Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
DEUTSCH<br />
wie Rothko sie angeordnet hat, schuf eine ungebrochene Kontinuität.« Um einen der<br />
Malerei ebenbürtigen dramatischen Ausdruck zu erzielen, unterteilte Feldman das<br />
Werk in kontrastierende Teile: »Während es bei den Gemälden möglich war, Farbe <strong>und</strong><br />
Abstufung zu wiederholen <strong>und</strong> doch dramatischen Ausdruck zu bewahren, fühlte ich,<br />
dass die Musik eine Reihe äußerst gegensätzlicher Abschnitte brauchte […]: 1. eine<br />
ziemlich lange deklamatorische Eröffnung; 2. ein mehr gleich bleibender ›abstrakter‹<br />
Abschnitt für Chor <strong>und</strong> Glocken; 3. ein motivisches Zwischenspiel für Sopran, Viola <strong>und</strong><br />
Pauken; <strong>und</strong> 4. ein lyrischer Abschluss für Bratsche mit Vibraphonbegleitung, dem sich<br />
später der Chor mit einem Collage-Effekt anschließt.«<br />
Als Nonplusultra der Vokalpolyphonie gilt die Motette Spem in alium von Thomas<br />
Tallis, dem Hoforganisten der Tudors: ein faszinierendes Raumklang-Experiment,<br />
dessen Singularität nur dadurch eingeschränkt wird, dass es die direkte Antwort auf<br />
eine Komposition des italienischen Diplomaten <strong>und</strong> Komponisten Alessandro Striggio<br />
gewesen zu sein scheint, der London 1567 besucht hatte <strong>und</strong> bei dieser Gelegenheit<br />
eine 40-stimmige Motette aufführen ließ. Anschließend stellte der Duke of Norfolk<br />
öffentlich die Frage, ob denn keiner unserer »Englishmen« in der Lage wäre, »so good<br />
a songe« zu schreiben, worauf Tallis mit der Vertonung von Spem in alium antwortete –<br />
ebenfalls für vierzig Stimmen, genauer: für acht fünfstimmige Chöre, die, in Anlehnung<br />
an die venezianische Mehrchörigkeit den Raum akustisch erschließen, der zum Symbol<br />
des göttlichen Kosmos’ wird. Der Duke ließ das Werk vermutlich in seinem Landhaus<br />
Nonsuch Palace aufführen, in dem es einen achteckigen Speisesaal mit vier Emporen<br />
gab – ein Raum, in dem Tallis seine 40 Musiker ideal hätte aufstellen können, um die<br />
raffinierte Klangdramaturgie voll zu entfalten. Denn die Klänge scheinen spiralförmig zu<br />
rotieren (zunächst rechts herum <strong>und</strong> ab »qui irasceris« links herum) <strong>und</strong> korrespondieren<br />
antiphonal miteinander: in vier Gruppen zu zwei Chören, in zwei Gruppen zu vier<br />
Chören sowie in allen möglichen Abstufungen. Nach dieser kaleidoskopartigen Vielfalt<br />
faszinierender Klang- <strong>und</strong> Raumeffekte sorgen nach einem kurzen Moment der Stille<br />
alle Beteiligten für einen imposanten dramatischen Höhepunkt, der den Hörer auch<br />
heute noch ins Zentrum des klingenden Universums rückt.<br />
Das Gloria von Jan Sandström ist Teil der Missa a La Casa de la Madre y el Nino, die<br />
in der Zeit von 1992 <strong>und</strong> 1995 für Erik Westbergs Vokalensemble entstand. Bei dem<br />
besonderen Zusatz im Titel handelt es sich um den Namen eines Waisenhauses in<br />
Bogotá, in dem der schwedische Komponist ein Waisenkind adoptiert hat. Die Idee zum<br />
Gloria kam Sandström, wie er selbst bekannte, in einem Traum, den er so beschrieb:<br />
»In einer Kirche auf einem Berg hoch über Bogotá wiederholte ein Kinderchor<br />
ununterbrochen das Gloria, während mal das eine, mal das andere Kind mit dem Ausruf<br />
›Gloria in excelsis‹ aus der Menge heraustrat.« Diesen Wechsel zwischen Chor <strong>und</strong><br />
Vorsänger findet sich auch in der Komposition – realisiert mit Hilfe mehrere Sopran<strong>und</strong><br />
Tenorsoli, die wie einzelne entrückte Engelstimmen samt Echo wirken <strong>und</strong> die<br />
Raumwirkung durch eine dem Chor gegenüber gestellte Positionierung verstärken.