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„Erna Kronshage (1922-1944): Hintergründe zu ihrem kurzen Leben & ihrem langen<br />
Sterben“<br />
<strong>Vortrag</strong> von Edward Wieand:<br />
02. Februar 2022, 19:00 Uhr, <strong>VHS</strong> Bielefeld<br />
Aus meiner heutigen Wahrnehmung möchte ich einen Blick auf die Hintergründe werfen, die - fast wie aus heiterem Himmel – zu der dann 484 Tage<br />
andauernden Leidenstortur meiner Tante Erna Kronshage geführt haben:<br />
vom 20.10.1942, dem Tag ihrer Einweisung in die Provinzialheilanstalt Gütersloh, der „Behandlung“ dort mit Schocktherapien und Kolonnenarbeit im<br />
Garten und beim Kartoffelschälen,<br />
dann weiter zum Beschluss ihrer Zwangssterilisation durch das Erbgesundheitsobergericht in Hamm nach vielfältigen Einsprüchen des Vaters als<br />
Sorgeberechtigter seiner noch minderjährigen Tochter –<br />
sowie die permanente Ignorierung der Entlassungsgesuche aus der Anstalt, die Deportation mit 99 Mitpatienten aus Gütersloh im Spätherbst 1943,<br />
bis schließlich zur „Euthanasie“-Ermordung in der Mordanstalt „Tiegenhof“ im heutigen Polen am 20.02.1944.<br />
2
Auf dem Ausstellungsplakat<br />
„Krankenmorde &<br />
Deportationen aus Bielefeld<br />
& Bethel“ ist meine Tante<br />
Erna Kronshage abgebildet,<br />
die in einer der sogenannten<br />
„wilden“ dezentralen Krankenmord-Aktionen<br />
1944 ihr<br />
Leben lassen musste.<br />
3
In diesem Jahr 2022 würde Erna Kronshage<br />
100 Jahre alt.<br />
Ihr kurzes Leben und ihr langes Sterben als<br />
eines von insgesamt ca. 300.000 NS-<br />
Euthanasie-Mordschicksalen überall in Mittelund<br />
Osteuropa möchte ich hier skizzieren, so<br />
weit das 80-78 Jahre später überhaupt möglich<br />
ist.<br />
4
Ich kann diese Biografie hier nun nicht so<br />
„freihändig“ Stück für Stück referieren, dazu<br />
fehlt mir die Übung – und dafür macht mir mein<br />
„Lampenfieber“ immer wieder einen Strich<br />
durch die Rechnung.<br />
Deshalb habe ich mir und Euch ein getreues<br />
Exzerpt erstellt, an dem ich mich langhangeln<br />
werde – und somit wird mein <strong>Vortrag</strong> auch in<br />
großen Teilen eine Vorlesung.<br />
Ich bitte Euch darum um Verständnis. 5
Dieses kurze Leben und lange Sterben Erna‘s<br />
zu rekonstruieren, stützt sich insbesondere auf<br />
die erhaltene original Erbgesundheitsgerichtsakte<br />
im Stadtarchiv Bielefeld – und wird<br />
abgeglichen etwa seit 1990 mit den Arbeiten<br />
von Autoren wie Jutta M.Bott, Sigrid<br />
Falkenstein, Dorothee Buck, Ernst Klee, Bernd<br />
Walter, Michael Wunder, Götz Aly, Heinz Faulstich,<br />
Hans-Walter Schmuhl, Lutz Kaelber u.a.<br />
6
Da bleiben nach drei Generationen natürlich<br />
offene und zur Zeit nicht abschließend beantwortbare<br />
Punkte, die nach und nach mit dem<br />
Studium vielleicht noch aufzufindender Akten,<br />
mit Fakten und auch Fiktion in etwa gefüllt<br />
werden können … Aber Günter Kunert meint:<br />
„Man kann alles, selbst das Ungeheuerlichste,<br />
beschreiben und benennen, ohne mehr als eine<br />
schwache Ahnung dessen zu vermitteln, wie<br />
das Beschriebene eigentlich gewesen ist.“<br />
7
Das, was ich hier vortrage, kann und will nicht<br />
mehr als eine Annäherungsskizze sein.<br />
Ich kann nur eine Ahnung dessen vermitteln,<br />
wer meine Tante Erna war - und wie ihr langer<br />
484 Tage andauernder abschüssiger Weg ab<br />
dem 24. Oktober 1942 bis in den Tod am 20.<br />
Februar 1944 tatsächlich ablief – mit welchen<br />
tragischen Zufällen, Absichten, Kurzschlusshandlungen<br />
und Oberflächlichkeiten diese<br />
Schlitterpartie insgesamt mitgepflastert war … 8
Die Biografie meiner Tante habe ich für hier und<br />
heute in zwei Teile gegliedert: Zunächst gebe<br />
ich einen Orientierungsüberblick über ihr kurzes<br />
Leben – um dann auf ein paar Aspekte ihres<br />
langen Sterbens näher einzugehen – um damit<br />
quasi durch eine imaginäre Leselupe von heute<br />
Einzelheiten von damals etwas differenzierter<br />
zu betrachten – so gut das geht.<br />
9
10
ERNA KRONSHAGE<br />
1922-1944<br />
11
Es gibt ja diese „ehrenhafte“ Übereinkunft von<br />
Generation zu Generation: „Dieses und Jenes<br />
muss aber gefälligst in der Familie bleiben – das<br />
geht niemandem etwas an“ … Das sind dann<br />
diese oft peinlichen „Familiengeheimnisse“, wozu<br />
die Einweisung eines Familienmitglieds in die<br />
Psychiatrie sicherlich auch gehören kann. Das ist<br />
familiär immer noch nach wie vor schambesetzt<br />
und wird gern verschwiegen und vertuscht.<br />
12
Und das ist heute sicherlich trotz Internet und<br />
Google und dem „gläsernen Menschen“ und<br />
dem inzwischen hoffentlich anderen „Ruf“ der<br />
Psychiatrie größtenteils immer noch so – aber<br />
da seien auch mit Recht Persönlichkeits-<br />
Schutzverordnungen und die Schweigepflicht<br />
der medizinischen Berufe vor.<br />
13
Eine offensichtliche fabrikmäßig industriell<br />
durchorganisierte rund 300.000-fache<br />
Massentötung jedoch darf aber auch 80 Jahre<br />
danach öffentlich gemacht werden, mit<br />
Opfernamen, Tätern, den Mitläufern, Helfershelfern<br />
und auch Gaffern: Hier versuche ich<br />
das umrisshaft mit dem Einzelschicksal von<br />
Erna Kronshage.<br />
14
Denn: - Mord verjährt nicht.<br />
Die unmittelbar beteiligten Angehörigen haben<br />
die zumindest geahnte Ermordung meiner Tante<br />
vertuscht und verschwiegen. Wahrscheinlich<br />
aus Scham – so wie es zum allergrößten Teil in<br />
betroffenen Familien üblich war - und immer<br />
noch ist – und was davon seit Jahren mit<br />
Absicht längst stickum und spurlos aus den<br />
Köpfen der Nachgeborenen verdrängt wurde.<br />
16
Das frühe Ableben meiner Tante, deren Name<br />
in der vielköpfigen Verwandtschaft mal hin und<br />
wieder fiel, aber deren Schicksal ansonsten<br />
tunlichst verschwiegen oder verklausuliert<br />
wurde, hat gerade auch deshalb – aber auch<br />
durch meinen beruflichen Werdegang – meine<br />
Neugier geweckt, so dass ich mich vor fast 40<br />
Jahren auf die Suche nach verbliebenen<br />
Spuren gemacht habe.<br />
17
Zunächst reagierte ich 1986 auf eine<br />
Pressenotiz in der Kirchenzeitung, in der der<br />
Landschaftsverband Westfalen-Lippe dazu aufrief,<br />
sich bei ungeklärten Schicksalen zu melden,<br />
um aufgrund neuen Archivmaterials<br />
Klärungen herbeizuführen. Dann fand sich im<br />
Stadtarchiv Bielefeld die Erbgerichts-Akte – und<br />
der Autor Ernst Klee verschaffte mir ein<br />
Mitleserecht beim Studium von Anklageschriften<br />
in Bezug auf die Anstalt Tiegenhof.<br />
18
Orientierungsüberblick
ERNA KRONSHAGE<br />
1922-1944<br />
20
Im „Ravensberger Urbar“<br />
von 1556<br />
(dem Ur-Kataster der<br />
Region) ist diese Hofstatt<br />
bereits erwähnt – ob es<br />
in den Grundzügen noch<br />
immer das gleiche Gebäude<br />
ist – geben meine Unterlagen<br />
nicht her …<br />
Familie Kronshage ist seit<br />
ca. 1915/1920 bis 1956<br />
abgabepflichtiger<br />
Pächter des Hofes mit den<br />
Ländereien ringsum.<br />
22
23
24
25
Erna Kronshage wird am 12. Dezember 1922 in<br />
der Landgemeinde Senne II (heute Sennestadt)<br />
als 11. und jüngstes Kind der Eheleute Adolf und<br />
Anna Kronshage geboren – just zum Ende der<br />
Inflationszeit von 1914-1923. Die Landwirtschaft<br />
und die dort gehandhabte bargeldlose<br />
„Tauschwirtschaft“ bringen die Familie<br />
glimpflich durch diese Zeit. Erna wächst wohl<br />
heran als das betüddelte Nesthäkchen, erzogen<br />
und verwöhnt von den älteren Geschwistern. 27
28
Nach erfolgreich abgeschlossener Volksschulzeit<br />
(1929-1937) mit dem recht guten<br />
Notenschnitt von 1,78 auf dem Abschlusszeugnis<br />
bekommt Erna zunächst als<br />
„Haustochter im elterlichen Betrieb“ auf dem<br />
Bauernhof der Familie eine noch oft für junge<br />
Frauen damals übliche Dienst-Anstellung –<br />
„zum Erlernen der Hauswirtschaft durch Mittun“<br />
– „zur sinnvollen Überbrückung der Zeit bis zur<br />
eigenen Hochzeit“.<br />
29
30
Im „Mühlenkamp“ leben Vieh und Menschen<br />
teilweise noch unter einem Dach: Kuh- und<br />
Ziegenställe grenzen direkt an die Hofdeele, von<br />
wo auch die Wohnräume betreten werden – der<br />
Schweinestall liegt etwas außerhalb am Nachbarhaus.<br />
Es gibt nur die eine Wasserpumpe auf<br />
der Deele und einen Ziehbrunnen vorm Haus,<br />
und natürlich noch das übliche Plumpsklo, mit<br />
Herz in der Tür – und hinterm Haus ausgedehnte<br />
Ländereien mit Getreide- und Gemüseanbau. 31
NN
Erna muss als „Haustochter“ keine BDM- oder<br />
Pflichtjahr-Veranstaltungen absolvieren, war<br />
aber jetzt regelrecht dienstverpflichtet in der<br />
inzwischen als kriegswichtig deklarierten<br />
Landwirtschaft zuhause.<br />
Als allmählich immer mehr „alleingelassene“,<br />
einzig noch verbliebene feste Mitarbeiterin auf<br />
dem Hof der Eltern verweigert sie jedoch im<br />
Herbst 1942 plötzlich wohl ausgebrannt und<br />
überfordert diese dienstverpflichtende Mitarbeit. 33
Erna wird zur Abklärung dieser plötzlichen<br />
Verweigerungshaltung von der NSV-Ortsfürsorgerin,<br />
einer sogenannten „Braunen Schwester“,<br />
zur Untersuchung zum amtsärztlichen<br />
Dienst in Brackwede geschickt.<br />
Hier bittet Erna den Amtsarzt jetzt selbst um<br />
eine Auszeit und Wiederherstellungsphase ihrer<br />
Dienstfähigkeit und möchte wohl dazu in die<br />
Provinzialheilanstalt Gütersloh eingewiesen<br />
werden.<br />
35
Denn Erna‘s ältere Schwester Frieda ist dort<br />
1939 nach einem akuten „Erregungszustand am<br />
Arbeitsplatz“ nach nur 4-wöchigem Aufenthalt<br />
vollständig genesen und wiederhergestellt worden.<br />
Genauso wünscht sich das Erna auch für<br />
sich – und provoziert deshalb gegen den Willen<br />
der auf ihre Mitarbeit angewiesenen und immer<br />
noch sorgeberechtigten Eltern am 24. Oktober<br />
42 gemeinsam mit der NSV-Fürsorgerin die<br />
polizeiliche Einweisung in die Anstalt Gütersloh.<br />
36
In Gütersloh gibt es aber nicht die von Erna so<br />
sehnlichst erwartete Wiederherstellungsphase,<br />
sondern man verpasst ihr dort ad-hoc die<br />
Diagnose „Schizophrenie“ – nach damaligem<br />
Kenntnisstand eine Erbkrankheit. Und die von<br />
Erna stattdessen geschilderte Überforderungssituationen<br />
zuhause wird gänzlich ignoriert.<br />
37
Gegen diese nun überraschend diagnostizierte<br />
angebliche Schizophrenie wird sie in Gütersloh in<br />
der „Arbeitstherapie“ mit Hauswirtschaft und<br />
Gartenkolonne beschäftigt – also genau mit<br />
Tätigkeiten, von denen sie sich ja eigentlich<br />
erholen wollte. Hinzu treten jetzt aber auch<br />
medikamentös ausgelöste verstörend erlebte<br />
Schock-Serien und sicherlich auch die<br />
Verabreichung von Beruhigungsmitteln.<br />
38
Der Direktor der Anstalt, Dr. Hartwich, stellt den<br />
für diese Erbkrankheit vorgeschriebenen Antrag<br />
zur „Unfruchtbarmachung“ gemäß dem Rassegesetz<br />
zur „Verhütung erbkranken Nachwuchses“,<br />
wogegen der Vater als Sorgeberechtigter<br />
vehement mehrfach Einspruch erhebt.<br />
Das Erbgesundheitsobergericht Hamm weist in<br />
der abschließenden Berufungsverhandlung all<br />
diese Eingaben des Vaters aber zurück.<br />
39
Dr. Werner Hartwich<br />
Provinzial-Ober-<br />
Medizinalrat<br />
Direktor der<br />
Provinzialheilanstalt<br />
Gütersloh<br />
1934–1945<br />
Hartwich war<br />
SA-<br />
Sanitätsobersturmführer<br />
und seit<br />
1937 NSDAP-Mitglied.
Die Zwangssterilisation wird dann am 4.August<br />
1943 von einem Dr. Stüwe im Krankenhaus<br />
Gütersloh durchgeführt.<br />
Die wiederholten Aufforderungen des Vaters<br />
zur Entlassung seiner Tochter aus der<br />
Heilanstalt werden auch danach ohne Angaben<br />
von Gründen ignoriert. Erna ist nun dort in<br />
Gütersloh auch regelrecht interniert.<br />
41
Zur Versorgung für die wegen der Kriegs-<br />
Bombardements und den an der Front verletzten<br />
Menschen werden ab August 1943 immer<br />
dringlicher Lazarett- und Krankenhaus-Bettenkapazitäten<br />
benötigt. Aufgrund einer aus Berlin<br />
von Dr. Karl Brandt gesteuerten „Aktion“ werden<br />
deshalb in Gütersloh über 600 Belegbetten umgewidmet.<br />
Brandt ist der Generalkommissar für<br />
das Gesundheitswesen und Begleitarzt Hitlers.<br />
43
Prof. Dr. Karl [Franz Friedrich] Brandt<br />
(* 8. Januar 1904 in Mülhausen, Elsass; † 2. Juni 1948 in<br />
Landsberg am Lech)<br />
war ein deutscher Arzt, chirurgischer „Begleitarzt“ von<br />
Adolf Hitler, SS-Gruppenführer der Allgemeinen SS,<br />
SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS<br />
sowie Generalkommissar für das Sanitäts- und<br />
Gesundheitswesen.<br />
Er war der Ranghöchste unter den Angeklagten im Prozess<br />
gegen Mediziner im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses.<br />
Ab dem 1. September 1939 war er zusammen mit<br />
Philipp Bouhler Hitlers Beauftragter für die massenhaften<br />
Morde der Aktion T4 im Rahmen der sogenannten „Euthanasie“.<br />
Er wurde im Rahmen des Nürnberger Ärzteprozesses<br />
vom 9. Dezember 1946 bis zum 20. August 1947 vor dem<br />
Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg angeklagt<br />
und am 20. August 1947 zum Tode durch den Strang verurteilt.<br />
Am 2. Juni 1948 wurde Brandt in Landsberg am Lech<br />
hingerichtet.
Am 12.11.1943 geht dieser Deportationstransport<br />
der Reichsbahn mit 290 „überzähligen“<br />
Patienten aus Gütersloh in östlich gelegene<br />
Anstalten – davon 50 Frauen und 50 Männer in<br />
die Gauheilanstalt „Tiegenhof“ bei Gnesen im<br />
besetzten Polen. Seit 1939 wird in dieser<br />
Anstalt gemordet und Leben vernichtet. Erna<br />
Kronshage verstirbt dann dort nach 100 Tagen<br />
am 20. Februar 1944 an „vollkommener Erschöpfung“,<br />
wie es in der Sterbeurkunde heißt.<br />
46
Das ist damals die übliche Umschreibung von<br />
gezielten NS-Euthanasie-Ermordungen durch<br />
fettlose Kost einhergehend mit untergemischten<br />
leichten Schlafmittel-Überdosierungen – nach<br />
Maßgabe des dazu extra entwickelten „Luminal-Schemas“,<br />
das von Prof. Dr. Nitsche<br />
erdacht und erprobt und auf Chefarztebene<br />
dazu für diese nächste Stufe der „Euthanasie-<br />
Morde“ ab 1943 propagiert wird.<br />
47
Alles in allem ist diese Methode weitaus<br />
weniger auffällig und flexibler einsetzbar und<br />
ohne Aufsehen in den im Osten besetzten<br />
Anstalten anzuwenden, als etwa die in der<br />
ersten Euthanasie-Phase mit der Bezeichnung<br />
„T4“ schon über 70.000 mal angewandten Gas-<br />
Morde 1940/41 - in den dafür extra<br />
ausgestatteten sechs Vernichtungsanstalten im<br />
zentralen Reichsgebiet.<br />
48
Die Todesrate des Deportations-Transportes<br />
vom 12. November 1943 beträgt dann auch bis<br />
zum Kriegsende über 90%.<br />
Die Leiche Erna Kronshages wird auf Antrag<br />
und auf Kosten der Eltern rücküberführt, und<br />
findet nach einem familieninternen Abschiednehmen<br />
mit laienhafter Leicheninspektion am<br />
5. März 1944 im Familiengrab auf dem Alten<br />
Friedhof in Senne II ihre letzte Ruhestätte.<br />
49
Einzel-Betrachtungen
- Da ist zunächst dieser plötzliche zerstörerische<br />
Bombenabwurf eines englischen<br />
Einzelfliegers auf den Gutshof Westerwinter,<br />
aus heiterem Nachthimmel, am 2. Juni 1940,<br />
nur ca. 100 m von den Kronshages entfernt –<br />
bei dem eine fast gleichaltrige Nachbarin zu<br />
Tode kommt.<br />
52
53
- Inwieweit dieser Schreck in der Nacht und die<br />
tödlichen und zerstörerischen Folgen sogar ein<br />
Trauma ausgelöst haben, das Erna als innere<br />
Belastungsstörung noch weiterhin zugesetzt<br />
hat – wir wissen es nicht. Fest steht, dass<br />
dieser Bombenabwurf den Zerstörungsaspekt<br />
des Krieges damals erstmals in die Provinz<br />
trägt, so dass Schaulustige aus OWL kommen,<br />
um erstmalige Bombentrichter zu bestaunen.<br />
55
- Und Erna ist natürlich auch in bleibender<br />
Sorge um ihre Brüder, die ja an der Front<br />
Soldaten sind.<br />
56
57
- Da ist das immer stärker werdende innere Hinund<br />
Her-Gerissen-Sein zwischen den<br />
Ablösewünschen einer jungen Frau hin zur<br />
Selbstständigkeit, bei sicherlich gleichzeitiger<br />
Wertschätzung des „Hotels Mama“ als dort<br />
geborgenes Nesthäkchen.<br />
58
- Hinzu kommt wahrscheinlich auch die<br />
körperlich kräftemäßige Überforderung Erna‘s<br />
in der täglichen Landarbeit, allein mit den Eltern<br />
– bei gleichzeitiger intellektueller<br />
Unterforderung. Denn Erna war eine gute<br />
Schülerin mit dem Notenschnitt von 1,78 auf<br />
dem Abschlusszeugnis. In den Unterlagen ist<br />
sinngemäß ihr Satz kolportiert: „Ich will unter<br />
intelligenteren Menschen sein.“<br />
59
- Erna bewirtschaftet mit den Eltern jetzt den<br />
Hof allein, nur mit sporadischen vereinzelten<br />
Hilfen aus der Nachbarschaft und dem<br />
weiteren Familienkreis.<br />
60
- Aber da ist jetzt auch diese neue stringente<br />
Dienstverpflichtung als „Haustochter“ in der<br />
elterlichen Landwirtschaft, wo man jetzt als<br />
„kriegswichtiger Betrieb“ dem Programm des<br />
sogenannten „Reichsnährstand“-Verbandes<br />
gesetzlich verpflichtet ist – einer ständischen<br />
Regierungsorganisation für Landwirtschaft<br />
und Bauernstand – zur „Aufrechterhaltung der<br />
Versorgung des Deutschen Volkes“.<br />
61
Und so ergibt sich die für Erna – großgeworden<br />
in einer Großfamilie – allmähliche innere und<br />
äußerliche Vereinsamung: denn die älteren<br />
Geschwister sind ja alle aus dem Haus: die<br />
Schwestern sind ausgezogen und leben nach<br />
und nach im eigenen Hausstand und die Brüder<br />
sind als Soldaten im Krieg.<br />
62
Erna‘s wachsende Einsamkeit & Überforderung in der ursprünglichen Großfamilie<br />
64
- Wegen dem Krieg findet Erna auch keine<br />
angemessene altersmäßige Freundesclique,<br />
was aber für eine gesunde soziale Entwicklung<br />
sicherlich wichtig wäre. Ihre kränklichen Eltern<br />
sind ja bereits 43 und 46 Jahre älter … -<br />
- Das alles sind die „toxischen Zutaten“ von<br />
außen zu Erna‘s allmählich innerlich wachsende<br />
schicksalhafte Verweigerungshaltung …<br />
65
ICH WILL NICHT MEHR – ICH KANN NICHT MEHR
- Heute würde man das alles wohl eine „Burnout“-Situation<br />
nennen, eine Nullbock-Phase,<br />
eine „natürliche“ altersgemäße Aufmüpfigkeit.<br />
Damals gibt es jedoch keinen „Gelben Schein“<br />
für eine sich so zusammenbrauende Arbeitsunfähigkeit,<br />
sondern ihre offensichtliche „Pflichtdienst-Verweigerung“<br />
in der staatlich gelenkten<br />
Landwirtschaft ist im Krieg meldepflichtig bei<br />
der Ortsfürsorgerin, der „Volkspflegerin“ der<br />
NS-Volkswohlfahrt, der „Braunen Schwester“. 67
68
- Diese „Volkspflegerinnen“ werden bewusst als<br />
„weibliche Elitegruppe der NSDAP mit Schwerpunktkenntnissen<br />
in Erb- und Rassepflege“ in<br />
den Gemeinden eingesetzt. Sie sollen „im Volk“<br />
nach dem rechten sehen – für einen „gesunden<br />
Volkskörper“ Sorge tragen – also auch mögliche<br />
Kandidatinnen und Kandidaten für eine<br />
„Unfruchtbarmachung“ ausfindig machen.<br />
69
- So wird Ernas Arbeitsverweigerung nun zu<br />
einer „Dienstverweigerung gegenüber der<br />
Volksgemeinschaft“ – und muss so von der<br />
Volkspflegerin an den Amtsärztlichen Dienst<br />
weitergemeldet werden – auch um „amtlich“<br />
festzustellen, ob ein Zwangs- oder Ostarbeiter<br />
oder ein Kriegsgefangener auf den Hof<br />
kommandiert werden muss, um diesen<br />
Arbeitsausfall Erna‘s nun auszugleichen.<br />
70
- Erna bittet in dieser Situation – vielleicht sogar<br />
auf Anraten der „Braunen Schwester“ – beim<br />
Amtsarzt in Brackwede selbst darum, in die<br />
Heilanstalt aufgenommen zu werden, für eine<br />
benötigte Auszeit, um wieder „fit“ zu werden.<br />
Ihre Schwester Frieda hat sie wohl mit dazu<br />
angestachelt, die dort nach einem „Erregungszustand<br />
am Arbeitsplatz“ 1939 in nur 4 Wochen<br />
wieder arbeitsfähig wurde, ohne Abschluss-Diagnose<br />
und ohne erbgesundheitliche Auflagen. 71
- Dieser naiv anmutende Aufnahmewunsch<br />
Erna‘s in die von ihr wohl wörtlich so verstandene<br />
„Heil-Anstalt“ ist also sicher den Genesungserfahrungen<br />
ihrer Schwester Frieda dort<br />
geschuldet – und im Sinne der „Selbsterhaltung“<br />
vielleicht auch von der NS-Volkspflegerin<br />
als „vernünftig“ und „gesund“ bewertet worden.<br />
Denn so wirkt Erna selbst an der Wiederherstellung<br />
ihrer Dienstfähigkeit mit und übernimmt<br />
Verantwortung für sich und ihre Gesundheit. 72
- Und deshalb versucht sie nun auch ohne<br />
Zustimmung der noch sorge- und aufenthaltsbestimmungsberechtigten<br />
Eltern ihre vermeintliche<br />
Auszeit und Erholungsphase in Gütersloh<br />
mit einem „Trick“ durchzusetzen – wir wissen<br />
nicht, wer ihr dieses „Floh ins Ohr gesetzt hat“ – :<br />
Sie schwatzt dem Vater die Einweisungspapiere<br />
ab und übergibt diese Unterlagen kurzerhand<br />
einer Polizeistreife in einem parkenden<br />
Streifenwagen.<br />
73
- Was im ersten Moment komisch wirkt, ist ja aus<br />
Erna‘s Sicht so „verrückt“ nicht wirklich, sondern<br />
zum Erreichen ihres Nahziels ziemlich „clever“<br />
eingefädelt: so umgeht sie der formalen<br />
Zustimmung der aufenthaltsbestimmungs- und<br />
sorgeberechtigten Eltern. Aber ich glaube kaum,<br />
dass Erna diesen verwirrenden Ablauf ausgedacht<br />
hat, um sich so an den Eltern vorbei<br />
„selbst“ einzuweisen. Und für ein Zufalls-Prozedere<br />
erscheint es mir zu „schlitzohrig“ durchplant. 75
- Dieser im Moment wie ein Slapstick inszenierter<br />
Ablauf löst aber bei den nichtsahnenden<br />
Ordnungshütern im Streifenwagen den<br />
eingeübten Einweisungs-Routineablauf von<br />
„Gefahr-im-Verzug“ aus:<br />
- und mit der vielleicht sogar in diesen „Trick“<br />
eingeweihten „Braunen Schwester“ wird Erna<br />
dann „zu ihrem Schutz und zum Schutz der<br />
Gemeinschaft“ am 24. Oktober 42 der Anstalt<br />
Gütersloh polizeilich zugeführt.<br />
76
77
- Gütersloh ist für Erna trotz aller Empfehlungen<br />
sicherlich ein „Kulturschock“ – diese „Gesundheitsfabrik“<br />
mit den Pavillons – verglichen mit<br />
dem beschaulichen „Mühlenkamp“, in dem sie<br />
geboren wurde und gelebt hat. Da sind jetzt<br />
lange grauweiße Flure, hin und her laufende vor<br />
sich hin brabbelnde Menschen, ein wirres Auflachen<br />
und verzweifeltes Ächzen und Stöhnen –<br />
die Gerüche nach Kohleintopf, nach Sagrotan,<br />
Urin und abgestandenem Menschendunst. 80
- Und dann dies Dilemma: Erna hat bei all<br />
diesen taktischen Purzelbäumen und Schachzügen<br />
zur Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft<br />
wohl „auf‘s völlig falsche Pferd gesetzt“: Ihre<br />
Bummelei wird in Gütersloh jetzt plötzlich als<br />
„krankhaft“ – mit der Psycho-Diagnose „Schizophrenie“<br />
belegt – was nun sogar schnurstracks<br />
„erbbiologisch“ abgeleitet wird, nämlich aus<br />
genau jenem einmaligen 4-Wochen-Aufenthalt<br />
1939 dort von Erna‘s Schwester Frieda. 81
- Der „Erregungszustand“ von Erna‘s Schwester<br />
Frieda, 1939 noch ohne einschlägig eindeutige<br />
Abschluss-Diagnose, wird nun im Nachhinein<br />
als „psychopathisch-schizoid“ bezeichnet, und<br />
die erhobene „Familien-Sippentafel“ wird<br />
entsprechend nun erbbiologisch einseitig<br />
uminterpretiert.<br />
82
NN
- Hinter den Kulissen spielt sich ja oft diese Frage<br />
ab, wer die Zeche zahlt, wer die Finanzierung von<br />
Pflege und Unterbringung trägt – erst recht in einem<br />
superteuren Krieg. Die Heilanstalt ist ja kein<br />
KdF-Kurheim. Es geht „knallhart“ um die Kostenübernahme<br />
der Pflege- und Behandlungssätze<br />
zwischen Sozial-, Wohlfahrtsamt oder Provinzialverband.<br />
Wozu in Erna‘s Fall mit polizeilicher Einweisung<br />
auch eine für diese Kostenübernahme<br />
„passend“ gemachte ärztliche Diagnose gehört.<br />
84
- Überforderungssituationen und Unzufriedenheiten<br />
sowie die Hilfe bei traumatischen Erlebnissen<br />
und Ängsten für eine empfindsam sensible<br />
Person werden als mögliche reaktive Auslösemechanismen<br />
für Erna‘s Bummeleien und<br />
Verweigerungen schon „ideologisch“ ignoriert –<br />
und natürlich auch „Erholungswünsche“ oder<br />
ein „Kuraufenthalt“ in einer „Heil-Anstalt“ bei<br />
dieser von Erna vorgegebenen nur „subjektiv<br />
empfundenen“ Belastungssituation… 85
- Die NS-Psychiatrie, als „Hausherr“ in Gütersloh,<br />
überbewertet in ihren Theorien eindeutig die<br />
endogenen – die im Innern, im Erbgut schlummernden<br />
Auslöser – und ignoriert dafür alle<br />
infragekommenden exogenen – von Außen<br />
kommenden Auslösemöglichkeiten – getreu dem<br />
erbbiologischen Wertbild-Auftrag der NSDAP:<br />
nämlich „flink wie Windhunde, zäh wie Leder<br />
und hart wie Kruppstahl“ zu werden – „Augen zu<br />
– und durch“ … 86
- Und so schlittert Erna durch Unwissenheit,<br />
durch schicksalhafte unvorhersehbare Verstrickungen,<br />
ihrer Sensibilität und einer einseitig<br />
erbbiologisch-eugenisch dominierten NS-<br />
Psychiatrie immer weiter auf eine steil<br />
abschüssige Bahn, auf der es immer weniger<br />
Halt gibt.<br />
88
- Die Schizophrenie wird damals in Gütersloh<br />
mit einer „Arbeitstherapie“ in Hauswirtschaft<br />
oder Gartenkolonne, mit Beruhigungsmitteln<br />
und medikamentös ausgelösten Krampfanfall-<br />
Serien, einer Cardiazol-Schocktherapie,<br />
„behandelt“.<br />
- Diese Schock-Torturen sind die Vorläufer der<br />
Elektro-Schocks – und werden zum „inneren<br />
Spannungsabbau“ eingesetzt.<br />
89
- Sie dienen jetzt in kriegsüberfüllten NS-Psychiatrie-Anstalten<br />
aber in erster Linie der Ruhigstellung,<br />
Disziplinierung und Willenslenkung –<br />
also als eine Art Gehirnwäsche im wahrsten<br />
Sinne – und weniger einer gesundheitlichen<br />
Besserung. Diese für Erna schrecklichen<br />
medikamentös ausgelösten Anfallsserien<br />
werden als vollständiger Kontrollverlust mit<br />
Gefühlsverwirrungen und Missempfindungen<br />
erlebt. 90
91
92
93
- Diese jetzt unumstößliche Diagnose „Schizophrenie“<br />
führt nun unausweichlich zum Antrag<br />
Gütersloh‘s auf „Unfruchtbarmachung“ nach<br />
dem Rasse-“Gesetz zur Verhütung erbkranken<br />
Nachwuchses“ von 1933 bei der Erbgesundheits-Gerichtsbarkeit.<br />
94
- Am 11. Februar 1943 wird der Antrag auf<br />
„Unfruchtbarmachung“ gestellt. In den<br />
Beschluss-Unterlagen dazu heißt es u.a.: In der<br />
mündlichen Verhandlung machte Erna Kronshage<br />
einen angespannten Eindruck – sie lachte<br />
sogar unmotiviert auf. Dazu angesprochen,<br />
äußerte sie, ihr Lachen sei Weinen.<br />
Mit dieser Notiz meinte das Gericht sicherlich,<br />
die rasch diagnostizierte „Schizophrenie“<br />
insgesamt mit untermauern zu müssen. 95
- Man muss sich diese gut überlieferte und<br />
beurkundete Szene ganz plastisch vor Augen<br />
führen: Da verhandeln<br />
- der Amtsgerichtsrat Geibel,<br />
- der Amtsarzt Medizinalrat Dr. med. Siebert<br />
- der Medizinalrat Dr. med. Brandis<br />
als mobiles Erbgesundheitsgericht Bielefeld am<br />
29.3.1943 im 20-minütigen Fließband-Takt über<br />
die Zwangssterilisierung von insgesamt 11<br />
Patienten. 96
- Sie sitzen wahrscheinlich sehr honorig und<br />
gewichtet im holzgetäfelten Sitzungszimmer<br />
des Verwaltungsgebäudes der Anstalt Gütersloh,<br />
wohin „die Kranken seitens der Anstaltsleitung<br />
zum jeweils anberaumten Termin vorzuführen<br />
sind“. Die drei Herren, eher lässig, gedämpft<br />
vor sich hin murmelnd, mit Kopierstiften<br />
bewaffnet, am großen Besprechungstisch. Vor<br />
ihnen verteilt die Akten, in denen missmutig und<br />
gelangweilt und absichtslos geblättert wird. 97
98
- Erna ist dabei als 3. „Fall“, von 08.40 – 09.00<br />
Uhr anberaumt – und bei dieser ungleichen<br />
„Vorführung“ ohne persönlichen Beistand soll<br />
über diese endgültige, wahrlich „einschneidende“<br />
Maßnahme entschieden werden. Erna‘s<br />
verstörte und verunsicherte Reaktion auf diese<br />
eigentümliche Situation ist dabei u.a. ein kurzes<br />
unmotiviertes Auflachen, was dann auf<br />
Befragen von ihr mit dem tiefgründigen Satz:<br />
„Mein Lachen ist Weinen“, kommentiert wird. 99
- Die 20-jährige Erna lacht dabei wohl nicht, weil<br />
sie etwa „schizophren“ ist – sie lacht, um nicht<br />
losheulen zu müssen, weil sie sich ihrer Tränen<br />
vor diesen amtsärztlich und höchstrichterlich<br />
herumschwadronierenden Männern schämen<br />
würde, denen sie da in dieser heiklen intimen<br />
schicksalsbestimmenden Frage schutzlos<br />
ausgeliefert ist.<br />
100
Auf meiner Website<br />
www.eddywieand-sinedi.de<br />
ist eine Arbeitskopie der<br />
Erbgesundheits-<br />
Gerichtsakte aus dem<br />
Stadtarchiv Bielefeld<br />
verlinkt<br />
101
- Am 4. August 1943 wird sie im Krankenhaus<br />
Gütersloh zwangssterilisiert – trotz aller<br />
Widersprüche und Eingaben des Vaters.<br />
102
- Mehrfach hat der Vater als Noch-Sorgeberechtigter<br />
gefordert, sie aus der Anstalt zu<br />
entlassen, was jetzt, nach der Sterilisation,<br />
auch von rechts wegen hätte erfolgen müssen.<br />
Doch eine Anweisung „von oben“ an die Anstalt<br />
lautet inzwischen: Eingewiesene Insassen sind<br />
nicht nach Hause zu entlassen, „weil diese<br />
geistig anbrüchigen Personen in Luftschutzräumen<br />
zu Unzuträglichkeiten führen.“ Damit sitzt<br />
Erna nun unentrinnbar in der Falle. 104
105
- Am 12. November 1943 startet mit Erna an<br />
Bord der für Ostwestfalen schon fast legendäre<br />
Deportations-Transportzug in östliche und im<br />
besetzten Polen gelegene Vernichtungsanstalten<br />
wie Meseritz-Obrawalde, Warta und<br />
eben Tiegenhof bei Gnesen. Dieser Deportationstransport<br />
wird hier auf den Ausstellungstafeln<br />
anderer Ermordeter häufig als<br />
Ausgangspunkt hin zur Kranken-Ermordung<br />
benannt.<br />
106
107
- Und diese Deportation erfolgte nach Maßgabe<br />
der „Luftschutz“-Evakuierungen der „Aktion<br />
Brandt“, mit der die Anweisung umgesetzt<br />
werden muss, in Gütersloh jetzt überzählige<br />
Patienten zu „verlegen“, um der Nachfrage<br />
nach Lazarett- und Krankenhausbetten nachzukommen.<br />
Die jeweilige Leistungsfähigkeit sollte<br />
dabei eigentlich den Ausschlag geben, wer<br />
„verlegt“ wird und wer bleiben darf – wer noch<br />
„brauchbar“ ist oder wer nur „unnützer Esser“. 108
- Aber die Historiker vom LWL in Münster<br />
meinen inzwischen, dass zu einer solch<br />
fundierten Auswahl nach Leistungsfähigkeit<br />
wohl gar keine Zeit mehr gegeben war, so dass<br />
die zur Deportation ausgewählten Personen<br />
jeweils nach den lokalen Gegebenheiten, nach<br />
freizumachenden Stationen und Abteilungen<br />
bestimmt werden – also aus den Gebäudetrakten<br />
kommen, die für einen Lazarettbetrieb zukünftig<br />
am besten geeignet scheinen. 109
- Für Erna geht es dabei in die seit 1939 fabrikmäßig<br />
durchorganisierte Mordanstalt „Tiegenhof“<br />
bei Gnesen. Diese Anstalt hat sich unter<br />
dem Direktor Dr.Victor Ratka seit 1939 zu einer<br />
Tötungsanstalt entwickelt: Von Ende 1939 bis<br />
Anfang 1945, in gut 5,5 Jahren, sind in Tiegenhof<br />
nach Veröffentlichungen der Klinikleitung<br />
fast 3.600 Menschen getötet worden, also ca.<br />
700 Personen pro Jahr: was einer Sterberate<br />
von mindestens 70 % entspricht. 111
Dr. Victor Ratka - auch Viktor bzw. Wiktor<br />
(*27.11.1895 Ober-Lazisk Oberschlesien) - + 05.04.1966 Heitersheim)<br />
- erst spät auf Antrag als „Volksdeutscher“ anerkannt<br />
Ab 1934 Direktor der Anstalt DZIEKANKA im Stadtgebiet Gniezno/Gnesen<br />
(nach Okkupation 1939 "Tiegenhof" genannt), während des Krieges<br />
reine Mordanstalt;<br />
Am 01.02. 1941 Aufnahme in die SA<br />
Ab 01.09.1941 als Gutachter zeitweise zur T4-Zentrale abgeordnet, Selektion<br />
von Patienten und KZ-Häftlingen<br />
1943 Eintritt in die NSDAP;<br />
Kurz vor der Einnahme der Gauheilanstalt Tiegenhof durch die Rote Armee<br />
setzte sich Ratka im Januar 1945 ins Altreich ab.<br />
Er lebte schließlich als Pensionär in Baden - als ehemaliger Direktor einer<br />
"deutschen Heilanstalt.<br />
Gegen Ratka erging am 8. August 1961 zunächst Haftbefehl. Er galt jedoch als<br />
haftunfähig.<br />
Der Antrag auf Eröffnung der gerichtlichen Voruntersuchung, den der hessische<br />
Generalstaatsanwalt Dr. Fritz Bauer am 24. Oktober 1961 eingereicht hatte,<br />
wirft Dr. Victor Ratka u.a. zur Last, im Rahmen der „Euthanasie“-Aktionen<br />
„aus niedrigen Beweggründen und mit Überlegung Menschen getötet zu haben“.<br />
Schließlich wurde das Ermittlungsverfahren gegen Ratka, der die Morde in<br />
Tiegenhof bestritt, nach seinem Tod am 05.04.1966 eingestellt.
113
- Von Ende 1939 bis 1941 werden zunächst<br />
über 1.000 polnische Insassen in Dziekanka<br />
ermordet, z.T. in umgebauten Kleinlastern als<br />
Gaswagen, in denen die Auspuffgase auf die<br />
Ladefläche mit den „Fahrgästen“ umgeleitet<br />
wurde (SS Sonderkommando Herbert Lange).<br />
Neueste Forschungen zu Dziekanka Tiegenhof<br />
gehen von 5.000 und mehr Krankenmorden<br />
1939-1945 insgesamt aus …<br />
114
- Die Massentötungen der Patienten aus dem<br />
„Reichsgebiet“ ab ca. Ende 1942 bis Anfang<br />
1945 erfolgen in vielen Anstalten nach dem<br />
„Luminal-Schema“ von Prof. Dr. Hermann Paul<br />
Nitsche, das er bereits ab 1940 in der Anstalt<br />
Leipzig-Dösen zunächst an 60 Patienten<br />
„wissenschaftlich“ testet und dann nach und<br />
nach verfeinert und weiterentwickelt.<br />
115
- Nitsche führt diese Methode bei einer<br />
Besprechung mit ausgewählten „praktischen“<br />
Psychiatern und Anstaltsdirektoren am 17. August<br />
1943 in Berlin ein. Die entsprechenden<br />
Medikamente werden dazu vom Reichskriminalpolizeiamt<br />
über die Zentraldienststelle T4 an<br />
die einzelnen Anstalten geliefert. Dr. Victor<br />
Ratka, der Direktor von Tiegenhof, ist höchstwahrscheinlich<br />
bei dieser Sitzung mit zugegen.<br />
116
- Das „Luminal-Schema“ besteht aus einer<br />
Hungerkost-Kombination (= fettlose Speisen<br />
oder Suppen bzw. Getränke mit aufgelösten<br />
Schlafmitteln [z.B. Luminal] in einer nur leicht<br />
erhöhten Dosis (genannt „Gelbe Suppe“), so<br />
dass der Tod erst schleichend aber<br />
unaufhaltsam nach Wochen oder Monaten<br />
eintritt.<br />
117
118
- Dieses schleichende allmähliche Vergiftungs-<br />
Syndrom wird so zur Todesursache bei einem<br />
durch Hungerkost geschwächten Abwehrsystem.<br />
Und konkret sind die so entstandenen Infektionen,<br />
wie Lungenentzündung oder Bronchitis<br />
„natürliche“ Todesursachen – auch die „Vollkommene<br />
Erschöpfung“ wie bei Erna Kronshage –<br />
ohne jede äußere Gewaltanwendungsspuren<br />
und auch bei einer Obduktion kaum<br />
nachweisbar: also fast perfekte Morde … 119
- Wie diese letzten Wochen, Tage und Stunden,<br />
Minuten für Erna Kronshage erlebt werden: so<br />
auf der Matratze liegend – auf dem dreckigen<br />
Laken in Embryo-Stellung verharrend –<br />
vor sich hin dösend, traumlos, nach Luft<br />
japsend, längst schon „hinüber“dämmernd.<br />
Geschwächt durch magere Kost und der mit<br />
Nachdruck eingetrichterten gelben Luminal-<br />
Suppe.<br />
121
- Ob Erna ganz zum Schluss noch die<br />
zuklappenden Stations-Feuertüren auf den<br />
Etagengängen wahrgenommen hat – und<br />
diesen kaltschweißigen abgestandenen<br />
Hospitalmief …<br />
- Erna Kronshage stirbt so oder so ähnlich am<br />
20.Februar 1944, um 09.30 Uhr, nach 100<br />
Tagen Aufenthalt in der Anstalt Tiegenhof an<br />
„Vollkommener Erschöpfung“ … – gerade 21<br />
Jahre jung. 122
123
- Auf Antrag und zu Kosten der Familie wird der<br />
Leichnam Erna Kronshages nach Senne II<br />
rücküberführt. Dazu wird der Sarg mit Leiche in<br />
ca. 8 Tagen im Packwaggon der Reichsbahn<br />
die ca. 630 km von Gnesen bis auf das Gleis<br />
des Heimatbahnhofs „Kracks“ rangiert, direkt<br />
neben den „Mühlenkamp“, auf das Abstellgleis<br />
neben der Schreinerwerkstatt dort von Papa<br />
Adolf.<br />
124
125
- Die Familie schleppt den Sarg mit Leiche aus<br />
dem Waggon, öffnet ihn in einer Nacht- und<br />
Nebel-Aktion, und vergewissert sich oberflächlich<br />
laienhaft, dass keine Spuren von Gewaltanwendungen<br />
oder Injektions-Einstiche an der<br />
Leiche sichtbar sind. Und so musste der<br />
Familie der Tod der Tochter Erna ja fast „normal“<br />
vorkommen. Doch die Leicheninspektion<br />
überhaupt bezeugt ja auch eine Ahnung und<br />
ein gehörig vorhandenes Misstrauen. 126
127
Und ganz zum Schluss:<br />
Da bleiben –<br />
• diese äußerst fragliche und tatsächlich kaum<br />
abgesicherte Diagnosestellung der damals<br />
so bezeichneten Erbkrankheit Schizophrenie<br />
• die Zwangssterilisation gegen den Willen des<br />
sorgeberechtigten Vaters, der eigentlich von<br />
Rechts wegen den Aufenthaltsort seiner<br />
Tochter bestimmen konnte –<br />
128
• das Festhalten, die Internierung, in der<br />
Anstalt in dem Vierteljahr August-November<br />
43 nach der Sterilisation bis zur Deportation.<br />
• Und da ist der Mix aus chaotischen Kriegswirren,<br />
einhergehend mit dem rassistischeugenischen<br />
Erbkrankheits-Wahn der Nazi-<br />
Psychiatrie, an dessen Ende ein geplanter<br />
und mit vielen Helfern und Helfershelfern<br />
fabrikmäßig organisierter "Gnadentod" zur<br />
"Gesunderhaltung des Volkskörpers" steht. 129
• Das alles hat den gewaltsamen Tod Erna<br />
Kronshages bewusst und überlegt herbeigeführt<br />
als unaufhaltsam ablaufende<br />
Ereigniskette – sicherlich im jeweiligen<br />
Einzelereignis gekoppelt mit einer Reihe von<br />
persönlichen und individuellen Irrtümern und<br />
Verstrickungen und Verwicklungen und<br />
Missverständnissen ...<br />
131
Aber das zeigt auch: Nicht Erna Kronshage war<br />
„verrückt“ - sondern es war der Sog dieses<br />
damals allgemein von verirrten und verwirrten<br />
Menschen erdachten und gelebten wahnhaften<br />
Zeitgeistes, dem man sich nicht zu widersetzen<br />
vermochte - in ihm steckte das Un-normale und<br />
Krankhafte - bis hin zum Massenmord ...<br />
Auf dieser immer schräger werdenden Ebene<br />
gab es dann letztendlich keinen Halt mehr.<br />
132
Und doch: Erna Kronshage ist „nur“ ein<br />
Mordopfer von insgesamt ca. 300.000 NS-<br />
Euthanasie-Ermordungen.<br />
133
Zum Abschluss lade ich Sie ein, sich auf meiner<br />
Website „www.eddywieand-sinedi.de“ zum<br />
Leben und Sterben Erna Kronshage‘s weiter zu<br />
informieren und umzuschauen. Dort finden Sie<br />
Verlinkungen auf Memorial- und Studienblogs,<br />
sowie einschlägige Unterseiten mit Vertiefungslinks.<br />
Sie können auch einfach den Namen<br />
ERNA KRONSHAGE in Ihre Suchmaschine<br />
eingeben.<br />
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 134
ONLINE-<br />
AUSSTELLUNG<br />
auf 120<br />
Schau- &<br />
Infotafeln
Hier kannst du dir die Audio-Datei der<br />
anschließenden Diskussion anhören –<br />
allerdings mit leichten akustischen<br />
Problemen<br />
© Edward Wieand . 2/2022