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VdK-RhPfalz_JuliAug_2023

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Inklusion Zeitung Juli/August <strong>2023</strong> 11<br />

Notaufnahme statt Werkstatt<br />

Im Universitätsklinikum Augsburg arbeitet Anna Lena Bogenhauser, eine Pflegehelferin mit Down-Syndrom<br />

Anna Lena Bogenhauser ist gelungen,<br />

was sich viele Menschen mit<br />

Behinderung wünschen: Sie hat<br />

einen unbefristeten Arbeitsvertrag<br />

auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt.<br />

Seit acht Jahren arbeitet<br />

die 30-Jährige, die das Down-<br />

Syndrom hat, in der Notaufnahme<br />

am Universitätsklinikum Augsburg.<br />

Etwa fünf Kilogramm wiegt eine<br />

Sauerstoffflasche, die Anna Lena<br />

Bogenhauser auffüllen muss. In<br />

jeder Hand trägt sie eine: „Ich will<br />

Arme bekommen wie der Superheld<br />

Hulk“, erklärt sie und hebt<br />

die Flaschen noch ein bisschen<br />

an, damit sie ihre Muskeln trainieren<br />

kann. Es ist Dienstagmorgen,<br />

und die junge Frau mit dem Nasenring,<br />

der schwarzen Brille und<br />

den seitlich abrasierten Haaren<br />

hat viel zu tun.<br />

Anna Lena Bogenhauser arbeitet<br />

als Pflegehelferin. Zu ihren Aufgaben<br />

gehört es, Verbandsmaterial zu<br />

kontrollieren und nachzufüllen,<br />

Pflegebetten fertig zu machen,<br />

Essen auszuteilen und vieles mehr.<br />

Eben alles, was notwendig ist, damit<br />

Ärztinnen, Ärzte und Pflegekräfte<br />

gut arbeiten können.<br />

Prüfung bestanden<br />

Mit ihrer Arbeit unterstützt Anna Lena Bogenhauser das Pflegepersonal<br />

und die Ärztinnen und Ärzte. <br />

Foto: Annette Liebmann<br />

Der Job macht ihr großen Spaß,<br />

sagt die quirlige junge Frau. Stolz<br />

erzählt sie, dass sie in ihrer Freizeit<br />

gerne tanzt, Gitarre und Schlagzeug<br />

spielt und Heavy Metal hört.<br />

Um in der Pflege arbeiten zu können,<br />

hat sie bei den Maltesern erfolgreich<br />

einen Kurs absolviert.<br />

Von den zwölf Teilnehmenden<br />

haben nur acht die schwere Prüfung<br />

bestanden.<br />

Der sechswöchige Lehrgang sei<br />

allerdings nicht vergleichbar mit<br />

einer einjährigen Berufsausbildung<br />

zur Pflegehelferin, bedauert ihre<br />

Mutter Sigrid Bogenhauser, die als<br />

stellvertretende Leiterin in der<br />

Notaufnahme arbeitet. Eine solche<br />

kann ihre Tochter nicht machen,<br />

weil sie keinen qualifizierenden<br />

Hauptschulabschluss hat. Zwar<br />

sind ihre Aufgaben fast die gleichen<br />

wie die einer Pflegehelferin, aber<br />

ihr Gehalt wird vom Budget für<br />

Arbeit, einer Leistung des Bundesteilhabegesetzes,<br />

mitfinanziert.<br />

„Menschen mit Behinderung<br />

haben oft keine Chance auf eine<br />

Beschäftigung auf dem regulären<br />

Arbeitsmarkt“, stellt <strong>VdK</strong>-Präsidentin<br />

Verena Bentele fest. „Das<br />

Budget für Arbeit trägt dazu bei,<br />

dass sie eingegliedert werden können.<br />

Leider ist dieses Instrument<br />

noch viel zu wenig bekannt und<br />

wird nur selten genutzt.“<br />

Zu ihrem Job im Klinikum kam<br />

Anna Lena Bogenhauser per Zufall:<br />

„Meine Tochter hat einen angeborenen<br />

Herzfehler und muss<br />

einmal im Jahr untersucht werden“,<br />

erinnert sich Sigrid Bogenhauser.<br />

Als 2015 wieder der Termin<br />

anstand, nahm sie die junge Frau<br />

danach einfach mit auf Station, um<br />

ihr zu zeigen, wo sie arbeitet – natürlich<br />

mit Einverständnis des<br />

Chefs. Am Abend auf der Heimfahrt<br />

leuchteten Anna Lenas Augen.<br />

„Sie fragte mich, ob sie ein<br />

Praktikum bei uns machen könnte“,<br />

so Sigrid Bogenhauser.<br />

Bis dahin hatte sie in einer Behindertenwerkstatt<br />

gearbeitet.<br />

„Man hat gesehen, dass sie gut ist<br />

in ihrem Job“, sagt ihre Mutter.<br />

„Aber sie war nicht glücklich.“ Im<br />

Klinikum machte sie erst ein Praktikum<br />

und bekam dann mehrere<br />

befristete Arbeitsverträge. Seit vier<br />

Jahren ist ihre Stelle unbefristet.<br />

Nachdem Anna Lena Bogenhauser<br />

die Sauerstoffflaschen aufgefüllt<br />

hat, muss ein Fixbett vorbereitet<br />

werden. „Das ist für Patienten,<br />

die betrunken und aggressiv<br />

sind oder sich etwas antun wollen“,<br />

erklärt sie. Sie nimmt die Plastikabdeckung<br />

vom Bett, bringt sorgfältig<br />

die Gurte an und schlägt sie<br />

übereinander. Dann rollt sie das<br />

Bett über den Gang. Auf einer Liste<br />

trägt sie ein, was sie schon erledigt<br />

hat. Als Nächstes steht die<br />

Kontrolle des Arteriensets an. Sie<br />

räumt eine Schublade aus und<br />

wischt sie mit Desinfektionsmittel<br />

aus. „Wenn ich mal nicht da bin,<br />

wird das gern vergessen“, sagt sie.<br />

Geschätzt und beliebt<br />

Sigrid Bogenhauser freut sich,<br />

dass ihre Tochter bei den Kolleginnen<br />

und Kollegen sehr geschätzt<br />

und beliebt ist. Das habe sie sich<br />

selbst erarbeitet. „Anna Lena ist<br />

hoch motiviert und erledigt die ihr<br />

übertragenen Aufgaben unter Anleitung<br />

einer Fachkraft weitgehend<br />

selbstständig“, bestätigt die Leiterin<br />

der Notaufnahme, Sarah Ruile.<br />

„Mit ihrer Art trägt sie zu einer offenen<br />

und aufgeschlossenen Teamkultur<br />

bei.“ Annette Liebmann<br />

<strong>VdK</strong>-TV<br />

Mehr Infos zum Budget für Arbeit<br />

gibt es auf <strong>VdK</strong>-TV, dem Videoportal<br />

des Sozialverbands <strong>VdK</strong>,<br />

in dem Beitrag „Das ,Budget für<br />

Arbeit‘ – Sprungbrett in den ersten<br />

Arbeitsmarkt“.<br />

www.vdktv.de<br />

„Gewissermaßen klassenlos“<br />

<strong>VdK</strong>-Mitglied kann wegen Behinderung Bahncard für die 1. Klasse nicht nutzen<br />

Kommission sucht Missbrauchsopfer<br />

Schutz von Kindern und Jugendlichen verbessern<br />

Personen zweiter Klasse? Ein Gefühl,<br />

das Menschen mit Behinderung<br />

beschleicht, wenn sie immer<br />

wieder an sichtbare und unsichtbare<br />

Barrieren stoßen, die sie an<br />

der Teilhabe hindern. Für <strong>VdK</strong>-Mitglied<br />

Friederike Winter aus Karlsruhe<br />

wurde dieses Gefühl konkret:<br />

Als Rollstuhlfahrerin kann sie bei<br />

der Deutschen Bahn nicht in der 1.<br />

Klasse reisen.<br />

Friederike Winter ist contergangeschädigt<br />

mit einem Grad der<br />

Behinderung (GdB) von 100. Bis<br />

vor einigen Jahren konnte die Mutter<br />

von vier Kindern und Großmutter<br />

von drei Enkeln noch als Pflegekraft<br />

in einem Krankenhaus<br />

arbeiten, aber die Spätschäden<br />

ihrer Krankheit machten der<br />

62-Jährigen mehr und mehr zu<br />

schaffen, so dass sie 2017 Erwerbsminderungsrente<br />

beantragen<br />

musste.<br />

Mehr Komfort<br />

Um bequem reisen zu können,<br />

hatte sich Winter, die einen Rollator<br />

nutzt, eine Bahncard für die 1.<br />

Klasse gekauft. Als sie jetzt für<br />

einen Konzertbesuch in Köln einen<br />

Rollstuhlfahrerplatz im ICE<br />

buchen wollte, erhielt sie die Auskunft,<br />

dass es in der 1. Klasse<br />

grundsätzlich keine Rollstuhlplätze<br />

gebe.<br />

„Wieso sollen Menschen mit<br />

Schwerbehinderung nur 2. Klasse<br />

fahren?“, fragt sie und empfindet<br />

Jeder ICE verfügt über zwei Rollstuhlplätze in der zweiten Klasse.<br />

dies als diskriminierend. Die Deutsche<br />

Bahn sieht das anders: Der<br />

„rollstuhlgerechte Bereich“ in den<br />

ICE-Zügen, der meist in der Nähe<br />

der Bordgastronomie angesiedelt<br />

sei, könne „gewissermaßen als<br />

klassenlos“ gelten, erklärt eine<br />

Konzernsprecherin auf Anfrage.<br />

Die Vorzüge der 1. Klasse, wie<br />

eine größere Platzfläche, höhenverstellbare<br />

Tische, der Zugang zu<br />

einer geräumigen „Universaltoilette“<br />

sowie die Möglichkeit, über den<br />

Serviceruf Essen und Getränke zu<br />

bestellen, seien auch hier vorhanden.<br />

In der Regel verfüge jeder ICE<br />

über zwei Rollstuhlplätze, was<br />

nach Auskunft der Sprecherin<br />

ausreiche. Mehrere Sitzplätze in<br />

beiden Wagenklassen mit diesen<br />

Merkmalen auszustatten sei hingegen<br />

„wirtschaftlich nicht darstellbar“.<br />

Leider nützt diese vorbildliche<br />

Ausstattung Friederike Winter<br />

wenig. Denn nur „nicht faltbare“<br />

Rollatoren werden von der Deutschen<br />

Bahn mit Rollstühlen gleichgesetzt.<br />

Das Modell unseres <strong>VdK</strong>-<br />

Mitglieds lässt sich jedoch – wie<br />

die meisten Rollatoren – zusammenklappen<br />

und wird in der Logik<br />

der Deutschen Bahn daher „gehandhabt<br />

wie ein Koffer“. Das<br />

heißt, der Rollator muss verstaut<br />

werden – für Alleinreisende mit<br />

Einschränkungen sicher eine Herausforderung.<br />

Friederike Winter<br />

überlegt jetzt, ihre Bahncard zurückzugeben<br />

und künftig nur noch<br />

mit dem Auto zu verreisen.<br />

Barbara Goldberg<br />

Foto: Deutsche Bahn AG/Max Lautenschläger<br />

Die Unabhängige Kommission zur<br />

Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs<br />

sucht Menschen mit<br />

einer Behinderung, die in ihrer<br />

Kindheit oder Jugend missbraucht<br />

wurden und bereit sind, darüber zu<br />

berichten. Ziel ist es, durch den<br />

Austausch den Schutz vor Missbrauch<br />

zu verbessern.<br />

Die Kommission, die sich aus<br />

Expertinnen und Experten aus<br />

Wissenschaft und Politik zusammensetzt,<br />

untersucht, in welchem<br />

Umfeld sexueller Missbrauch von<br />

Heranwachsenden mit einer körperlichen<br />

oder geistigen Behinderung<br />

stattgefunden hat. Im Mittelpunkt<br />

der Arbeit steht die Frage,<br />

was sich in der Politik und der<br />

Gesellschaft verändern muss, damit<br />

Kinder und Jugendliche in<br />

Zukunft geschützt sind. Dafür ist<br />

ein Verständnis über Bedingungen,<br />

Zusammenhänge und Folgen<br />

sexuellen Kindesmissbrauchs die<br />

Voraussetzung. Die Kommission<br />

bittet deshalb Betroffene mit einer<br />

geistigen oder körperlichen Behinderung<br />

sowie Zeuginnen und Zeugen,<br />

Kontakt aufzunehmen, um<br />

ihre Geschichte mitzuteilen.<br />

Über das Erlebte zu berichten, ist<br />

auf verschiedene Weise möglich,<br />

zum Beispiel im Rahmen einer<br />

vertraulichen Anhörung oder eines<br />

schriftlichen Berichts. Die Kommission<br />

versichert, dass sie mit<br />

allen Berichten vertraulich umgeht<br />

und sie sicher aufbewahrt. cis<br />

www.aufarbeitungs<br />

kommission.de

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