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<strong>Vivat</strong> Amicitia!<br />

Der Freundes- und Bekanntenkreis Benedict Randhartingers


PUBLIKATIONEN DES<br />

INSTITUTS FÜR ÖSTERREICHISCHE MUSIKDOKUMENTATION<br />

Herausgegeben von<br />

Benedikt Lodes<br />

44<br />

VIVAT AMICITIA!<br />

Der Freundes- und Bekanntenkreis Benedict Randhartingers


VIVAT AMICITIA!<br />

Der Freundes- und Bekanntenkreis Benedict Randhartingers<br />

XI. Internationale musikwissenschaftliche Tagung<br />

5. bis 7. Oktober 2018<br />

Ruprechtshofen, NÖ<br />

Herausgegeben<br />

im Auftrag der<br />

Benedict Randhartinger-Gesellschaft<br />

von<br />

Elisabeth Hilscher


<strong>Vivat</strong> Amicitia! Der Freundes- und Bekanntenkreis Benedict Randhartingers<br />

Herausgegeben im Auftrag der Benedict Randhartinger-Gesellschaft<br />

von Elisabeth Hilscher<br />

(= Publikationen des Instituts für österreichische<br />

Musikdokumentation 44)<br />

PUBLIKATIONEN DES INSTITUTS<br />

FÜR ÖSTERREICHISCHE MUSIKDOKUMENTATION<br />

herausgegeben von Benedikt Lodes<br />

Satz: Nikola Stevanović<br />

Papier: Pergraphica<br />

Hergestellt in der EU<br />

© HOLLITZER Verlag, Wien 2023<br />

www.hollitzer.at<br />

Alle Rechte vorbehalten.<br />

Die Abbildungsrechte wurden nach bestem Wissen und Gewissen geprüft und<br />

vermerkt. Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird um Mitteilung des<br />

Rechteinhabers an die Herausgeberin ersucht.<br />

ISBN 978-3-99094-087-7<br />

ISSN 2616-9029


INHALT<br />

Vorwort 7<br />

Adi Gertraud Trimmel 9<br />

29 Jahre im Dienste von Benedict Randhartinger.<br />

Renaissance eines österreichischen Komponisten<br />

Elisabeth Hilscher 13<br />

<strong>Vivat</strong> Amicitia! Freundschaft, eine bürgerliche<br />

Tugend des 19. Jahrhunderts?<br />

Peter Urbanitsch 17<br />

Besitz und Bildung. Das Wiener Bürgertum<br />

als kultureller und politischer Player und Rezipient<br />

Eva Maria Hois 45<br />

„Es ist eben ein Stück vom ‚größten Dichter‘, was aus dem Volke singt.“<br />

Volksmusik und Mundartdichtung (um 1850) rund um<br />

Alexander Baumann und Benedict Randhartinger<br />

Michael Aschauer 67<br />

„Freundschaft lebe dreimal hoch“. Das komponierende<br />

Dreigestirn Randhartinger, Hüttenbrenner und Schubert<br />

Andreas Lindner 79<br />

Benedict Randhartingers Lieder mit Hornbegleitung<br />

Margarete Wagner 95<br />

Zwischen Zweckgemeinschaft und Freundschaft.<br />

Benedict Randhartingers Verhältnis zu den Dichtern<br />

und Dichtungen der Biedermeierzeit<br />

Elisabeth Hilscher 123<br />

Netzwerk Randhartinger. Widmungen von Liedern<br />

als Spiegel sozialer Netzwerke<br />

Lothar Schultes 137<br />

Musik im Salon. Hauskonzerte im Biedermeier<br />

Tagungsprogramm 159<br />

Register 161


xxxxxxxxxxxxxxx<br />

VORWORT<br />

„Es lebe die Freundschaft“ – bezeichnend für den Freundes- und Bekanntenkreis<br />

von Benedict Randhartinger wurde der Titel eines seiner Männer-Vokalquartette<br />

als Thema für die XI. Internationale musikwissenschaftliche Tagung<br />

im Oktober 2018 in Ruprechtshofen gewählt.<br />

Der spätere Komponist, Sänger und Hofkapellmeister wurde am 27. Juli 1802<br />

als Sohn des Dorfschullehrers Randhartinger in Ruprechtshofen, im Bezirk<br />

Melk, geboren. Schon früh wurde seine über Maßen große musikalische Begabung<br />

erkannt. Er begann seine Karriere als k.k. Hofsängerknabe in Wien, wo er<br />

auf Grund seiner außergewöhnlich schönen Stimme eine Sonderstellung innehatte.<br />

Der damalige Hofkapellmeister und Komponist Antonio Salieri erteilte<br />

Benedict Randhartinger bis 1825 unentgeltlich Privatunterricht in Tonsatz und<br />

Kontrapunkt. Randhartinger begann in dieser Zeit zu komponieren und bald<br />

wurden seine Werke veröffentlicht. Nach Abschluss seines Jus- und Philosophiestudiums<br />

hatte er durch seine Tätigkeit als Privatsekretär bei Graf Széchényi am<br />

Kaiserhof in Wien die Möglichkeit, für ihn wichtige gesellschaftliche Kontakte<br />

zu knüpfen. Auch als Erwachsener ein ausgezeichneter Sänger, machte er durch<br />

Konzerte im In- und Ausland auf sich aufmerksam. Vermehrt wurden seine<br />

Kompositionen über bekannte Verlage wie Artaria, Diabelli etc. herausgebracht.<br />

Auch unternahm er Konzertreisen durch Europa. Zuerst Tenorsänger in der<br />

k.k. Hofmusikkapelle, beendete er seine berufliche Laufbahn 1866 als Hofkapellmeister<br />

von Kaiser Franz Joseph. Als Randhartinger 1893 in Wien im Kreise<br />

seiner Familie verstarb, hinterließ er ein – auch durch die Menge von 2.200<br />

Kompositionen – bedeutendes musikalisches Oeuvre, in dessen Vordergrund<br />

Vokalwerke stehen: rund 847 Lieder, Chöre und Balladen, seine Kirchenmusik<br />

sowie zwei Opern.<br />

Randhartinger gehörte im 19. Jahrhundert zu den bekanntesten Persönlichkeiten<br />

Wiens und wurde auch als „Nestor“ der dortigen Musikwelt bezeichnet.<br />

Sein Bekanntenkreis war sehr groß und vielfältig. Da sich in seinem Nachlass<br />

keine Tagebücher fanden, waren seine wenigen Briefe und seine Lieder mit den<br />

darauf vermerkten Namen der Widmungsträger, Eintragungen in verschiedenen<br />

Tagebüchern seiner Kontaktpersonen sowie Querverbindungen zwischen<br />

diversen Aufzeichnungen eine große Hilfe in der Erforschung des Netzwerks<br />

um Randhartinger. Mit Hilfe von ANNO, dem digitalen Portal historischer<br />

Zeitungen und Zeitschriften der Österreichischen Nationalbibliothek, konnten<br />

weitere Ergänzungen zu Randhartingers Biografie und Informationen zu seinem<br />

Freundes- und Bekanntenkreis aufgespürt werden.<br />

7


Vorwort<br />

Im Namen der Benedict Randhartinger-Gesellschaft danke ich allen, die am<br />

XI. Symposium im Oktober 2018 in Ruprechtshofen teilgenommen und bei<br />

diesem Band mitgewirkt haben. Herzlich sei Elisabeth Hischer gedankt, die das<br />

Symposium kompetent geleitet und es trotz der Corona-Pandemie geschafft hat,<br />

den Tagungsband herauszugeben – wenngleich mit zeitlicher Verzögerung, für<br />

die wir bei allen Referentinnen und Referenten um Nachsicht bitten. Großer<br />

Dank geht auch an das Land Niederösterreich, an die Marktgemeinde Ruprechtshofen,<br />

an die Sponsoren, an die Mitglieder des Vorstandes der Benedict<br />

Randhartinger-Gesellschaft und an alle, die mitgeholfen haben, dass diese Tagung<br />

realisiert werden konnte.<br />

Innig danken möchte ich meiner Familie, die mich in den vergangenen 29<br />

„Randhartinger Jahren“ unterstützt und stets ermutigt hat.<br />

Ruprechtshofen, Juni 2022<br />

SR Adi Gertraud Trimmel<br />

Leiterin der Benedict Randhartinger-Gesellschaft


29 Jahre im Dienst B. Randhartingers<br />

Adi Gertraud Trimmel (Ruprechtshofen/NÖ)<br />

29 Jahre im Dienste von Benedict<br />

Randhartinger<br />

Renaissance eines österreichischen Komponisten<br />

Vor 29 Jahren, 1993, wurde durch Zufall entdeckt, dass Ruprechtshofen der<br />

Geburtsort des bedeutenden Komponisten, Sängers, ordentlichen Mitglieds<br />

der kaiserlichen Hofmusikkapelle und schließlich Hofkapellmeisters Benedict<br />

Randhartinger ist. Seitdem bemüht sich die 1994 gegründete Benedict Randhartinger-Gesellschaft<br />

(mit Sitz am Geburtsort des Komponisten), Leben und<br />

Werk dieser Persönlichkeit und diesen bedeutenden Teil des österreichischen<br />

Kulturerbes zu erforschen und der Musikwelt wie einer breiten Öffentlichkeit<br />

bekannt und zugänglich zu machen. Randhartinger teilt das Schicksal vieler<br />

zeitlebens hochgeachteten und geschätzten Musiker und Komponisten, die – aus<br />

unterschiedlichen und nicht immer rational nachvollziehbaren Gründen – bis<br />

vor wenigen Jahren nur einem kleinen Kreis an Expertinnen und Experten bekannt<br />

waren. Eine Einschränkung des Konzertrepertoires seit dem späten 19.<br />

Jahrhundert auf wenige Werke sogenannter „Großen“ der Musik hat die einstige<br />

Vielfalt zu einer „musikalischen Monokultur“ werden lassen, die erst in den<br />

letzten Jahrzehnten – und angefeuert von der Alten Musik-Bewegung – wieder<br />

durch ehemals Hochgeschätztes aufgebrochen und angereichert wird.<br />

Für Benedict Randhartinger geschieht dies durch das Betreiben eines<br />

Museums in seinem Geburtsort, das in zwei Räumen und durch wechselnde<br />

Sonderausstellungen immer wieder neue Aspekte zu Leben und Schaffen des<br />

Komponisten beleuchtet. Das Museum ist auch der Ort, an dem möglichst<br />

umfassend Materialien zu Randhartinger gesammelt werden – sowohl Originale<br />

als auch Duplikate und Kopien, mit dem Ziel einer möglichst vollständigen<br />

Dokumentation von Leben, Familie, Werk und Wirken dieses Musikers.<br />

Internationale Symposien dienen seit 1998 der wissenschaftlichen Erforschung<br />

und Kontextualisierung dieses Komponisten und seines Werkes im<br />

Musikleben seiner Zeit und seines Lebensumfeldes – eine wichtige Voraussetzung,<br />

um das Schaffen Randhartingers in der reichhaltigen Produktion des 19.<br />

Jahrhunderts stilistisch einordnen und bewerten zu können. Mit den bereits<br />

publizierten zehn Tagungsbänden hat die Benedict Randhartinger-Gesellschaft<br />

nicht nur ihren namensgebenden Komponisten bekannt gemacht, sondern auch<br />

einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung der Musik und Musikkultur des 19.<br />

Jahrhunderts im Allgemeinen und des Biedermeier im Besonderen vorgelegt.<br />

Da ein Großteil von Randhartingers Werken ungedruckt geblieben ist bzw.<br />

viele der zeitgenössischen Drucke nicht mehr den heutigen Usancen der Notenschrift<br />

entsprechen, mussten sie für den heutigen Konzertbetrieb mühevoll<br />

9


A. G. Trimmel<br />

in moderne Notenschrift übertragen und Partituren, Stimmsätze und Klavierauszüge<br />

hergestellt werden. Nun liegen vier Notenhefte mit Ausgewählten<br />

Randhartinger-Liedern (auf Texte von Eichendorff, Geibel, Grillparzer, Goethe,<br />

Heine, Lenau, Schiller, J. N. Vogl, Uhland, etc.) vor, ebenso modernes Aufführungsmaterial<br />

zu sechs Messen, dem 1. Requiem in c-Moll, diversen anderen<br />

kleineren Kirchenmusikwerken sowie zu einigen Instrumentalstücken. 11 CDs<br />

– Studioaufnahmen sowie Live-Mitschnitte – zeugen von den klingenden Erfolgen<br />

dieser Arbeit.<br />

Ein besonderes Anliegen ist die Reintegration des Liedrepertoires von<br />

Randhartinger in das aktuelle Konzertrepertoire von Sängerinnen und Sängern.<br />

In diesem Sinn bemüht sich die Benedict Randhartinger-Gesellschaft, namhafte<br />

Künstlerinnen und Künstler für das Lied-Schaffen zu interessieren und im<br />

Rahmen von Meisterkursen der nächsten Generation Alternativen zum doch<br />

sehr eingeschränkten Standardrepertoire zu bieten. Anfragen aus ganz Europa,<br />

aus Amerika, Asien und sogar Australien zeigen den Erfolg dieser Bemühungen.<br />

Von den zahlreichen und namhaften Sängerinnen und Sängern, die bislang Werke<br />

von Randhartinger aufgeführt haben, seien genannt: Doris Bogner, Michelle<br />

Breedt, Norbert Ernst, Kurt Equiluz, Walter Fink, Gert Fussi, Werner Güra,<br />

Robert Holl, Wolfgang Holzmair, Daniel Johannsen, Jonas Kaufmann, Miriam<br />

Kutrowatz, Ellen van Lier, Herbert Lippert, Andrea Meláth, Ildikó Raimondi,<br />

Christa Ratzenböck, Markus Schäfer, Andreas Schager, Clemens Unterreiner,<br />

Michael Wagner sowie Manuel Walser. Unter den Instrumentalistinnen und<br />

Instrumentalisten wären zu nennen: Bernadette Bartos, Hanna Bachmann, Karl<br />

Eichinger, Peter Erhart, Ursula Erhart-Schwertmann, Michaela Eyberg, Margit<br />

Fussi, Josef Herzer, Eduard Kutrowatz, Robert Lehrbaumer, Andrea Linsbauer,<br />

David Lutz, Charles Spencer, Karen De Pastel, Christoph Stradner, Hermann<br />

Swietly, Junko Tsuchiya, Emese Virág sowie als Dirigentinnen bzw. Dirigenten<br />

u. a. François-Pierre Descamps, Kurt Dlouhy, Josef Habringer, Karen De<br />

Pastel, Uwe Christian Harrer, Patrick Pascher und Geraldine Schiessl, Franz<br />

Welser-Möst.<br />

Wenn auch noch weiterhin viel an Arbeit zu leisten ist, hat sich doch im<br />

Rückblick auf diese 29 Jahre im Dienste von Benedict Randhartinger gezeigt,<br />

wie wichtig es ist, diesen bedeutenden Komponisten aus dem Mostviertel wieder<br />

bekannt zu machen.<br />

Post scriptum:<br />

Während der Redaktionsarbeiten zu diesem Tagungsband hat uns die traurige<br />

Nachricht erreicht, dass einer der wichtigsten und aktivsten Mitstreiter bei der<br />

Wiederentdeckung und Publizierung der Werke Randhartingers, Kammersänger<br />

Univ.-Prof. Kurt Equiluz am 22. Juni 2022 im 94. Lebensjahr in Wien<br />

verstorben ist.<br />

10


29 Jahre im Dienst B. Randhartingers<br />

Trotz seiner Verpflichtungen als internationaler Konzert- und Kantatensänger<br />

sowie als Professor an der Wiener Musikhochschule bis 1998 war Kurt Equiluz<br />

seit 1994 ehrenamtlich um Randhartingers Musik bemüht. Dies geschah durch<br />

seine Auftritte bei Konzerten mit Werken Benedict Randhartingers im In- und<br />

Ausland, das Initiieren von Meisterkursen und Klassenliederabenden, die Transkription<br />

der Musikhandschriften in zeitgemäße digitale Notenschrift und das<br />

Wirken als musikalischer Berater der Benedict Randhartinger-Gesellschaft.<br />

Dafür möchten wir ihm posthum von Herzen danken.<br />

Bleiben wird von Kurt Equiluz aber nicht nur sein Einsatz für die nachfolgenden<br />

Künstlergenerationen, sondern auch die Erinnerung an seine unvergessliche,<br />

klare Stimme, seine berührenden Interpretationen, seine perfekte<br />

sprachliche wie musikalische Intonation und an seine menschliche Größe.<br />

11


A. G. Trimmel<br />

12


<strong>Vivat</strong> Amicitia!<br />

Elisabeth Hilscher (Wien)<br />

VIVAT AMICITIA!<br />

Freundschaft, eine bürgerliche Tugend des 19. Jahrhunderts?<br />

„Non ulla est pusilla, amicos quae capit multos, domus“ („Kein Haus ist winzig, das<br />

viele Freunde hat“). 1 Dieser Satz des Publilius Syrus aus dem antiken Rom könnte<br />

auch als Motto über der Tür vieler bürgerlicher Haushalte des 19. Jahrhunderts<br />

stehen. Freundschaft, etwas das auf einer tiefen inneren Ebene Menschen verbindet,<br />

die nicht blutsverwandt sind, bedingungslos und resistent gegenüber<br />

äußeren Einflüssen, zählte zu den Kardinaltugenden des sich seit der Mitte<br />

des 18. Jahrhunderts neu „erfindenden“ Bürgertums. 2 Gemeinsam mit Fleiß,<br />

Redlichkeit und Tugendhaftigkeit war die Freundschaft eine tragende Säule des<br />

bürgerlichen Tugendkanons. Und es war dieser Tugendkanon, mit dem sich das<br />

Bürgertum vor allem im 19. Jahrhundert moralisch vom durch Nepotismus,<br />

Clandenken 3 , durch Geburt privilegierten und keinem „ordentlichen“ Beruf<br />

nachgehenden Adel abheben möchte. 4<br />

Der Begriff der Freundschaft ist sicherlich auch kulturell konnotiert und variiert<br />

je nach Kulturkreis, Gesellschaftsschicht (Milieu) und Zeit. Dies zeigen bereits<br />

die unterschiedlichen Begrifflichkeiten in griechischer und römischer Antike<br />

auf: Für Aristoteles ist Freundschaft (gemeint in erster Linie als Freundschaft<br />

unter Männern) das Zeichen einer funktionierenden Gesellschaft (polis). Drei<br />

Motive führt er in der Nikomachischen Ethik an, um Freundschaften einzugehen:<br />

Freundschaft um des Wesens Willen, Freundschaft aus Gründen des<br />

Nutzens und Freundschaft um der Lust Willen 5 . Wichtig ist bei allen Motiven,<br />

1<br />

Pseudo-Seneca, Liber de moribus 135 (Publilius Syrus); zitiert in: Sapientia Romanorum. Weisheiten<br />

aus dem alten Rom. Lateinisch/Deutsch, ausgewählt, übersetzt und hg. von Fritz Fajen.<br />

Stuttgart 2008 (Reclams UB 18558) S. 40.<br />

2<br />

Vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Urbanitsch im vorliegenden Band. Die Entwicklung des Bürgertums<br />

von dem mittelalterlicher Städte (in Zentraleuropa) zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts<br />

verlief keineswegs geradlinig, ist doch (ebenfalls auf den zentraleuropäischen Raum im Allgemeinen<br />

und den des Heiligen Römischen Reiches im Besonderen bezogen) ein deutlicher Niedergang<br />

dieses Standes im 17. Jahrhundert parallel zur Durchsetzung absolutistischer Herrschaftskonzepte<br />

zu bemerken, der bis in das frühe 18. Jahrhundert anhielt, sodass ab circa 1750/60 in der Erstarkung<br />

dieser sozialen Gruppe von deren „Neuerfindung“ gesprochen werden kann.<br />

3<br />

Vgl. dazu Leonhard Horowski, Das Europa der Könige. Macht und Spiel an den Höfen des 17. und<br />

18. Jahrhunderts. Darmstadt 2017.<br />

4<br />

Vgl. dazu den Artikel „Bürger“, in: Brockhaus´ Konversations-Lexikon, 14. Aufl., Bd. 3. Leipzig-Wien<br />

1898, S. 756. Hier wird sowohl die alte Divergenz zwischen Adel und Bürgertum<br />

aufgezeigt, als auch auf den modernen Bürgerbegriff im Sinne von Staatsbürger hingewiesen.<br />

5<br />

Letzteres Motiv mag aus heutiger Sicht verwundern, ist jedoch aus dem Begriff philia (φιλία)<br />

zu erklären, der die freundschaftliche Beziehung zwischen Liebenden beschreibt und sowohl<br />

Freundschaft als auch Liebe bedeutet.<br />

13


E. Hilscher<br />

dass Freundschaft eine Gleichheit der Charaktere zur Voraussetzung habe. Und<br />

diese Freundschaft unter Gleichen gelte auch nur für gleichgestellte und somit<br />

ebenbürtige Bürger – denn bei Rangunterschieden würden sich das Verhältnis<br />

zu Ehrerbietung bzw. Gönnerschaft ändern. 6<br />

Die römische Antike differenzierte das griechische Begriffskonvolut weiter:<br />

Liebe und Freundschaft werden im Lateinischen durch unterschiedliche Worte<br />

beschrieben (amor oder caritas bzw. amicitia). Unter amicitia versteht die römische<br />

Philosophie aber nicht nur die bedingungslose Freundschaft Gleichgesinnter<br />

(diese würden sich als familiares bezeichnen), sondern auch das Verhältnis<br />

zwischen Patron und Klienten (welche sich trotz des Rangunterschiedes als amici<br />

bezeichnen würden). Wie differenziert dieser Freundschaftsbegriff im alten Rom<br />

sein konnte, beschrieb Cicero in De amicitia (Über die Freundschaft). 7<br />

Die deutsche Romantik – und damit nähern wir uns der Lebenswelt von Benedict<br />

Randhartinger – stellte den Begriff der „Seelenverwandtschaft“ in den<br />

Vordergrund. Ebenfalls aus der Antikenrezeption übernommen wurde der Anspruch<br />

der Gleichwertigkeit der Charaktere, sodass per se davon ausgegangen<br />

wurde, dass nur gleichgeschlechtliche Freundschaften, Männerfreundschaften,<br />

diesem Anspruch gerecht werden könnten, sah man doch Frauen seit der Aufklärung<br />

als Männern geistig wie körperlich unterlegen an. Im Gegensatz zu<br />

den Salons des ausgehenden 18. Jahrhunderts, wie sie Caroline Pichler in ihren<br />

Memoiren beschrieb 8 , wurde in den Salons des 19. Jahrhunderts nun in Geschlechtertrennung<br />

diskutiert – die Herren im Raucherzimmer, die Damen im<br />

Salon. Interessante Aspekte in Hinblick auf bürgerliche Freundschaftsnetzwerke<br />

des 19. Jahrhunderts bzw. dem Kreis Randhartingers im Speziellen bietet die Soziologie.<br />

Neben den bereits angesprochenen Prämissen der Gleichwertigkeit und<br />

Bedingungslosigkeit 9 wird als Bedingung für tragfähige Freundschaft auch ein<br />

ähnliches Feld an Interessen bzw. eine gemeinsame Arbeitsumgebung genannt. 10<br />

6<br />

Diese Differenzierung prägte das ancien régime mit seinem Patronage-Klientel-System und<br />

einem komplexen, durch strikte Gesetze der Rangordnung gekennzeichneten Adels-Netzwerk.<br />

Freundschaften im antiken bzw. bürgerlichen Sinn waren darin nicht vorgesehen, sondern<br />

konnten sich durchaus auch als Fallstricke in diesem System herausstellen, wie Leonhard Horowski<br />

(siehe Anm. 3) humorvoll an einer Reihe von Beispielen aus dem Europa des 17. und<br />

frühen 18. Jahrhundert demonstriert hat.<br />

7<br />

Marcus Tullius Cicero, Laelius über die Freundschaft. Aus dem Lateinischen übersetzt und<br />

herausgegeben von Marion Giebel. Stuttgart 2014 (Reclam UB 19148).<br />

8<br />

Caroline Pichler, geborene von Greiner, Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. Mit einer Einleitung<br />

und zahlreichen Anmerkungen nach dem Erstdruck und der Urschrift, hg. von Emil Karl<br />

Blümml. München 1914 (Denkwürdigkeiten aus Alt-Österreich 5-6).<br />

9<br />

So sind Gleichwertigkeit und gleiche Interessen für Robert R. Bell (Worlds of Friendship. London<br />

1981) und Siegfried Kracauer (Über die Freundschaft. Essays. Frankfurt/M. 1971 [suhrkamp<br />

302] S. 46 f.) Grundbedingungen für echte Freundschaft, die durchaus von unterschiedlicher<br />

Tiefe und Intensität sein kann.<br />

10<br />

Z. B. bei Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. 6./7. Aufl. Berlin 1926, S. 15.<br />

14


<strong>Vivat</strong> Amicitia!<br />

Zusammengefasst können also vier Hauptgruppen an Freundschaften namhaft<br />

gemacht werden:<br />

– Freundschaft als „Seelenverwandtschaft“ (eine enge Beziehung zum besten<br />

Freund bzw. zur „Busenfreundin“, die über Jahre und alle Schwierigkeiten<br />

hinweg hält und die keiner großen Worte und Erklärungen bedarf, da man<br />

einander gleichsam „blind“ versteht);<br />

– Freundschaft im Rahmen der Familie und deren nächstem Umkreis (also<br />

mit Personen, die quasi zur Familie gehörig empfunden werden, wie beispielsweise<br />

Paten oder Trauzeugen);<br />

– Freundschaft aufgrund gemeinsamer Interessen bzw. auf der Basis beruflicher<br />

Zusammenarbeit;<br />

– Beziehungen aufgrund von Patronage-Klientel-Beziehungen (also dem römischen<br />

Begriff des amicus entsprechend), wie sich dies seit der Frühneuzeit<br />

beispielsweise in höfischen Strukturen zu einem ausgefeilten mehrdimensionalen,<br />

aber höchst flexibel gehandhabten Netzwerkkonstrukt entwickelt<br />

hat; letztere Art der Freundschaft widerspricht jedoch den hohen ethischen<br />

Ansprüchen des bürgerlichen Freundschaftsbegriffes.<br />

Benedict Randhartinger (1802–1893), dessen Leben fast das gesamte 19. Jahrhundert<br />

umspannt, hat die unterschiedlichen Entwicklungen von Hof- bzw.<br />

Adelsgesellschaft und Bürgertum in dieser Zeit nicht nur miterlebt, sondern war<br />

selbst Teil und Akteur. Er befand sich als Mitglied der Hofmusikkapelle rein<br />

räumlich inmitten der Hofgesellschaft, ohne jedoch Teil des Adelshofes zu sein,<br />

der ihn jedoch persönlich kannte und unter dessen Mitgliedern er namhafte<br />

Förderer fand. Seine künstlerischen Tätigkeiten basierten nicht nur auf einem<br />

Netz enger beruflicher Beziehungen zu andern Künstlern und Künstlerinnen,<br />

das je nach Karrierestufe ausgebaut und verdichtet wurde; dass die Freundschaften<br />

darin von unterschiedlicher Qualität waren und von engen persönlichen<br />

Beziehungen zu respektvoll distanzierter Achtung reichten, sei hier nur erwähnt.<br />

Und dann durchzog Randhartingers langes Leben auch eine Reihe an als familiär<br />

zu bezeichnenden Freundschaften, von denen wahrscheinlich sich heute<br />

einige – aufgrund des hohen Maßes an Privatheit – nicht oder nur in Ansätzen<br />

mehr rekonstruieren lassen.<br />

Doch persönliche Beziehungen prägten nicht nur den Alltag und das Lebensumfeld,<br />

sondern flossen auch in die Arbeitswelt und das kompositorische Schaffen<br />

Randhartinger ein – für uns Anlass genug, die Tagung 2018 diesem Aspekt im<br />

Leben eines Komponisten und Künstlers zu widmen. Der bürgerlichen Lebenswelt,<br />

dem Denken, Handeln und dem Vernetzen wie auch der Abgrenzung zur<br />

ersten Gesellschaft (deren Lebenswelt man auf der anderen Seite doch so gerne<br />

imitierte) gelten die Vorträge der diesjährigen Tagung. „Wem der große Wurf<br />

gelungen, eines Freundes Freund zu sein […]“ und „Alle Menschen werden Brüder,<br />

wo dein sanfter Flügel weilt“ – diese Worte aus Schillers Ode an die Freude waren<br />

15


E. Hilscher<br />

Teil und Leitsätze der Lebensphilosophie des Bürgertums des 19. Jahrhunderts<br />

und somit auch der Generation von Benedict Randhartinger. Wie weit und unter<br />

welchen Aspekten sie Leben und Werk durchdrungen haben, hoffen wir am<br />

Ende dieser Tagung ein wenig mehr zu wissen. Wahre Freundschaft war und ist<br />

ein seltenes Gut, das auch schwere Krisen zu bewältigen im Stande ist – dies hat<br />

nicht nur Benedict Randhartinger in seinem Leben mehrmals erfahren. Daher<br />

soll mit den Worten von Laelius’ geschlossen werden: „Ich kann euch nur mahnend<br />

dazu auffordern, die Freundschaft allen menschlichen Gütern vorzuziehen.<br />

Nichts ist nämlich unserer Natur so gemäß, so passend zu unseren Lebensverhältnissen,<br />

sei es im Glück oder im Unglück.“ 11<br />

11<br />

M. T. Cicero, Laelius, siehe Anm. 7, S. 14.<br />

16


Besitz und Bildung<br />

Peter Urbanitsch (Wien)<br />

Besitz und Bildung<br />

Das Wiener Bürgertum als kultureller und politischer Player und Rezipient<br />

Am Beginn der Erörterungen über einzelne Aspekte des Themas Wiener Bürgertum<br />

scheinen einige allgemeine Vorbemerkungen angebracht.<br />

Die erste betrifft die Zeitspanne, die im Folgenden im Zentrum der Betrachtungen<br />

stehen wird, die Zeit zwischen ca. 1820 und dem Ende der Siebziger/Anfang<br />

der Achtzigerjahre des 19. Jahrhunderts 1 , also beginnend mit den Jahren, in<br />

dem sich die Gesellschaft sowohl materiell als auch mental von der tristen, fast<br />

zwanzig Jahre andauernden Kriegszeit zu erholen begann, und endend mit jenen<br />

Jahren, in denen die wirtschaftliche Hochkonjunktur der sogenannten Gründerzeit<br />

sich abschwächte 2 und sich in der in dieser Zeit dominierenden kulturellen<br />

Strömung, dem Historismus, erste Anzeichen einer langsamen Veränderung<br />

bemerkbar machten 3 . Es handelt sich dabei um eine generelle Transformation,<br />

die mit einer allmählichen Änderung sowohl der sozialen Verhältnisse als auch<br />

der mentalen Ordnungsvorstellungen verschiedener bürgerlichen Gruppierungen<br />

einherging und schließlich in die Ausprägung einer auch politisch aktiv werdenden<br />

Massengesellschaft einerseits 4 , der exklusiven Welt des „Wien um 1900“<br />

andererseits mündete. 5 In diese Zeitspanne fallen in etwa auch das öffentliche<br />

Wirken von Benedict Randhartinger und seine produktivste Schaffensperiode,<br />

Grund genug, sich besonders auf diese Periode zu konzentrieren. 6<br />

1<br />

Als bisher jüngste Gesamtdarstellung der Geschichte Wiens vgl. Wien. Geschichte einer Stadt,<br />

Band 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, hg. von Peter Csendes – Ferdinand Opll. Wien–Köln–<br />

Weimar 2006; siehe auch Bertrand Michael Buchmann, Hof – Regierung – Stadtverwaltung:<br />

Wien als Sitz der österreichischen Zentralverwaltung von den Anfängen bis zum Untergang der<br />

Monarchie. Wien 2002.<br />

2<br />

Roman Sandgruber, Ökonomie und Politik. Österreichische Wirtschaftsgeschichte vom Mittelalter<br />

bis zur Gegenwart. Wien 1995.<br />

3<br />

Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Band 5: 19. Jahrhundert, hg. von Gerbert Frodl.<br />

München–Berlin–London–New York 2002.<br />

4<br />

Wolfgang Maderthaner, Die unvollendete Metropole. Kultur und Gesellschaft in Wien 1860–<br />

1945. Gewi. Habil. Wien 2005.<br />

5<br />

Die Literatur zu „Wien um 1900“ ist mittlerweile fast unüberschaubar geworden. Grundlegend<br />

Carl E. Schorske, Wien. Geist und Gesellschaft im Fin de siècle. Frankfurt am Main 2 1982. Siehe<br />

ferner: Die Wiener Jahrhundertwende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, hg. von Jürgen Nautz –<br />

Richard Vahrenkamp. Wien–Köln–Graz 1993; Barbara Tomandl, Die Bildung in der Gesellschaft<br />

der Wiener Moderne. Institutionen, Ideen und Zielsetzungen. Dipl.arb. Wien 2008; Christian<br />

Brandstätter – Daniela Gregori – Rainer Metzger, Wien 1900. Kunst Design Architektur<br />

Mode. Wien 2019, sowie die zahlreichen Ausstellungskataloge, zuletzt im Leopold-Museum:<br />

Wien 1900, hg. von Hans-Peter Wipplinger. Wien 2019.<br />

6<br />

Zur Biographie Randhartingers vgl. Ludwig Flich, Der k.k. Hofkapellmeister Benedict Randhartinger<br />

(1802–1893). Phil. Diss. Wien 1977; Adolfine G. Trimmel – Erich Wolfgang Partsch,<br />

Benedict Randhartinger: ein Komponist aus Ruprechtshofen (1802–1893) Ruprechtshofen 1995.<br />

17


P. Urbanitsch<br />

Schon aus der oben angedeuteten knappen Gegenüberstellung wird deutlich,<br />

dass es sich um eine Zeitspanne handelt, die von grundstürzenden Veränderungen<br />

in so gut wie allen Lebensbereichen gekennzeichnet war. Um nur einige<br />

Stichworte zu nennen: Industrialisierung und Urbanisierung veränderten nicht<br />

nur das äußere Erscheinungsbild der Umwelt, sie prägten auf ganz entscheidende<br />

Weise die gesamte bisher gewohnte Lebensweise der Menschen; die Bildungsrevolution<br />

ermöglichte die Teilhabe weiter Kreise der Bevölkerung an den geistigen<br />

Gütern und gab ihnen die Chance, sich neue Berufsbilder zu erschließen, die wiederum<br />

als Pforte für sozialen Aufstieg genutzt werden konnten; die Verkehrs- und<br />

Kommunikationsrevolution schuf die Voraussetzung für eine neue Qualität der<br />

Vernetzung der Gesellschaft, für räumliche, soziale und mentale Mobilität, aber<br />

auch für eine Tempobeschleunigung aller Lebensabläufe, nicht nur bei der Überwindung<br />

geographischer Distanzen. 7 Dies wurde übrigens nur dort unmittelbar<br />

empfunden, wo es neue Bahnstrecken gab. Dort, wo sie noch nicht existierten,<br />

blieb es längere Zeit hindurch bei einer gemächlicheren Fortbewegung. Noch<br />

1853 dauerte die Reise der Josephine Wertheimstein von Aussee nach Wien mit<br />

der Extrapost vier Tage; nachdem auch das Salzkammergut an das Bahnnetz<br />

angebunden worden war, konnte man diese Strecke in 13 Stunden zurücklegen,<br />

knapp vor der Jahrhundertwende brauchte der direkte Schnellzug nur noch sieben<br />

Stunden! 8 Einschränkend muss jedoch erwähnt werden, dass sich bei den<br />

hohen Tarifen lange Zeit nur die Ober- und Mittelschicht eine Bahnreise leisten<br />

konnten. 9<br />

Während es in den frühen Zwanzigerjahren des 19. Jahrhunderts zwar<br />

schon einige größere Betriebe gab (meist in der Textilbranche), in denen 200<br />

und mehr Menschen beschäftigt waren, herrschten in weiten Teilen von Handwerks-,<br />

Gewerbe- und Handelsunternehmen Klein- und Mittelbetriebe vor, in<br />

denen nicht selten noch die Tradition des „ganzen Hauses“ hochgehalten wurde,<br />

das heißt, dass Wohnen und Arbeiten in ein und demselben Haus stattfanden,<br />

das dort beschäftigte Personal gewissermaßen zur erweiterten Familie zählte,<br />

dass also Produktion und Reproduktion räumlich zusammenfielen. 10 Dass die<br />

Beamten mit unter den ersten waren, von denen diese Lebensweise aufgegeben<br />

wurde, es zur Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit kam, war für die<br />

Entstehung einer distinkten bürgerlichen Kultur nicht ohne Belang. 11 Gegen<br />

Ende des Beobachtungszeitraumes war Wien – was unter dem Eindruck des<br />

7<br />

Oliver Kühschelm, Das Bürgertum in Cisleithanien, in: Die Habsburgermonarchie 1848–1918,<br />

Band IX/1/2: Soziale Strukturen. Von der Stände- zur Klassengesellschaft, hg. von Helmut Rumpler<br />

– Peter Urbanitsch, Redaktion Ulrike Harmat. Wien 2010, S. 854.<br />

8<br />

Ernst Kobau, Rastlos zieht die Flucht der Jahre … Josephine und Franziska von Wertheimstein –<br />

Ferdinand von Saar. Wien–Köln–Weimar 1997, S. 150 f.<br />

9<br />

Roman Sandgruber, Das Jahrhundert der Bahn, in: Zug um Zug. 1 x Marchfeld und retour, hg.<br />

von Reinhard Linke – Hannes Schopf. St. Pölten 1987, S. 132–141.<br />

10<br />

Josef Ehmer, Familienstruktur und Arbeitsorganisation im frühindustriellen Wien. Wien 1980.<br />

11<br />

Waltraud Heindl, Gehorsame Rebellen. Bürokratie und Beamte in Österreich, Band I: 1780 bis<br />

1848. Wien–Köln–Graz 2 2013, S. 170.<br />

18


Besitz und Bildung<br />

Hofes und der Funktion als Verwaltungszentrum oft übersehen wird – aber<br />

auch zu einer Industriestadt erster Ordnung geworden, war es zur Überformung<br />

traditioneller Ökonomien und Lebenswelten gekommen. 12<br />

In ursächlichem Zusammenhang damit steht das enorme Bevölkerungswachstum,<br />

von dem Wien geprägt war. Um 1815 lebten in der von Mauern<br />

umgebenen Stadt (damals nur der nachmalige Erste Bezirk) und den Vorstädten<br />

(die 1850 als Bezirke 2–9 eingemeindet wurden) rund 240.000 Menschen, 1840<br />

war diese Zahl auf knapp 357.000 gestiegen (davon wohnten rund 52.000 in<br />

der Stadt und über 304.000 in den Vorstädten) 13 , 1880 hatte die Stadt Wien<br />

im damaligen Umfang rund 700.000 Einwohner, 1890 (inklusive der Vororte,<br />

die in den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg den stärksten Bevölkerungszuwachs<br />

erleben sollten) 1.342.000. Der große Zuwachs war in erster Linie auf Zuwanderer<br />

aus nah und fern zurückzuführen: 1815 hatte der Anteil der Ortsfremden,<br />

also der nicht in Wien Geborenen, unter 10 % betragen, 1840 43 % und 1890<br />

65 %. 14 Dass diese Entwicklung eine grundlegende Umwälzung der Daseinsbedingungen<br />

und der Lebenswelten der Menschen mit sich brachte, diese aus der<br />

Bahn des Traditionellen rissen, versteht sich von selbst. 15<br />

Natürlich zählte nur ein Bruchteil derer, die in Wien lebten, zum Bürgertum.<br />

Es stellt sich sofort die Frage – und damit sind wir auch schon im Zentrum<br />

unserer Erörterungen angelangt – wie definiert man einen Bürger? Die Forschung<br />

hat darauf eine zweifache Antwort gegeben: einerseits handelt es sich,<br />

vor allem vor 1848, um einen Stadtbewohner, der das Bürgerrecht besaß, war<br />

also Ausdruck einer Qualifikation, die sich aus der altständischen Gesellschaftsordnung<br />

herleitete. 16 Eine gewisse ständische Konnotation blieb auch nach 1848<br />

erhalten, wenn auch in gewandelter Form, z. B. eine rechtliche Bevorzugung<br />

durch das Wahlrecht, das nunmehr auf „Besitz und Bildung“ abstellte und bei<br />

letzteren die „Ehren- und Intelligenzwähler“ im Auge hatte. 17 Doch erfuhr dieses<br />

12<br />

Renate Banik-Schweitzer, Zur Bestimmung der Rolle Wiens als Industriestadt für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung der Habsburgermonarchie, in: Industriestadt Wien. Die Durchsetzung der<br />

industriellen Marktproduktion in der Habsburgerresidenz, hg. von Renate Banik-Schweitzer –<br />

Gerhard Meissl. Wien 1983, S. 5–97.<br />

13<br />

Birgit Frieben, Die Sozialstruktur Wiens am Anfang des Vormärz. Phil. Diss. Wien 1966, S. 7;<br />

Erika Silber, Beiträge zur Sozialstruktur Wiens im Vormärz. Phil. Diss. Wien 1977, S. 50 ff.<br />

14<br />

Peter Eigner, Mechanismen urbaner Expansion: am Beispiel der Wiener Stadtentwicklung<br />

1740–1938, in: Wien. Wirtschaftsgeschichte 1740–1938, Teil 2: Dienstleistungen, hg. von Günther<br />

Chaloupek – Peter Eigner – Michael Wagner. Wien 1991, S. 636, 660 f.; Andreas Weigl,<br />

Demographischer Wandel und Modernisierung in Wien. Wien 2000.<br />

15<br />

Wolfgang Maderthaner, Metropole, in: Wien, hg. von P. Csendes – F. Opll, siehe Anm. 1, S. 191.<br />

16<br />

Es soll nicht unerwähnt bleiben, dass 1840 noch ein knappes Viertel der Bewohner von Wien<br />

und den Vorstädten nichtmagistratischen Grundherrschaften unterstand. E. Silber, Sozialstruktur,<br />

siehe Anm. 13, S. 52.<br />

17<br />

Ernst Bruckmüller, Wiener Bürger. Selbstverständnis und Kultur des Wiener Bürgertums vom<br />

Vormärz bis zum Fin de siècle, in: „Durch Arbeit, Besitz, Wissen und Gerechtigkeit“, hg. von<br />

Hannes Stekl – Peter Urbanitsch – Ernst Bruckmüller – Hans Heiss. Wien–Köln–Weimar<br />

1992 (Bürgertum in der Habsburgermonarchie 2) S. 43–68.<br />

19


P. Urbanitsch<br />

ständisch geprägte Bürgertum eine Ergänzung bzw. Überformung durch die<br />

moderne Konzeption der „Bürgerlichkeit“.<br />

Letztere lieferte die zweite Antwort auf die Frage, was einen Bürger ausmacht<br />

– und diese geriet immer mehr zur „zentralen Referenzkategorie“ der<br />

einschlägigen Forschung. 18 Sie liegt in der Betonung eines Ensembles habitueller<br />

Praxen und Wertvorstellungen, dem „bürgerlichen Wertehimmel“. 19 Dazu zählten:<br />

Selbständigkeit im Denken und Handeln, Toleranz, Anspruch auf Rechtsgleichheit<br />

(wobei man die real existierende Ungleichheit durch allerlei kulturelle<br />

Praktiken zu verschleiern suchte), Anerkennung der Vernunft als bestimmendes<br />

und handlungsleitendes Agens sowie als Weg zur allumfassenden Welterklärung<br />

und Sinnstiftung (während die Religion ihr alleiniges Weltdeutungsmonopol<br />

weitgehend verloren hatte, auch wenn die Religion in vielen bürgerlichen Lebensentwürfen<br />

präsent blieb), strenge Pflichterfüllung, moralische Disziplin,<br />

Arbeitsamkeit, Unternehmungsgeist, Fleiß, Leistungs-, aber auch Konkurrenzdenken<br />

(das Treue, Redlichkeit und die Wertschätzung ehrlicher Arbeit<br />

nicht überschattet), Sparsamkeit nach innen, repräsentative Lebensführung nach<br />

außen, Hochschätzung der Familie, Hausbesitz oder eine räumlich differenzierte<br />

Wohnung, die Beschäftigung von Dienstboten, eine von bestimmten sozialen<br />

Konventionen geprägte Geselligkeit und bürgerliche Selbstinszenierung, Wohltätigkeit,<br />

Mäzenatentum, öffentlich wirksames Engagement für die Allgemeinheit<br />

gehörten ebenso dazu wie die Hochschätzung von Bildung, Wissenschaft<br />

und Kultur. Bildung wurde verstanden als „harmonische Entwicklung aller geistigen<br />

Anlagen und körperlichen Fähigkeiten“, um einen Menschen zu schaffen, der<br />

offen war für das exponentiell wachsende (vornehmlich naturwissenschaftlichtechnische<br />

und medizinische) Wissen der Zeit, einen Bürger, der sich durch<br />

aktive Teilnahme und Selbststudium diesen Zielen annäherte. 20<br />

Diese aus dem Erbe von Humanismus und Aufklärung übernommenen kulturellen<br />

Kodizes und Verhaltensformen dienten durch die subjektive Wahrnehmung<br />

des gemeinsamen Erfahrungs- und Handlungsraumes freilich nicht nur<br />

der Selbstvergewisserung der Zugehörigkeit zu einer distinkten Sozialformation,<br />

die von einem ungehemmten Fortschrittsoptimismus erfüllt war, sondern auch<br />

zur erwünschten Abgrenzung sowohl nach oben, gegenüber der alten Aristokratie,<br />

als auch nach unten, zu den ländlichen und städtischen Unterschichten.<br />

18<br />

Andreas Schulz, Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert. München<br />

2006 (Enzyklopädie deutscher Geschichte 75) S. 58 f.<br />

19<br />

Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, hg. von Manfred Hettling –<br />

Stefan-Ludwig Hoffmann. Göttingen 2000.<br />

20<br />

Siehe dazu Peter Urbanitsch, Bürgerliche Eliten, Modernisierung und Wertewandel in Klein- und<br />

Mittelstädten Cisleithaniens 1848–1918, in: Občanské elity a obecní samospráva 1848–1918, hg.<br />

von Lukáš Fasora – Jiří Hanuš – Jiří Malíř. Brno 2006, S. 49–65, hier S. 62; Ulrike Döcker,<br />

Die Ordnung der bürgerlichen Welt. Verhaltensideale und soziale Praktiken im 19. Jahrhundert.<br />

Frankfurt am Main 1994.<br />

20

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