dazwischen : funken - die vorgehensweise
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong><br />
Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Wie wir forschen und schaffen<br />
Beschreibung vom 21. Dezember 2022<br />
Im Aufbauprozess „Die Kooperative für andere Perspektiven“
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Einführung ....................................................................................... 3<br />
Ausgangserfahrungen ....................................................................... 4<br />
Andere Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln ................ 6<br />
Eigene Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln ................................................... 7<br />
Gemeinsame Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln ........................................ 9<br />
Perspektiven für ein gutes Leben für alle erkunden, entwickeln und vermitteln ................. 18<br />
Verantwortlich für den Inhalt ist <strong>die</strong><br />
AfuW - Agentur für unschätzbare Werte<br />
gemeinnützige UG (haftungsbeschränkt)<br />
Gönninger Straße 112<br />
72793 Pfullingen<br />
Telefon: 0151-10710576<br />
www.unschaetzbare-werte.de<br />
Geschäftsführer: Harald Sickinger<br />
Handelsregisternummer: HRB 748115<br />
Registergericht: Amtsgericht Stuttgart<br />
2
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Einführung<br />
Es kommt darauf an, wie wir Menschen uns selbst, <strong>die</strong> Menschen um uns herum und unsere<br />
Umwelt insgesamt betrachten und behandeln. Je nachdem entstehen <strong>die</strong>se oder jene<br />
Perspektiven, <strong>die</strong>se oder jene Zukunftsaussichten.<br />
Wo nur als wertvoll gilt, was gerade verwertbar erscheint, dort gibt es keine Aussicht auf ein<br />
gutes Leben. Da fehlt es an Wertschätzung für den unschätzbaren Wert jedes einzelnen<br />
Menschen und für den unschätzbaren Wert des Lebens auf der Erde insgesamt.<br />
Davon ausgehend erkundet, entwickelt und vermittelt <strong>die</strong> Agentur für unschätzbare Werte<br />
andere Perspektiven. Das nennen wir Aktionsforschung. Dabei wirken auch Menschen mit, <strong>die</strong><br />
durch unangemessene Wertmaßstäbe in unserer Gesellschaft behindert werden.<br />
Unsere Aktionsforschung ist ein Erkundungs- Entwicklungs- und Vermittlungsprozess im Raum<br />
und in der Zeit.<br />
„<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong>“ heißt jetzt unser Programm. 1<br />
Vor uns liegt ein Gesellschaftsspiel. „Expedition“ steht drauf.<br />
Harald Sickinger: „Wie kann man eigentlich erklären, was eine Expedition ist, Franzi?“.<br />
Franziska Schiller: „Eine lange, anstrengende, interessante, vielfältige Reise.“. 2<br />
1 Das jetzige Programm basiert u. a. auf unseren Erfahrungen im Kooperationsprojekt „Kultur ohne Ausnahme“<br />
(gefördert von Aktion Mensch), bei der Implementierung unserer Aktionsforschungswerkstatt für andere<br />
Perspektiven (gefördert von der Baden-Württemberg Stiftung), bei der Inszenierung „Was zählt? – Eine Frage<br />
steht im Raum“ (gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Me<strong>die</strong>n / Fonds Soziokultur<br />
/ Neustart Kultur) 1 und wurde nun (gefördert von letzteren im Programm „Profil Soziokultur“) im Aufbauprozess<br />
„Die Kooperative für andere Perspektiven“ ausgearbeitet. Informationen zu den genannten Teilprojekten:<br />
http://unschaetzbare-werte.de/agenturberichte/gesammelte-erfahrungen/<br />
2 Video 1<br />
3
Ausgangserfahrungen<br />
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
„Die Nazis haben gedacht, dass Behinderte nichts wert sind“, sagt unserer Mitforscher Rolf<br />
Rathfelder nach dem Besuch der Gedenkstätte Grafeneck auf der Schwäbischen Alb. 3<br />
10654 Menschen wurden hier 1940 ermordet, nachdem ihr Leben, gemessen am damals<br />
vorherrschenden Maßstab, als „unwert“ deklariert worden war. Menschenverachtende<br />
Berechnungen hatten ergeben, dass der jeweilige Geldwert des Lebensunterhalts für <strong>die</strong>se<br />
Menschen größer sei als der Wert ihrer Arbeitsleistungen.<br />
„Heutzutage kennen <strong>die</strong> Leute von allem den Preis und von nichts den Wert“, hatte schon 1891<br />
der Schriftsteller Oscar Wilde geschrieben. 4 Im Lauf der letzten Jahrhunderte scheint es nach<br />
und nach selbstverständlich geworden zu sein, <strong>die</strong> „Dinge“ des Lebens und letztlich auch uns<br />
Menschen danach zu beurteilen, ob bzw. inwiefern <strong>die</strong>se „Dinge“ und letztlich auch wir selbst<br />
in Waren verwandelt, auf Märkten gehandelt und profitabel verwertet werden können.<br />
Was wir zum Leben brauchen und was unser Dasein bereichert, scheint jetzt kaum mehr<br />
anders vorstellbar und darstellbar zu sein, als in Form von Waren, das heißt, als mit Preisen<br />
versehene Güter und Dienstleitungen, <strong>die</strong> im Prozess des Verkaufens und Kaufens in Geld,<br />
neue Waren, mehr Geld und immer mehr Waren verwandelt werden. Berichtet wird darüber<br />
mit Zahlen, <strong>die</strong> Wohlfahrt messen sollen und doch bloß vom Warenberg-Wachstum erzählen. 5<br />
Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
All <strong>die</strong>s geschieht weiter, obwohl schon vor 50 Jahren ein vielbeachteter Bericht mit dem Titel<br />
„Die Grenzen des Wachstums“ erschien, der große Katastrophen prognostizierte, falls nicht<br />
andere Perspektiven im Hinblick auf unser Zusammenleben auf der Erde, den Umgang mit uns<br />
selbst, miteinander, mit der Welt in uns und um uns herum entwickelt werden. „Ganz neue<br />
3 Video 2.1.<br />
4 Das Bildnis des Dorian Gray.<br />
5 Gemeint sind Kennzahlen, wie <strong>die</strong> sogenannte „Bruttowertschöpfung“, das „Bruttoinlandsprodukt“ etc. Vgl.<br />
Sickinger, Harald (2010): „Zur Entwicklung angemessener Wohlfahrtsmessung“ im afuw-online-archiv unter:<br />
https://www.yumpu.com/de/document/read/67496057/zur-entwicklung-angemessener-wohlfahrtsmessung.<br />
4
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Vorgehensweisen sind erforderlich, um <strong>die</strong> Menschheit auf Ziele auszurichten, <strong>die</strong> anstelle<br />
weiteren Wachstums auf Gleichgewichtszustände führen“, heißt es in dem Bericht von 1972. 6<br />
„Die Natur, bin ich der Meinung, <strong>die</strong> wird´s uns heimzahlen“, meint eine Passantin. „Die<br />
macht´s schon lang“, entgegnet unsere Kollegin Franziska Schiller. Das Gespräch findet am<br />
Rande einer Kundgebung statt, mit der wir uns für andere Perspektiven einsetzen, um <strong>die</strong><br />
weitere Erhitzung der Erde zu stoppen. Dafür hat Eugen Blum seine Gedanken auf ein Plakat<br />
gedruckt: „Wir sind, wie wir sind. Wir können nicht anders sein, in einer Welt, in der der Mensch<br />
erst lernen muss, was es heißt, ein Mensch zu sein!!!“<br />
Foto: NASA<br />
Als <strong>die</strong> amerikanische Raumfahrtagentur NASA im Jahr 1972 zwei Weltraum-Sonden auf ihre<br />
lange Reise in <strong>die</strong> Weiten des Universums schickte, da war an jeder <strong>die</strong>ser beiden Sonden eine<br />
kleine Plakette mit einer Zeichnung befestigt. Falls irgendwann einmal außerirdische<br />
Lebewesen <strong>die</strong>ses Bild entdecken, dann wird es ihnen davon erzählen, wer wir Menschen sind.<br />
So hatte man sich das gedacht.<br />
Eugen Blum: „Also der Mann winkt zu und <strong>die</strong> Frau schaut nur zu.“.<br />
Harald Sickinger: „Und wenn wir jetzt von unserem Projekt ANDERE PERSPEKTIVEN so eine<br />
Botschaft loslassen würden, wie würden wir dann <strong>die</strong> Menschen abbilden auf der Plakette?<br />
Was meint ihr?“<br />
Franziska Schiller: „Gegenfrage, wieviel Platz habe ich?“.<br />
Harald Sickinger: „Gegenfrage, wieviel Platz braucht Ihr?“.<br />
Franziska Schiller: „Die Sonde von 1972 hat ja nur <strong>die</strong> Tatsache ins All geschickt, dass wir Mann<br />
und Frau sind. Wenn ich aber unser Projekt ins All schicken müsste oder dürfte, würde ich, was<br />
Menschen betrifft, <strong>die</strong> Vielfalt unserer Menschheit ins All schicken. Und noch vieles, vieles<br />
mehr. Daher <strong>die</strong> Frage: Wieviel Platz hab ich?“. 7<br />
6 Meadows et al (1972): Die Grenzen des Wachstums. S. 172 f.<br />
7 Video 2.2 und Schreibgespräch ANDERE PERSPEKTIVEN!? * Montagsteam * 2020 02 24.<br />
5
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Wie wäre ein Menschenbild, das Frauen und Männer, mehr und weniger pigmentierte, hier<br />
und da aufgewachsene, so oder so lebende, durch <strong>die</strong> bisherigen Umstände bzw. Zustände<br />
mehr oder weniger behinderte und überhaupt alle Menschen nicht mehr unterschiedlich<br />
wertvoll erscheinen lässt und auch nicht mehr nur <strong>die</strong> einen als <strong>die</strong>jenigen bezeichnet, <strong>die</strong><br />
etwas beitragen auf der Welt und <strong>die</strong> Beiträge der anderen systematisch entwertet? Was<br />
könnten wir zu einem Weltbild beitragen, das nicht mehr bestimmte Menschen abwertet oder<br />
sogar ganz ausgrenzt, das nicht mehr außen vorlässt, was <strong>die</strong>se und all unsere Mitmenschen<br />
und auch all <strong>die</strong> anderen Mitbewohner*innen auf <strong>die</strong>sem Planeten, mit unseren Aussichten<br />
auf ein gutes Leben zu tun haben?<br />
Andere Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln<br />
„Jeder Mensch ist unschätzbar wertvoll, einfach, weil er ein Individuum ist“, erklärt unser<br />
Forschungskollege Eugen Blum. Er sagt das in der Gedenkstätte Grafeneck, vor dem Hintergrund<br />
und in Abgrenzung zu den unmenschlichen Wertvorstellungen, <strong>die</strong> den hier noch immer<br />
so präsenten historischen Verbrechen gegen das Lebensrecht der ermordeten Menschen und<br />
gegen <strong>die</strong> Menschlichkeit der Menschheit zu Grunde lagen.<br />
Jeder Mensch ist an sich und für sich selber wertvoll. Das macht seine Würde aus. 8 Geachtet<br />
und geschützt werden kann <strong>die</strong>se Würde nur dann, wenn der unschätzbare Wert jedes<br />
einzelnen Menschen wertgeschätzt wird. Dafür gilt es auch zu beachten, was für jeden<br />
einzelnen Menschen unschätzbar wertvoll bzw. wirklich wichtig ist, im Hinblick auf sich selbst,<br />
im Hinblick auf andere Menschen und im Hinblick auf seine Umwelt insgesamt.<br />
Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
8 In Artikel 1 des Grundgesetzes für <strong>die</strong> Bundesrepublik Deutschland heißt es „Die Würde des Menschen ist<br />
unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“. Dies wurde 1949 vor dem<br />
Hintergrund der nationalsozialistischen Verbrechen als erste Leit-Norm für andere Perspektiven festgesetzt und<br />
sollte für alle Zeiten gültig bleiben.<br />
6
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Was zählt eigentlich wirklich? Was, wenn zunächst einmal jeder einzigartige Mensch selbst<br />
der Maßstab ist und seine eigenen menschlichen Maßstäbe setzt? Wie wäre es mit Respekt<br />
vor dem, was bzw. wer den Menschen etwas bedeutet, was sie den anderen bedeuten, wie<br />
sie in ihren Beziehungen untereinander und mit den anderen Lebewesen auf ihre jeweils<br />
eigene Art etwas Wertvolles dazu beitragen (können)? Und wenn wir bei uns selbst anfangen?<br />
Eigene Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln<br />
Eine Person zu respektieren, heißt „ihre Bedeutung und ihren Wert zu erkennen, es bedeutet,<br />
sich aktiv mit ihr auseinanderzusetzen, um zu erkennen, was oder wie sie „wirklich“ ist, also<br />
sie aus ihrem Bezugsrahmen heraus zu verstehen. Respekt zielt damit darauf, den Anderen<br />
adäquat einzuschätzen.“, schreibt <strong>die</strong> RespectResearchGroup 9<br />
Eugen Blum erklärt: „Respekt ist für mich, wenn man mich so akzeptiert, wie ich bin, in dem<br />
ich zum Beispiel meine Vergangenheit erzähle, indem man etwas über sich erzählt und der<br />
andere zum Beispiel versteht das, versteht, dass ich ein Mensch bin mit besonderen bisschen<br />
Fähigkeiten.“. 10<br />
Ausschnitt aus dem Spektakel „Eugens Welt in der Welt“. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
„Hier steht „Eugens Welt“, mit dem Grünen“, sagt Eugen Blum. Dabei zeigt er auf einen weißen<br />
Wasserball, den er gerade begonnen hat zu beschriften und erklärt weiter: „Hier steht, was in<br />
seiner Welt ist – Filme, musikalische Interessen, Internet, Spazierengehen, Künstlerische<br />
Interessen ...“. 11 Nach und nach entsteht das Spektakel „Meine Welt in der Welt“, nach einer<br />
Idee von Eugen Blum. Dazu gehört auch ein Lied. Es handelt von seiner eigenen Geschichte.<br />
Den Text dazu schreibt er selbst. Der Refrain geht so: „Eugens Welt in der Welt. Ich bin, wie<br />
ich bin und ich habe dich nicht gebeten, mich zu verstehen. Wenn du mich nicht verstehst,<br />
bleibe ich trotzdem, wie ich bin. Komm doch zu mir, ich erzähle Dir Geschichten, <strong>die</strong> Dich<br />
verändern werden.“. Von der schönen Kindheit in Russland, von der Traurigkeit in der ersten<br />
9 Siehe: https://www.respectresearchgroup.org/respekt/definition/ (Abruf 17. Dezember 2022).<br />
10 Video 3.<br />
11 Video 4.<br />
7
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Zeit in Deutschland, von der guten Anfangszeit in der Schule, von zunehmenden<br />
Schwierigkeiten, von der Erfahrung, behindert zu werden, von der Suche nach freundlichen<br />
Menschen, davon, unter anderem, erzählt sein Lied. So geht <strong>die</strong> sechste und letzte Strophe:<br />
„Wie ist denn Deine Welt erzähle mir doch von Deiner Welt kannst du dich mit so einem<br />
Menschen wie ich identifizieren oder nicht? Ich würde gerne mehr Leute um mich sehen.<br />
Versuche aber erstmal, meine Welt zu sehen. Meine Welt ist künstlerisch interessant und 100<br />
Prozent nicht geistig krank.”. 12<br />
Es entsteht ein anderes Weltbild, wenn man <strong>die</strong>se Welt mit den Augen der Menschen<br />
betrachtet, deren Lebenwelt das ist. Dann sieht <strong>die</strong> Welt anders aus, als aus dem Blickwinkel<br />
derjenigen, <strong>die</strong> Diagnosen stellen oder Entwicklungsberichte schreiben (müssen), zum<br />
Beispiel, im Rahmen der sogenannten Behindertenhilfe oder im Rahmen der anderen bislang<br />
maßgeblichen Betrachtungs- und Behandlungssysteme.<br />
“Bin ich das?”, fragt Franziska Schiller und legt ein Schreiben auf den Tisch, in dem über sie<br />
und ihre Entwicklung geschrieben wird. Der Bericht geht an das Sozialamt. “Kostenträger”<br />
wird <strong>die</strong> Rolle genannt, <strong>die</strong> das Amt im Rahmen des für sie maßgeblichen “Hilfesystems” spielt.<br />
Der sogenannte “Leistungserbringer” hat regelmäßig zu berichten, für welche “Hilfeleistungen”<br />
das öffentliche Geld des “Kostenträgers” verwendet wurden. Die “Bilder”, <strong>die</strong><br />
dabei von den sogenannten “Hilfeberechtigten” entstehen, sind oft keine, <strong>die</strong> auch für <strong>die</strong><br />
betreffenden Menschen selbst stimmig sind.<br />
Wie könnten selbstbestimmtere Selbstbilder und Weltbilder entstehen? Wie wäre es zum<br />
Beispiel mit einem Museum über sich selbst? Wie wär zum Beispiel ein Museum von Franziska<br />
Schiller über Franziska Schiller?<br />
Ausschnitt über dem Museum von Franziska Schiller über sich selbst. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
„Zwischenmenschliche Wärme (wieder) finden?“ steht beim Foto eines alten Ofens. An<br />
anderen Stellen hängen weitere Fragen: „Eine Wohngruppe für körperbehinderte Menschen,<br />
wo das Miteinander passt (Interesse, Pflege...)?“ und „betreutes Wohnen in der Familie?“, ist<br />
da zu lesen und „eine Wohngemeinschaft, wo Menschen mit und ohne Körperbehinderung<br />
12 Video 5.<br />
8
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
wohnen?“. Franziska Schiller will einiges verändern. Dafür braucht sie Kraft. „Dem Leben<br />
Flügel verleihen?“ ist eine Frage, <strong>die</strong> ihr in <strong>die</strong>sem Zusammenhang stimmig erscheint. Wir<br />
machen sie an dem Bild eines Vogels fest, das an der Stellwand hängt. Dieses Kunstwerk hat<br />
sie selbst gemacht.<br />
Wenn sich Franziska Schiller ein Verkehrsmittel heraussuchen könnte, das zu ihrem Leben<br />
passt, wäre das ein Pirat*innenschiff.<br />
Wir fragen uns, wer eigentlich <strong>die</strong> Geschichte von so einer Piratinnen-Reise erzählen sollte.<br />
Franziska Schiller überlegt eine Weile. Dann sagt sie; „Schwierig, schwierig, schwierig,<br />
schwierig. Einen Teil müsst ich erzählen. Einen Teil müsst meine Besatzung erzählen, einen Teil<br />
meine Eltern, einen Teil meine Freunde und Umliegendes“. Sie macht eine kreisende<br />
Bewegung mit dem Finger und fährt fort: Also was, wo ich begegne, also von mir aus ein<br />
Mensch von einem Meer. Also von allem ein Fetzen.“. 13<br />
Wie wäre es, wenn wir unsere Geschichten(n) selbst in <strong>die</strong> Hand nehmen könnten? Wie können<br />
wir unsere Welt in der Welt gestalten? Was gibt uns Kraft und Orientierung auf <strong>die</strong>sem<br />
Weg? Von welchem Standpunkt gehen wir dabei aus?<br />
Gemeinsame Perspektiven erkunden, entwickeln und vermitteln<br />
Der gemeinsame Ausgangsort unserer Aktionsforschung ist ein altes Haus in der Kleinstadt<br />
Pfullingen. Dieses Haus gehörte früher Peter Kramer. Bis zu seinem Tod im Jahr 2010<br />
sammelte er hier viele alte Dinge, formte sie und verband sie miteinander. Andere Leute<br />
meinten, dass <strong>die</strong>se Dinge nicht mehr zu gebrauchen wären. Aber hier kann man sehen: Es<br />
kommt immer darauf an, wie man <strong>die</strong> Dinge betrachtet und was man daraus macht. Das gilt<br />
für <strong>die</strong> Dinge in dem geschichtsträchtigen Haus und für <strong>die</strong> meisten Dinge im Leben<br />
insgesamt. 14<br />
In den Holzboden einer Stube in dem alten Haus sind einige konzentrische Kreise geritzt.<br />
„Der Mittelpunkt der Erde“ von Peter Kramer. Foto: Steffen Hoheisel.<br />
13 Video 6.<br />
14 Siehe: https://www.yumpu.com/de/document/read/62219088/konzeption-kulturbetrieb-schaffwerk-2013.<br />
9
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Rolf Rathfelder: „Der Peter Kramer hat immer gesagt, das sei der Mittelpunkt der Erde und er<br />
war gern hier, oder?“<br />
Harald Sickinger: „Der war hier gern, ja, das war seine gute Stube, da ist er oft gesessen. Geli,<br />
wo ist denn Dein Mittelpunkt der Erde?“.<br />
Angelika Lotterer: „Mein Mittelpunkt der Erde?“. Sie macht eine Pause. Dann sagt sie: In<br />
Reutlingen.“.<br />
Harald Sickinger: „Und wie ist es bei Dir, Rolf?“.<br />
„Auch Reutlingen“, sagt Rolf Rathfelder und nimmt dabei eine Schachtel vom Tisch. Auf der<br />
Schachtel steht „Expedition“ und darunter „Entdecke <strong>die</strong> Wunder der Erde“.<br />
Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Welche Standpunkte und damit auch welche bzw. wessen Werte als maßgeblich gelten, in<br />
einer Gemeinschaft bzw. in einer Gesellschaft, das ist eine Frage ihrer Kultur. 15<br />
Wenn wir Kultur als <strong>die</strong> Art und Weise verstehen, wie wir Menschen uns selbst und einander<br />
betrachten bzw. behandeln, was heißt dann inklusive Kulturen schaffen?<br />
Wie wäre es, wenn wir alle uns als wertgeschätzt betrachtet bzw. behandelt erleben könnten?<br />
Wie wäre es, wenn jeder Mensch gleichermaßen wichtig genommen würde und damit auch<br />
sein Standpunkt und was ihm was wert ist? Wie wäre es, <strong>die</strong> „Landkarte der Bedeutungen“ 16<br />
<strong>die</strong> uns als Gemeinschaft bzw. Gesellschaft Orientierung bietet, dementsprechend zu ändern?<br />
Harald Sickinger: „Gibt´s denn hier in Reutlingen Wunder der Erde?“.<br />
15 Nach unserem Verständnis ist Kultur <strong>die</strong> Gesamtheit aller Deutungs- und Gestaltungsleistungen einer Gemeinschaft<br />
bzw. Gesellschaft, <strong>die</strong> den Mitgliedern <strong>die</strong>ser Gemeinschaft bzw. Gesellschaft Orientierung bietet, zugleich<br />
aber auch fortwährend von ihnen verändert werden. Vgl. u. a.: Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen<br />
Handelns. Frankfurt am Main.<br />
16 „Diese „Landkarten der Bedeutung“ trägt man nicht einfach im Kopf mit sich herum: sie sind in den Formen der<br />
gesellschaftlichen Organisation objektiviert, durch <strong>die</strong> das Individuum zu einem „gesellschaftlichen Individuum“<br />
wird.“ (Clarke, John u. a. 1979 zitiert nach Widersprüche – Zeitschrift für Zeitschrift für sozialistische Politik im<br />
Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich. Heft 96. Bielefeld, S. 4).<br />
10
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Passant 1 (in der Fußgängerzone): „Also mich und Dich eigentlich so.“ (schaut Passant 2 an).<br />
Passant 2: „Ja.“ (lacht).<br />
Harald Sickinger (an Rolf Rathfelder und Angelika Lotterer gewandt): „Was sind für Euch<br />
eigentlich Wunder der Erde, in Eurem Leben?“.<br />
„Die Angelika ist ein Wunder der Erde“, erklärt Rolf Rathfelder und berührt dabei seine<br />
Lebensgefährtin an der Schulter. Beide lächeln. „Dass wir uns kennengelernt haben und lieben<br />
gelernt“, fügt er noch hinzu. „Ja, dass wir uns lieben gelernt haben.“, sagt sie. 17<br />
Wie wäre es, dort zu beginnen, wo wir uns geliebt bzw. anerkannt erleben und von wo<br />
ausgehend wir uns dann womöglich mit anderen Menschen verbinden können?<br />
„Du wirst so akzeptiert, wie Du bist, (...) was Du bist und was nicht und das gehört irgendwie<br />
dazu, zu ´nem Ort, wo ich mich wohl fühl. Das ist ganz wichtig, dass man so ´nen Ort hat, wo<br />
man akzeptiert wird, um Selbstvertrauen zu entwickeln und wenn man <strong>die</strong>se Selbstsicherheit<br />
auch hat, kann man anfangen, sich selber zu verändern.“. 18<br />
Der das sagt, das ist ein junger Mann, mit dem wir in einem Reutlinger Jugendhaus über <strong>die</strong>sen<br />
für ihn bedeutenden Ort ins Gespräch gekommen sind. Franziska Schiller nickt. „Ich selber sein<br />
können, das ist sehr wichtig für mich“, bedeutet uns unsere Aktionsforschungskollegin. 19<br />
Im Lauf der Zeit entstehen Memorykärtchen von Orten, <strong>die</strong> uns selbst etwas bedeuten. Vorne<br />
sind Fotos drauf und wenn man <strong>die</strong> umdreht, sieht man qr-codes der Agentur für<br />
unschätzbare Werte. Die führen zu Texten, Ton- und Filmaufnahmen. Darin finden sich etwas<br />
andere Erzählungen von Bedeutungen von bedeutenden Orten.<br />
Eine etwas andere „Landkarte der Bedeutungen“. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
„Da wohnt man schön, das ist naturnah“, erzählt Thomas Geprägs über den „Katzensteg“.<br />
17 Video 7.<br />
18 Video 8.<br />
19 Vgl. Video 9.<br />
11
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
In <strong>die</strong>sem Wohngebiet ist er aufgewachsen. „Da ist man gleich im Wald, gleich auf dem<br />
Gaisbühl oben, gleich auf den Sportplätzen, bei den TSG- young boys und gleich beim SSV 20<br />
und da bin ich auch gleich bei meinen Freunden...“. 21<br />
Der Biolandbetrieb „Gaisbühl“, sagt Thomas Geprägs, „das ist auch ein unschätzbarer Wert“,<br />
da schaff ich seit 2003 in der Landschaftspflege“. 22<br />
Und dann ist da noch das „Kaffeehäusle“, zum Beispiel. Das wird vom Verein Lebenshilfe e. V.<br />
zusammen mit der BruderhausDiakonie betrieben. „Für mich ist das Kaffeehäusle auch<br />
wichtig“, erwähnt unser Mitforscher Thomas weiter und erklärt, dass und wie er auch im<br />
Vorstand der Lebenshilfe aktiv ist: „Da bin ich auch immer voll drin.“ 23<br />
Auf einem größer kopierten Stadtplan von Reutlingen hat er <strong>die</strong> Umrisse des Gebietes<br />
eingezeichnet, das ihm besonders wichtig ist und dann hat er gefragt, ob ihm jemand helfen<br />
kann, das auszuschneiden. Auf <strong>die</strong>sem Ausschnitt zeigt er: „Alteburgstraße, IHK, da ist´s<br />
Kaffeehäusle, in der Alteburgstraße, bei Pomo, Volkspark Pomologie, da ist´s Kaffeehäusle von<br />
der Lebenshilfe. Und das Ganze, und der Plan ist´s katholische Heilig-Geist-Gebiet und in der<br />
Kirche bin ich.“. 24<br />
In <strong>die</strong>sem Gebiet liegt außer dem Wohngebiet Katzensteg zum Beispiel auch das Haus, in dem<br />
Angelika Lotterer wohnt und wo sich nach ihren eigenen Worten „sehr wohl“ fühlt, „da wohnen<br />
meine Freunde, gute Mitarbeiter, <strong>die</strong> ich brauche, zuverlässig sind“, erklärt unsere<br />
Kollegin. 25<br />
„Entdecke <strong>die</strong> Wunder der Erde“. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Ein Memorykärtchen-Paar erzählt etwas von dem ganz eigenen Wert, den das Reutlinger<br />
Freibad für Angelika Lotterer und Rolf Rathfelder hat:<br />
Rolf Rathfelder: „Da haben wir uns kennengelernt und lieben.“<br />
20 Hier spricht Thomas Geprägs von zwei Fußballvereinen, deren Spiele er regelmäßig live vor Ort verfolgt.<br />
21 Video 10.<br />
22 Video 11.<br />
23 Video 12<br />
24 Video 13<br />
25 Video 14<br />
12
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Angelika Lotterer: „Lieben, gekannt haben wir uns schon.“. 26<br />
Wie können wir unsere eigenen Perspektiven mit den Perspektiven von anderen Menschen<br />
verbinden? Was brauchen wir Menschen eigentlich für ein gutes Leben? Wie sieht das aus,<br />
wenn wir es von unserem eigenen Standpunkt ausgehen, es aber außerdem auch noch aus<br />
den ganz eigenen Blickwinkeln der anderen betrachten?<br />
Angelika Lotterer: „Was müsste es geben, dass es ein gutes Leben ist?“.<br />
Passant (im Reutlinger Ringelbach-Gebiet / Heilig-Geist-Gebiet): „Gutes Leben?“.<br />
Angelika Lotterer: „Mhm.“.<br />
Passant: „Genug Geld für alle, dass es zum Leben reicht.“.<br />
Angelika Lotterer: „Ja “.<br />
Harald Sickinger: „Und sonst, für ein gutes Leben?“.<br />
Angelika Lotterer: „Zum Essen, zum Trinken, Freunde, wo man´s gute Leben teilen kann.“.<br />
Wir trinken und wir essen zusammen.<br />
Rolf Rathfelder: „Da ist mal im Fernsehen ein Bericht gekommen, dass ein Haufen Lebensmittel<br />
weggeschmissen werden. Das könnte man doch Leuten geben, <strong>die</strong> wenig Geld haben, das<br />
Essen, was <strong>die</strong> rausschmeißen.“.<br />
Getränke, Brezeln, Butter, Käse, Kartoffeln, Zwiebeln, Tomaten, Essig, Öl, Salz, all das haben<br />
wir gekauft, in Lebensmittelmärkten. Alles hatte seinen Preis.<br />
Aber was ist das wert, was wir hier zusammen erleben?<br />
Harald Sickinger: „Wenn jetzt jemand fragen tät, was hat jetzt auch das für einen Wert, was<br />
tätet Ihr dann sagen?“.<br />
Angelika Lotterer: “Unschätzbar wertvoll.“.<br />
Ein Brief an das „Archiv für Erdgeschichten“: Foto: Standbild Filmaufnahmen.<br />
26 Video 15.<br />
13
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Stadtgärtner (den wir beim Reutlinger Hauptbahnhof angesprochen haben): „Unschätzbar ist<br />
Freundschaft. Freundschaft ist eine Sache, <strong>die</strong> kann man nicht bezahlen. Von denen gibt´s<br />
leider viel zu wenig.“.<br />
Passant (beim Wasserfall der Echaz in Pfullingen): „Sag ich mal, dass <strong>die</strong> Echaz <strong>die</strong> ganze Zeit<br />
fließt, das ist für mich unschätzbar wertvoll.“. 27<br />
Die ganze Zeit? Was ist geschehen? Wie ist es jetzt? Wie kann es (gut) weitergehen?<br />
Eine Flaschenpost und ein Brief an das Archiv für Erdgeschichten:<br />
„Der Inhalt <strong>die</strong>ser Flaschenpost stammt vom Flussgrund der Echaz in Pfullingen, Es ist ein<br />
bisschen Erde von dort, wo einmal das Haus „Klemmenstraße 2“ stand. Unter <strong>die</strong>sem Haus<br />
floss <strong>die</strong> Echaz und darin wohnte Marianne Schmid.<br />
Auf ihre Geschichte sind wir durch ein altes Familienfoto gestoßen. Von ihr selbst haben wir<br />
aber kein Bild. Ihre Geschichte lag lange im Dunkeln. In der Gesellschaft, in der sie lebte, wurde<br />
ein Leben wie ihres als „lebensunwert“ betrachtet. Gemessen an dem unmenschlichen<br />
Wertmaßstab <strong>die</strong>ser Gesellschaft schätzte man <strong>die</strong> Kosten <strong>die</strong>ses Lebens höher ein als den<br />
Nutzen. Auf Grund eines solchen Kosten-Nutzen-Denkens wurde Marianne Schmid ermordet,<br />
genau wie 10653 andere Menschen, im Jahr 1940, in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb.<br />
Ausschnitt Kunstprojekt „Grafeneck 10654“ von Jochen Meyder. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Diese Geschichte bewegt uns, seit wir nach und nach verstanden: Eine der abgebildeten<br />
Personen auf einem der historischen Fotos in dem alten Haus, wo wir oft schaffen, das ist ja<br />
<strong>die</strong> Mutter von Marianne Schmid, von der wir durch ein Buch des Stadtarchivars wussten, dass<br />
sie zu den 12 inzwischen bekannten Pfullinger Opfern der sogenannten NS-„Euthanasie“ –<br />
Morde gehörte. In Marianne Schmids Familie schien niemand davon gewusst zu haben.<br />
Was wir heute von Marianne Schmid wissen, das haben der Stadtarchivar Stefan Spiller und<br />
durch ihn auch wir aus den Verwaltungsakten der damaligen Zeit erfahren. Diese<br />
Aufzeichnungen zeichnen nicht wirklich ein menschliches Bild eines Menschen. Diese<br />
27 Video 16<br />
14
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Niederschriften beschreiben nicht wirklich <strong>die</strong> Geschichte ihres Lebens.<br />
Darum können und wollen wir keine Geschichte im engeren Sinne erzählen. Aber wir stellen<br />
Fragen in den Raum. Dabei wirken auch Menschen mit, <strong>die</strong> in unserer Gesellschaft durch<br />
unangemessene Wertvorstellungen behindert werden.<br />
Wie erlebte unsere Verwandte Marianne Schmid <strong>die</strong> Welt, nachdem sie am 6. September 1914<br />
in Pfullingen geboren worden war?<br />
Wie erlebte sie ihr Leben, nachdem ihr Vater Eugen Schmid im August 1917 im ersten Weltkrieg<br />
getötet worden war?<br />
Wie war es für sie, als ihre Mutter Sofie 1922 den Landwirt Ulrich Schlegel heiratete? Ob sie<br />
wohl in der Landwirtschaft mithalf?<br />
Welche Menschen und welche Aktivitäten waren ihr wichtig? Hatte sie Hobbies?<br />
Wie war es, nachdem ihre Mutter 1923 in der Klemmenstraße eine Wäscherei gegründet hatte<br />
und sie, Marianne, dort immer wieder mithalf? Ob sie bei <strong>die</strong>ser Arbeit schier vergangen ist vor<br />
Hitz´ oder ob´s affenkalt war, fragt sich unsere Forschungskollegin Franziska Schiller.<br />
Auch stellt sie <strong>die</strong> Frage, wie viele Menschen wohl hier in einer Badewannenfüllung badeten,<br />
nachdem <strong>die</strong> Wäscherei 1927 um sieben Badekabinen mit Badewannen erweitert und nun<br />
auch Badeanstalt geworden war.<br />
Ob <strong>die</strong> Marianne wohl Lieblingsessen hatte, überlegen wir weiter.<br />
Erlebte sie Freude? Hatte sie Angst?<br />
Wie erlebte sie den Alltag und wie <strong>die</strong> besonderen Tage im Leben, zum Beispiel mit ihren Eltern<br />
und mit ihren vier Geschwistern?<br />
Wie erlebte sie ihr Leben, nachdem sie 1935 einige Zeit in der Tübinger Nervenklinik verbracht<br />
und <strong>die</strong> Diagnose „Schizophrenie“ bekommen hatte?<br />
Wie fühlte sich das Leben für sie an, nachdem sie zu einer Operation gezwungen worden war,<br />
damit sie keine Kinder bekommen konnte?<br />
Ausschnitt aus unserer Ausstellung „Dem Erinnern Raum geben“. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
15
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Ob <strong>die</strong> Marianne wohl geliebt wurde oder geliebt hat? Ja, ob sie einen Freund hatte oder einen<br />
Geliebten, vielleicht sogar auch ´ne Frau, bemerkt unsere Mitforscherin Christine Fuchs.<br />
Wie hat Marianne ihr Leben in den 1930er Jahren im nationalsozialistischen Pfullingen erlebt?<br />
Was hat es für sie bedeutet, dass ihr Onkel ein Nationalsozialist war?<br />
Wie war für sie der Beginn des Krieges 1939?<br />
Und als sie im April 1940 in <strong>die</strong> Heilanstalt Zwiefalten „verbracht“ wurde, wie es in den Akten<br />
heißt?<br />
Und wie erlebte es Marianne Schmid, als sie am 9. Dezember 1940 in Zwiefalten von einem<br />
Bus abgeholt wurde, der sie nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb brachte, wo man sie<br />
noch am selben Tag ermordete?<br />
Wie konnte das geschehen? Wie konnten Politiker*innen, Verwaltungsleute, Ärzt*innen,<br />
Pfleger*innen und all <strong>die</strong> anderen Täter*innen so etwas tun?<br />
Wie kam es eigentlich zu <strong>die</strong>sem ganz, ganz traurigen Punkt, dass man Menschen mit<br />
Handicap wie Staub benutzt? – fragt sich unser Kollege Eugen Blum und fügt hinzu: Das sind<br />
ja keine Staubmenschen. 28<br />
Wie kann es sein, dass Geschichten wie <strong>die</strong> von Marianne auch nach dem Ende der<br />
nationalsozialistischen Terrorherrschaft noch lange verschwiegen wurden? Das fragt sich mit<br />
uns auch Sabine Kramer, deren Großcousine Marianne Schmid in der Klemmenstraße lebte und<br />
umgebracht wurde, weil sie nicht (mehr) nützlich erschien?<br />
Ausschnitt aus unserer Ausstellung „Dem Erinnern Raum geben“. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Kann es sein, dass <strong>die</strong>se Geschehnisse bewusst unter den Teppich gekehrt wurden? – in den<br />
Familien, in der Politik, in den Einrichtungen, <strong>die</strong> eigentlich dem Wohl der Menschen <strong>die</strong>nen<br />
sollten, in <strong>die</strong>ser, in unserer Gesellschaft, <strong>die</strong> eigentlich so eingerichtet sein sollte, dass alle gut<br />
miteinander leben können.<br />
28 Video 17.<br />
16
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Wie war es früher? Wie ist es heutzutage? Wie soll es einmal sein? Was brauchen wir für eine<br />
gute Zukunft? Was hilft uns auf dem Weg dahin?<br />
Was haben wir noch vergessen?“. 29<br />
„Nimm eine Handvoll Erde, Steine, Staub oder Sand; von Orten mit Bedeutung für Dich. Fülle<br />
<strong>die</strong> Erde in ein Gefäß – Woher kommt <strong>die</strong>se Erde und: Wie ist <strong>die</strong>se Erde verbunden mit der<br />
Geschichte deines Lebens? Schicke <strong>die</strong> Erde und <strong>die</strong> Geschichte an: Archiv der Erdgeschichten...“,<br />
so beschreibt Ulrich Koch <strong>die</strong> Aufgabenstellung in dem von ihm initiierten<br />
Kunstprojekt.<br />
Dabei erzählen Menschen von dem ganz eigenen Wert, den der Ort für sie hat, von dem „ihre“<br />
Erde stammt.<br />
Posteingang im Archiv für Erdgeschichten. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Kerstin Rilling zum Beispiel hat ein Päckchen und dazu <strong>die</strong> folgenden Worte an das Archiv<br />
geschickt: „Das ist Erde aus meinem Garten in Dörnach. Mir ist erst in den letzten Jahren<br />
bewusst geworden, was für ein wichtiger Ort er wirklich für mich ist. Hier kann ich mich mit<br />
mir selbst, meiner eigenen Geschichte, aber auch mit der Natur verbinden. Er ist ein Ort, an<br />
dem ich - genauso wie im kreativen Tun und in der Kunst - Ausdruck und Ruhe finde. Wenn ich<br />
im Garten arbeite, setze ich mich mit mir selbst auseinander und es findet ein Nachdenken<br />
über <strong>die</strong> Welt um mich herum statt.“. 30<br />
Das Umweltbildungszentrum Listhof in Reutlingen sei auch ein Wunder der Erde, meint<br />
Franziska Schiller. Ein Ort sei das, von man spielerisch lernen kann, wie man mit Pflanzen und<br />
Tieren umzugehen hat, damit sie erhalten bleiben.<br />
„Die Libelle an sich lebt dann auch bloß ein paar Wochen, entwickelt sich im Wasser aber halt<br />
ein bis zwei Jahre“, erklärt uns Elke Steinbrunn, eine Mitarbeiterin des Umweltbildungszentrums,<br />
während wir im Insektenhaus auf dem Listhof <strong>die</strong> Larven <strong>die</strong>ser Tiere anschauen und<br />
29 Video 18.<br />
30 https://www.kunst-natur-archiv.de/p/archiv-fuer-erdgeschichten-2022-01-kerstin-rilling (Abruf am 1. September<br />
2022).<br />
17
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
begreifen. Dann sagt sie: „Man hört´s ja in letzter Zeit immer wieder, das Insektensterben. Es<br />
gibt immer weniger Insekten. Und wir wollen halt darauf aufmerksam machen, dass <strong>die</strong><br />
Insekten sehr wichtig sind für den Naturhaushalt.“. 31<br />
Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Perspektiven für ein gutes Leben für alle erkunden, entwickeln und vermitteln<br />
Das Wort „Ökologie“ kommt vom griechischen „oikos“ („Haus“, „Haushalt“) und logos<br />
(„Lehre“). Es bedeutet also „Lehre vom Haushalt“. Auch bei der „Ökonomie“ geht´s ums<br />
Haushalten und wenn wir „nomos“ mit „Gesetz“ übersetzen, dann können wir <strong>die</strong> Ökonomie<br />
als das „Gesetz des Haushaltens“ verstehen.<br />
Wenn wir nun aber den unschätzbaren Wert jedes einzelnen Menschenlebens als gesetzt<br />
betrachten und ebenso den unschätzbaren Wert des Lebens auf der Erde insgesamt, wie<br />
ließen sich dann unsere Selbst- und Umweltbeziehungen so gestalten, dass wir <strong>die</strong>ses Leben<br />
und <strong>die</strong>ses Haus, in dem wir leben, erhalten und alle gut darin leben können?<br />
Wie wäre es, wenn wir vom Selbstwert eines jeden Menschen ausgingen, davon, dass alle an<br />
sich und für sich selbst gleichermaßen wertvoll sind? Wie wäre es, wenn wir nach dem<br />
jeweiligen Standpunkt des jeweiligen einzigartigen Menschen fragten, nach seinen<br />
Perspektiven und danach, was wertvoll für ihn ist? Wie wäre es, wenn wir dabei nicht nur auf<br />
Geldwerte achteten, sondern auf das, was er schätzt, ja, vielleicht sogar liebt, an sich und für<br />
sich selbst, im Hinblick auf andere Menschen, Libellen, Wachholderheiden ..., im Hinblick auf<br />
alle möglichen und vielleicht manchmal auch unmöglichen „Dinge“ des Lebens?<br />
Die Umweltethikerin Uta Eser spricht in <strong>die</strong>sem Zusammenhang von „Eigenwerten.“ Sie sagt:<br />
„Das ist eher was, was ich eine Beziehung nennen würde, eine ästhetische Wertschätzung, eine<br />
emotionale Wertschätzung, <strong>die</strong> sich nicht in Geld übersetzen lässt, <strong>die</strong> hat keinen Preis. Wenn<br />
man fragen würde, „was würdest Du dafür bezahlen?“, was ne sehr beliebte ökonomische<br />
Methode ist, Werte zu erfassen, dann würde mir das absurd vorkommen, weil´s einfach keine<br />
31 Video 19.1.<br />
18
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Größe ist, <strong>die</strong> sich in Geld fassen lässt. Und das wäre das, was ich als Eigenwert bezeichne, also<br />
<strong>die</strong>ser, man sagt dann auch schlau, der relationale, Relation heißt Beziehung, also der<br />
Beziehungswert (...). Das geht´s um das, was zwischen mir und dem anderen passiert und in<br />
<strong>die</strong>ser Begegnung zwischen mir und <strong>die</strong>sen Geschöpfen oder Landschaften oder was auch<br />
immer, in <strong>die</strong>ser Begegnung ereignet sich Wert sozusagen. Es hat keinen Wert, sondern das<br />
entsteht in <strong>die</strong>ser Begegnung und in der Beziehung.“. 32<br />
Wie baut man eigentlich eine Wertschätzerei? Foto: Standbild Filmaufnahmen. 33<br />
Wie wäre es, wenn wir <strong>die</strong> eigenen Perspektiven dann mit den Perspektiven anderer<br />
Menschen verbänden? Wie wäre es, wenn wir sie im Zusammenhang der Kulturen der Orte<br />
verstünden, an denen sie so zu sich selbst und zusammenkommen können, dass sie sich<br />
verstanden fühlen, einander was sagen und im lebendigen Austausch mit allerlei Lebewesen,<br />
mit der Welt, sich erleben?<br />
Wie wäre es, wenn wir, was Menschen was bedeutet, von ihrem eigenen Standpunkt aus<br />
betrachteten, von da aus versuchten zu verstehen, wenn davon ausgehend Fragen, Bilder und<br />
Geschichten im Raum stünden, <strong>die</strong> danach fragten, davon erzählten, was eigentlich wirklich<br />
wertvoll ist, für <strong>die</strong> jeweiligen Menschen, Gruppen und auch größeren Kollektive, was ihnen<br />
Kraft gibt und Orientierung, was einen guten Ort für sie ausmacht, was sie für ein gutes Leben<br />
brauchen?<br />
„Druck machen für Inklusion“, haben wir auf einen Karton geschrieben, uns damit an den Fluss<br />
und dort Fragen in den Raum gestellt, wo <strong>die</strong> Geschichte eines Menschen, der von seiner<br />
Gesellschaft entwertet und darum ermordet wurde, daran erinnert, dass wir alle<br />
gleichermaßen wertvoll sind und dazu gehören. Davon ausgehend fragen wir nach Ansichten<br />
und Erfahrungen auf dem Weg zur Aussicht auf ein gutes Leben für alle Menschen.<br />
Kerstin Rilling hat ihre fahrbare Druckerei mitgebracht und erklärt interessierten<br />
Passant*innen, wie sie mitschaffen können. 34 Bei <strong>die</strong>ser Gelegenheit arbeiten wir mit<br />
32 Video 19.2.<br />
33 Video 19.3.<br />
34 Kerstin Rilling leitet den Bereich Museumspädagogik des Kunstmuseums Reutlingen und wirkt u. a. mit ihrer<br />
fahrbaren Druckerei regelmäßig bei der Aktionsforschung unserer Kooperative für andere Perspektiven mit.<br />
19
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Druckbuchstuben, formen Worte und Sätze, bei anderen Gelegenheiten entstehen<br />
multiperspektivische Skizzen und Bilder von uns Menschen und von (Um-)Welten, in denen<br />
wir (gut) leben (können).<br />
Passant 1: „Und das druck ich dann auf Papier, oder?“.<br />
Kerstin Rilling: „Nein, da auf unser Plakat“ (zeigt auf einen großen Karton. Darauf steht in<br />
großen Lettern “DAS GUTE LEBEN“.<br />
Foto: Kerstin Rilling.<br />
Passant 1: „Gutes Leben?“<br />
Kerstin Rilling: „Da können Sie´s draufdrucken.“<br />
Passant 1: „Natur“ (druckt).<br />
Eine andere Passantin sagt, dass <strong>die</strong> „schöne Landschaft“ um Pfullingen herum und „Freunde“<br />
zu ihrem guten Leben beitragen.<br />
Harald Sickinger: „Was braucht´s eigentlich, damit man gut Freunde finden kann?“.<br />
Passantin 2: „Treffpunkte, Orte, <strong>die</strong> auch offen sind für alle.“.<br />
Eugen Blum: „Zum Beispiel in der Kirche, oder im Musikclub oder in Veranstaltungen.“.<br />
Passantin 3: „Gemeinsames Tun, gemeinsames Erleben.“.<br />
Passant 1: „Begegnungen.“.<br />
Passantin 3: „Vertrauen, Zuwendung.“.<br />
Harald Sickinger: „Und was braucht´s eigentlich in Pfullingen noch, damit´s ein gutes Leben für<br />
alle gibt?“.<br />
Passant 4: „Mehr Geist.“.<br />
Passantin 5: „Dass alle zusammenarbeiten können.“.<br />
Passant*innen und Aktionsforscher*innen aus dem ANDERE PERSPEKTIVEN - Montagsteam<br />
arbeiten zusammen an dem gemeinsamen Plakat. Dabei tauschen sie sich aus. Es geht um das<br />
gute Leben.<br />
20
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Passant 6: „Dass man sich einfach, ja, mit Menschen wohl fühlt.“.<br />
Harald Sickinger: „Und wie muss das Umfeld gestaltet sein, damit sich (...) wohl fühlen kann,<br />
was braucht´s da für Bedingungen?“.<br />
Passant 6: „Das ist eine schwierige Frage.“.<br />
Harald Sickinger: „Das ist eine schwierige Frage, ja.“<br />
Passant 6: „Ähm, ja, zum Beispiel Familie, Freunde beieinander. Oder halt, wenn halt <strong>die</strong><br />
Menschen einen gut behandeln und man selber andere gut behandelt.“.<br />
In der Runde, <strong>die</strong> sich rund um das Plakat rund um das gute Leben versammelt hat, um eigene<br />
Perspektiven einzubringen, von anderen Perspektiven zu erfahren, individuelle und kollektive<br />
Erfahrungen zu thematisieren, geht es um unter anderem auch um Barrieren. Sie müsse große<br />
Umwege gehen seit ihr Mann an Parkinson erkrankt ist, erzählt Passantin 7. Und zum Ohrenarzt<br />
müsse sie mittlerweile immer nach Reutlingen fahren, weil es in Pfullingen fast nur noch<br />
Zahnärzte gebe.<br />
Dass es in Pfullingen „mehr Ärztehäuser“ geben sollte, habe jemand gesagt, berichtet Eugen<br />
Blum. Er liest das von einem weißen Wasserball ab. Darauf hat er eine Art Aktionsforschungsprotokoll<br />
geschrieben. Das Spektakel „Meine Welt in der Welt“ geht weiter. 35<br />
Wie wäre es, „meine Welt in der Welt“ und „ein Museum über mich“ mit weiteren Weltbildern<br />
und weiteren Weltgeschichten, weiterer Menschen zu verbinden, weitere für Menschen<br />
bedeutende Orte zu erkunden, dabei unsere „Landkarte der Bedeutungen nach und nach so<br />
zu erweitern, dass sie uns Orientierung geben kann, im Hinblick auf Kulturen und beim<br />
Weiterbauen an Strukturen, in denen wir alle wertgeschätzt werden können.<br />
Fahrbare Druckerei von Kerstin Rilling / Kunstmuseum Reutlingen. Foto: Standbild Filmaufnahmen afuw.<br />
Die „unschätzBAR“ ist ein Raum für angeregten Austausch. Anregend zum Beispiel durch <strong>die</strong><br />
fahrbare Druckerei, <strong>die</strong> „Landkarte der Bedeutungen“, das „Museum über mich“, das<br />
Spektakel „meine Welt in der Welt“ und durch auf den jeweiligen Anlass der jeweiligen<br />
35 Video 20.<br />
21
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
„unschätzBAR“ bezogene multimediale Präsentationen versuchen wir einen über<br />
herkömmliche Grenzen hinausreichenden Kommunikationsprozess anzuregen, in dem<br />
Wertschätzungsfragen in den Raum gestellt und ausgehend von den Standpunkten von<br />
Menschen mit Behinderungserfahrungen andere Perspektiven auf dem Weg zur Aussicht auf<br />
ein gutes Leben für alle Menschen vermittelt werden (können).<br />
„unschätzBAR“ – Kulturzentrum franz. K (Versuch 2. November 2022). Foto: Standbild Filmaufnahmen.<br />
Mindestens eine „unschätzBAR“ soll jährlich im soziokulturellen franz.K in Reutlingen stattfinden<br />
und mit mindestens einer „unschätzBAR“ im Schaffwerk in Pfullingen soll jeweils im<br />
Frühling <strong>die</strong> Expeditionssaison eröffnet werden, in jenem geschichtsträchtigen Haus, das wir<br />
Schritt für Schritt bzw. Radumdrehung für Radumdrehung als Kulturbetrieb für andere<br />
Perspektiven betrachten bzw. behandeln und als Ausgangsbasis und Sammelstelle<br />
„inszenieren“, als Ausgangsbasis und Sammelstelle für unsere Expedition(en) und für<br />
unschätzbar wertvolle Erfahrungen, <strong>die</strong> wir unterwegs sammeln.<br />
Eine „unschätzBAR“ soll und kann es aber auch noch an vielen weiteren Orten in der Region<br />
geben, an Orten, <strong>die</strong> bestimmten Menschen etwas bedeuten und an Orten, <strong>die</strong> von Bedeutung<br />
sind für bestimmte Gemeinwesen. Hierbei soll und kann jeweils im Zentrum stehen und<br />
als Anregung <strong>die</strong>nen, was wir vorher bei unserer Aktionsforschung rund um <strong>die</strong>se Orte<br />
erfahren und aus wahrgenommenen Stimmen, Stimmungen, unterschiedlichen Tönen,<br />
aufgenommenen Bildern, bewegten auch, zu multimedialen Produktionen verarbeitet haben<br />
und dann im Rahmen der jeweiligen „unschätzBAR“ präsentieren.<br />
Jede „unschätzBAR“ wird etwas anders sein. Welcher Rahmen jeweils passt, wird mit den<br />
Menschen abgestimmt, um deren Perspektiven es jeweils vor allem geht.<br />
Was wird beleuchtet? Welche Bilder entstehen dabei? Welche Geschichten werden erzählt?<br />
Wie wäre es, bei den „Dingen“ zu beginnen, <strong>die</strong> wirklich wichtig sind, bisher aber im Schatten<br />
liegen? Wie wäre es, in <strong>die</strong>sem Zusammenhang auch <strong>die</strong> Frage der Macht ins Zentrum zu<br />
stellen? Wie wäre es, danach zu fragen, wer eigentlich noch mithelfen kann, dass Menschen,<br />
<strong>die</strong> ihre Lebensaussichten bisher noch nicht so gut beeinflussen konnten, bessere<br />
Möglichkeiten (er)finden könnten, ihre eigenen Perspektiven im Gemeinwesen einzubringen<br />
und ihre eigenen Perspektiven und <strong>die</strong> Perspektiven des Gemeinwesens mitzugestalten?<br />
22
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
Geschichtswerkstatt im Kulturbetrieb Schaffwerk. Foto: Standbild Filmaufnahmen.<br />
Wie wäre es, noch mehr Menschen zum Mitschaffen zu motivieren, in der Kooperative für<br />
andere Perspektiven, auch Leute in mächtigen Positionen, Professionelle auch, <strong>die</strong> ja oft auch<br />
mit darüber bestimmen, wie jemand bzw. etwas in unserer Gesellschaft gedeutet wird?<br />
Ob ein Mensch zum Beispiel als Mensch mit Behinderung gilt oder aber als ein Mensch, der<br />
durch unangemessene Wertmaßstäbe behindert wird; ob beispielsweise versucht wird, den<br />
Menschen fit für den Arbeitsmarkt zu machen oder aber das Arbeitsleben nach menschlichen<br />
Maßstäben angemessen zu gestalten; ob der Mensch an sich und für sich nichts gilt, höchstens<br />
womöglich noch als Problem, falls seine Eigenschaften, Fähigkeiten und Leistungen unter den<br />
gegenwärtigen, im Lauf der Geschichte geschaffenen Bedingungen, gerade mal wieder<br />
wertlos erscheinen, ob also der Mensch und sein Verhalten als Problem erscheint oder aber<br />
<strong>die</strong> gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen er sich so oder so bewegt; ob der einzelne<br />
Mensch sich selbst, <strong>die</strong> anderen Menschen und seine Umwelt insgesamt isoliert betrachtet<br />
und instrumentell behandelt oder als lebendig mit sich und miteinander verbunden im Großen<br />
und Ganzen des Lebens, das ist eine Frage der Perspektive, eine Frage der Wertschätzung,<br />
eine Frage des Weltbilds, eine Frage der Geschichte, eine Frage der Kultur, eine Frage der<br />
Struktur, eine Frage der Wahrnehmung bzw des Umgangs mit Machtverhältnissen und in<br />
<strong>die</strong>sem Zusammenhang nicht zuletzt auch eine Frage der Abstimmung.<br />
Welche Aussichten für ein gutes Leben für alle gegenwärtig und zukünftig lebenden Menschen<br />
entstehen, hängt nicht zuletzt auch davon ab, ob bzw. wie auch <strong>die</strong> eigenen Perspektiven<br />
derjenigen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> dabei bisher behindert wurden, in demokratische Abstimmungsprozesse<br />
einfließen, wie und wo das aufeinander, wie und wo darüber abgestimmt wird, wie, wo, wer<br />
bzw. was für wen wirklich wichtig ist und was wir tun oder auch lassen wollen, damit wir alle<br />
gut mit uns selber, miteinander und mit unserer Umwelt insgesamt leben können.<br />
In <strong>die</strong>sem Zusammenhang erkunden, entwickeln und vermitteln wir andere Perspektiven auf<br />
dem Weg zur Aussicht auf ein gutes Leben. Dafür schaffen wir dabei mit Expert*innen für ihre<br />
eigenen Perspektiven zusammen, versuchen Leute in „bedeutenden“ Positionen als Mitwirkende<br />
in unserer Kooperative für andere Perspektiven zu gewinnen und Interessierte zu<br />
Agent*innen im Gemeinwesen weiterzubilden – Agent*innen, <strong>die</strong> erkunden, „wo´s funkt“,<br />
23
<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong> – Aktionsforschung für andere Perspektiven<br />
wenn sich unschätzbare Werte „ereignen“ in den Verbindungen der Menschen mit sich selbst,<br />
mit anderen Menschen und mit der Welt um sie herum; Agent*innen, <strong>die</strong> zusammen mit<br />
Expert*innen aus eigener Erfahrung erweiternde „Funk“-Verbindungen (er-)finden, hier und<br />
da „Funklöcher“ überbrücken; Agent*innen auch, <strong>die</strong> ab und zu mal „<strong>dazwischen</strong><strong>funken</strong>“. 36<br />
„<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong>“, so heißt nun unser Programm und unser Magazin mit anderen Weltbildern<br />
und Weltgeschichten, <strong>die</strong> davon berichten, was wir erfahren, auf unserer „langen,<br />
anstrengenden, interessanten, vielfältigen Reise“ 37 durch den Raum und <strong>die</strong> Zeit, im Internet,<br />
mit qr-codes auf der „Landkarte der Bedeutungen“ und an unterschiedlichen Orten, in der<br />
„unschätzBAR“ rund um wirklich wertvolle Ereignisse im Zusammenleben von uns allen miteinander<br />
hier auf der Erde und im Leben einzigartiger Menschen. Mit „<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong>“<br />
erzählen wir davon, was wir finden und erfinden, aber auch davon, was wir selbst und andere<br />
noch brauchen, womit wir selbst und andere zu kämpfen haben.<br />
Nicht allein Franziska Schiller meint, dass „<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong>“ auch „einmischen bedeutet,<br />
in einer Situation, <strong>die</strong> nicht in Ordnung ist“, 38 wenn wir bzw. andere Menschen behindert werden,<br />
auf dem Weg zur Aussicht auf ein gutes Leben. Insbesondere „Immer nur schneller, höher,<br />
weiter, das ist ja <strong>die</strong> Behinderung“, hat Eugen Blum beim Forschen erfahren 39 - nicht er allein.<br />
Foto: NASA / Menschen, <strong>die</strong> vom Raumschiff Apollo 17 aus auf <strong>die</strong> Erde blickten.<br />
36 Fragen und Probleme, <strong>die</strong> das Zusammenleben der Menschen im Sozialen Raum betreffen, werden in unserer<br />
Geslleschaft allzu oft individualisiert. Das betrifft auch den Umgang mit den großen sozialen und ökologischen<br />
Krisen, <strong>die</strong> gegenwärtig das (gute) Zusammenleben von uns Menschen auf der Erde bedrohen, behindern oder<br />
sogar verhindern. Vor <strong>die</strong>sem Hintergrund hat <strong>die</strong> Agentur für unschätzbare Werte 2022 in Kooperativen mit<br />
dem Kreisjugendring Esslingen und der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg / Campus Reutlingen / ifw eine<br />
Weiterbildung konzipiert, <strong>die</strong> Strategien zur kollektiven Bearbeitung von kollektiven Problemen aus dem<br />
Handlungsrepertoire der Gemeinwesenarbeit mit partizipativer Aktionsforschung für nachhaltige Gemeinwesenentwicklungen<br />
verbindet. Was wir im Lauf unserer Weiterbildung „Agent*in im Gemeinwesen“ lernen,<br />
präsentieren wir im September 2024 in einer „<strong>dazwischen</strong> : <strong>funken</strong>“ – Sonderausgabe. Konzept der Weiterbildung:<br />
https://www.yumpu.com/de/document/read/67470001/agentin-im-gemeinwesen-konzept.<br />
37 Zitat von Franziska Schiller (Video 1).<br />
38 Schreibgespräch ANDERE PERSPEKTIVEN 22-11-15.<br />
39 Video 21.<br />
24