Eher schlau als klug - des Fachgebiets Methodologie und ...
Eher schlau als klug - des Fachgebiets Methodologie und ...
Eher schlau als klug - des Fachgebiets Methodologie und ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Musahl (2001): <strong>Eher</strong> <strong>schlau</strong> <strong>als</strong> <strong>klug</strong> – psychologische Hemmnisse vorausschauenden Handelns 3<br />
nach Maßgabe ihrer physikalischen Eigenschaften sowie interner physiologischer <strong>und</strong> psychologischer<br />
Vorgänge in organismisch relevante Information übersetzt werden, spontan Bedeutung<br />
zuweisen. Visuelle Wahrnehmung ist nicht das Lesen fertiger Bilder auf der Netzhaut, sondern<br />
die kognitive Bedeutungszuweisung zu internen Reizmustern, die ihrerseits Korrelate äußerer<br />
Reize sind. Oder: Wir sehen nicht mit den Augen, sondern weisen Reizgegebenheiten durch<br />
Namensgebung entsprechende Bedeutung zu, durchaus im Sinne <strong>des</strong> Kantschen Hinweises, nach<br />
dem ‚Anschauungen ohne Begriffe blind’ sind.<br />
Diese Bedeutungszuweisung folgt Regelwerken, die <strong>als</strong> Heurismen oder Heuristiken bezeichnet<br />
werden. Diese Prinzipien der kognitiven Ordnungsstiftung sollen in einem kurzen Überblick<br />
zusammengefasst werden (s. hierzu im Überblick: Kahneman, Slovic & Tversky, 1982;<br />
Musahl, 1997, S. 50-81).<br />
Heurismen <strong>als</strong> „Denkzeuge“.- Da im Zuge der Evolution der menschliche Selektionsvorteil<br />
vermutlich nicht darin bestand, dass Menschen gelegentlich nach langem Nachdenken zu „richtigen“<br />
Urteilen kommen, sondern darin, dass sie sehr schnell eine situativ angemessene Entscheidung<br />
für subjektiv erfolgreiches Verhalten treffen konnten, bewähren sich diese Regelwerke insbesondere<br />
beim Zwang zu schneller Entscheidung - oder andersherum: Bei genauerem Hinsehen<br />
sind sie häufig die Quelle von Trugschlüssen <strong>und</strong> Irrtümern. Heuristiken helfen uns, Ereignisse<br />
zu identifizieren (Repräsentativitäts- <strong>und</strong> Ähnlichkeitsheuristik), vorhandenes Wissen darüber<br />
zusammenzutragen <strong>und</strong> zu aktivieren (Verfügbarkeitsheuristik), eigene Handlungsmöglichkeiten<br />
in der aktuellen Situation zu prüfen <strong>und</strong> sich auf sie einzustellen (Anpassungs- <strong>und</strong> Verankerungsheuristik);<br />
dabei kommt es zu Fehlschlüssen. Das muss man wissen, wenn man komplexe<br />
Systeme kontrollieren <strong>und</strong> Störungen erkennen, vermeiden oder bewältigen will.<br />
Zwar treten Heurismen häufig in Kombination miteinander auf <strong>und</strong> sind dann schwer<br />
gegeneinander abzugrenzen; aber immer gilt es zunächst, ein Ereignis mit einem Namen zu<br />
versehen. Zu dieser Identifikation <strong>und</strong> Klassifikation bedienen wir uns <strong>des</strong> „Repräsentativitäts-<br />
<strong>und</strong> Ähnlichkeitsheurismus“ - genau dies ist die Schnittstelle zum Wahrnehmungsprozess.<br />
Bei der Identifikation eines Ereignisses orientieren wir uns an Prototypen, wie z.B. Stereotypen,<br />
die bestimmte Ereignisklassen repräsentieren, oder wir weisen Ereignissen aufgr<strong>und</strong><br />
ihrer Ähnlichkeit mit vorhandenen Elementen deren Bedeutung zu. Dieser Heurismus entspricht<br />
den gestaltpsychologischen Prinzipien der Geschlossenheit, der Prägnanz, der Gleichartigkeit<br />
<strong>und</strong> <strong>des</strong> „gemeinsamen Schicks<strong>als</strong>“. Der Einzelfall wird nicht jeweils erneut bewertet, sondern -<br />
das ist zumeist auch recht ökonomisch - <strong>als</strong> Variante bekannter Ereignisse interpretiert. Das kann<br />
allerdings auch die Aussage „Das machen wir immer so“ <strong>und</strong> „Alles schon mal da gewesen“ zur<br />
Folge haben; Verwechslungsfehler, die „Gültigkeits-Illusion“ (Verwechslung von Prädiktor <strong>und</strong><br />
Kriterium) sowie Denk- <strong>und</strong> Handlungsblockaden sind typische Konsequenzen unzureichender<br />
Identifikation aufgr<strong>und</strong> übergeneralisierender Ähnlichkeitsannahmen.<br />
Ein für den Alltag besonders bedeutsames Prinzip ist der Verfügbarkeits-Heurismus. Er<br />
dient zur Informationsspeicherung <strong>und</strong> Bereitstellung sowie räumlich-zeitlichen Integration <strong>und</strong><br />
Extrapolation von Informationen. Wie wir ein Ereignis bewerten hängt davon ab, wie viel Informationen<br />
darüber uns im Moment gegenwärtig sind oder einfach verfügbar gemacht werden<br />
können, weil sie anschaulich sind. Was im gestaltpsychologischen Sinne Figur <strong>und</strong> Gr<strong>und</strong> ist,<br />
ergibt sich aus dem zuerst identifizierten Muster. Die Kehrseite <strong>des</strong> Prinzips: "Was zuerst<br />
kommt, wird bevorzugt" lautet allerdings: "Aus den Augen, aus dem Sinn". Und: Verfügbarkeit<br />
ist naturgemäß abhängig von den Regeln, nach denen Informationen uns überhaupt erreichen.<br />
Bei Untersuchungen der Einschätzung lebensbedrohlicher Risiken – das gilt vermutlich auch für intuitive<br />
Gefährdungsabschätzungen – werden seltene, dramatische Unfallrisiken in ihrer Häufigkeit deutlich überschätzt,<br />
tägliche To<strong>des</strong>ursachen hingegen unterschätzt: Wer dachte während der Tage <strong>des</strong> ICE-Unglücks bei Eschede mit<br />
seinen 101 To<strong>des</strong>opfern an die etwa 150 Verkehrstoten <strong>und</strong> an die Schwerverletzten im Straßenverkehr während der<br />
gleichen Woche (statistisch ca. 7.500). Naive Risikoschätzungen reflektieren mehr journalistische Publikationsregeln<br />
(„H<strong>und</strong> beisst Mann“ ist keine Meldung!) <strong>als</strong> die tatsächliche Ereignishäufigkeit (s. hierzu besonders Combs<br />
& Slovic, 1979).