Andreas Köhler / Verführen und Verführt-Werden 11 Vorlesung vom ...
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VERFÜHREN UND VERFÜHRT-WERDEN - GEHOR-<br />
CHEN UND HERRSCHEN<br />
<strong>Vorlesung</strong> <strong>vom</strong> 14. November 2012<br />
Souk in Jerusalem – Li Youyuan / Paul Wiens:<br />
Osten erglüht<br />
A. DIE SCHLANGE<br />
Meine sehr verehrten Damen <strong>und</strong> Herren,<br />
ich begrüsse Sie zur zweiten <strong>Vorlesung</strong> im Rahmen<br />
des Zyklus „Zuckerbrot <strong>und</strong> Lippenrot –<br />
<strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong>“ <strong>und</strong> freue<br />
mich über Ihr Kommen <strong>und</strong> Ihr Interesse am<br />
Thema. Das letzte Mal betraten wir das Reich<br />
der Verführung durch das Jaffa Tor in Jerusalem,<br />
wo wir im Souk erkannten, dass Kaufen <strong>und</strong><br />
Verkaufen mehr ist als Tausch, nämlich Führung<br />
<strong>und</strong> Verführung zu einer Bindung, einer Handelsbindung,<br />
aber auch zu einer Bindung an<br />
Waren. Wir erkannten, dass <strong>Verführen</strong> ein Spiel<br />
von Tauschen <strong>und</strong> Täuschen ist, aber auch ein<br />
Tor in die Weite der Welt, in die uns unser Verlangen<br />
nach Neuem, unsere Neugierde treibt.<br />
Welches war die erste Tat der ersten Menschen?<br />
Sie liessen sich verführen. Wenigstens im Entstehungsmythos,<br />
den die drei grossen Ein-<br />
Gott-Religionen – Judentum, Christentum, Islam<br />
– als existenzbestimmend erachten. Sie kennen<br />
die Geschichte. In der Genesis des Alten Testamentes<br />
heisst es:<br />
Und Gott der HERR nahm den Menschen<br />
<strong>und</strong> setzte ihn in den Garten Eden, dass er<br />
ihn baute <strong>und</strong> bewahrte. Und Gott der<br />
HERR gebot dem Menschen <strong>und</strong> sprach: Du<br />
sollst essen von allerlei Bäumen im Garten;<br />
aber von dem Baum der Erkenntnis des Guten<br />
<strong>und</strong> des Bösen sollst du nicht essen;<br />
denn welches Tages du davon isst, wirst du<br />
des Todes sterben.<br />
Und das Weib schaute an, dass von dem<br />
Baum gut zu essen wäre <strong>und</strong> dass er lieblich<br />
anzusehen <strong>und</strong> ein lustiger Baum wäre, weil<br />
er klug machte; <strong>und</strong> sie nahm von der<br />
Frucht <strong>und</strong> ass <strong>und</strong> gab ihrem Mann auch<br />
davon, <strong>und</strong> er ass.<br />
Der Schöpfer <strong>und</strong> Beherrscher des Gartens entdeckt<br />
den Ungehorsam der beiden <strong>und</strong> zieht<br />
sie zur Rechenschaft.<br />
Da sprach Gott der Herr zum Weibe: Warum<br />
hast du das getan? Das Weib sprach:<br />
Die Schlange betrog mich also, dass ich ass.<br />
Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast<br />
gehorcht der Stimme deines Weibes <strong>und</strong><br />
hast gegessen von dem Baum, davon ich dir<br />
gebot <strong>und</strong> sprach: Du sollst nicht davon essen,<br />
verflucht sei der Acker um deinetwillen,<br />
mit Kummer sollst du dich darauf nähren<br />
dein Leben lang.<br />
Die Schlange verführte also dieses erste Menschenpaar<br />
zum Ungehorsam, aber auch zur Erkenntnis,<br />
das heisst zum Erfassen der Welt <strong>und</strong><br />
der eigenen Existenz, zum Erkennen auch der<br />
eigenen Bedingtheit <strong>und</strong> Endlichkeit. Die erwähnten<br />
Religionsgemeinschaften betrachten<br />
diesen Ungehorsam als Ursünde, als ersten<br />
Frevel, den insbesondere der Christ seiner Lebtag<br />
abbüssen muss <strong>und</strong> von dem ihn nur das<br />
Leiden des Gottessohnes wirklich erlöst.<br />
Lucas Cranach der Ältere zeigt in seinem Bild<br />
die verschiedenen Szenen dieser Geschichte,<br />
hinten rechts die Erschaffung Adams, in der<br />
Mitte Evas, vorn zentral die Ermahnung des<br />
Schöpfers, hinten das sich versteckende Paar<br />
<strong>und</strong> links die Vertreibung aus dem Paradies.<br />
Unter den Tieren im Paradies war aber die<br />
Schlange listiger als alle anderen, <strong>und</strong> sie streute<br />
Zweifel am Wort des Gärtners.<br />
Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr<br />
werdet mitnichten des Todes sterben; sondern<br />
Gott weiß, dass, welches Tages ihr davon<br />
esst, so werden eure Augen aufgetan,<br />
<strong>und</strong> werdet sein wie Gott <strong>und</strong> wissen, was<br />
gut <strong>und</strong> böse ist.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> <strong>11</strong>
B. MACHT UND GEHORSAM IN SIPPEN<br />
Biologie <strong>und</strong> Anthropologie erzählen eine andere<br />
Geschichte des Gehorsams – <strong>und</strong> der Verführung.<br />
Nämlich Herrschaft, Führung <strong>und</strong> Unterwerfung<br />
in sozialen Gruppen, insbesondere bei<br />
höheren Säugern wie Wölfen oder den Primaten.<br />
Diese Gruppen oder Sippen sind hierarchisch<br />
organisiert. Es wird geführt <strong>und</strong> gehorcht. In<br />
früheren <strong>Vorlesung</strong>en wurde das genauer dargelegt,<br />
aber es gehört ja auch zu unserem Alltagswissen,<br />
dass insbesondere Männchen dominieren<br />
oder sich unterwerfen. Wenn die Verhältnisse<br />
nicht klar sind, wird um die Macht, die Dominanz<br />
gekämpft; hier zum Beispiel zwischen<br />
Wölfen.<br />
Führung wird anerkannt: der Stärkere, Erfahrenere,<br />
Ältere führt:<br />
Dominanzkämpfe kennen wir auch aus Primatengesellschaften,<br />
insbesondere bei den Menschenaffen.<br />
Dominanz- <strong>und</strong> Unterwerfungsverhalten<br />
<strong>und</strong> ebenso die rituelle Darstellung der<br />
Machtverhältnisse ist angeboren. Dominanzkampf<br />
bei Gorillas:<br />
Gekämpft wird nicht andauernd; das würde zu<br />
viel Energie absorbieren. Meist wird Führung<br />
anerkannt <strong>und</strong> regelmässig rituell dargestellt:<br />
Nämlich in Dominanz- <strong>und</strong> Unterwerfungsverhalten,<br />
was wir ja bei unseren Haush<strong>und</strong>en kennen.<br />
Unterwerfung bei Wölfen:<br />
Auch wir Menschen kennen diese Kämpfe. Und<br />
die entsprechenden Rituale. Unsere Sportveranstaltungen<br />
sind ja weitgehend ritualisierte<br />
Dominanzkämpfe.<br />
Die Schnauze hinhalten:<br />
Rituelles Unterwerfungsverhalten kennen wir<br />
auch in unserem Alltag. Bereits bei Begrüssungen<br />
wird Unterwerfungsverhalten gezeigt. Vor<br />
Tausenden von Jahren in Ägypten:<br />
Unterwerfung von jungen Wölfen:<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 12
Ein forschender Psychologe machte sich vor 50<br />
Jahren daran, den Gehorsam in unserem simplen<br />
Alltag genauer zu erk<strong>und</strong>en: Stanley Milgram.<br />
Genauso heute in Japan oder bei uns:<br />
Sind wir rebellisch oder gehorsam? Sie <strong>und</strong><br />
ich? So fragte Milgram. Von den beunruhigenden<br />
Experimenten <strong>und</strong> deren Resultaten haben<br />
Sie sicherlich schon vernommen; sie gehören zu<br />
den berühmtesten in der Psychologie. Im Zusammenhang<br />
mit unserem Thema lohnt es sich,<br />
sie genauer anzuschauen.<br />
Milgram publizierte in einer Tageszeitung ein<br />
Inserat:<br />
Hier die Extremform: die Prostration, die Unterwerfung<br />
des katholischen Geistlichen bei<br />
seiner Weihe unter die Macht der Kirche.<br />
C. GEHORSAMSBEREITSCHAFT - DAS MILGRAM-<br />
EXPERIMENT<br />
Gehorsamsbereitschaft ist angeboren – Streben<br />
nach Dominanz allerdings genauso. Und diese<br />
beiden widersprüchlichen Verhaltensweisen<br />
führen zu Konflikten, denen wir alle unterworfen<br />
sind. Nur bei den Männern? Schön wäre es.<br />
Auch die Frauen kennen Dominanzverhalten<br />
<strong>und</strong> Rangordnung, im Tierreich bei unseren<br />
zweitnächsten Verwandten, den Bonobos, die<br />
tendenziell matriarchalisch organisiert sind, <strong>und</strong><br />
wo der Rang der Männchen auch von demjenigen<br />
der Mütter abhängt.<br />
Da wurden Menschen gesucht – Menschen wie<br />
Sie <strong>und</strong> ich – die bereit waren, gegen Bezahlung<br />
eine St<strong>und</strong>e ihres Lebens herzugeben <strong>und</strong> an<br />
einem Experiment mitzumachen. Und zwar an<br />
einem Experiment, bei dem es um die Lernfähigkeit<br />
von Menschen unter Stress ging. Genauer:<br />
ob man durch Verabreichen eines elektrischen<br />
Stromstosses die Lernfähigkeit verbessern<br />
könne. Die durch das Inserat rekrutierten<br />
Personen sollten dabei als „Lehrer“ fungieren.<br />
Sie hatten den so genannten Versuchspersonen<br />
Wortpaare vorzusagen, die diese wiederholen<br />
mussten. Machten sie einen Fehler, erhielten sie<br />
einen Stromstoss. Beachten Sie den Wortlaut<br />
im Inserat:<br />
Hätten die mythischen ersten Menschen gescheiter<br />
gehorcht? Wäre dann die Ursünde ausgeblieben<br />
<strong>und</strong> würden wir immer noch im Paradies<br />
hausen?<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 13
„We need you“, heisst es da. Wir brauchen Sie.<br />
Wer? Ein grosser Professor der weltberühmten<br />
Yale-University.<br />
Die Versuchsanordnung sah so aus:<br />
Hier sehen sie den Versuchsleiter, also Milgram<br />
oder einer seiner Mitarbeiter; hier den durch das<br />
Inserat aufgebotenen so genannten „Lehrer“ <strong>und</strong><br />
hier den „Schüler“, der an einem Stromgenerator<br />
angeschlossen ist. Der „Lehrer“ konnte zusehen,<br />
wie der „Schüler“ an die Elektroden angeschlossen<br />
wird.<br />
Die Lehrer begannen also mit dem Experiment<br />
<strong>und</strong> bei jedem Fehler des „Schülers“ hatten sie<br />
die Voltzahl zu erhöhen. Allerdings begann<br />
der „Schüler“ mit der Zeit, „aua“ zu rufen, zu<br />
zucken – was der „Lehrer“ durchs Fenster beobachten<br />
konnte; bei höheren Voltzahlen schrie<br />
er lauter, schrie, man solle aufhören, wand sich<br />
auf dem Stuhl, geriet an den Rand der Ohnmacht.<br />
Er spielte also einen Mann, der gefoltert<br />
wurde. Bei hoher Voltzahl hämmerte der „Schüler“<br />
an die Wand, noch höherer geschah keine<br />
Reaktion mehr; der „Lehrer“ musste annehmen,<br />
dass der Schüler vor Schmerz ohnmächtig geworden<br />
war.<br />
Wenn sich der so genannte „Lehrer“ an den Versuchsleiter,<br />
also Milgram, wandte, wurde standardmäßig<br />
geantwortet:<br />
Milgram-Experiment: „Ob es dem Schüler<br />
gefällt oder nicht, Sie müssen weitermachen,<br />
bis er alle Wörterpaare korrekt gelernt<br />
hat. Also bitte machen Sie weiter!“<br />
Dann aber wurde der „Schüler“ in einem Nebenzimmer<br />
platziert, <strong>und</strong> das Lernexperiment startete.<br />
Was der so genannte „Lehrer“ nicht wusste:<br />
der „Schüler“ war ein Schauspieler. Und Strom<br />
floss keiner. Der „Lehrer“ aber musste denken,<br />
dass der „Schüler“ Stromstösse erhielt, <strong>und</strong> zwar<br />
beginnend mit 15 Volt, doch bei jedem Fehler<br />
wurde um 15 Volt gesteigert. Hier sehen Sie das<br />
Schaltpult des „Lehrers“<br />
„Die Schocks mögen schmerzhaft sein, aber<br />
sie hinterlassen keine bleibende Gewebsschädigung.<br />
Also fahren Sie bitte weiter!“<br />
Die „Lehrer“ gerieten in ein grosses Dilemma:<br />
Sie erkannten, dass sie dem „Schüler“ Schmerzen<br />
zufügten, fühlten sich aber gleichzeitig verpflichtet,<br />
das Lernexperiment zu einem guten<br />
Ende zu führen, denn der Versuchsleiter hielt sie<br />
dazu an. Stanley Milgram <strong>und</strong> viele befragte<br />
Kollegen erwarteten, dass die rekrutierten „Lehrer“<br />
bald mit der Versuchsreihe aufhören würden.<br />
Er rechnete damit dass die rekrutierten<br />
„Lehrer“ anfänglich mitmachen, dann aber sich<br />
weigern würden:<br />
Hier die Skala auf dem Schaltpult. Deutlich zu<br />
sehen ist, dass sie von „Leichtem Schock“ über<br />
„“Starken Schock“ bis zu „Gefahr. Schwerster<br />
Schock“ geht, ja sogar darüber hinaus.<br />
Er irrte. Die allermeisten blieben dran <strong>und</strong> führten<br />
das Experiment bis zum Schluss – also bis<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 14
zur Schmerzohnmacht des vermeintlichen<br />
„Schülers“ – durch. Beim Standard-Experiment<br />
gingen alle – alle! – Versuchspersonen bis zu<br />
300 Volt – schwerem Schock also – <strong>und</strong> 62 %,<br />
also zwei Drittel bis zum maximalen Schock<br />
von 450 Volt. Milgram berichtet:<br />
Ich beobachtete einen reifen <strong>und</strong> anfänglich<br />
selbstsicher auftretenden Geschäftsmann,<br />
der das Labor lächelnd <strong>und</strong> voller Selbstvertrauen<br />
betrat. Innerhalb von 20 Minuten<br />
war aus ihm ein zuckendes, stotterndes<br />
Wrack geworden, das sich rasch einem Nervenzusammenbruch<br />
näherte. Er zupfte dauernd<br />
an seinem Ohrläppchen herum <strong>und</strong><br />
rang die Hände. An einem Punkt schlug er<br />
sich mit der Faust gegen die Stirn <strong>und</strong><br />
murmelte: ‚Oh Gott lass uns aufhören‘. Und<br />
doch reagierte er weiterhin auf jedes Wort<br />
des Versuchsleiters <strong>und</strong> gehorchte bis zum<br />
Schluss.<br />
Milgram fasst zusammen:<br />
Ich habe ein einfaches Experiment an der<br />
Yale-Universität durchgeführt, um herauszufinden,<br />
wie viel Schmerz ein gewöhnlicher<br />
Mitbürger einem anderen zufügen<br />
würde, einfach weil ihn ein Wissenschaftler<br />
dazu aufforderte. Starre Autorität stand gegen<br />
die stärksten moralischen Gr<strong>und</strong>sätze<br />
der Teilnehmer, andere Menschen nicht zu<br />
verletzen, <strong>und</strong> obwohl den Testpersonen<br />
die Schmerzensschreie der Opfer in den<br />
Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl<br />
der Fälle die Autorität.<br />
Dies das erstaunliche Resultat: die extreme<br />
Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer<br />
Autorität fast beliebig weit zu folgen.<br />
Die Veranlassung war am wirksamsten, wenn<br />
der Versuchsleiter, also die Autorität, anwesend<br />
war, <strong>und</strong> am wirkungslosesten, wenn die Instruktionen<br />
per Tonband oder Telefon erfolgten.<br />
Auch die Nähe zum „Schüler“ beeinflusste die<br />
Bereitschaft zum Abbruch des Versuches. So<br />
gingen ohne Rückmeldung der „Schüler“ praktisch<br />
alle Versuchspersonen bis zur höchsten<br />
Schockstufe, während beim direkten Kontakt<br />
nur noch 30 Prozent die Höchststufe erreichten.<br />
Das Experiment ist ernüchternd: Wir lassen uns<br />
von Autoritäten zum Foltern verführen, denn<br />
der Versuchsleiter, der Psychologe an der Yale-<br />
Universität, ist zweifelsohne eine Autorität. Milgram<br />
arbeitete in den USA, doch das Experiment<br />
wurde an verschiedensten Universitäten auf der<br />
Welt, in den verschiedensten Kulturen wiederholt<br />
– mit denselben Resultaten.<br />
Mit betäubender Regelmässigkeit war zu<br />
sehen, wie nette Leute sich den Forderungen<br />
der Autorität beugten <strong>und</strong> gefühllos<br />
<strong>und</strong> hart handelten.<br />
Warum tun wir das? Auch Milgram greift auf die<br />
autoritären, hierarchischen Strukturen <strong>und</strong><br />
deren evolutionären Vorzüge im Tierreich<br />
zurück.<br />
Bei Vögeln, Amphibien <strong>und</strong> Säugetieren<br />
finden wir Herrschaftsstrukturen <strong>und</strong> bei<br />
menschlichen Wesen Autoritätsstrukturen,<br />
die eher durch Symbole vermittelt werden<br />
als durch unmittelbare physische Gewalt.<br />
Hierarchie wird akzeptiert, denn sie festigt die<br />
Gruppe oder die Sippe <strong>und</strong> hilft ihr beim Überleben.<br />
Hierarchisch gegliederte <strong>und</strong> geführte<br />
Sippen sind unstrukturierten Haufen überlegen<br />
– im Extremfalle kleine Armeen – oder Jagdgesellschaften.<br />
In unserer gesellschaftlichen Realität vermitteln<br />
verschiedene Faktoren diese Autorität <strong>und</strong> die<br />
Gehorsamkeit: in aller erster Linie die Familie,<br />
die natürlich primär eine hierarchische Organisation<br />
ist, dann aber auch Institutionen wie die<br />
Schule, die wirtschaftlichen Unternehmen, der<br />
Staat mit seiner Gesetzgebung, das Militär oder<br />
wie im vorliegenden Falle wissenschaftliche<br />
Institute.<br />
Autorität <strong>und</strong> Status werden durch Verhalten,<br />
Kleidung, räumliche Ordnungen, Rituale vermittelt,<br />
denen wir uns schlecht oder gar nicht<br />
entziehen können <strong>und</strong> die wir oft – das ist das<br />
Schlimme daran – nicht einmal bewusst wahrnehmen.<br />
In hierarchischen Situationen geraten wir in eine<br />
Art Bann – noch stärker als auf dem Souk -, <strong>und</strong><br />
der Bann ist eine Beziehung, ja eine Bindung zu<br />
einer Person von Autorität. Wir werden von der<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 15
Autorität geführt – oder eben verführt! -, eine<br />
Verpflichtung einzugehen, ihr bei einer wichtigen<br />
Angelegenheit behilflich zu sein. Die Autorität<br />
gibt sich als legitim aus, <strong>und</strong> mit unserem<br />
Verhalten verstärken wir wiederum diese Legitimität.<br />
Diesem Bann können wir uns nur gegen<br />
grosse innere Widerstände entziehen; er entspricht<br />
einer Art Trance oder Hypnose.<br />
Erstaunlich <strong>und</strong> erschreckend ist, dass uns die<br />
Würde der Autorität wichtiger ist als der<br />
Schmerz des Opfers. Die Versuchung, sich mit<br />
der Autorität zu identifizieren, ihren Anordnungen<br />
zu willfahren, kurz, von ihr verführt zu werden<br />
<strong>und</strong> sich an sie zu binden, ist grösser, als die<br />
Solidarität mit dem Schwachen <strong>und</strong> Ausgelieferten.<br />
Wir erinnern uns an das Dritte Reich <strong>und</strong><br />
die damalige Begeisterung vieler Menschen zur<br />
Unterordnung unter den Führer:<br />
Vergessen wir nicht: Milgram rekrutierte <strong>und</strong><br />
verführte ganz normale Leute – wie Sie <strong>und</strong> ich<br />
<strong>und</strong> wie die Menschen auf dem Heldenplatz in<br />
Wien.<br />
D. DAS GEFÄNGNIS IN DER UNI STANFORD<br />
Es kommt noch schlimmer. Unsere Verführbarkeit<br />
ist noch grösser. Wie steht es denn mit der<br />
Verführung, nicht zu gehorchen, sondern zu<br />
herrschen? Autorität walten zu lassen? Ein<br />
anderer Psychologieprofessor – an der Uni Stanford<br />
diesmal – wollte es wissen: Philip Zimbardo.<br />
Doch bevor wir mit Fingern auf jene Menschen<br />
zeigen, sollten wir bedenken, dass noch heute<br />
mehr Anteil genommen wird an Hitlers Untergang<br />
im Führerbunker – eine Filmannonce –,<br />
Sie spielt eine Rolle in der Geschichte. Auch<br />
Zimbardo begann mit einem Inserat. Männliche<br />
Studenten gesucht für ein Gefängnisexperiment.<br />
als an all den namenlosen Soldaten, die ihr Leben<br />
liessen. Hier der Zug der gefangenen Deutschen<br />
nach der Schlacht von Stalingrad.<br />
Dauer: Eine bis zwei Wochen. Bezahlung 15 Dollar<br />
pro Tag. 70 Studenten meldeten sich; diese<br />
wurden genau untersucht. Die unauffälligsten,<br />
gesündesten, „normalsten“ wurden rekrutiert.<br />
Sie sollten sich bereithalten, am folgenden Sonntag<br />
würden sie abgeholt. Was sie nicht wussten:<br />
Sie wurden per Polizei abgeholt.<br />
Jeder der Verdächtigten wurde in seiner<br />
Wohnung verhaftet, über die ihm zur Last<br />
gelegten Beschuldigungen informiert <strong>und</strong><br />
über seine Rechte aufgeklärt. Er musste sich<br />
mit ausgestreckten Armen <strong>und</strong> Beinen an<br />
das Polizeiauto lehnen, wurde durchsucht<br />
<strong>und</strong> in Handschellen gelegt - häufig unter<br />
den Blicken von überraschten <strong>und</strong> neugierigen<br />
Nachbarn.<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 16
Zimbardo versuchte also, die Verhaftung <strong>und</strong><br />
das Gefängnis selbst möglichst realistisch zu<br />
simulieren.<br />
Wir richteten unser Gefängnis im Keller des<br />
Gebäudes des Stanford Psychology Department<br />
ein, indem wir die beiden Enden eines<br />
Flures absperrten. Dieser Flur war „der Gefängnishof“.<br />
Die Gefängniszellen errichteten wir, indem<br />
wir die Türen der Laborräume entfernten<br />
<strong>und</strong> sie durch speziell angefertigte Türen<br />
mit Stahlstäben <strong>und</strong> Zellennummern ersetzten.<br />
Auf der den Zellen gegenüberliegenden<br />
Korridorseite befand sich ein kleiner Wandschrank,<br />
der den Namen "das Loch" erhielt<br />
<strong>und</strong> als Isolierzelle diente. Er war dunkel<br />
<strong>und</strong> sehr eng, … aber gross genug, damit ein<br />
„böser Gefangener“ darin aufrecht stehen<br />
konnte.<br />
Die Verhafteten wurden einzeln ins Gefängnis<br />
gebracht.<br />
oder Kittel, den der Gefangene während der<br />
ganzen Zeit ohne Unterwäsche trug. Auf der<br />
Vorder- <strong>und</strong> Rückseite des Kittels war seine<br />
Identifikationsnummer angebracht. Um den<br />
rechten Knöchel des Gefangenen wurde eine<br />
schwere Kette befestigt. Als Schuhe erhielt er<br />
Gummisandalen, <strong>und</strong> über seine Haare musste<br />
er einen Nylonstrumpf ziehen. Zum WC durften<br />
die Gefangenen nur mit verb<strong>und</strong>enen Augen.<br />
Die Verwendung von Identifikationsnummern<br />
ermöglichte es, bei den Gefangenen ein Gefühl<br />
der Anonymität zu erzeugen. Jeder Gefangene<br />
durfte nur mit seiner Nummer angesprochen<br />
werden <strong>und</strong> durfte von sich selbst <strong>und</strong> den anderen<br />
Gefangenen nur mit dieser Nummer reden.<br />
Nur der Hälfte der rekrutierten Studenten wurde<br />
nur diese Gefangenenrolle zugewiesen; die andere<br />
Hälfte – wohlverstanden per Los bestimmt –<br />
wurde Gefängniswärter.<br />
Diese Wärter erhielten kein besonderes Training<br />
für ihre Aufgabe. Statt dessen wurde es<br />
ihnen innerhalb bestimmter Grenzen selbst<br />
überlassen, zu tun, was sie für notwendig hielten,<br />
um Gesetz <strong>und</strong> Ordnung im Gefängnis<br />
aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> sich den Respekt der<br />
Gefangenen zu verschaffen.<br />
Hier die Uniform der Wärter:<br />
Wie diese Bilder zeigen, wurde jeder Gefangene<br />
systematisch durchsucht <strong>und</strong> musste sich vollständig<br />
entkleiden. Dann wurde er mit einem<br />
Spray entlaust. So sollte ihm vermittelt werden,<br />
dass man es für möglich hielt, dass er Krankheitserreger<br />
oder Läuse hat.<br />
Der Gefangene erhielt dann eine Uniform. Der<br />
Hauptbestandteil dieser Uniform war ein Kleid<br />
Verspiegelte Gläser verhinderten, dass ihre<br />
Augen oder ihre Gefühle für andere sichtbar<br />
waren, <strong>und</strong> unterstützten so ihre Anonymität.<br />
Zimbardo <strong>und</strong> seine Kollegen studierten selbstverständlich<br />
nicht nur die Gefangenen, sondern<br />
auch die Wärter, die sich in eine neue, machtvolle<br />
Rolle einfanden. Das heisst, ab diesem<br />
Moment überliess man das Experiment mehr<br />
oder weniger den Wärtern <strong>und</strong> ihren Gefangenen.<br />
Die Wärter setzten ihre Autorität rasch<br />
durch.<br />
Um 2:30 Uhr nachts wurden die Gefangenen<br />
brutal durch Pfiffe für den ersten von zahlreichen<br />
Zählappellen geweckt. Die Zählap-<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 17
pelle dienten dazu, die Gefangenen mit ihren<br />
Nummern vertraut zu machen (Zählappelle<br />
fanden mehrmals pro Schicht <strong>und</strong><br />
häufig nachts statt). Aber wichtiger noch<br />
gaben sie den Strafvollzugsbeamten regelmässig<br />
die Gelegenheit, Kontrolle über die<br />
Gefangenen auszuüben.<br />
Liegestützen wurden häufig zur körperlichen<br />
Bestrafung der Gefangenen eingesetzt. Sie wurden<br />
von den Wärtern bei Regelverstössen oder<br />
unangemessenem Verhalten gegenüber ihnen<br />
oder der Institution verhängt.<br />
Am zweiten Tag brach unter den Gefangenen<br />
ein Aufstand aus. Sie entfernten ihre Strumpfkappen,<br />
rissen ihre Nummern ab <strong>und</strong> verbarrikadierten<br />
sich in den Zellen, indem sie ihre Betten<br />
gegen die Tür stemmten.<br />
Die Strafvollzugsbeamten versammelten<br />
sich <strong>und</strong> entschieden, Gewalt mit Gewalt zu<br />
bekämpfen.<br />
Sie spritzten mit den bereits vorhandenen Feuerlöschern<br />
eisiges Kohlendioxyd in die Zellen<br />
<strong>und</strong> zwangen die Gefangenen so, von den Türen<br />
zurückzuweichen.<br />
Die Strafvollzugsbeamten brachen jede Zelle<br />
auf, zogen die Gefangenen nackt aus, entfernten<br />
die Betten, sperrten die Anführer in<br />
Einzelhaft <strong>und</strong> begannen, die Gefangenen<br />
zu schikanieren <strong>und</strong> einzuschüchtern.<br />
Eine der drei Zellen wurde als "Vorzugszelle"<br />
gekennzeichnet. Die drei Gefangenen, die sich<br />
am wenigsten an dem Aufstand beteiligt hatten,<br />
erhielten eine Vorzugsbehandlung. Die Wärter<br />
gaben ihnen ihre Uniformen <strong>und</strong> Betten zurück<br />
<strong>und</strong> erlaubten, sich zu waschen <strong>und</strong> die Zähne<br />
zu putzen. Den anderen Gefangenen wurde dies<br />
vorenthalten. Ausserdem erhielten sie in Anwesenheit<br />
der anderen Gefangenen besonderes<br />
Essen. Dies bewirkte, dass die Solidarität unter<br />
den Gefangenen zusammenbrach.<br />
Der Aufstand der Gefangenen trug ausserdem<br />
entscheidend dazu bei, den Zusammenhalt<br />
unter den Strafvollzugsbeamten zu<br />
stärken. Jetzt handelte es sich plötzlich<br />
nicht mehr nur um eine wissenschaftliche<br />
Untersuchung, um blosse Simulation. Statt<br />
dessen betrachteten die Strafvollzugsbeamten<br />
die Gefangenen als Unruhestifter, die<br />
darauf aus waren, sie fertig zu machen, <strong>und</strong><br />
die ihnen wirklich etwas antun konnten. Als<br />
Reaktion auf diese Bedrohung erhöhten sie<br />
ihre Kontrolle, Überwachung <strong>und</strong> Aggressivität.<br />
Das Verhalten der Gefangenen wurde vollständig<br />
<strong>und</strong> willkürlich von den Strafvollzugsbeamten<br />
kontrolliert.<br />
Zum Beispiel waren die Gefangenen nach 22:00<br />
Uhr, wenn das Licht gelöscht <strong>und</strong> die Zellen<br />
verschlossen waren, oft gezwungen, in die Eimer<br />
in ihren Zellen zu urinieren oder defäkieren.<br />
Gelegentlich erlaubten die Wärter den Gefangenen<br />
nicht, die Eimer auszuleeren, <strong>und</strong> bald begann<br />
das Gefängnis nach Urin <strong>und</strong> Fäkalien zu<br />
stinken.<br />
Das tägliche <strong>und</strong> nächtliche Schikanieren der<br />
Gefangenen durch die Wärter nahm stetig zu.<br />
Unsere Untersuchung dauerte noch keine<br />
36 St<strong>und</strong>en, als bei dem Gefangenen #8612<br />
eine akute emotionale Störung ausbrach<br />
<strong>und</strong> er begann, unter desorganisiertem<br />
Denken, unkontrolliertem Schreien <strong>und</strong><br />
Wutanfällen zu leiden. Trotz all dieser<br />
Symptome dachten wir bereits so sehr wie<br />
Gefängnisautoritäten, dass wir dies für einen<br />
Täuschungsversuch hielten - den Versuch,<br />
uns dazu zu bewegen, ihn freizulassen.<br />
Es dauerte eine ganze Weile, bis wir zu der<br />
Überzeugung gelangten, dass er wirklich litt<br />
<strong>und</strong> wir ihn entlassen mussten.<br />
Es wurden Besuchszeiten für Eltern <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>e<br />
organisiert. Doch auch diese Angehörigen unterzogen<br />
sich den Regeln <strong>und</strong> rebellierten nicht<br />
gegen die willkürlichen Massnahmen. Ich betone<br />
nochmals, dass alle diese Menschen freiwillig<br />
mitmachten <strong>und</strong> rechtlich gesehen jederzeit das<br />
Pseudo-Gefängnis hätten verlassen können.<br />
Doch selbst die Experimentatoren gerieten in<br />
den Bann der Anstalt.<br />
Zimbardo schreibt:<br />
Erst viel später realisierte ich, wie tief ich zu<br />
diesem Zeitpunkt in meiner Gefängnisrolle<br />
steckte - ich dachte wie der Leiter einer Justizvollzugsanstalt<br />
<strong>und</strong> nicht wie ein wissenschaftlich<br />
arbeitender Psychologe.<br />
Am Ende der Untersuchung waren die Gefangenen<br />
sowohl als Gruppe als auch als In-<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 18
dividuen am Boden zerstört. … Die Strafvollzugsbeamten<br />
hatten die vollständige<br />
Kontrolle über das Gefängnis gewonnen,<br />
<strong>und</strong> sie verfügten über den blinden Gehorsam<br />
jedes Gefangenen.<br />
Die Untersuchung musste nach sechs Tagen<br />
abgebrochen werden. Zimbardo beendete die<br />
Studie vorzeitig aus zwei Gründen. Zum einen<br />
zeigte sich, dass die Misshandlungen der Gefangenen<br />
nachts, wenn die Wärter davon ausgingen,<br />
dass sie nicht von den Wissenschaftlern<br />
beobachtet würden,, eskalierten.<br />
Der Mensch ist nicht nur bereit zu gehorchen<br />
<strong>und</strong> sich erniedrigen zu lassen, sondern auch,<br />
den anderen zu erniedrigen, <strong>und</strong> zwar psychisch<br />
<strong>und</strong> physisch <strong>und</strong> macht auch nicht Halt<br />
vor den intimsten Bereichen.<br />
Das Experiment wurde publiziert – wer Psychologie<br />
studierte, hörte irgendwann einmal davon<br />
–, aber eigentlich nur am Rande. Vermutlich<br />
schämte sich Zimbardo. Er wurde ein erfolgreicher<br />
Professor, sogar Präsident der Amerikanischen<br />
Psychologischen Gesellschaft. Eine ausführliche<br />
Dokumentation aber fehlte – bis vor<br />
wenigen Jahren. Da erinnerte man sich nämlich<br />
daran. Nachdem die Photos aus dem Abu-<br />
Ghraib-Gefängnis in Irak um die Welt flogen.<br />
Ihre Langeweile trieb sie zu immer pornographischeren<br />
<strong>und</strong> entwürdigenderen Misshandlungen.<br />
Zweitens kam Christina Maslach, eine junge<br />
Doktorandin … <strong>und</strong> erhob starke Einwände,<br />
als sie sah, wie unsere Gefangenen sich gegenseitig<br />
an den Schultern fassten <strong>und</strong> im<br />
Gänsemarsch, die Köpfe in Säcken <strong>und</strong> die<br />
Beine zusammengekettet, zur Toilette liefen.<br />
Vollkommen entrüstet sagte sie: "Es ist<br />
entsetzlich, was ihr diesen Jungen antut!"<br />
Und erst in diesem Moment entrann Zimbardo<br />
selbst dem Bann, in den er als Gefängnisdirektor<br />
geraten war. Er hatte sich den Machtstrukturen<br />
angepasst, war bereit gewesen, über Tage<br />
zuzusehen, wie junge Menschen von anderen<br />
jungen Menschen, die so fre<strong>und</strong>lich <strong>und</strong> liebenswürdig<br />
sind wie Sie <strong>und</strong> ich, schikaniert,<br />
gefoltert <strong>und</strong> gequält wurden.<br />
Anschliessend wurde mit den Studenten, die<br />
teilgenommen hatten, das Ganze durchdiskutiert.<br />
Einer erklärte:<br />
„ … denn es war ein Gefängnis für mich; es<br />
ist immer noch ein Gefängnis für mich. Ich<br />
betrachte es nicht als ein Experiment oder<br />
eine Simulation, weil es ein Gefängnis war,<br />
dass von Psychologen statt <strong>vom</strong> Staat geleitet<br />
wurde. Ich begann zu spüren, dass diese<br />
Identität, die Person, die ich war, die entschieden<br />
hatte, ins Gefängnis zu gehen, sich<br />
von mir entfernte - sich so weit entfernte,<br />
bis ich schliesslich nicht mehr sie war, ich<br />
war 416. Ich war wirklich meine Nummer."<br />
Sie kennen sie. Und Sie wissen, dass jene Unteroffiziere<br />
der amerikanischen Armee – eine<br />
Frau war darunter – wegen Misshandlung <strong>und</strong><br />
Folterung vor Gericht gezogen wurden. Ihre<br />
Verteidiger gelangten an Zimbardo. Denn dieser<br />
hatte ja argumentiert, dass nicht die Menschen<br />
schlecht sind, sondern dass man ganz normale<br />
Menschen in autoritäre Strukturen stecken<br />
kann <strong>und</strong> dass sich alle Menschen zu autoritärem<br />
<strong>und</strong> schikanösem Verhalten verführen lassen.<br />
In entsprechenden Situationen.<br />
Zimbardo sagte vor Gericht aus. Er argumentierte,<br />
dass die Umstände entscheidend sind, <strong>und</strong><br />
nicht die Schlechtigkeit einzelner Menschen.<br />
Wenn schon, dann müssten diejenigen vor Gericht<br />
gezogen werden, die für die Umstände<br />
verantwortlich waren. Also: Die amerikanische<br />
Armee als Ganzes <strong>und</strong> die Regierung. Diese<br />
wehrten sich. Mit dem Argument, dass sich in<br />
jeder Tonne guter Äpfel ein paar faule befinden<br />
würde. Und diese faulen Äpfel müssten aussortiert<br />
<strong>und</strong> weggesperrt werden. Entsprechend<br />
erhielten die Unteroffiziere – nicht aber ihre<br />
Vorgesetzten – hohe Strafen.<br />
Erst in der Folge publizierte Zimbardo das Experiment<br />
<strong>und</strong> seine Bezüge zum Gerichtsfall, leider<br />
unter dem reisserischen Titel<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 19
Kein guter Titel. Denn Luzifer war ja eben jener<br />
abgefallene, ungehorsame Engel, der nicht<br />
zum Gehorsam, sondern zum Ungehorsam verführte.<br />
Trotzdem sind natürlich Milgrams <strong>und</strong><br />
Zimbardos Arbeiten lesenswert, ebenso die Zusammenfassung<br />
im Internet.<br />
Milgrams <strong>und</strong> Zimbardos Experimente zeigen<br />
uns, dass wir vorsichtig sein müssen. Denn das<br />
Teuflische könnte gerade im Gehorsam stecken.<br />
Der britische Denker <strong>und</strong> Wissenschaftler<br />
Charles Percy Snow hat es auf den Punkt gebracht.<br />
Erfahrungen des Zwanzigsten Jahrh<strong>und</strong>erts –,<br />
dass Herrschaft total, totalitär werden kann, so<br />
total, dass der Ungehorsam des Einzelnen bedeutungslos<br />
wird. Umgekehrt aber hoffen Menschen<br />
immer wieder, einen guten Führer zu<br />
finden, einen guten König, einen Staatsmann,<br />
der nur das Wohl der Allgemeinheit im Auge<br />
hat. Und sie vergessen Baron John Actons – er<br />
war britischer Historiker - berühmten Satz:<br />
Power tends to corrupt, and absolute power<br />
corrupts absolutely. Great men are almost<br />
always bad men.<br />
Macht neigt zum Korrumpieren, <strong>und</strong> absolute<br />
Macht korrumpiert absolut. Grosse<br />
Männer waren meist böse Menschen.<br />
Wir erinnern uns an die Mao-Tsetung-<br />
Verehrung im kommunistischen China, aber<br />
auch in den westlichen Staaten in der Acht<strong>und</strong>sechziger-Zeit.<br />
Wenn man sich die lange <strong>und</strong> düstere Geschichte<br />
der Menschheit ansieht, entdeckt<br />
man, dass mehr scheussliche Verbrechen im<br />
Namen des Gehorsams begangen worden<br />
sind als jemals im Namen der Rebellion.<br />
Nicht nur im fernen Irak. Erst kürzlich wurden<br />
in unserem Lande Foltermethoden publik, diesmal<br />
in Internaten, die von Menschen geführt<br />
worden sind, die Gutes wollten – <strong>und</strong> Schlechtes<br />
bewirkten. Das Schweizer Fernsehen veröffentlichte<br />
die Dokumentarsendung „das Kinderzuchthaus“<br />
<strong>und</strong> schrieb:<br />
Jahrzehntelang wurden in der Luzerner Erziehungsanstalt<br />
Rathausen Kinder systematisch<br />
misshandelt <strong>und</strong> missbraucht – <strong>und</strong><br />
berufen hat sich dabei ein priesterlicher Direktor<br />
auf «göttliches Recht».<br />
E. VERFÜHRUNG UND BINDUNG<br />
Milgram <strong>und</strong> Zimbardo zeigten, wie die Macht<br />
der Umstände – Institutionen, autoritäre Strukturen,<br />
entsprechende Requisiten – unser Handeln<br />
beeinflussen können. Und doch. Wir können<br />
die Verantwortung für unser Tun nicht so<br />
leicht an die Umstände delegieren. Ebenso ist es<br />
allzu bequem, den Autoritäten die Schuld für<br />
Schlimmes zuzuschieben, denn Autorität beruht<br />
auf der Bereitschaft, sie zu akzeptieren,<br />
ihr zu gehorchen. Natürlich wissen wir – mit den<br />
Die Bindung all dieser kleinen Menschlein an<br />
den Führer, an die Autorität, die sie – <strong>und</strong> uns –<br />
in den Untergang führen <strong>und</strong> verführen kann,<br />
wird im chinesischen Lied, das wir am Anfang<br />
hörten <strong>und</strong> das eine Art Nationalhymne war,<br />
besonders gut illustriert. Wir hörten die DDR-<br />
Übersetzung von Paul Wiens:<br />
Osten erglüht, China ist jung.<br />
Rote Sonne grüsst Mao Tsetung.<br />
Frühling bringt er unsrer Zeit,<br />
hat sein Herz, sein rotes Herz, dem Volk<br />
geweiht.<br />
Mao geht voran, er führt ans Licht.<br />
Volk, dein Lächeln auf seinem Gesicht<br />
F. NEYERS WALLFAHRT<br />
Damit wären wir am Ende des <strong>Vorlesung</strong>steils<br />
angelangt. Nach einer kurzen Pause hören wir<br />
die nächste Episode von<br />
Neyers Wallfahrt<br />
<strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong> / <strong>Verführen</strong> <strong>und</strong> <strong>Verführt</strong>-<strong>Werden</strong> 20