Der Mensch sollteMEHRim Mittelpunktstehen!Sie lesen hier die Fortsetzungdes Interviewsmit Herrn Univ.-Prof. Dr.Dr. Christian Schubert,Leiter des Labors fürPsychoneuroimmunologieam Department fürPsychiatrie, Psychotherapie,Psychosomatik undMedizinische Psychologieder MedizinischenUniversität Innsbruck.Wie können wir denMenschen in der Medizinauch mit Körper,Geist und Seele wahrnehmen? Das sindin der Medizin immer wieder elementareFragen, die leider oft nicht zufriedenstellendbeantwortet werden können.Daher wollen wir anschließend andie Gesundheitskrise, die uns nach wievor begleitet, und vor allem auch, weiljetzt neue Aspekte hinzugekommensind, genauer beleuchten.26Gesundheit Wellness world business | 1–3/2023
Fotos: Pixabay/muntazar mansory, freepikWELLNESS WORLD Business: Vor einigerZeit gab es eine Aussage einerPflegerin auf Ö1, die gemeint hat, wirhaben ein sehr gutes Krankheitssystem,aber wir haben überhaupt keingutes Gesundheitssystem. Wäre esnicht an der Zeit, endlich umzudenkenund aus dem Krankheitssystem einfunktionierendes, gutes Gesundheitssystemzu machen?Prof. Christian Schubert: Klar. Die derzeitigeSchulmedizin wartet – überspitztformuliert –, bis der Mensch krankwird, und greift erst dann reparierendein – so wie man das bei defekten Maschinenauch tun würde. Meist sind dieMenschen schon alt, und sie werdenhalt, so gut es geht, zusammengeflickt.Ständig schaut man mit Tests und Apparaturenin die Maschine Mensch unddie kleinsten Bausteine seiner Existenz.Der Mensch als biopsychosoziales Wesenwird dabei nicht wahrgenommen,und die größeren ursächlichen Zusammenhängevon bestehenden Symptomenwerden nicht betrachtet.Eine neue Medizin, die auch die obenerwähnte Krankenschwester anspricht,wäre eine Gesundheitsmedizin, die ander Prävention von Krankheiten ansetzt.Das würde bedeuten, dass wir schon ganzfrüh, vielleicht sogar schon pränatal, alsoin der Schwangerschaft, mit der Gesundheitspräventionbeginnen müssten. Ausder Psychoneuroimmunologie, der PNI,wissen wir, dass Stressoren, die Schwangereerleben, signifikante Auswirkungenauf den Fötus und langfristig auf dasKind haben. Das ist nur ein Beispiel dafür,inwiefern die PNI wichtige Erkenntnisseund Konzepte für eine präventiveMedizin leisten kann. Die PNI zeigt,dass kulturelle und soziale Faktoren entscheidendsind bei der Aufrechterhaltungder Gesundheit und der Behandlung vonKrankheiten. Schade ist nur, dass sich dieSchulmedizin wahrscheinlich nicht vonden PNI-Erkenntnissen beeinflussen lassenwird, sondern weiterhin die physikalischenFächer in den Vordergrund stellenwird und sich damit dem in unsererGesellschaft vorherrschenden mechanistischenMenschenbild beugt.Denken Sie hier an den Satz, den ichgerne zitiere: „Ich kann mir nicht leisten,krank zu sein.“ Dieser alarmierende SatzErschöpt beider Arbeit –die Warnzeichendes eigenenKörpers zubeachten, kannentscheidendseinist Ausdruck einer kapitalistischen, neoliberalenGesellschaft, die unsere westlicheKultur und damit auch unsere Medizinprägt. Dieser Satz besagt, dass man sichein natürliches Auskurieren einer Krankheitfinanziell oft gar nicht mehr leistenkann, ja es in der Leistungsgesellschaftgar als Schwäche gewertet wird, wennman krank und pflegebedürftig ist. Deswegennimmt man dann doch lieber einAspirin und tut so, als wäre man gesund,verschleppt damit aber die Krankheit.So aber wird der Weg in Richtung reinerSymptom-Bekämpfung beschritten,und die Ursache der Krankheit wird ignoriert.Das ist ein großes Problem, unddie Krankenschwester hat es sehr richtiggesagt, wir brauchen ein neues Gesundheitssystemder Salutogenese – und solltenuns folglich ganz im Sinne von AaronAntonovsky fragen, was uns gesund hält,und nicht, was uns krank macht.Was, meinen Sie, benötigen die Menschenim Moment gerade am meistennach dieser Pandemie?Mir ist es wichtig, dass gefährliche Pandemie-Narrative,die Angst und Panikverbreiten, eingedämmt und reflektiertwerden. Leitmedien müssten angehaltenwerden, nicht mehr diese grauenhaftenKiller-Virus-Narrative auf Kostender Psyche von Menschen zu bedienen.Wünschenswert wäre eine wissenschaftlichereund sachlichere Berichterstattung.Man könnte beispielsweise sagen:„Schauen Sie, die Omikron-Variante istnicht mehr so gefährlich, Sie können vielselbst für Ihre Gesundheit tun. Sie könnenIhr Immunsystem stärken, indemSie auf Ernährung, Bewegung und vorallem soziales Miteinander achten. Soschaffen Sie eine Herdenimmunität undebnen einer Endemie den Weg. Aus derPNI-Forschung wissen wir, dass geradesoziale Beziehungen und soziale Unterstützungdas Lebenselixier sind, um dasImmunsystem zu stärken.“ Das wäre einvöllig neues Narrativ, und das erwarteich mir von verantwortungsbewusstenMitgliedern des Gesundheitssystems.Jetzt wollen wir endlich das Themawechseln, weg von der Pandemie, hinzum Thema, das Sie eingangs schonangeschnitten haben: der Trennungvon Psyche und Körper, sowie das Soziale.Sie gehen ja davon aus, dassdiese Trennung falsch ist. Wie kannman diese Entwicklung eventuell wiederkorrigieren, was sollte man tun?Ich gehe davon aus, dass Medizin inAbhängigkeit von der Kultur steht. Siehängt quasi am Faden der Kultur. Ichwerde also die Medizin nicht ändernkönnen, wenn ich die Kultur nicht ändere.Viele Menschen wollen wieder in diesogenannte alte Normalität, also in denZustand vor COVID, zurück. Da schüttleich nur den Kopf und sage, bitte nichtin die alte Normalität. Wir braucheneine neue Normalität, eine neue Kultur,die den Menschen nicht als Maschinesieht, sondern von Grund auf menschlichist, und nicht nur an der Maximierungvon Leistung und Quantität interessiertist. Diese alten Aspekte, die nachkapitalisierter Selbstoptimierung streben,wurden schon fast als Heiligtumangebetet. Es geht immer darum, CWellness world business | 1–3/2023Gesundheit27