricht: “wie hastu nu erzausst<br />
die kind zu ainem zelten!”<br />
ab irem zorn mir da graust,<br />
doch mangeln ich sein selten<br />
scharpf mit spelten.<br />
Oswald von Wolkenstein: Durch Barbarei, Arabia<br />
Da kommt dann ihre Mutter angebraust -<br />
wahrlich, die fängt an zu schimpfen.<br />
Gäbe sie mir eins mit der Faust drauf,<br />
so hätte ich teuer zu bezahlen.<br />
Sie sagt: „Wie kommst du dazu,<br />
die Kinder flach wie Fladenbrot zu schlagen!“<br />
Vor ihrem Zorn graut mirs da,<br />
doch bin ich vor dem, der<br />
scharf und spitzig ist, sowieso nie frei.
und tröst mich nia mündli rot.<br />
Oswald von Wolkenstein: Durch Barbarei, Arabia
Je plains le temps de ma jeunesse<br />
(Ouquel j’ai plus qu’autre galé<br />
Jusqu‘a l’entrée de vieillesse)<br />
Qui son partement m‘a celé.<br />
Il ne s’en est a pied allé<br />
N’a cheval: helas ! comment don?<br />
Soudainement s’en est volé<br />
Et ne m’a laissé quelque don.<br />
François Villion: Le Testament / Paul Zech<br />
Dahin die schöne Jugendzeit,<br />
die mehr als andre ich genoss,<br />
Nun ist das Alter nicht mehr weit,<br />
da sie zu scheiden sich entschloss.<br />
Die nicht zu Fuss von dannen schlich<br />
und die nicht ritt zu Ross: wie dann?<br />
Die plötzlich wie im Flug entwich,<br />
zum Abschied mir nichts schenken kann.
Bien est verté que j‘ai amé<br />
Et ameroie voulentiers;<br />
Mais triste coeur, ventre affamé<br />
Qui n’est rassasié au tiers<br />
M’ôte des amoureux sentiers.<br />
Au fort, quelqu’un s’en recompense,<br />
Qui est rempli sur les chantiers!<br />
Car la danse vient de la panse.<br />
François Villion: Le Testament / Paul Zech<br />
Ich liebte viel in alten Tagen<br />
und liebte heute gern noch mehr,<br />
doch Trauerherz und Hungermagen,<br />
der zu zwei Dritteln immer leer,<br />
gehn ungern auf den Liebespfad.<br />
So ist’s, nur der erstürmt die Schanze,<br />
der seinen Leib gefüttert hat!<br />
Ein leerer Bauch geht nicht zum Tanze.
νόστος nostos Rückkehr, Heimkehr<br />
άλγος algos Schmerz, Not, Trauer<br />
Nostalgie Heimweh
“Meinethalben”, sagte sie mit ihrem unnachahmlichen Bitterlächeln,<br />
“kannst gehen – hab' gemeint – – Wer nur so liebt, mag sich packen<br />
wo er will”,<br />
“Ach! Liebchen”, sprach ich, “du weist wahrlich nicht, wie Weh's mir<br />
thut; aber du siehst wohl, mit Ehren könnten wir's so nicht mehr lang<br />
aushalten. Und ans Heurathen darf ich itzt nur nicht denken. Bin noch<br />
zu jung; du bist noch jünger, und beyde haben keines Kreutzers<br />
werth. ...”<br />
Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg
Und sie: “Ja! Ja! Hier meine Hand und mein Herz – fühl' hier meinen<br />
klopfenden Busen – Himmel und Erde seyn Zeugen, dass du mein<br />
bist, dass ich dein bin; dass ich, dir unveränderlich getreu, still und<br />
einsam deiner harren will, und wenn's zehn und zwanzig Jahre dauern<br />
– und wenn unsre Haare drüber grau werden sollten; dass mich kein<br />
männlicher Finger berühren, mein Herz immer bey dir seyn, mein<br />
Mund dich im Schlaf küssen soll, bis« – – Hier erstickten ihr die<br />
Thränen alle Worte.<br />
Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg
Jetzt fieng ich erst recht an Trübsal zu blasen, und keinem Menschen<br />
konnt' ich so recht von Herzensgrund meine Noth klagen. Des Tags<br />
gieng ich umher wie der Schatten an der Wand. Des Nachts legt' ich<br />
mich ins Fenster, guckte wainend in den Mond hinauf, und erzählte<br />
dem mein bitteres Elend: »Du, der jetzt auch überm Tockenburg<br />
schwebt, sag' es meinen Leuthen daheim, wie armselig es um mich<br />
stehe – meinen Eltern, meinen Geschwisterten – meinem Aennchen<br />
sag's, wie ich schmachte – wie treu ich ihr bin – dass sie alle Gott für<br />
mich bitten. Aber du schweigst so stille, wandelst so harmlos deinen<br />
Weg fort? Ach! könnt' ich ein Vöglein seyn, und dir nach in meine<br />
Heimath fliegen!<br />
Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg
Auf der Brücke zu Wattweil, redte mich ein alter Bekannter,<br />
Gämperle, an, der vor meinem Weggehn um meine Liebesgeschichte<br />
gewusst hatte; und dessen erstes Wort war: “Je gelt! deine Anne ist<br />
auch verplempert; dein Vetter Michel war so glückselig, und sie hat<br />
schon ein Kind”. – Das fuhr mir ja durch Mark und Bein; indessen liess<br />
ich's den argen Unglückboten nicht merken: “Eh' nun” sagt' ich, “hin ist<br />
hin!”<br />
Ulrich Bräker: Lebensgeschichte und natürliche Ebenteuer des Armen Mannes im Tockenburg
Nostalgie sehnsuchtsvolle Rückwendung zur Vergangenheit<br />
und deren verklärt gesehenen Lebensformen<br />
Wolfgang Pfeifer: Etymologisches Wörterbuch des Deutschen
Diese nun lebten wie Götter, von Sorgen befreit das Gemüte,<br />
Fern von Mühen und fern von Trübsal; lastendes Alter<br />
Traf sie nimmer; an Händen und Füssen die nämlichen immer,<br />
Freuten sie sich bei Gelagen, entrückt stets jeglichem Übel.<br />
Wie vom Schlummer bezwungen verschieden sie; ...<br />
Hesiod: Werke und Tage
Da wies ihn Gott der Herr aus dem Garten Eden, dass er die<br />
Erde bebaue, von der er genommen war.<br />
Altes Testament, Genesis / Martin Luther
say first what cause<br />
Moved our grand parents in that happy state,<br />
Favoured of heaven so highly, to fall off<br />
From their creator, and transgress his will<br />
For one restraint, lords of the world besides?<br />
Who first seduced them to that foul revolt?<br />
John Milton: Paradise Lost / Bernhard Schuhmann<br />
Sprich, was hat unser Elternpaar vermocht,<br />
So hoch beglückt, vom Schöpfer abzufallen<br />
Und wider dessen einziges Verbot,<br />
Sonst Herrn der Erdenwelt, zu sündigen?<br />
Wer, sprich, verführte sie zum Ungehorsam?
The infernal serpent; he it was whose guile<br />
Stirred up with envy and revenge, deceived<br />
The mother of mankind, what time his pride<br />
Had cast him out from heaven, with all his host<br />
Of rebel angels, by whose aid aspiring<br />
To set himself in glory above his peers,<br />
He trusted to have equalled the most high,<br />
John Milton: Paradise Lost / Bernhard Schuhmann<br />
Der Höllendrache war es, der, von Neid<br />
Und Rachbegier entflammt, der Menschheit Mutter<br />
Durch List betrog, nachdem sein Hochmut ihn<br />
Herabgestürzt vom Himmel samt dem Heer<br />
Empörter Engel, mittels deren Hilfe,<br />
Nach Herrschaft über seinesgleichen trachtend,<br />
Er sich dem Höchsten gleich zu sein vermass;
Deine Pracht ist herunter in die Hölle gefahren samt dem Klange deiner<br />
Harfen. ... Wie bist du vom Himmel gefallen, du schöner Morgenstern! ...<br />
Gedachtest du doch in deinem Herzen: "Ich will in den Himmel steigen ...<br />
ich will über die hohen Wolken fahren und gleich sein dem Allerhöchsten."<br />
Altes Testament, Jesaia. Martin Luther
The reason Milton wrote in fetters<br />
when he wrote of Angels & God,<br />
and at liberty when of Devils &<br />
Hell, is because he was a true Poet<br />
and of the Devil's party without<br />
knowing it.<br />
William Blake; The Marriage of Heaven and Hell<br />
Der Grund, weshalb Milton in Fesseln<br />
über Engel und Gott, und in Freiheit<br />
über Teufel und Hölle schreibt, ist,<br />
dass er ein wahrer Dichter und auf der<br />
Seite des Teufels stand, ohne es zu<br />
wissen.
whereat<br />
In either hand the hastening Angel caught<br />
Our lingring Parents, and to th' Eastern Gate<br />
Let them direct, and down the Cliff as fast<br />
To the subjected Plaine; then disappeer'd.<br />
They looking back, all th' Eastern side beheld<br />
Of Paradise, so late their happie seat,<br />
Wav'd over by that flaming Brand, the Gate<br />
With dreadful Faces thronged and fiery Armes:<br />
John Milton: Paradise Lost / Bernhard Schuhmann<br />
Der Engel<br />
Nahm eilig unser zögernd Elternpaar<br />
An seine Hand, geleitete sie schnell<br />
Durchs Tor im Osten, dann den Fels hinab<br />
Bis unten an die Ebne und verschwand.<br />
Umschauend sahn sie, ach, das Paradies -<br />
Ihr Wonnesitz noch eben - überwogt<br />
Von Glut und Flammen und das Tor umdrängt<br />
Von feur’gen Schreckgestalten.
Thou only givest these gifts to man; and thou hast the keys of Paradise,<br />
oh, just, subtle, and mighty opium!<br />
Du, nur du reichst dem Menschen diese Geschenke; und du hast die<br />
Schlüssel zum Paradies, o gerechtes, zartes, mächtiges Opium!<br />
Thomas de Quincey: Confessions of an English Opium-Eater / Bekenntnisse eines englischen Opiumessers
Fragen, Kritiken, Anregungen an<br />
melancholie@andreas-koehler.com<br />
Literaturverzeichnis unter<br />
www.andreas-koehler.com
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong><br />
Neyers Wallfahrt