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Homo fugit velut umbra Meine sehr verehrten ... - Andreas Köhler

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MÄCHTIGE OHNMACHT, MUTLOSE SCHWERMUT: MELANCHOLIE<br />

III - 19. NOVEMBER 2007: SINNLEER - MELANCHOLIE UND GEIST<br />

A. NICHTIG UND FLÜCHTIG<br />

1 Der Mann am Fenster - <strong>Homo</strong> <strong>fugit</strong> <strong>velut</strong> <strong>umbra</strong><br />

<strong>Meine</strong> <strong>sehr</strong> <strong>verehrten</strong> Damen und Herren,<br />

ich freue mich, Sie wieder zur Vorlesung über die mächtige Melancholie<br />

begrüssen zu dürfen. In der ersten Vorlesung hörten wir einiges über den<br />

Begriff und die früheren Vorstellungen zur Melancholie - Emotionaler<br />

Zustand? Krankheit? Temperament? - und die Entwicklung zum<br />

biologischen Konzept des Verlustes von Vitalität, Lebensfreude, Antrieb<br />

und Schwung, in der zweiten Vorlesung besprachen wir das soziologische<br />

Pendant, die Trauer über den Verlust der Angehörigen, der sozialen<br />

Sicherheit, der eigenen Identität. Wir haben gesehen, dass Trauer mehr ist<br />

als ein vorübergehendes seelisches Geschehen, dass Trauer anhalten kann,<br />

vor allem, wenn nicht nur die Vergangenheit schrecklich war, sondern auch<br />

die Zukunft Unheil verspricht. Auf diesem biologischen und soziologischen<br />

Boden wächst die Schwermut, die Depression, auch wenn die<br />

Bedingungen nicht immer so grauenerregend sind, wie wir sie in der letzten<br />

Vorlesung gesehen haben.<br />

Wir haben bis dahin das Gemüt - und mit ihm die melancholische Stimmung<br />

- in den Vordergrund gestellt. Doch zum seelischen Erleben gehört auch<br />

bewusstes Empfinden und Wahrnehmen, gehört das Denken, die Reflexion,<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 1


gehören Verstand und Vernunft. Der Mensch macht sich Gedanken zu diesen<br />

seinen Stimmungen, macht sich Gedanken zu seinem Schicksal, er erkennt<br />

den Lauf der Zeit, erkennt Anfang und Ende der Dinge - und seiner eigenen<br />

Existenz - wie es der römische Gott Janus symbolisiert.<br />

2 Janus, römische Münze aus dem 3. Jahrhundert<br />

Das Denken fliegt wohin es will, zielt nach den Sternen, nach den höchsten<br />

Idealen, nach Gott - und erlebt, in welchen Bedingungen, in wie engen<br />

Fesseln es gefangen ist: Im Körper, in den weltlichen Dingen, in der<br />

Gesellschaft, in der Zeit von Geburt bis zum Tod. Der Mensch erkennt seine<br />

Schwäche, seine Bedingtheit, seine Flüchtigkeit.<br />

So klagt Kohelet Jahrhunderte vor Christus im Talmud und im Alten<br />

Testament in einem Text, den die Christen Prediger nennen:<br />

3 1. Die Worte Kohelets, Sohn Davids, König in Jerusalem<br />

2. Nichtig und flüchtig, sprach Kohelet, nichtig und flüchtig, das alles<br />

ist nichtig.<br />

3. Welchen Gewinn >hat< der Mensch von aller seiner Mühe, mit der<br />

er sich abmüht unter der Sonne?<br />

4. Eine Generation geht und eine Generation kommt und die Erde bleibt<br />

stehen in Ewigkeit.<br />

5. Und die Sonne geht auf und die Sonne geht unter und zu ihrem Ort<br />

strebt sie, wo sie wieder aufgeht.<br />

Nichtig und flüchtig heisst es in der Talmud-Übersetzung. Luther übersetzt<br />

dieses Nichtig und Flüchtig mit eitel:<br />

4 Es ist alles ganz eitel, sprach der Prediger, es ist alles ganz eitel. Was<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 2


hat der Mensch für Gewinn von all seiner Mühe, die er hat unter der<br />

Sonne?<br />

Eitel hiess im Deutschen ursprünglich nichts anderes als leer, genau wie<br />

vanus im Lateinischen.<br />

5 eitel<br />

leer, öde, nichtig, vergeblich<br />

auf Wirkung bedacht, selbstgefällig, gefallsüchtig<br />

vanus<br />

inhaltslos, leer, nichtig, eitel, vergeblich, prahlerisch, lügenhaft<br />

vanitas<br />

eitles Wesen, Nichtigkeit, Schein, Lüge<br />

Es ist alles eitel, klagt Kohelet, alles nichtig, und nicht anders klagt<br />

zweitausend Jahre später, in der Barockzeit <strong>Andreas</strong> Gryphius<br />

6 <strong>Andreas</strong> Gryphius<br />

im Sonett<br />

7 Es ist alles eitel<br />

DV sihst / wohin du sihst / nur Eitelkeit auff Erden.<br />

Was diser heute baut / reist jener morgen ein:<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 3


Wo itzund Städte stehn / wird eine Wisen seyn /<br />

Auff der ein Schäfers-Kind wird spilen mit den Herden:<br />

Was itzund prächtig blüht / sol bald zutretten werden<br />

Was itzt so pocht und trotzt ist Morgen Asch und Bein /<br />

Nichts ist / das ewig sey / kein Ertz / kein Marmorstein.<br />

Itzt lacht das Glück uns an / bald donnern die Beschwerden.<br />

Der hohen Thaten Ruhm / muss wie ein Traum vergehn.<br />

Soll denn das Spil der Zeit / der leichte Mensch bestehn?<br />

Ach! was ist alles diss / was wir vor köstlich achten /<br />

Als schlechte Nichtigkeit / als Schatten / Staub und Wind;<br />

Als eine Wisen-Blum / die man nicht wider find't.<br />

Noch will was Ewig ist / kein einig Mensch betrachten!<br />

Es war ausgerechnet die in Kirchen und Palästen üppige Barockzeit, die<br />

diese Vanitas, diese Eitelkeit literarisch und in Bildern dargestellt hat, diese<br />

schwermütigen Klage über die Vergänglichkeit der Welt:<br />

8 Renard de Saint-André, Vanitas, 17. Jahrhundert<br />

voller Symbole der Vergänglichkeit, dem menschlichen Schädel, der Musik,<br />

die so rasch verklingt, der Kerze, die verlöscht, den Nelken, die verblühen,<br />

der Uhr die stehen bleibt. Von Pieter Claesz<br />

9 Pieter Claesz: Vanitas, Stilleben, 1630<br />

Eine Allegorie, ein Sinnbild gleichen Inhalts, Schädel, ausgelöschte Kerze,<br />

umgekipptes Glas, angesengte Feder die auf unnützen Schriften liegt.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 4


Das sind weniger Klagen, sondern vielmehr bildliche Ermahnungen,<br />

Warnungen vor der Eitelkeit. Aber sie sind natürlich nicht nur das. Das sehen<br />

wir hier:<br />

10 Pieter Boel, 17. Jahrhundert, Vanitas-Stillleben<br />

Mit einer Anhäufung von Gold und Silber und anderen Schätzen, Zeichen<br />

von Ruhm und Ehre, Macht - die Bischofsmütze -, und wiederum die eitlen<br />

Musikinstrumente, alles irdisches Zeug, das niemand mit ins Grab - in den<br />

Sarkophag im Hintergrund - mitnehmen kann.<br />

Und doch - diese Bilder leben nicht nur von intellektuellen Aussage, sondern<br />

ebenso vom gestalterischen Raffinement. Sie sind alle doppeldeutig, sie<br />

klagen die Eitelkeit an - und verherrlichen sie in ihrer Pracht. Sie kamen in<br />

Mode wie die üppigen Roben der Herrschaften: nur der Wohlhabende<br />

konnte sich ein Bildnis der Eitelkeit leisten, nur er konnte sein gepflegtes<br />

Interieur mit einem Vanitas-Bild schmücken; der gebildete Reiche stellte<br />

seinen Reichtum mit teuren Bildern zur Schau und bewies gleichzeitig, dass<br />

er eigentlich über diesen sinnlichen Freuden steht.<br />

Eitelkeit als Zur Schau Stellen der eigenen Bedeutung war - und ist -<br />

natürlich auch unzählige Karikaturen wert.<br />

11 George Cruikshank, 19. Jahrhundert, Monstrosities.<br />

Alles ist eitel klagt Kohelet, alles dreht sich im Wind und der Wind weht<br />

nach Süden und weht nach Norden und alles ist einerlei. Und der Mensch<br />

verschwindet und es ist kein Andenken an die Früheren und an die Folgenden.<br />

Ja Kohelet hadert mit Gott, der diese eitle Welt ja erschaffen hat,<br />

hadert, genau so, wie Hiob es tat.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 5


12 Und ich richtete mein Herz darauf in Weisheit zu suchen und auszukundschaften,<br />

was unter dem Himmel getan wird. Ein übles Geschäft<br />

>gab< Gott dem Menschen, sich in ihm abzumühen.<br />

Jedes Tun ist Hauch und ein Haschen nach Wind. Ja er zweifelt an der<br />

Erkenntnis, an der geistigstem Gabe, an der Weisheit, die doch dem<br />

Menschen von Gott verliehen worden ist. Sie ist nicht besser als die Torheit:<br />

13 Und ich richtete mein Herz darauf, die Weisheit zu erkennen und das<br />

Wissen von Torheit und Torheit. Ich erkannte, dass auch dieses Streben<br />

nach Wind war. Denn in der ganzen Weisheit >ist< viel Verdruss und<br />

wer Erkenntnis mehrt, mehrt Leiden.<br />

Der Vorwurf klingt bis in unsere Tage: Warum ist die Welt so, wie sie ist?<br />

Warum hat Gott, wenn er denn nicht nur allmächtig, sondern auch gütig ist,<br />

die Welt so erschaffen, dass alles Mühen nutzlos und eine Illusion ist?<br />

14 Karel Dujardin, Allegorie, 17. Jahrhundert<br />

Der Knabe mit den Seifenblasen, die so rasch vergehen wie die Träume des<br />

Menschen, der sich in seinem dummen Übermut gar auf eine Seifenblase<br />

stellt. Der <strong>Homo</strong> bulla, der Seifenblasenmensch wurde ein Symbol für die<br />

Vergänglichkeit des Lebens und für den Naivling, der sich trügerischen<br />

Hoffnungen hingibt.<br />

B. TOTENTANZ<br />

Alles Streben ist eitel, denn es führt nur zu einem Ziel: Zum Tod. Aus dem<br />

15. Jahrhundert, das Triptychon von Hans Memling<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 6


15 Hans Memling, 15. Jahrhundert. Triptychon der irdischen Eitelkeit und<br />

der göttlichen Erlösung<br />

mit der personifizierten nackten Eitelkeit in der Mitte, dem Tod auf der<br />

linken Seite, dem Diabolus und der Hölle auf der rechten. Auf der Rückseite<br />

das Wappen wohl des Auftraggebers, dazu der Erlöser in der Mitte und ein<br />

Schädel<br />

16 Hans Memling, Wappen, Erlöser und Schädel<br />

als Ermahnung, dass nur aufersteht, wer in Christus lebt. Der Schädel galt<br />

und gilt allgemein - auch heute noch als - Memento mori. Als Mahnung an<br />

den Tod. Nochmals bei Memling<br />

17 Hans Memling, Rückseite Heilige Johannes und Veronika<br />

heisst es lapidar: morieris. Du wirst sterben. Das hörten wir auch am Anfang<br />

der Vorlesung in der Passecaille, dem Tanz aus dem 17. Jahrhundert eines<br />

anonymen Dichters und Komponisten, gesungen von Zomer, Van Dyck und<br />

Buet zu den Harfenklängen von Christina Pluhar singen<br />

18 <strong>Homo</strong> <strong>fugit</strong> <strong>velut</strong> <strong>umbra</strong><br />

Der Mensch, das Menschendasein flieht wie ein Schatten. Eigentlich heisst<br />

es - auf Sonnenuhren zu sehen -:Tempus <strong>fugit</strong> <strong>velut</strong> <strong>umbra</strong>.<br />

19 Tempus <strong>fugit</strong> <strong>velut</strong> <strong>umbra</strong> - die Zeit flieht wie ein Schatten<br />

Das Dasein ist ein makabrer Tanz.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 7


20 O come t'inganni<br />

se pensi che gl'anni<br />

non hann'da finire<br />

bisogna morire<br />

O wie täuschst du dich,<br />

Wenn du glaubst, dass die Jahre<br />

nimmer vergehen.<br />

Jeder muss sterben.<br />

21 E' un sogno la vita<br />

che par si gradita<br />

e breve il gioire<br />

bisogna morire<br />

Das Leben ist ein Traum,<br />

der so lieblich erscheint;<br />

Kurz ist das Freuen,<br />

Jeder muss sterben.<br />

Keine Medizin hilft, keiner kann genesen.<br />

22 Non si trova modo<br />

di scoglier'sto nodo<br />

non val il fuggire<br />

bisogna morire<br />

Nichts lässt sich finden,<br />

Den Knoten zu lösen<br />

Das Fliehen hilft nichts;<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 8


Jeder muss sterben.<br />

23 E quando che meno<br />

ti pensi nel seno<br />

ti vien a finire<br />

bisogna morire<br />

Und wenn du am wenigsten<br />

in deiner Brust darauf sinnst,<br />

ist es an dir zu enden.<br />

Jeder muss sterben.<br />

Du kannst dich am Leben ergötzen, kannst dich deinen Lüsten hingeben, du<br />

stirbst, stirbst essend, trinkend, lachend, tanzend. Und alles verlierst du: die<br />

Gesundheit, die Jugend, die Vitalität, die Erotik, Ruhm, Ehre, Geld -<br />

Ausdruck der Melancholie.<br />

Sie kennen diese Totentanzbilder, wie sie im Mittelalter schon populär<br />

wurden, hier aus dem Benediktinerklosters St. Mang, Füssen<br />

24 Benediktinerklosters St. Mang, Füssen: Totentanz, um 1600<br />

Das Motto heisst es: Sagt ja, sagt nein, getanzt muss sein. Keiner kann sich<br />

entwinden und dem Tod einen Korb geben. Hier eine Kopie des Totentanzes<br />

von der Umfassungsmauer des Laienfriedhofs der Benediktinerkirche in<br />

Basel<br />

25 Laienfriedhof der Benediktinerkirche in Basel. Kopie<br />

der leider vor zweihundert Jahren zerstört worden ist. Jeder muss sterben,<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 9


auch die Königin wird im Tanz vom Tod mitgenommen.<br />

26 Kopie von J. R. Feyerabend, 1806, Tod und Königin<br />

Der Tod lächelt:<br />

27 Tod und Königin<br />

Frau Königin eur’ Freud ist aus,<br />

Springen tut nun ins Todtenhaus<br />

Euch hilft kein Schöne, Gold noch Geld,<br />

Ich spring mit euch in jene Welt.<br />

Weh und ach, O weh und immer,<br />

Wo ist jetzund mein Frauenzimmer,<br />

Mit denen ich hat Freuden viel,<br />

O Tod thu g’mach mit mir, nicht eyl.<br />

Die Königin will offensichtlich noch Zeit schinden. Nicht anders geht es dem<br />

Doktor, hier im Totentanz von Matthäus Merian<br />

28 Matthäus Merian: Tod und Doktor<br />

C. HANDLUNGSHEMMUNG<br />

Wenn wir aus all dem ein Gemeinsames entwickeln wollen, so kommen wir<br />

zum dritten Verlust, der die Melancholie, die Schwermut, das seelische<br />

Niedergedrücktsein auszeichnet - neben dem biologischen Verlust der<br />

Vitalität, der Sinnlichkeit und dem soziologischen Verlust der Identität, der<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 10


Gemeinschaft. Dieser dritte Verlust ist das Verlieren der handelnden<br />

Kraft. Melancholie heisst auch Handlungshemmung; jede Bemühung des<br />

Menschen ist zum Scheitern verurteilt, was er anpackt, zerrinnt ihm unter<br />

den Fingern, was er aufbaut, zerfällt wieder. Entsprechend sitzen auf den<br />

Bildern der Melancholie - seit dem Altertum gibt es sie -, die Menschen<br />

untätig da:<br />

Aus der römischen Klassik, der augustäischen Kaiserzeit in Rom,<br />

29 der melancholische Held Ajax<br />

aus der französischen Romantik von der Malerin Constance Charpentier<br />

30 Constance Charpentier: Melancholie, 1801<br />

Bekannte Werke entstanden in der Barockzeit:<br />

31 Domenico Feti, 17. Jahrhundert, Melancholie<br />

Erneut mit dem Schädel als Sinnbild der menschlichen Vergänglichkeit,<br />

unten der kopflose Torso, ein an den Tisch gebundener Hund. Spielende<br />

Hunde sind auf den üppigen Barockbildern regelmässig zu sehen, sie stehen<br />

für spielerische Lust, aber auch für ungezügelte Sexualität, vermutlich weil<br />

sie sich nichts daraus machen, in der Öffentlichkeit zu kopulieren. Hier aber<br />

ist die Lust an kurzer Leine. Und auch hier der Kontrast, das Spiel mit Klage<br />

und Opulenz. Die erotische Üppigkeit der jungen Frau, der man schönere<br />

Stunden gönnt, als das Sinnieren über die Vergänglichkeit, kontrastiert mit<br />

der Gruseligkeit des Schädels.<br />

Die berühmteste Melancholie zweifellos, die übrigens auch Feti inspiriert<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 11


hat, ist Dürers Radierung.<br />

32 Albrecht Dürer, Melancholie, 16. Jahrhundert<br />

Die Melancholie sitzt da und studiert vor sich hin, ihre Werkzeuge, Symbole<br />

des Handelns, liegen nutzlos herum; der Hund schläft; die Uhr läuft ab.<br />

Dürers Melancholie zeigt auf den ersten Blick eine auch den Betrachter<br />

lähmende Untätigkeit. Immerhin: Sie schläft nicht. Sie sinniert. Und: Ihr<br />

Putto studiert fleissig und zeichnet auf. Die Melancholie enthält auch eine<br />

Kraft, eine Ladung, wenn wir so wollen, eine Spannung, die eben erst durch<br />

die Untätigkeit ermöglicht wird. Was aus dieser Spannung werden kann -<br />

das werden wir in späteren Vorlesungen hören.<br />

Aber erst einmal steht dieses melancholische Grübeln im Vordergrund,<br />

dieses Herumstudieren, diese Untätigkeit, diese Langeweile, der Lebensüberdruss,<br />

dieses urmenschliche Lebensgefühl, das zum Zweifel am Sinn des<br />

Lebens führt, ja letztlich in die Verzweiflung - und zur Einsicht in die<br />

Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz, zur Einsicht, dass das ganze Leben<br />

eine Folge von Niederlagen bedeutet. Dies fasste ein Aufklärer wie Denis<br />

Diderot,<br />

33 Louis-Michel van Loo: Denis Diderot<br />

der Mitbegründer der Encyclopédie voller Sarkasmus in die Worte:<br />

34 Denis Diderot: Blöde geboren werden, unter Schmerzen und Schreien;<br />

Spielball von Unwissenheit, Irrtum, Not, Krankheiten, Bosheit und<br />

Leidenschaften; Schritt für Schritt zurückkehren zur Blödheit; vom<br />

Kleinkindergebrabbel zum Altersgefasel; leben inmitten von Halunken<br />

und Scharlatanen jeglicher Art; sterben zwischen einem Quacksalber,<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 12


der einem den Puls fühlt, und einem Pfaffen, der einem den Kopf<br />

verwirrt; nicht wissen woher man kommt, warum man gekommen ist,<br />

wohin man geht: das nennt man also das wichtigste Geschenk unserer<br />

Eltern und der Natur: das Leben.<br />

D. CHRISTENTUM UND ACEDIA<br />

Der jüdische Kohelet klagte schon im Altertum über die Nichtigkeit des<br />

Lebens. Diderot, der atheistische Aufklärer der Neuzeit nicht anders.<br />

Dazwischen spannt sich die Entwicklung und die Dominanz des Christentums,<br />

das diesem Geschenk - nicht der Eltern, nicht der Natur, sondern<br />

Gottes Geschenk - eine ganz andere Bedeutung gab. Das menschliche Leben<br />

ist ein Geschenk Gottes, ist Teil der Welt, die er aus freiem Ratschluss<br />

erschaffen hat. Hier bei Hieronymus Bosch in seiner Paradiesszene:<br />

35 Hieronymus Bosch: (Paradies und Hölle)<br />

Hinten erschafft Gott Eva aus Adams Seite. Doch Adam wird verführt von<br />

Eva und von der Schlange, erliegt den Verlockungen des Teufels und<br />

befleckt dieses Paradies. Gott straft den Menschen mit der Vertreibung aus<br />

dem Paradies, wie uns das alte Testament lehrt:<br />

36 ... verflucht sei der Acker um deinetwillen! Mit Mühsal sollst du dich<br />

von ihm nähren dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen,<br />

und du sollst das Kraut auf dem Felde essen. Im Schweisse deines<br />

Angesichts sollst du dein Brot essen, ...<br />

Das Leben wird zur Mühsal, zur Qual, die der Mensch bestehen muss. Das<br />

Neue Testament lehrt, dass der Mensch erlöst werden kann, dass er Gottes<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 13


Liebe wieder würdig wird, einerseits durch seinen Glauben an die Göttlichkeit<br />

Christi und dessen Opfertod - Matthäus, Kapitel 10<br />

37 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen<br />

vor meinem himmlischen Vater.<br />

andererseits, indem er diese Mühsal willig auf sich nimmt und durch ein<br />

Leben in Busse das Himmelreich verdient. Das unsinnige Leben erhält<br />

durch die Busse einen höheren, jenseitigen Sinn. Im Evangelium nach<br />

Matthäus heisst es - Kapitel 4:<br />

38 Seit der Zeit fing Jesus an zu predigen: Tut Busse, denn das Himmelreich<br />

ist nahe herbeigekommen!<br />

Das Leben ist eine Prüfung, seine möglichen Freuden sind stets eine<br />

Versuchung des Bösen. Zum christlichen Leben gehörte also die Abwendung<br />

vom Irdischen, von irdischen Begierden und Leidenschaften, gehörte die<br />

Askese. Am schärfsten predigte Paulus:<br />

39 So tötet nun eure Glieder, die auf Erden sind, Hurerei, Unreinigkeit,<br />

schändliche Brunst, böse Lust und den Geiz, welcher ist Abgötterei, um<br />

welcher willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des Unglaubens,<br />

in welchem auch ihr weiland gewandelt habt, da ihr darin<br />

lebtet.<br />

Das Leben ist der Weg zu Gott. Und auf diesem Weg innehalten, auf diesem<br />

Weg zweifeln heisst: sich den Versuchungen des Bösen aussetzten. Paulus<br />

im Brief an die Kolosser:<br />

40 Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf Erden ist.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 14


Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist verborgen mit Christo in<br />

Gott.<br />

Inbegriff dieser asketischen Lebensweise waren die christlichen Eremiten<br />

in Ägypten und in Kleinasien. Sie lebten ein karges Leben in Meditation,<br />

Abgeschiedenheit, in der Hitze der Wüste am Rande von Siedlungen, in der<br />

Kälte der Nacht, ohne Schutz, mit einem Minimum an Nahrung. Diese<br />

Wüstenväter, die ihre Glieder abgetötet hatten, waren für die übrigen<br />

Christen die Avantgarde des Glaubens, waren die Helden der Entsagung, ihr<br />

Leiden war Kampf für die Rettung der Menschheit, war Beweis, dass der<br />

Mensch nicht durch und durch verdorben war. Und doch: Bei vielen von<br />

ihnen wandelte sich dieses unablässige strenge demütige Gebet in eine<br />

Trostlosigkeit, eine mönchische Schwermut, die als Acedia, als Trägheit,<br />

Stumpfsinn, Trübsal bezeichnet wurde.<br />

41 Acedia<br />

Trägheit des Herzens, des Geistes, Müssiggang, Überdruss, Ekel<br />

Schlimm konnte es werden, wenn die Asketen ihre Acedia als Werk des<br />

Teufels betrachteten und ihre Askese, ja ihre Selbstkasteiung noch weiter<br />

trieben bis zur Erschöpfung, ja nicht so selten bis in den Tod.<br />

Im vierten Jahrhundert beschrieb der frühchristliche Anachoret Euagrios<br />

Pontikos die Gefühle und das Verhalten eines Mönchs, der in seiner Zelle<br />

von dieser Acedia erfasst wurde:<br />

42 Die Sonne scheint dem der Acedia verfallenen Mönch stillzustehen, der<br />

Tag kommt ihm unendlich lang vor. Er wird von dem Dämon getrieben,<br />

aus der Behausung zu gehen, die Sonne anzustarren und ihren Stand zu<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 15


prüfen. Hass gegen seinen Aufenthaltsort, gegen sein Leben und seiner<br />

Hände Arbeit überkommen ihn, und er glaubt, dass die Liebe seiner<br />

Gefährten nachgelassen habe und es niemanden gebe, der ihm mit<br />

seinem Trost zu helfen bereit sei.<br />

Pontikos, dessen Schriften nur in Zitaten bei anderen Autoren vorliegen,<br />

hielt diese acedia nicht etwa für ein Leiden, eine Krankheit, sondern im<br />

Gegenteil als eines der Laster, das umso kräftiger - und noch asketischer -<br />

bekämpft werden musste. Pontikos war der Begründer der Acht-Laster-<br />

Lehre:<br />

43 Superbia Hochmut<br />

Avaritia Geiz<br />

Invidia Neid<br />

Ira Zorn<br />

Luxuria Wollust (Unkeuschheit)<br />

Gula Völlerei<br />

Acedia Überdruss<br />

Vana gloria Ruhmsucht<br />

Und zu diesen Lastern gehörte auch die Acedia - taedium et anxietas cordis<br />

-, die Missmut und Angst des Herzens, wie sie Johannes Cassianus nannte.<br />

In dieser Acedia konnte es zu Halluzinationen kommen, die ihrerseits als<br />

teuflisch empfunden wurden, wie wir von mittelalterlichen Darstellungen -<br />

natürlich aus viel späterer Zeit - her kennen:<br />

44 Hieronymus Bosch: Versuchung des Heiligen Antonius<br />

45 Hieronymus Bosch: Versuchung des Heiligen Antonius, Detail<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 16


46 Mathias Grünewald: Versuchung des Heiligen Antonius, Detail<br />

Hier ganz drastisch in der Darstellung eines unbekannten Malers<br />

47 Anonym, oberrheinisch, der Heilige Antonius, von Dämonen gepeinigt<br />

Nicht zuletzt unter dem Eindruck dieser Entwicklung verfasste der Heilige<br />

Benedikt - nach Vorgängern - seine Regeln. Er forderte vom Mönch zwar ein<br />

entbehrungsreiches und gehorsames Dasein, lehnte dabei aber das Eremitentum<br />

ab und schrieb das zönobitische, also gemeinschaftliche Leben in<br />

einem Kloster vor. Die Acedia verschwand aber trotzdem nicht; auch im<br />

klösterlichen Leben trieb sie ihr Unwesen, wurde oft beschrieben, ab und zu<br />

auch bildlich dargestellt:<br />

48 Hieronymus Bosch: Die sieben Todsünden<br />

49 Hieronymus Bosch: Die sieben Todsünden, Detail<br />

Das Stelldichein eines Mönch mit einer Nonne in seiner durchaus gemütlich<br />

geheizten Zelle, in der sogar eine Katze vor dem Feuer schläft. Die Acedia,<br />

wurde den klösterlichen Mönchen mehr und mehr als Müssiggang<br />

vorgeworfen, insbesondere den eher kontemplativen reichen Orden, die ihren<br />

Reichtum an Ländereien von Leibeigenen bewirtschaften liessen. Albrecht<br />

Dürer, der Traum des Doktors:<br />

50 Albrecht Dürer, der Traum des Doktors<br />

der am warmen Ofen sitzt. Statt dass er betet, schläft er, und ein Dämon<br />

bläst ihm mit einem Blasebalg einen Traum ins Ohr, den Traum von einer<br />

üppigen nackten Frau. Neben dem Ofen übt sich der eitle und nichtige Eros<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 17


im Stelzenlaufen.<br />

Die Acedia, die Melancholie hielt man also auch für ein Instrument des<br />

Teufels zur Vernichtung des Menschen: Ein melancholischer Kopf ist ein<br />

Badehaus des Teufels.<br />

51 Caput melancholicum est diaboli paratum balneum.<br />

Der melancholischer Kopf ist ein Badehaus des Teufels.<br />

lautete eine verbreitete Wendung. Die christliche Lehre zeigt sich hier in<br />

einem Dilemma: Sie warnte vor den irdischen Genüssen, die vom Weg<br />

zum Göttlichen und zur geistigen Welt abhielten und dem Teufel eine Pforte<br />

zum Eindringen boten. Die Einkehr aber, die Busse, konnte ihrerseits in die<br />

Melancholie führen, und auch diese war eine Schwäche des Menschen,<br />

durch welche das Böse, der Teufel in die Seele eindringen konnte. Grübeln,<br />

zweifeln hiess ja nicht nur am Leben zweifeln, sondern an der göttlichen<br />

Schöpfung, ja an der Erlösung. Die letzte Konsequenz, die Verzweiflung,<br />

bedeutet dem gemäss auch den endgültigen Sieg des Teufels.<br />

Dieses Dilemma, diese Ambivalenz kommt auch in Bildern zum Ausdruck,<br />

ob absichtlich oder unabsichtlich. Zum Beispiel bei Lucas Cranach dem<br />

Älteren<br />

52 Lucas Cranach der Ältere: Melancholie, Colmar<br />

Müssig schnippelt die junge Frau mit einem Messer an einer Rute, müssig<br />

spielen die nackten Kinder mit dem Hund, rollte die Kugel über die Erde,<br />

doch im Hintergrund reiten nackte Krieger vor düsteren Wolken über den<br />

Himmel, vorn die Trägheit, hinten der Weltuntergang. Zweideutig auch bei<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 18


Hieronymus Bosch<br />

53 Hieronymus Bosch, der Johannes der Täufer<br />

Ist Johannes der Täufer in ausgeglichener meditativer Ruhe, hingegeben an<br />

das Lamm, das vor ihm liegt, Symbol für Christus, das Lamm Gottes, dessen<br />

Vorläufer Johannes ja ist - oder ist Johannes hier in melancholischer Pose,<br />

in Untätigkeit versunken, sinnierend, grübelnd, ja zweifelnd? Beim<br />

Zeitgenossen von Bosch bei<br />

54 Geertgen tot Sint Jans, 1490 - 1495<br />

wirkt das Bild eindeutig. Johannes reibt sich die Füsse, sinniert vor sich hin,<br />

wirkt unglücklich und stumpf. Das Lamm sitzt neben ihm, mit einem<br />

Strahlenkranz, und doch sieht es der Täufer nicht.<br />

Natürlich gehörte dieses Sinnieren, diese Hemmung des Handelns nicht nur<br />

zum Christentum. Auch der weltliche Student, hier wiederum aus der<br />

Barockzeit, von Jan Davidsz de Heem, konnte davon befallen werden.<br />

55 Jan Davidsz de Heem: Student in seiner Stube, 1628<br />

E. QUIETISMUS<br />

Diese Hemmung gehört auch nicht nur ins Mittelalter. Ähnliche Entwicklungen<br />

gab es eben in dieser Barockzeit, zum Beispiel mit dem Quietismus.<br />

Quietismus heisst eigentlich:<br />

56 Quietismus<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 19


Einkehr in Ruhe - quies<br />

Hingabe an Gott in der Abgeschiedenheit<br />

Passivität der Seele, damit der Geist Gottes ungehindert in ihr wirken<br />

kann.<br />

Jegliches menschliche Verlagen ist zu verwerfen, im Extremfall selbst<br />

das Verlagen nach der Erlösung<br />

Besser Gott lieben und in der Hölle schmoren, als den Himmel<br />

gewinnen ohne Gottesliebe.<br />

Der Quietismus kam im 17. und 18. Jahrhundert in Mode, vor allem in<br />

Frankreich durch Fénelon, Bischof von Cambrai und Madame Jeanne-Marie<br />

Guyon du Chesnoy,<br />

57 Madame Jeanne-Marie Guyon du Chesnoy<br />

die ein riesiges Schriftenwerk hinterliess und grossen Anhang hatte.<br />

Hundert Jahre später noch war von dieser Lehre zu hören, und zwar beim<br />

Romantiker Karl Philipp Moritz,<br />

58 ???: Karl Philipp Moritz<br />

der einen autobiographischen Roman über seine frühe Jugend schrieb.<br />

59 Karl Philipp Moritz: Anton Reiser<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 20


Als kleiner Junge war Moritz mit seinem Vater bei einem Anhänger der<br />

Guyonschen Lehre zu Besuch:<br />

60 Alle diese Personen mussten sich täglich einmal in einem grossen<br />

Zimmer des Hauses zu einer Art von Gottesdienst versammeln, den der<br />

Herr von Fleischbein selbst eingerichtet hatte, und welcher darin<br />

bestand, dass sie sich alle um einen Tisch setzten und mit zugeschlossnen<br />

Augen, den Kopf auf den Tisch gelegt, eine halbe Stunde warteten,<br />

ob sie etwa die Stimme Gottes oder das ›innre Wort‹ in sich vernehmen<br />

würden.<br />

61 Der Herr von Fleischbein bestimmte auch die Lektüre seiner Leute, und<br />

wer von den Knechten oder Mägden eine müssige Viertelstunde hatte,<br />

den sahe man nicht anders als mit einer von der Mad. Guion Schriften,<br />

vom ›innern Gebet‹ oder dergleichen, in der Hand in einer nachdenkenden<br />

Stellung sitzen und lesen.<br />

62 Alles bis auf die kleinsten häuslichen Beschäftigungen hatte in diesem<br />

Hause ein ernstes, strenges und feierliches Ansehn. In allen Mienen<br />

glaubte man ›Ertötung‹ und ›Verleugnung‹ und in allen Handlungen<br />

›Ausgehen aus sich selbst‹ und ›Eingehen ins Nichts‹ zu lesen.<br />

Diese triste Atmosphäre des Quietismus setzte sich im Hause Moritz fort und<br />

hatte für den kleinen Jungen Karp Philip - alias Anton Reiser - keineswegs<br />

erbauliche Folgen. Sein schon älterer Vater hatte ein zweites Mal geheiratet,<br />

nämlich Moritz’ Mutter, und ihre Veranlagungen harmonierten<br />

keineswegs. Moritz schreibt über seine Mutter:<br />

63 So <strong>sehr</strong> die Lehre der Mad. Guion von der gänzlichen Ertötung und<br />

Vernichtung aller, auch der sanften und zärtlichen Leidenschaften mit<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 21


der harten und unempfindlichen Seele ihres Mannes übereinstimmte, so<br />

wenig war es ihr möglich, sich jemals mit diesen Ideen zu verständigen,<br />

wogegen sich ihr Herz auflehnte.<br />

Dies war der erste Keim zu aller nachherigen ehelichen Zwietracht.<br />

64 Ihr Mann - Moritz’ Vater - fing an, ihre Einsichten zu verachten, weil<br />

sie die hohen Geheimnisse nicht fassen wollte, die die Mad. Guion<br />

lehrte.<br />

So wurde der häusliche Friede und die Ruhe und Wohlfahrt einer<br />

Familie jahrelang durch diese unglücklichen Bücher gestört, die<br />

wahrscheinlich einer so wenig wie der andere verstehen mochte.<br />

65 Unter diesen Umständen wurde Anton geboren, und von ihm kann man<br />

mit Wahrheit sagen, dass er von der Wiege an unterdrückt ward.<br />

Die ersten Töne, die sein Ohr vernahm und sein aufdämmernder<br />

Verstand begriff, waren wechselseitige Flüche und Verwünschungen<br />

des unauflöslich geknüpften Ehebandes.<br />

Moritz - alias Anton Reiser - entwickelte sich unglücklich, und wurde selbst<br />

zu einem melancholischen Menschen. Hier aus seiner Jugendzeit:<br />

66 In solchen Zuständen konnte er dann tagelang sitzen, ohne Gedanken<br />

mit einer Feder auf dem Papier kritzeln und sich selbst über diese<br />

Verschwendung der Zeit verabscheuen, ohne doch Kraft genug zur<br />

besseren Anwendung derselben zu haben. Da kamen dann Stunden, ja<br />

ganze Tage, wo er in einem untätigen Hinbrüten auf dem Bette lag und<br />

ganz den Ausschweifungen seiner empörten Phantasie nachhing.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 22


Als Illustration aus Moritz’ Zeit vom Goethe-Maler Johann Heinrich<br />

Wilhelm Tischbein<br />

67 Johann Heinrich Wilhelm Tischbein: Der lange Schatten, 1805<br />

Ich erwähne diese Stellen nicht nur, um nochmals auf die Zwiespältigkeit der<br />

Askese und Selbstverleugnung hinzuweisen, sondern auch weil Moritz selbst<br />

- und sein Roman - zu den Anfängen der modernen Psychologie gehören.<br />

Bei Moritz, in der Romantik, im 19. Jahrhundert überhaupt, erhält diese<br />

Melancholie ein autobiographisches Gesicht, viel mehr noch als bei Ovid.<br />

Moritz war mit Goethe befreundet; er hatte ihn in Rom kennen gelernt.<br />

Goethe schrieb über Moritz in einem Brief an Charlotte v. Stein:<br />

68 Er ist wie ein jüngerer Bruder von mir, von derselben Art, nur da vom<br />

Schicksal verwahrlost und beschädigt, wo ich begünstigt und vorgezogen<br />

bin.<br />

Moritz war nicht nur literarisch ein Vorreiter, er gab auch die erste<br />

Psychologische Zeitschrift heraus: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde,<br />

69 Karl Philipp Moritz: Das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde<br />

und suchte damit, aus der Psychologie eine Wissenschaft zu machen. Von<br />

seinem Roman Anton Reiser schreibt er im Vorwort:<br />

70 Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie<br />

genannt werden, weil die Beobachtungen grösstenteils aus dem<br />

wirklichen Leben genommen sind.<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 23


... es soll die vorstellende Kraft nicht verteilen, sondern sie zusammendrängen<br />

und den Blick der Seele in sich selber schärfen.<br />

Mit diesem Blick in die eigene Seele wollen wir den heutigen Vorlesungsteil<br />

beenden. Blick in die Seele? Die Melancholie ist Trübsinn, Lebensekel,<br />

Einsicht in die Vergänglichkeit aller Existenz, ist Handlungshemmung - aber<br />

sie ist gestattet offensichtlich auch den Blick in die Seele. Bei Dürer schon?<br />

71 Albrecht Dürer, Melancholie, 16. Jahrhundert<br />

Beim romantischen Maler Caspar David Friedrich?<br />

72 Caspar David Friedrich: Selbstbildnis<br />

Bei Edward Hopper, dem Amerikaner aus der ersten Hälfte des 20.<br />

Jahrhunderts?<br />

73 Edward Hopper, Melancholie<br />

eine Platzanweiserin im Kino, der die Träume auf der Leinwand längst<br />

verleidet sind, die vielleicht trübe vor sich hin sinniert, vielleicht aber auch<br />

den Blick nach innen gerichtet hat - in die eigene Phantasie. Bei Francis<br />

Gruber?<br />

74 Francis Gruber: Hiob<br />

Beim zeitgenössischen Ron Mueck?<br />

75 Ron Mueck: Big Man<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 24


Nackt sind wir, nackt ist ein jeder von uns, irgendwann in seinem Leben,<br />

nackt seinen Zweifeln ausgesetzt, seinen Zweifeln an der Welt, seinem<br />

Zweifel an sich, seiner Verzweiflung. Ausgesetzt nicht nur der Flüchtigkeit<br />

des Lebens, sondern auch der Flüchtigkeit aller Wünsche, Pläne, Vorstellungen,<br />

ausgesetzt der Nichtigkeit alles Tuns, alles Denkens, alles Fühlens.<br />

Reglos ausgesetzt wie der Dicke Mann dem Verrinnen der Zeit.<br />

Für heute sind wir am Schluss des Vorlesungsteils. Fragen? Anmerkungen?<br />

Kritiken? Sonst machen wir eine kleine Pause, dann geht es weiter mit<br />

76 <strong>Andreas</strong> <strong>Köhler</strong>: Schattenleben<br />

Hier noch der Hinweis - dann die Pause<br />

77 Fragen, Kritiken, Anregungen an melancholie@andreas-koehler.com<br />

Literaturverzeichnis unter www.andreas-koehler.com<br />

Melancholie / 32 Sinnlosigkeit / 26. Januar 2012 25

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