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ERNA KRONSHAGE . Mein Lachen ist Weinen

Digitale Online-Ausstellung

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Der Versuch einer Rekonstruktion

in Bildern . Dokumenten . Fakten

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Eine digitale Online-Ausstellung mit authentischen,

illustrierenden, colorierten oder z.T. auch fiktional

nachempfundenden Szenen-Materialien.

Ein Versuch, den Vorstellungen von Leben & Sterben Erna

Kronshages Gesicht, Gestalt & Form zu geben, die durch

jahrzehntelanges Verschweigen & Vergessen immer mehr

zu verblassen & zu verschwinden drohen …

Der Untertitel Mein Lachen ist Weinen ist einer Episode

aus der Erbgerichtsverhandlung zur Zwangssterilisation

am 29.3.1943 entnommen (s. Tafeln 71/72).

Es ist auch das letzte mit der Erbgesundheitsgerichts-

Akte authentisch übermittelte Original-Zitat Ernas und gibt

so auch dem E-Book seinen Namen.

© eddywieand-sinedi.de . seit 2015 ff.


Wegzeichen

Wo noch Lügen liegen

wie unbegrabene Leichen

dort ist der Weg der Wahrheit

nicht leicht zu erkennen

und einige sträuben sich noch

oder finden ihn zu gefährlich

Die Wahrheit dringt vor

und schickt zugleich ihre Sucher

in die Geschichte zurück

und beginnt aufzuräumen

mit den Verleumdungen

und mit dem Totschweigen

der Toten

Vieles wird wehtun

manches verlegen machen

aber die Wahrheit ist

der Weg der Notwendigkeit

wenn das Reich der Freiheit

nicht wieder

nur ein leeres Wort bleiben soll

und nur ein Gespött

für Feinde und für Enttäuschte

Erich Fried


Im Gedenken an

Hunderttausende

die in unaufhaltsam abschüssige

Leidenswege getrieben wurden -

bis zur bitteren Neige -

konzentrieren sich die Schautafeln

mit Bild & Text auf Geschichten und

Dokus zur Biografie und zur

Ereigniskette um meine Tante Erna

Kronshage (1922-1944), die ab

Oktober 1942 innerhalb von 484

Tagen - Schlag-auf-Schlag -

eingeliefert, schocktherapiert,

zwangssterilisiert, interniert - und,

überzählig aussortiert und

abgeschoben, schlussendlich in

einer abseitsliegenden

NS-Euthanasie-Tötungsanstalt

außerhalb des eigentlichen

Reichsgebiets im Februar 1944

ermordet wird.


coloriertes Original-Foto

Erna wird 2 Wochen vor Weihnachten– am 12. Dezember 1922 – in Senne II (heute „Sennestadt“) geboren.

Sie ist das 11. und jüngste Kind – und wird sicherlich vornehmlich von den älteren Geschwistern als

Nesthäkchen „erzogen“ und betüddelt und verwöhnt.

Die Familie Kronshage lebt auf einem gepachteten Bauernhof, den sie auch mit vereinten Kräften bewirtschaftet

– der Vater arbeitet halbtags als Schreiner in einer nahegelegenen Textilfabrik.


Die Großfamilie Kronshage ca. 1930 - coloriertes Original-Foto

Obere Reihe von links: Johanne (Hanna) *1913, Martha *1911, Frieda *1909, Emma *1906,

Lina *1903, Heinrich (Heini) *1905, Wilhelm (Willi) *1917, Ewald *1919

Untere Reihe von links: - ERNA *1922 (auch Bildausschnitt unten links), Anna *1902, Mama Anna

*1879, Papa Adolf *1876, Adolf *1899

6


Original-Fotos

& Dokus

Am Neujahrstag 1923 wird Erna

In der Kirche zu Senne II getauft (heute

Kreuzkirche in Sennestadt) - durch

Pastor Jansen – Taufpaten waren Ernas

Schwestern Anna & Lina

Am 21.03.1937 (Sonntag Palmarum) wird Erna

Kronshage in der Kirche zu Senne II von Pastor

Holzapfel konfirmiert.

Der Konfirmationsspruch lautete: "Gott ist die

Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in

Gott und Gott in ihm." (1. Joh., 4,16).

7


Das Geburtshaus:

„Mühlenkamp“

Senne II – Nr. 6

um 1940

coloriertes Original-Foto

8


Einfahrt heute auf den Hof - "Mühlenkamp" im Hintergrund sichtbar

(s. Ausschnitt unten rechts)

Der

„Mühlenkamp“

heutzutage

heute: Verler Straße 76

Sennestadt

Original-Bildmaterial

9

Das Haus – renoviert - heutzutage


Illustrierendes Bildmaterial aus Original-Dokus


Illustrierendes Bildmaterial aus

Original-Dokus

A 33

Erna Kronshages

kleine Welt:

Rotes Planquadrat:

entspricht dem „Globus“

– eine Seite zuvor …

11


Typische Sennelandschaft bis in die 50er Jahre …

Illustrierendes Bildmaterial

Dieses Postkartenmotiv zeigt die typische Landschaft in der "alten" Senne - landwirtschaftliche Nutzflächen sind durchsetzt mit kleinen

verstreuten Fichtenwäldchen, Heideplatten, Sanddünen, Sandkuhlen. Bis zum Bau der Sennestadt in den frühen 60er Jahren war die

Senne nur dünn besiedelt - zumeist mit vereinzelten kleinen Höfen ...

Ernas Wohnort Senne II war eine kleine Landgemeinde - südlich von Bielefeld - mit damals ca. 2.500 Einwohnern ...


Senne II – OT Kracks – Ansichtskarte aus den 20er-/30er Jahren – die Kirche und der Gasthof Ramsbrock - unten rechts - als

Orts-“Zentrum“


Senne II – „Ausflugsort am Südhang des Teutoburger Waldes“ – mit dem ehemaligen Gasthof Ramsbrock - und der heute überfülltenAutobahn A 2 …

14


illustrierendes

Bildmaterial

Am 1. Mai 1933 wird am sogenannten „Verler Eck“ in Senne II eine „Hitler-Eiche“ gepflanzt – ganz in der

Nähe vom „Mühlenkamp“. Erna ist jetzt 10,5 Jahre alt – und sicherlich mit dabei.


coloriertes Original-Foto

Kindheit & Schule

Klassenfoto – ca. 1930-32 – Erna 2. Reihe von oben links (roter Pfeil)


Erna besucht die

Gemeindeschule I

in Senne II

1929 - 1937

coloriertes Original-Foto

17


illustrierendes

Bildmaterial

Ein Klassenraum-Foto von 1935 .


Rassenkunde (Eugenik) ist ab 1933 Unterrichtsfach im letzten Schuljahr

Illustrierendes illustrierendes Bildmaterial Bildmaterial


Kopie Original-Schulentlassungs-Zeugnis für Erna Kronshage von 1937 – (Notenschnitt 1,78) 20


Arbeit als

Haustochter

coloriertes Original-Foto

22


Erna Kronshage arbeitet nach der Schulzeit zu Hause als

„Haustochter im elterlichen Betrieb“

„Haustochter“ ist zu jener Zeit die offizielle

Berufsbezeichnung für eine junge Frau, "die bis zu ihrer

Verheiratung die Hausarbeit durch Mittun erlernt" - eine

zu der Zeit ganz übliche und verbreitete Anlerntätigkeit

in einem Fremdhaushalt oder eben auch im elterlichen

Betrieb.

Sie lebt dabei mit in der jeweiligen Familie – gegen

Taschengeld, Unterkunft, Verpflegung und Versicherung

– heute hieße das wohl: „Au-pair“, was aber meist auch

die Kinderbetreuung in einem zumeist fremden

aufnehmenden Haushalt mitbeinhalten würde ...

Adolf Hitler sagt zur Frauenrolle in NS-Deutschland 1934 u.a.:

„Wir empfinden es nicht als richtig, wenn das Weib in die

Welt des Mannes, in sein Hauptgebiet eindringt, sondern wir

empfinden es als natürlich, wenn diese beiden Welten

geschieden bleiben. (…) Was der Mann einsetzt an

Heldenmut auf dem Schlachtfeld, setzt die Frau ein in ewig

geduldiger Hingabe, in ewig geduldigem Leiden und

Ertragen. Jedes Kind, das sie zur Welt bringt, ist eine

Schlacht, die sie besteht für Sein oder Nichtsein ihres

Volkes.“

Illustrierendes Propaganda-Bildmaterial

22


illustrierendes Bildmaterial

Auf dem Bückeberg bei Hameln findet ab 1933 bis 1937 alljährlich Anfang Oktober das „Reichs-Erntedankfest“ als Massenveranstaltung

der NSDAP mit dem „Reichsnährstand“, der gleichgeschalteten ständischen NS-Organisation aller

Bauernschaften im Reich, und sogar den Kirchen statt. Ab 1933 in Anwesenheit des neuen Reichskanzlers Hitler, der u.a. mit

Begleittross mitten durch die bis zu 1000.000 begeisterten Teilnehmer auf einem 800 m langen „Führerweg“ langsam hinauf

zur Ehrentribüne „schritt“, um mit Minister Goebbels u.a. dort Propaganda-Reden zu halten.

Geschwister von Erna berichteten nach dem Krieg von Tages-Sonderzugfahrten dorthin (ca. 90 Bahnkilometer ab Bahnhof

Senne II). Ob Erna mit dabei war ist zwar nicht überliefert, aber doch wahrscheinlich, gerade auch als spätere Bauernschaftbzw.

“Reichsnährstand“-Bedienstete auf dem elterlichen Hof.


Dann – im Krieg dient der „Mühlenkamp“ nach Maßgabe der

NS-Verordnungen der „Sicherung der Ernährung des

Deutschen Volkes“ – weshalb Erna Kronshage als

„Haustochter“ nicht an anderen NS-/BDM-Dienstverpflichtungen

fürJugendliche teilnehmen muss – aber so auch

zur Mitarbeit „dienstverpflichtet“(!) ist …

Die Brüder sind inzwischen

Soldaten, und die älteren

Schwestern haben

geheiratet, sind aus dem

Haus, und leben inzwischen

in eigenen Familien. Erna ist

immer mehr auf sich allein

gestellt

coloriertes Original-Foto


coloriertes Original-Foto

Mit dem Handwagen ging es zum

"Streusel"holen: im Viehstall wurde neben

Stroh auch Moos und Tannennadeln mit altem

Laub vermischt als Einstreu-Material verwendet,

das direkt aus Wald und Flur der Umgegend

aufgeharkt und eingesammelt wurde. 25


coloriertes Original-Foto

Erna rangiert mit dem Handwagen um eine Eiche auf dem Hof und um die dort „geparkten“ Fahrräder der Pendler


illustrierendes Bildmaterial

Auf dem „Mühlenkamp“, dem elterlichen Hof, werden die Fahrräder der Berufspendler, die mit der Eisenbahn vom

nebenanliegenden Bahnhof „Kracks“ zur Arbeit ins Umland fahren, tagsüber bewacht und „eingehütet“ …

30


illustrierendes

Bildmaterial

Der Bahnhof „Kracks“– wie er im Volksmund bis heute heißt

(Bahn-Haltepunkt „Sennestadt“ – inzwischen wurde das

alte Bahnhofsgebäude abgerissen) – aus Sicht der

Kronshage‘schen Ländereien –

Auch der Fahrplan der Reichsbahnzüge Paderborn –

Bielefeld gibt auf dem „Mühlenkamp“ mit den Takt an.

coloriertes Original-Foto

28


illustrierendes

Bildmaterial

… und so ungefähr sah die Schreinerwerkstatt aus, die „Papa“ Adolf in einem Schuppen auf dem Hofgelände eingerichtet hatte 29


illustrierendes Bildmaterial


Die Kronshagen-Kinder waren „normale Teenager“ ihrer Zeit:

Ernas Bruder Willi spielt Akkordeon vor der Deelentür – und

Bruder Ewald wirkt fast wie ein „James-Dean“-Verschnitt – Erna

„schmückt“ sich mit dem Militär-Käppi eines ihrer Brüder …

colorierte Original-Fotos

31


colorierte Original-Fotos

Erna als Brautführerin bei der Hochzeit einer ihrer Schwestern am 28.Januar 1939…

Erna und ein kleiner Neffe um 1940 …

Erna Kronshage wächst zur erwachsenen Frau heran …

32


Aus der ursprünglichen Groß-Familie Kronshage mit den 10 Geschwistern wird so nach und nach eine Klein-Familie,

denn Erna wohnt nun zu Kriegsbeginn allein bei den Eltern.

Sie fühlt sich deshalb immer einsamer und sehnt sich nach gleichaltrigen Freunden und Unterhaltung. Ihre Eltern sind

über 40 Jahre älter als sie - und auch die alltägliche Arbeit wird für sie einfach zu schwer.

Sie sehnt sich nach einer Auszeit, um sich auszuspannen. 33


illustrierendes

Bildmaterial


Illustrierendes Bildmaterial

Wie aus heiterem Himmel: Am 2.Juni 1940 bombardiert ein einzelner englischer Flieger

den Gutshof Westerwinter auf der gegenüberliegenden Straßenseite – nur 80 bis 100 m

vom Konshage-„Mühlenkamp“ entfernt …


... eine junge Nachbarin kommt beim

plötzlichen Bombenangriff ums Leben -

Dieses nachträglich colorierte Original-

ein junger Mann dort wird schwer verletzt

Foto zeigt das Ausmaß der

-

Bombardierung des Nachbarhofes ... die Hofgebäude liegen in Trümmern ...


Die Bombentrichter befinden

sich in nur ca. 80 – 120 m

Entfernung vom „Mühlenkamp“

links nebenan - unter dem grauen Pfeil - gelb umkreist:

der Mühlenkamp“

im Vordergrund: einer der Bombentrichter

bearbeitetes Original-Foto


Das Ausmaß des Bomben-Traumas:

Weiß umkreist: der „Mühlenkamp“ – die roten Punkte markieren die Bombeneinschläge


Erna zieht die Reißleine:

Sie kann nicht mehr und sie will nicht mehr – sie braucht eine Auszeit

• Kriegsangst

• Vereinsamung

• Zukunftszweifel

• Heillose Überforderung

Es kommt bei Erna 1942 sporadisch zu Unpünktlichkeiten und „Widersetzlichkeiten“ / zu

Auflehnungen und Arbeitsverweigerungen.

Erna will nicht mehr allein zu Hause wohnen und arbeiten – sie fühlt sich schlapp und schwach

und überfordert – sie benötigt dringend eine „Auszeit“.

Sie befindet sich in einer Art „Torschluss-Panik“, ihr Leben zu verpassen, und sieht für sich keine

Entwicklung und Zukunft.

Sie sehnt sich nach „intelligenteren Menschen“ und nach angemessenen Sozialkontakten, die

ihrem Alter und ihrer Entwicklung entsprechen …

39


illustrierendes Bildmaterial

Da ist die fortschreitende „Vereinsamung“ des vormals

„betüddelten“ jüngsten Kindes als das „Nesthäkchen“ einer

13-köpfigen Ursprungsfamilie, die durch die Kriegseinsätze

der Brüder und dem Wegzug der älteren Geschwister in

eigene Familien nach und nach zu einer 3-köpfigen

Kleinstfamilie geschrumpft ist – mit großem Alters- und

Generationsunterschied: Erna Kronshage ist noch unter 20

– aber ihre Eltern sind 66 und 63 Jahre alt …).

Das „moralische Dilemma“: Erna Kronshage ist hin- und

hergerissen zwischen dem Genießen der Nestwärme des

„Hotels Mama“ einerseits – und den altersgerechten

Aufbruchs-, Loslösungs- und Selbstständigkeitsbestrebungen

andererseits.

Das Trauma des Krieges: der Bombenangriff „aus heiterem

Himmel“ auf den Nachbarhof – mit der Tötung einer

Nachbarin und den schweren Verletzungen eines jungen

Mannes – und der fast vollständigen Vernichtung des

Nachbarhofes –

die Wirrnisse des Krieges überhaupt: die Ängste um ihre

Brüder, die teilweise an der Front stehen – der

Luftschutzalarm mit den Bombenangriffen ab 1941 auf eine

nahegelegene Fabrik …

Erklärungsversuche zu Ursachen der

„Widersetzlichkeiten“ und

Arbeitsverweigerungen Ernas

Zusammenfassung möglicher Ursachen aus

heutiger Sicht:

• körperlich überfordert / intellektuell unterfordert

• „arbeitsunfähig“ - benötigt dringend eine „Auszeit“

• „Nullbock“-Phase (Pubertät – Adoleszenz)

• Burn-Out-Syndrom (körperliche Überlastung)

• Depressive Verstimmung (keine Zukunftsperspektive –

keine gleichaltrige Freundesclique – Vereinsamung)

• Posttraumatische Belastungsstörung (z.B. Bombenangriff

auf Nachbarhof)

• Angstsyndrom (Kriegsangst – Sorge um die Brüder an der

Front)


Ernas Eltern sind verpflichtet, die Bummeleien Ernas

der NS-Ortsfürsorgerin zu melden, die kurz die „Braune

Schwester“ genannt wird wegen der braunen Tracht der

NSV-Schwesternschaft – die als „weibliche Elitetruppe

der NSDAP“ vor Ort die jeweiligen Situationen in den

Gemeinden mit ihren Kenntnissen in Erb- und

Rassenpflege mit beurteilen und überwachen sollen,

um etwaige „Verhaltensabnormitäten“ festzustellen und

weiterzumelden.

Diese dienstbeflissene Ortsfürsorgerin sieht in den

Arbeitsverweigerungen Ernas tatsächlich eine

„Verhaltensabnormität“, ein Dienstvergehen, denn die

„Reichsnährstand“-Bauernschaft ist jetzt im Krieg

zur „Sicherung der Ernährung des deutschen

Volkes“ verpflichtet: jeder unvorhergesehene Ausfall einer

Arbeitskraft bedeutet Ertragseinbußen – „und

beeinträchtigt die Wehrkraft der Truppe an der Front“.

Nur Ernas verlässliche Dienstverpflichtung dort im

elterlichen Betrieb rechtfertigt ihre Freistellung von

anderen NS-Pflichtveranstaltungen wie die sonst

üblichen BDM-Pflichteinsätze oder Arbeitsdienst.

Die „Braune NSV-Schwester“ schickt Erna zum Amtsarzt

Illustrierendes Bildmaterial


illustrierendes Bildmaterial

Amtsärztliche

Untersuchung

Erna wird über die NS-Schwester zu einer Untersuchung beim Amtsärztlichen Dienst einbestellt (vergleichbar heutzutage vielleicht mit einer

Überprüfung der Dienst- oder Arbeitsfähigkeit durch einen Betriebs- oder Vertrauensarzt), bei der sie selbst darum bittet, in die Provinzialheilanstalt

Gütersloh aufgenommen zu werden, um wieder „fit“ zu werden und zu Kräften zu kommen.

Zu diesem ungewöhnlichen Schritt ist sie wahrscheinlich von ihrer Schwester Frieda angestachelt worden, die in Gütersloh drei Jahre zuvor

wegen eines Erregungszustands nach Streitigkeiten am Arbeitsplatz in nur vier Wochen wiederhergestellt wurde – ohne bleibende

psychiatrische Diagnosen – oder „erbgesundheitliche“ Konsequenzen.

Dieser zunächst verwirrend und naiv anmutende Aufnahmewunsch Ernas in die von ihr wahrscheinlich wörtlich so verstandene „Heil-Anstalt“

ist sicherlich jenen guten Erfahrungen der Schwester Frieda dort geschuldet – entpuppt sich aber dann als „Anfang vom Ende“.


Symbolabbildung

Erna will nun unbedingt diesen Heilanstalts-Aufenthalt zur „Wiederherstellung ihrer Arbeitskraft“ sogar gegen den Willen der Eltern

durchsetzen, die ja noch das Sorgerecht haben - und Ernas Arbeitskraft auf dem Hof weiterhin dringend benötigen.

Und so macht sie - wahrscheinlich sogar auf Anraten der „Braunen Schwester“, die das damalige formalrechtliche Prozedere dazu

genau kennt - mit einem gewagten „Trick“ „Nägel mit Köpfen“:

Um ihre Anstalts-Einweisung zu erreichen, schwatzt sie ihrem Vater die Einweisungs-Papiere vom Amtsarzt ab – und übergibt

diese spontan einer Polizeistreife, die mit ihrem Einsatz-Fahrzeug zufällig in der Nähe parkt.


(Illustrierende Abbildung)

Einlieferung

Wahrscheinlich versucht Erna mit dieser „Aktion“ erstmals aktiv ihr Schicksal und ihre Zukunft selbst in die Hand

zu nehmen, um sich gegen die Bevormundung durch die Eltern durchzusetzen – und doch tickt die Zeit anders

und die äußeren Umstände sind gegen diese Art von Aufbegehren: sie ist in den tatsächlich damit verbundenen

Abläufen und Konsequenzen völlig ungeübt und weltfremd – und tappt damit schnurstracks in die Falle:

Sie kann als Minderjährige damit zwar die formale Zustimmung der Eltern zur Einlieferung unterlaufen, doch am

nächsten Vormittag bringt auf Betreiben und in Begleitung der „Braunen Schwester“ die Polizei Erna nun sogar

unter dem Stichwort: „Gefahr im Verzug!“– als eine „Sich-selbst-und-die-Allgemeinheit-gefährdende-Person“– in

die Heilanstalt nach Gütersloh – was jetzt formal einer „polizeilichen Zwangseinweisung“ entspricht …


Am 24.10.1942 trifft Erna Kronshage in der Provinzial-Heilanstalt

Gütersloh ein

z.T. colorierte Original-Fotos

Hier ein paar zeitgenössische Ansichts-Postkarten zur Illustrierung des sicherlich damit einhergehenden „Kulturschocks“ zwischen

einer solchen „Heil-Fabrik“ im Geiste der NS-Psychiatrie – und – zum Vergleich – das ländlich-ruhige Ambiente des elterlichen

„Mühlenkamp“-Hofes …


Symbolfoto

Provinzial-Heilanstalt Gütersloh


Symbolfoto

Frauen-Abteilung


Symbolbilder

Ernas Schlafkammer unterm „Dach-Juchhe“ zu

Hause – und jetzt der Bettensaal, in dem es

permanent nach einer Mischung aus Schweiß,

Ausdünstungen und Sagrotan riecht –


illustrierendes

Bildmaterial

Diagnose:„Schizophrenie“

Innerhalb kürzester Zeit soll der Psychiatriearzt als Rückmeldung zu Aufnahme und Behandlung den zuständigen Pflegesatz-

Kostenträger (z.B. Sozialamt, Krankenkasse, Fürsorgeverband usw.) in Kenntnis setzen über die erstellte „Erstdiagnose“ der

eingelieferten Person. Die NS-Epoche kennt ca. 3 – 5 gängige Standard-Diagnosen, die vielfach ad-hoc „per Hand“ eugenisch

„angemessen“ und aus „Sippentafel“ und Familien-Anamnese regelrecht „errechnet“ und erschlossen werden.

Ernas Verstimmungen und Bummeleien werden in Gütersloh überraschend als „Schizophrenie“ diagnostiziert, sicherlich auch

aufgrund der vor Aufregung ungeübt flapsig wirkenden Abwehrhaltung im Aufnahmegespräch – doch auch der ominöse 4-wöchige

Aufenthalt von Ernas Schwester Frieda 1939 in der Heilanstalt wird jetzt plötzlich von den NS-Psychiatern vor Ort als eine „erbliche

Belastung“ gedeutet in der ad-hoc angelegten „Sippentafel“ zur Familie Kronshage. Alle Möglichkeiten von „natürlichen“ äußeren

re-aktiven oder alters- und entwicklungsgemäßen Auslöse-Mechanismen für Ernas Verhaltensstörungen werden dagegen NS-

Psychiatrie-ideologisch „wissenschaftlich“ zeitgemäß ignoriert …


illustrierendes Bildmaterial

Ernas Erstdiagnose:

Schizophrenie

Schizophrenie ist eine nach damaligem Verständnis

seelisch bedingte Erbkrankheit, die sich von innen

schleichend oder plötzlich und ohne äußere Anlässe

entwickeln kann.

Bei der Schizophrenie kommt es nach heutigem

Verständnis zu einem

• Verlust der inneren Wahrnehmung für das, was

• Wirklichkeit oder

• Traum oder

• Phantasie ist und

• diese verschiedenen Zeitebenen und Wirklichkeiten

fließen ineinander und vermischen sich …

Die Möglichkeiten und Kanäle, sich selbst

wahrzunehmen, auf Andere und auf die Umwelt

zuzugehen - für Andere da zu sein oder Sympathien zu

entwickeln, sich zu begeistern ... –

... sind in einer Schizophrenie plötzlich und

unwiederbringlich wie in viele kleine Schnipsel und

Scherben ohne einen direkten äußeren Anlass geradezu

auseinandergefallen und zersplittert ...

Und Schizophrenie unterscheidet sich damals

ausdrücklich von all den vorübergehenden manchmal

eigenartig wirkenden Zuständen, die „psychosomatisch“,

reflexartig ohne eigenes Zutun, als Schutz-

Re-Aktionen körperlich ausgelöst werden, wenn sich für

die Seele äußere Ereignisse als bedrohlich oder

einschneidend darstellen ...


Eugenik (Erbgesundheitslehre)

ist in der Zeit des Nationalsozialismus meist gleichbedeutend mit „Rassenhygiene“.

Original-Propaganda-Bildmaterial

Sie bezeichnet die Anwendung theoretischer Konzepte der Humangenetik auf die Bevölkerungsund

Gesundheitspolitik - mit dem Ziel, den Anteil positiv bewerteter Erbanlagen zu vergrößern und

den Anteil negativ bewerteter Erbanlagen zu verringern.


illustrierendes Bildmaterial

„Schizophrenie“-Diagnostik

mit der „Sippentafel“

Anfertigung einer Sippentafel


Die Diagnose „Schizophrenie“ wird

damals „hilfsweise“ mit den

angenommenen Regelhaftigkeiten der

hoch im Kurs stehenden Eugenik /

Erbgesundheitslehre und einer deshalb

erhobenen familienbezogenen Ahnenund

Sippentafel – oft nur mit

geringsten oder in der

Generationenfolge weit

zurückliegenden

„Normabweichungen/Auffälligkeiten“

geradezu "errechnet" … – und so als

„wissenschaftlich erwiesene“

Auslösemöglichkeit begründet ...

Original-Doku-Ausschnitte

Besonders der 4-wöchige Aufenthalt

der leiblichen Schwester Frieda in

Gütersloh drei Jahre zuvor wird Erna

jetzt bei der Diagnosestellung zum

„Verhängnis“: der damals an Friedas

Arbeitsplatz ausgelöste

„vorübergehende Erregungszustand“

wird jetzt in der Ahnentafel im

Nachhinein zu einem

„psychopathischen Erregungszustand

- (Schizophrenie)“ umgedeutet …


Ernas Schwester Frieda wurde nach 4 Wochen

Aufenthalt (25.02-25.03.1939) aus der Anstalt als

geheilt entlassen: In Friedas Krankengeschichte

sind auf einem Laufzettel folgende Kriterien

ausdrücklich unterstrichen:

• Entlassung aussichtsvoll

• nicht fortpflanzungsgefährlich

• fortpflanzungsfähig

= keine Erbkrankheit !!!

Handschriftlichen wurde noch hinzugefügt – aber nicht ausgefüllt:

Krankheitsform:

Aussicht auf Genesung:

Anzeige an Amtsarzt:

Wiedervorlage notiert zum 4.4.39

(doch – da ist Frieda aus der Heilanstalt schonwieder entlassen) –

Die verwirrenden Begriffsfindungen der NS-Ärzte

im Nachhinein für diesen „vorübergehenden

Erregungszustand“ bei der leiblichen Schwester

Frieda 1939 wurden dann in Ernas Unterlagen

umgedeutet in:

• „wegen Geisteskrankheit in Anstaltsbehandlung

• „Psychopathischer Erregungszustand

(Schizophrenie)“

• „vorübergehende psychische Störungen, die als

schizoider psychopathischer Erregungszustand

gedeutet wurde“

Es gibt bei Frieda definitiv keine

Anhaltspunkte für eine Erkrankung an

Schizophrenie …

54

Original-Doku


Tagsüber werden die PatientInnen jeweils zu den angeordneten

therapeutischen Behandlungsmaßnahmen geführt:

Bei „Schizophrenie“ sind um 1940 im Zuge der „Aktiveren

Krankenbehandlung“ (1929 vom damaligen Gütersloher

Anstaltsdirektor Dr. Simon entwickelt) die „Arbeitstherapie“ (z.B.

Gartenarbeit in der „Kolonne“, Kartoffelschälküche usw.) – aber

auch - „zum inneren Spannungsabbau“ - die gefürchteten

„Cardiazol-Schockbehandlungs-Serien“ angesagt, in denen

künstlich epileptische Krampfanfälle ausgelöst werden

(späterhin als Elektro-Schocks bekannt).

Für Erna sind beide dieser „Behandlungen“ verordnet...

Eine Schwester führt

nach Behandlungsplan

die PatientInnen zu

den jeweils angesagten

Maßnahmen

Symbolbilder

Arbeitstherapie

- in der Kartoffelschälküche


Symbolbild

Arbeitstherapie - in der Gartenkolonne

Neben dem Kartoffelschälen wird Erna zur „Therapie“ auch in die Gärtnerei-Kolonne abkommandiert – aber das kennt

sie ja genauso schon von Zuhause – und davon suchte sie ja ursprünglich mal eine „Auszeit“, um sich zu „erholen“…


illustrierendes Bildmaterial

Mit eintönig leichten Falt- und Legearbeiten soll auch noch die „Frei“-zeit „sinnvoll strukturiert“ werden –

und so sind die Patientinnen rund um die Uhr unter Aufsicht und Kontrolle – in einer in sich

abgeschlossenen „Totalen Institution“ (click).

37


illustrierendes Bildmaterial

Die damals frauentypischen „Hand- und Nadelarbeiten“ geben der „Frei“zeit „Sinn und Struktur“ – und

psychisch-depressive Verstimmungen, Unruhen oder der „Lager-Koller“ sollen so verhindert werden.


Manche „Behandlungen“ werden sicherlich auch gegen den Willen der PatientInnen durchgeführt.

Symbolbild


Zum „inneren Spannungsabbau“ bei

Menschen mit Schizophrenie werden

damals künstlich epileptische

Krampfanfälle ausgelöst.

Das geschieht in Gütersloh mit dem

Medikament „Cardiazol“, das in die Arm-

Beuge gespritzt wird.

Zum Schutz vor Zungenbissen im Krampf

wird eine Beißrolle aus Verbandsmull

zwischen die Zähne gepfropft.

Zunächst stellen sich starke Angstgefühle

ein – und dann bricht der Anfall los mit

Zuckungen und Verkrampfungen, in eine

tiefe Bewusstlosigkeit.

Hinterher fühlt sich Erna völlig matt und

verwirrt und kann sich kaum mehr an

irgend etwas erinnern.

Nach einigen Anfalls-Serien stellt sich

eine panische Angst vor weiteren Schocks

ein.

„Cardiazol-Schocks“ dienen deshalb im

Anstaltsalltag eher einer Bestrafung bei

irgendwelchen konstruierten

disziplinarischen Verfehlungen als der

„inneren seelischen Entspannung“ …

Cardiazol-

Schocktherapie

illustrierendes Bildmaterial


illustrierendes Bildmaterial

Das Cardiazol wird in einer bestimmten Dosis verabreicht

Ein Krampfanfall

durch Cardiazol-Injektion ausgelöst – skizziert mit

illustrierenden und veranschaulichenden Film-Szenenfotos

Einspritzen des Cardiazols in die Armbeugen-Vene

Fixierung

Durchleben der einsetzenden Anfallsphase als

sogenannte „Aura“ mit oftmals inneren Horrorbildern …


illustrierendes Bildmaterial

1

Das Gefühl der traumatisch erlebten "Aura" geht

über

2

in einen epileptischen Krampfanfall mit allmählich

einsetzendem tiefen Bewusstseinsverlust …

Ablaufphasen

beim

epileptischen

Krampfanfall

3

Mit wechselhaften Verkrampfungen aller Gliedmaßen –

Eine „Beißrolle“, wird verabreicht, um

auch der Zehen

Zungenverletzungen im Krampfanfall zu verhindern

5

4

Dann folgen stakkatoähnliche Muskelversteifungen mit

Streck- und Rüttelphasen

6

In der sogenannten Aufwachphase müssen Patienten oft

fixiert werden zum Schutz vor Fremd- und Selbstverletzungen

aufgrund unwillkürlicher Handlungen im noch verwirrten

Zustand



Die Folgen und Nebenwirkungen

der Cardialzol-Schock-“Therapie“

Der „Erfinder“ Ladislaus von Meduna schlägt vor,

»regelmäßig 30 Anfälle in dreitägigem Abstand

auszulösen« — eine äußerste körperliche und

psychische Belastung. ...

Intravenöse Injektionen von Cardiazol bekämpfen eine

Qual mit einer anderen Qual, die von den Patienten als

Todes- oder Weltuntergangserlebnis erlitten werden.

»Vernichtungsgefühle stellen sich ein«, konstatiert die

Fachliteratur trocken. Oft genug werfen Cardiazol-Stöße

die Patienten vollends aus der Bahn, die das Spritzen

»wie einen elektrischen Schlag verspüren«. Andere

erleben »Photismen« in Gestalt von Lichtblitzen und

Rotsehen, oder »Schmerzen bis in das äußerste Ende

des Körpers«.

Dr. Ernst Adolf Schmorl schreibt 1938 in der

»Allgemeinen Zeitschrift für Psychiatrie und ihre

Grenzgebiete« über »Einwirkung der Cardiazol-

Krampfbehandlung auf das klinische Bild von

Psychosen« am Beispiel von 130 Fällen: Bei fast allen

stellt er eine »deutliche Enthemmung« bis hin zu einer

»sprachlichen Entfesselung« fest. Die Beschäftigung

gehe leichter von der Hand. Eine »gewisse Grazie der

Bewegung« will er bemerkt haben, allerdings auch

»Faxensyndrome« mit hochgradiger Verworrenheit.

Schmorl will auf Zähmung hinaus, das Krampfgift sei

geeignet »ruhig zu stellen«, er empfiehlt dazu immer

wieder einzelne »Cardiazolschläge«. Insbesondere

dieser Effekt macht aus Sicht der Doktoren das

Martyrium vertretbar.

Quelle: Jürgen Schreiber: Ein Maler aus Deutschland - Gerhard Richter - Das Drama

einer Familie, Berliner Taschenbuch Verlag, 2007, S. 95-96

illustrierendes Bildmaterial

„Man werfe einen sich abweichend

verhaltenen Menschen vom Dach

eines Hochhauses und lasse ihn bis

zum letztmöglichen Eingriffspunkt

das Sterbenserlebnis durchleiden

und spanne erst kurz vor dem

Aufprall ein Sprungtuch. Man preise

diese Methode als Therapie an, die

- wen wunderts eigentlich - eine

Erlebnisqualität besitzt, die

Menschen, zumindest auf Zeit,

verändert.“ (s. dazu auch die

ärztlichen Eintragungen in den

Dokumenten zum teilweise spontan

„läppischen und verwirrten

Verhalten“ von Erna Kronshage).

Mit derartigen "finalen" chemisch

ausgelösten Erlebnismodellen

verändert sich gewiss die

biochemische Verstoffwechselung

im Gehirn, also die

Botenstoffübertragungen in den

Neurotransmittern, die natürlich

dann - positiv oder negativ -

Verhaltensäußerungen

beeinflussen können.

Der Disziplinierungsaspekt der

meisten dieser Therapien,

insbesondere der schmerzhaften

und gefährlichen Zwangs-

Schocktherapien, geht aus

psychiatrischen Selbstzeugnissen

hervor. 1988 sagte der Direktor der

psychiatrischen Klinik Waldhaus in

Chur, Benedikt Fontana,

rückblickend über renitente

Insassen seiner Institution:

„Wenn sie bockten,

mussten wir sie schocken.“


Eine notwendige Anmerkung zur NS-Psychiatrie

Wer die Psychiatrie und die Behandlung der geistig und körperlich Kranken im

Nationalsozialismus in etwa nachvollziehen will, muss das Menschen- und

Gesellschaftsbild mit berücksichtigen, das sich in den 30er-Jahren

„wissenschaftlich fundiert“ auch international durchsetzte. Die Eugenik – die

Rassen-/Erblehre – war nicht nur eine deutsche „Erfindung“,sondern

bestimmte das damalige - fast möchte man sagen - „globale“ Psychiatrie-

Wissen …

In Deutschland war es der Mythos der „Volksgemeinschaft” und eine

rassistische Idealisierung des sogenannten „Ariertums“, sowie das

Streben nach einem „gesunden Volkskörper”, der sich

vermeintlich nur „Ausmerze“ der „unerwünschten“

Individuen und Erbkomponenten

tatsächlich realisieren lässt.

Dieser ideologischen Programmatik folgend, wurden

„Kranke”, sogenannte „Asoziale”, Menschen „anderer

Rassen“, mit Behinderungen oder „abweichendem

Verhalten“ selektiert, menschenverachtend behandelt

und schließlich zahlreich liquidiert und ermordet.

Ärzte, Pfleger, Behördenmitarbeiter, Denunzianten,

sowie zahlreiche Helfer und Helfershelfer trugen

das System dieser „Tötung unwerten Lebens” mit.

Illustrierendes Bildmaterial

Erna Kronshage wusste zum Zeitpunkt ihres

Einweisungswunsches nach Gütersloh von diesen

Verstrickungen zwischen Krieg, Zeitgeist, Eugenik

und NS-Ideologie und den tödlichen Konsequenzen

der Krankenmorde anscheinend wenig oder gar

nichts, tat das als Gerüchtebildung ab – oder

verdrängte das, um sich in ihrem Streben nach

Selbstständigkeit auch gegenüber den Eltern

endlich durchzusetzen …


Zwangssterilisation

illustrierendes Bildmaterial


Das Gesetz zur

Verhütung erbkranken

Nachwuchses

wurde bereits kurz nach der NS-

Machtergreifung am 14. Juli 1933 als erstes

Rassegesetz in einer langen Reihe von

Unterdrückungsmaßnahmen verabschiedet

und trat im Januar 1934 in Kraft.

Die Idee des Gesetzes war durch und durch

rassistisch: "Ziel der dem deutschen Volk

artgemäßen Erb- und Rassenpflege ist: eine

ausreichende Zahl Erbgesunder, für das

deutsche Volk rassisch wertvoller,

kinderreicher Familien zu allen Zeiten. Der

Zuchtgedanke ist Kerngehalt des

Rassengedankens. Die künftigen

Rechtswahrer müssen sich über das

Zuchtziel des deutschen Volkes klar sein."

so der Kommentar von Gütt, Rüdin, Ruttke in:

Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses

vom 14. Juli 1933, München 1934

68


1934 erlassen die Nazis

das „Gesetz zur

Verhütung erbkranken

Nachwuchses“.

Der damalige

Anstaltsleiter von

Gütersloh, Dr. Werner

Hartwich, musste

deshalb auch für Erna

Kronshage einen Antrag

auf „Unfruchtbarmachung“

stellen, weil

damals angenommen

wurde, dass die

Nachfahren der an

„Schizophrenie“

erkrankten Menschen

ebenfalls seelisch krank

oder behindert sein

können - und so dieses

„kranke Erbgut“

weitergetragen wird.

Das hat sich jedoch

wissenschaftlich als

unhaltbar erwiesen.

Original-Dokus


Adolf Kronshage mit seiner Lieblingskuh

Da Erna noch nicht

volljährig ist (damals mit

21 Jahren), hat ihr Vater

noch das allumfassende

Sorgerecht.

Er wehrt sich gegen den

Antrag auf

Unfruchtbarmachung

seiner Tochter und legt

mehrfach vehement

Widerspruch ein.

Gleichzeitig bittet er

immer wieder darum,

Erna aus der

Gütersloher Anstalt zu

entlassen, da er meint,

Erna würde sich in ihrem

Zuhause am schnellsten

erholen.

Deshalb entwickelt sich

ein umfangreicher

Briefverkehr zwischen

der Anstalt, den „Erbgesundheitsgerichten“

und Ernas Vater.

Er kämpft bei

angeschlagener

Gesundheit vehement

für seine Tochter – und

erzwingt mit seinen

Einsprüchen, dass sich

zumindest zwei Erbgerichts-Instanzen

nacheinander damit

befassen müssen …

Original-Dokus

Zum kompakt zusammengestellten Briefwechsel

des Vaters Adolf Kronshage aus der Erbgerichts-Akte:

>>> click zum Doku-Band "EINSPRUCH"


Illustrierende Fotomontage in der Schreibweise des Original-Protokolls

Mein Lachen

ist Weinen


illustrierendes Bildmaterial

Am 29. März 1943 sitzen in der Heilanstalt Gütersloh ein Amtsgerichtsrat und zwei Medizinal-Oberärzte am Tisch. Sie bilden das Bielefelder

„Erbgesundheits-Gericht“und sie beschließen dort im 20-Minuten-Takt über die „Unfruchtbarmachungen“ von insgesamt 11 Patienten.

Erna Kronshage wird dort als dritter „Fall“ von 8.40 bis 9.00 Uhr „vorgeführt“: Ohne Anwalt – nur mit der mitfühlend dabeisitzenden

Schwester Hanna als Beistandsperson - wird über diese endgültige Maßnahme ad-hoc entschieden.

Währendder Anhörung lacht Erna vor lauter Aufregung und unsicherer Verlegenheit zwischendurch einmal auf. Auf die Frage der Herren,

warum sie denn lache, antwortet sie schlagfertig mit dem eigentlich tiefgründigen Satz : „Mein Lachen ist Weinen“ …

Im Sitzungs-Protokoll dazu steht : „In der mündlichen Verhandlung machte Erna Kronshage noch einen gespannten Eindruck

und lachte unmotivirt [sic!] auf. Sie äußerte, ihr Lachen sei Weinen. Sie lache über ihren Charakter.“

Und dieses Verhalten wird jetzt schnurstracks auch pathologisch gedeutet, um die von Ernas Vater angezweifelte „Schizophrenie“-

Erkrankung noch einmal zu bekräftigen und zu unterstreichen.

Doch die 20-jährige Erna lacht ja, um nicht loszuheulen, weil sie sich ihrer Tränen vor diesen Männern schämen würde – denen sie da bei

einem solch heiklen Thema allein ausgeliefert ist…


Beschluss zur Zwangssterilisation ErbGesGericht Bielefeld . 1.Instanz

Original-Dokus

72


Beschluss ErbGesOberGericht Hamm.Berufungs-Instanz

Original-Dokus

73


Die „erblichen Belastungen“, die zu Erna Kronshages Diagnose „Schizophrenie“ und damit

zur „Unfruchtbarmachung“ durch Zwangssterilisation führen…

Schizophrenie ist als ein „endogenes“ Geschehen definiert – also plötzlich oder schleichend von innen auftretend– und eben nicht „exogen“

– als Reaktion auf „äußere Ereignisse“ … - und folglich – so die damalige Meinung – muss dafür auch ein hoher genetisch bedingter

Auslösemechanismus im „Erbgut“ vorhanden sein …

Hierzu machte die Provinzialheilanstalt Gütersloh an das Erbgesundheitsgericht Bielefeld im Fall Erna Kronshage folgende Angaben:

• 1. aus dem ärztl. Gutachtenzur Unfruchtbarmachung:

Die bei der „älteren Schwester“ Frieda benannte „Geisteskrankheit“ wird im weiteren Verlauf der Erbgesundheitsakte sehr unterschiedlich

beschrieben:

• 2. Eintragung aus der „Sippentafel“: (der Diagnosezusatz „Schizophrenie“ bei der Schwester Frieda erfolgte erst bei Antragstellung für

Erna Kronshage...)

3. aus dem Beschluss zur Unfruchtbarmachung in 2. Instanz beim „Erbgesundheitsobergericht“ Hamm wird aus Friedas

„Schizophrenie“ dann wieder ein „schizoider psychopathischer Erregungszustand“ – der in 4 Wochen erfolgreich behandelt

wurde …:

Original-Dokus

74


Trotz aller Einsprüche des Vaters beschließt das Erbgesundheitsobergericht in Hamm als Berufungsinstanz endgültig,

dass Erna am 4. August 1943 im Krankenhaus in Gütersloh von einem Dr. Stüwe operiert und damit

„unfruchtbar“ gemacht wird.

Symbolbild


Illustrierendes Bildmaterial & Original-Dokus

Im „Ärztlichen Bericht“ (click)

steht lapidar:

„Die Wunde heilte in 7 Tagen

ohne Nebenerscheinungen“…

Die Arbeitskopie der kompletten Original-Erbgesundheitsgerichts-Akte

zur Zwangssterilisation siehst du >> hier


Original-Dokus

vom LWL-Museum, Münster

Der VaterAdolf Kronshage hat zwischenzeitlich wiederholt gefordert, Erna aus derAnstalt nach Hause zu entlassen – und

nach der Zwangssterilisation hätte das ja auch formal erfolgen können: Doch inzwischen gibt es Anweisungen dazu aus dem

Reichsinnenministerium (s.o. - click):

„Polizeilich eingewiesene“ Insassen seien nun nicht mehr nach Hause zu entlassen, weil diese „geistig anbrüchigen

Personen in Luftschutzräumen … sehr leicht zu Unzuträglichkeiten führen können…“. Deshalb sei die „Entlassung zu

verweigern“… (click)


Symbol-Abbildung und coloriertes Original-Foto

Sonder-Aktion

Brandt

Prof. Dr. Karl Brandt

Durch Bombenkrieg und Fronteinsatz kommt es zu immer mehr schwerverletzten Menschen. Die Krankenhäuser und Lazarette sind deshalb

überfüllt – und Berlin sucht ab 1943 dringend zusätzliche Bettenkapazitäten für eine angemessene Notversorgung und Behandlung.

Die Richt- und Maßgabezahlen und Bedarfe dazu erhalten die einzelnen Psychiatrie-Anstalten im ganzen Reich zentral aus Berlin, vom

Planungs-Stab unter dem 1943 durch Hitler zum Leiter des gesamten medizinischen Vorrats- und Versorgungswesens und Koordinators der

medizinischen Forschung ernannten Leibarzt Prof. Dr. Karl Brandt.

Hier wird festgelegt, wo und wieviel an Kapazitäten entsprechend umzuwidmen sind - und nach welchen Auswahl-Kriterien dies zu geschehen

hat. Die psychiatrischen „Heil“-Anstalten werden somit teil-“evakuiert“, um die entsprechenden Plätze freizubekommen zur Versorgung von

zivilen oder auch uniformierten Kriegsverletzten eben durch die Bereitstellung und Umwidmung von psychiatrischen Belegbetten in allgemeine

"Lazarett- und Krankenhaus-Notpflegebetten":

In diesem Verdrängungsprozess werden je nach den verbindlichen Vorgabezahlen die jeweils überzähligen Psychiatrie-Patienten vor Ort

systematisch nach Institutions-Gegebenheiten oder „Nutzen und Verwendbarkeit“ aussortiert - und in Deportationstransporten entsprechend

abgeschoben und „zur Strecke gebracht“. Inwieweit der dadurch angeordnete Deportations-Transport aus Gütersloh am 12.11.1943 auch mit

den sorgeberechtigten Angehörigen kommuniziert wurde, ist nicht bekannt – Erna Kronshage steht mit auf der Abschiebungs-Liste …

Die „Aktion Brandt“ wird von den beteiligten Institutionen auch als notwendige „Evakuierungsmaßnahme“ dargestellt zum Schutz in

luftkriegsgefährdeten Gebieten, wozu auch Gütersloh zählte.

In Gütersloh soll bei den „Verlegungs-“ und Umwidmungsbeschlüssen gar nicht so sehr auf Leistungsgruppen, Verwendbarkeit oder auf

"Verhalten" bzw. "Sanktionen" gegenüber einzelnen Patienten bei der Zusammenstellung der Transportlisten abgehoben worden sein –

ausschlaggebend sei vielmehr der Räumungsbedarf für geeignet erscheinende Häusertrakts im Anstaltsgebiet gewesen.


Original-Dokus

(click)

Deportation/Abschiebung: Durchführungs-Anweisungen nach Maßgabedurch die zentral

gesteuerte „(Sonder-)Aktion Brandt“

Im WIKIPEDIA-Eintrag zur „Aktion Brandt“ wird unter der Überschrift „Begriff“

gemutmaßt, die Bezeichnung „Aktion Brandt“ sei eine „willkürliche“

Benennung, hauptsächlich geprägt vom Historiker Götz Aly in 1985.

Dieses Schreiben (click) erging auch an die Anstalt Gütersloh

Im Anschreiben der GEKRAT aus „Hösel bei Ratingen“ (statt Berlin) vom

28.10.43 (Abb. Oben rechts) – nämlich der „zentralen“ T4-Tarn-

Transportorganisation - an Direktor Hartwich aus Gütersloh, wird zur

Kennzeichnung der „Abtransports“-Maßnahme am 12.11.1943 aber bereits

das Stichwort „Sonder-Aktion Brandt“ verwendet – was so eine zentral

gesteuerte Begrifflichkeit dieser Maßnahme „von höchster Stelle aus Berlin“

darstellt.

- Doku-Quelle: LWL–Archiv Münster


Illustrierendes Bildmaterial & bearbeitetes Original-Doku

Erna Kronshage sitzt jetzt unentrinnbar in der Falle, denn sie wird

mit auf die Verlegungs-Liste zur Anstalt „Tiegenhof“ bei Gnesen

im von der Wehrmacht besetzten Polen gesetzt …

Abschiebung


Der Mensch wird zum Stückgut:

Die möglichst nicht manipulativ zu entfernende Kennzeichnung der auf den Transporten ruhiggestellten

Deportations-Patienten erfolgt oft mit Leukoplast-Streifen zwischen den Schulterblättern.

Demonstrations-Fotomontage


Die Transport-Busse für die Fahrten jeweils zwischen Anstalt und Bahnhof. Alle Deportations-

/Abschiebungs-Transporte werden von der GEKRAT (Tarnname: „GEmeinnützige KRAnken

Transporgesellschaft“) organisiert, einer Berliner T4-Unterabteilung, die diese Kutschiererei in den Tod

trotz Krieg und Luftangriffen wie ein Reisebüro punktgenau koordiniert …

Illustrierendes Bildmaterial


Symbolbild

Der Deportations-Sonderzug mit insgesamt 290 Abschiebe-PatientInnen startet am 12.11.1943 gegen 18 Uhr aus

Gütersloh. Vor ihnen liegt nun eine anstrengende Bahnfahrt von über 600 Kilometer – im Krieg und bei Nacht und

Nebel - über Hannover und Berlin - bis hinein ins besetzte Polen.


Illustrierendes Bildmaterial

Erna Kronshage gehört mit 99 MitpatientInnen zu einer Gruppe, für die die „Gau-Heilanstalt Tiegenhof“ in Gnesen

im besetzten Polen als „End“-Station vorgesehen ist. Sie fährt - mit den notwendigen Luftschutz-Pausen

unterwegs - oft auf offener Strecke - durch bis zum Bahnhof Posen im besetzten Polen.


Illustrierendes Bildmaterial


Symbolische Porträtmontage

vom Original-Foto

Erna hat sich diesem ganzen Prozedere letztlich willenlos ergeben. Ihr anfänglicher Widerstand gegen diese

"Verlegung", diese Abschiebung, in das für sie unbekannte Nirgendwo, war rasch in sich zusammengebrochen.

Sie spürte, wie sinnlos ein Aufbäumen gewesen wäre. Wahrscheinlich hat man sie auch mit verabreichten

Medikamenten ruhiggestellt - und ihr inneres Licht auf Sparflamme heruntergedimmt.


Symbolbild

Ankunft nach durchfahrener Nacht am Zielbahnhof. Hier werden die Insassen des Deportationszuges aufgeteilt

zu den vorgesehenen jeweiligen „End-Stationen“ – per Zug oder Bus in die Anstalten Meseritz-Obrawalde,

Gnesen und Warta b. Schieratz.


Am Ende sind es wohl wieder die GEKRAT-Busse von der Reichspost, oft mit grauen Tarnanstrichen

& abgedunkelten oder übertünchten Fenstern, die die PatientInnen-Gruppen jeweils in die

zugewiesenen Abschiebe-Anstalten fahren.

Illustrierendes Bildmaterial


GAU-HEILANSTALT TIEGENHOF / GNESEN

DZIEKANKA / GNIEZNO

coloriertes Original-Foto


coloriertes Original-Foto

Nachträglich kolorierte Abbildung der Eingangs-‘Pforte‘ Gau-Heilanstalt Tiegenhof bei Gnesen, ca. 1930/40


coloriertes Original-Foto


Frauen-Schlafsaal – im Hintergrund die erleuchtete Alarmstation der Nachtwachen – in ständiger

„Hab-acht-Stellung“.


NS-MORDANSTALT „TIEGENHOF“

Mit dem Direktor Dr. Victor Ratka sind

von Ende 1939 bis Anfang 1945 in

"Tiegenhof / Dziekanka“ nach

Veröffentlichungen der jetzigen

Klinikleitung fast 3.600 Menschen gezielt

getötetworden - also ca. 700 Personen

pro Jahr – das sind durchschnittlich fast

2 Tote pro Tag in einer Einrichtung mit

einer Belegung ab ca. 1943 von etwas

über 1.000 Patienten ... – und das

entspricht einer durchschnittlichen

Sterberate von mindestens 70 % pro

Jahr. „Normal" war in „Dziekanka“ vor

der NS-Zeit eine Sterberate von nur 1 bis

2 % pro Jahr

Von Ende 1939 bis 1941 wurden

zunächst über 1.000 polnische Insassen

in Dziekanka ermordet – z.T. in

umgebauten Kleinlastern als

Gaswagen, in denen die Auspuffgase

auf die Ladefläche mit Patienten als

„Fahrgäste“ umgeleitet wurde, um sie so

zu vergiften, zu „vergasen“ … (>>> SS-

Sonderkommando Herbert Lange)

>>> zu einem facebook-Video

>>> zu einem facebook-

Video

>>> zum polnischen Kurzfilm

„Tiegenhof“, 2011

Neueste Forschungen zu

Dziekanka/Tiegenhof gehen von 5.000

und mehr Krankenmorden aus…


Dr. Victor Ratka –

Anstaltsdirektor Tiegenhof T4-Gutachter

DR. VICTOR RATKA - auch VIKTOR bzw. WIKTOR

* 27.11.1895 Ober-Lazisk - † 05.04.1966 Heitersheim, als

Oberschlesier und Direktor einer polnischen "Heilanstalt" spät

anerkannter Volksdeutscher;

von 1918-1921 Medizin-Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in

Freiburg;

Ärztliche Vorprüfungen 1918-1921 (Archiv: B 73/51);

Promotionsurkunde vom 01.10.1922 (Archiv-Bestand der Uni Freiburg

unter D 11/83, D 29/27/1427);

Ratka betrieb Studien im Rahmen der von einem Juden eingesetzten

David Julius Wetterhan-Stiftung von 1917-1922 - (Archiv: B 1/619) ...

1928 wurde Ratka Oberarzt der Anstalt Lublinitz;

Ab 1934 Direktor der Anstalt DZIEKANKA im Stadtgebiet

Gniezno/Gnesen (nach Okkupation 1939 "Tiegenhof" genannt), während

des Krieges reine Mordanstalt;

Ratka wurde als in Oberschlesien geborener und als Direktor einer

zunächst polnischen Heilanstalt erst spät als "Volksdeutscher" anerkannt

(„eingedeutscht“) ...

Aufnahme in die SA (siehe dazu die Ablichtungen der SA-Aufnahme-

Urkunden, die sich in der Personalakte Ratka in Dziekanka/Gniezno-PL

befinden...).

Ab 01.09.1941 als Gutachter zeitweise zur T4-Zentrale abgeordnet,

Selektion von Patienten und KZ-Häftlingen ("Aktion 14f13") -

Selektionsarzt in KZs zur "Aussonderung" von "asozialen Häftlingen".

1943 Eintritt in die NSDAP;

im Frühjahr 1945 rechtzeitiger Weggang aus Gniezno zunächst nach

Thüringen - dann Absetzen Richtung der Besatzungszonen westlicher

Besatzungsmächte - Entnazifizierungsverfahren in Kassel - dort lediglich

als "Mitläufer" eingestuft;

Gegen Ratka erging am 8. August 1961 Haftbefehl wegen seiner

Beteiligung an der Aktion 14f13. Er galt als haftunfähig. Ein weiteres

Ermittlungsverfahren der Staatsanwaltschaft Freiburg gegen Ratka, der

alle Morde in Tiegenhof bestritt, wurde nach seinem Tod eingestellt.

Bis zu seinem Todam 05.04.1966 - mit 71 Jahren - Pensionär als

ehemaliger Direktor einer "deutschen Heilanstalt".

coloriertes Original-Foto


coloriertes Original-Foto

Hier ein Gruppenfoto von „Euthanasie“-‘Gut‘achtern der Berliner „Tiergartenstraße 4“ bei einem gemeinsamenAusflug zum Starnberger

See - Anfang September 1941 - v.l.n.r.: Fahrer Erich Bauer - sowie die Gutachter Rudolf Lonauer,Dr. Victor Ratka (Ärztl.

Direktor „Tiegenhof“), Dr. Friedrich Mennecke, Prof. Dr. Paul Nitsche („Luminal-Schema“), Dr. Gerhard Wischer


z.B. eine fettlose Gemüsesuppe

= ergeben die „Gelbe Suppe“ als

schleichendes Gift …

+ aufgelöste Schlafmittel

Ernas „schleichende“ Ermordung

Die Massentötungen der Deportationspatienten aus dem „Reichsgebiet“ ab ca. Ende 1941 bis Anfang 1945 erfolgen zumeist

„schleichend“ nach dem „Luminal-Schema“ von Prof. Dr. Hermann Paul Nitsche – das er zunächst an 60 Patienten „wissenschaftlich“

testet und dann nach und nach verfeinert und entwickelt – und die er den NS-“Euthanasie“-Anstaltsdirektoren für die

dezentralen/“wilden“ Aktionen – nach der 1941 eingestellten ersten Tötungs-Aktion „T4“ mit Giftgas – ab August 1943 offeriert:

Das Luminal-Schema besteht aus einer sogenannten Hungerkost mit „Gelber Suppe“ = die Verabreichungfettloser Speise mit

aufgelösten Schlafmitteln (Barbiturate - z.B. Luminal) in nur leicht erhöhter Dosis = so dass der Tod erst nach Wochen oder Monaten

eintritt. Dieser Tod ist dann letztlich ein schleichendes Vergiftungs-Syndrom bei dem durch die Hungerkost geschwächten

Abwehrsystem - konkret sind so entstandene Infektionen wie Lungenentzündungoder Bronchitis die „offiziellen“ „natürlichen“

Todesursachen – oder eben eine „Vollkommene Erschöpfung des Körpers“ wie bei Erna Kronshage – ohne jede äußeren

Gewaltanwendungsspuren – kaum nachweisbar – ein fast „perfekter“ Mord …


Mehrmals täglich – genau nach Plan des „Luminal-Schemas“ von Dr. Hermann Paul Nitsche – wird

die jeweilige Giftdosis verabreicht


Nach Aussageprotokollen von Zeugen bei

„Euthanasie“-Prozessen in der

Nachkriegszeit kommt es in „Tiegenhof“

auch zu gewaltsamen Verabreichungen von

Medikamenten

„Tiegenhof“:

Tötungszimmer im Frauenpavillon


Die letztlich todbringenden

Medikamente wie Chloralhydrat,

Luminal, Morphium oder

Skopolamin gibt es dann als

Giftspritze, als „letale Injektion“…

illustrierendes Bildmaterial


Erna Kronshage wird nach 100 Tagen in der Vernichtungs-Anstalt „Tiegenhof“/Gnesen am 19. oder am

20. Februar 1944 ermordet.


Oben: in einem Sterbetagebuch der „Gauheilanstalt

Tiegenhof“/Gniezno, das sich im MUZEUM

MARTYRO-LOGICZNE W ŻABIKOWIE in Polen

befindet, wird das Ableben von Erna Kro[h]nshage

auf den „19.II. (2.) 1944“ datiert - zusätzlich ist

vermerkt, dass der Leichnam am „24.II.44“ in einem

„Eig. Sarg [nach]Westen“ verbracht wird. Die

Konfession ist mit "evgl.“ notiert.

Links: die Sterbeurkunde des Sonder-

Standesamtes der deutschen Besatzung in

Tiegenhof/Gnesen, datiert das Datum des Ablebens

auf den „20. Februar 1944, 9.30“ h.

• In dieser Phase der "Euthanasie"-Ermordungen gibt

es oft Zuordnungsprobleme mit den exakten

Sterbedaten: Die zentrale "T4-Verrechnungsstelle" in

Berlin hat nachweislich mit Kostenabrechnungen

verschiedener Pflegesatz-Kassen und

Versicherungsträger zu tricksen gewusst, und konnte

mit gezielten Falschangaben zusätzliche Mittel für die

klammen Kriegskassen generieren: (s. dazu die

Stichworte: „Kostenabrechnung“ u. "Millionen-

Becker" bei Wikipedia „Aktion Brandt“.


Auf Antrag und zu Kosten der

Familie wird der Leichnam Erna

Kronshages nach Senne II

rücküberführt.

Dazu wird der Sarg mit dem

Leichnam in ca. 8-10 Tagen in

einem Packwaggon der

Reichsbahn über 650 km von

Gnesen bis auf das Gleis des

Heimatbahnhofs „Kracks“

rangiert – direkt neben dem

Hof „Mühlenkamp“, in der

Erna 21 Jahre zuvor geboren

wurde – auf das Abstellgleis

neben der Schreinerwerkstatt

dort von Vater Kronshage.

102


Die Familie schleppt den Sarg mit Leiche aus dem Waggon, öffnet ihn in einer heimlichen Nacht-und-Nebel-

Aktion - und vergewissert sich während einer Leichenwaschung oberflächlich und laienhaft, dass keine Spuren

von Gewaltanwendung oder Injektions-Einstiche am Leichnam sichtbar sind.


Obwohl die Todesursache am 20.02.1944 „offiziell“ mit „allgemeiner Erschöpfung“ auf der Todesurkunde angegeben wird (in der Familie

spricht man auch immer mal wieder von „Lungenentzündung“) – schreibt Pfarrer Holzapfel von der Kirchengemeinde Senne II ins Sterbebuch

am 05.03.1944: „Todesursache unbekannt. Sie starb in einer Anstalt für Geisteskranke in Tiegenhof, Kr. Gnesen.“ – Vielleicht ist das der

leise Protest des Gemeindepfarrers, der nicht an einen "natürlichen" Tod glaubt ...


coloriertes Original-Foto

Am 5.Marz 1944 wird der Sarg mit Ernas Leichnam auf dem heutigen

„Alten Friedhof“ in Senne II – heute Sennestadt – im damals neu

angelegten Familien-Grab beigesetzt. Diese Grabstätte existiert so nicht

mehr.

Links: Die damalige Todesanzeige für Erna, in der das Geschehen

verklausuliert formuliert wird.


Digital-virtuelles Triptychon „IN MEMORIAM ERNA KRONSHAGE“ 2014/2016

Ge(h)Denken Erna Kronshage


6.12.2012:

Zur 90.Wiederkehr ihres Geburtstages wird

zum Gedenken an Erna Kronshage

ein „Stolperstein“ gelegt

Der Künstler Gunter Demnig setzt für die Gewaltopfer des NS-Regimes – jeweils in

Nähe des letzten „freien Wohnortes“ – einen sogenannten „Stolperstein“ - zum

Innehalten & Ge(h)-Denken

Du findest ihn in Nähe des Wohnhauses „Mühlenkamp“ – am Fußgänger-Überweg Richtung

Bahnhof Kracks – an der Ampel-/Schranken-Kreuzung Verler Straße | Sender Straße | Krackser

Straße – in 33689 Bielefeld-Sennestadt

Mühlenkamp

Gunter Demnig

beim Legen des

Stolpersteins für

Erna

Stolperstein


Die links abgebildete Grabstätte der Familie Kronshage ist seit 2013 eingeebnet und völlig

verschwunden. Ebenso das Mahnmal im Hintergrund. Es war insgesamt im wahrsten Sinne des

Wortes Gras über die Sache gewachsen – denn der Alte Friedhof wird vornehmlich in eine parkähnliche

Grünfläche ohne individuelle Grabstellenmarkierung umgestaltet.

2021 hat dann der „Sennestadtverein“ eine Broschüre herausgegeben mit Aufsätzen und Bildern

von 32 Grabmalen, für die er die Patenschaft übernommen hat, und die auf dem „Alten Friedhof“

Aufmerksamkeit erhalten sollen, auch als Beispiel von „gelebter Heimatgeschichte“.

Im Zuge einer Patenschaftsübernahme des "Sennestadtvereins" wird seit Dezember 2022 die

letzte Ruhestätte Ernas mit einem Gedenkstein gekennzeichnet.

Original-Fotos

Hier im Bild: Der Gedenkstein des Sennestadtvereins seit 2022

Links: Seite 11 der Broschüre: „Ein Friedhof erzählt“, Sennestadtverein 2021 –


Leucht- und Namensband der Gedenk- und Erinnerungsstätte für 1.017 deportierte

„Euthanasie“-Opfer in der LWL-Klinikkirche Gütersloh – mitgenannt: Erna Kronshage…


Theaterstück Jugendvolxtheater Bethel 2018: "Ich will Leben - besonders anders"

Auch auf dem Hintergrund der Leidensbiografie von Erna Kronshage haben sich 8 junge Spieler*innendes Jugendvolxtheaters Bethel

2018 mit den damaligen Ereignissen, in Bezug zu eigenen Besonderheiten und mitdem „Sosein“ im Allgemeinen auseinandergesetzt:

>>> click zum 60-min.-Stück


Blumen auf Ernas Ruhestätte

Ein Bild, das Text, Screenshot, Poster, Buch enthält.

KI-generierte Inhalte können fehlerhaft sein.

E-Book

Doku,-, Text & Bild-Collage:

„Mein Lachen ist Weinen“

„Edward-Wieand-Website“

erna-kronshage-abstract in english

Erna-Kronshage – Youtube-Playlist

mit 7 Themen-Videos

Stadtarchiv Bielefeld: SPURENSUCHE

1933-1945

Digitale Ausstellung: Krankenmorde &

Deportationen aus Bielefeld und Bethel

im Nationalsozialismus


NS-Euthanasie-Morde

Ge(h)Denken . ErInnern

112


Schicksal des Deportations-Transportes vom 12.11.1943 aus der

Provinzialheilanstalt Gütersloh nach Tiegenhof/Gnesen

12.11.1943: 50 Männer - 50 Frauen - Deportationszielort: Gau-Heil- und Pflegeanstalt

Tiegenhof/Gnesen im Warthegau -

90 Patienten (42 Männer - 48 Frauen -[darunter Erna Kronshage] werden bis zum

Kriegsende in Tiegenhof getötet - 10 (5 Männer - 5 Frauen) versterben in der

Nachkriegszeit ...

Die Sterberate des Deportationstransportes vom 12.11.1943 von Gütersloh nach Tiegenhof

beträgt bis zum Kriegsende 90 %

(Quelle: Bernd Walter:Psychiarie und Gesellschaft in der Moderne, 1996, Tabelle S. 945 - Ausschnitt)

113


NS-Euthanasie-

Phasen 1939 - 1945

coloriertes Original-Foto

Prof. Dr. Karl Brandt,

Chirurgischer Begleitarzt von Adolf Hitler, SS-Gruppenführer und Generalleutnant

der Waffen-SS sowie Generalkommissar für das Sanitäts- und Gesundheitswesen,

ist von Hitler mit der Durchführung und der Koordination der aufeinanderfolgenden

Aktionen betraut worden.

In jüngeren Forschungsarbeiten zur „Aktion Brandt“ werden die Massentötungen

durch Nahrungs-Entzug und/oder Barbiturat-Vergiftungen abgeschobener Patient-

Innen in eigens dafür umorganisierte Ausweich-/“Verlegungs“-(Tötungs-)Anstalten

nicht mehr zum eigentlichen „Euthanasie“-Komplex gerechnet – was aber bei der

historisch-systemischen Zu- und Einordnung dieser mindestens über 30.000 planvoll

und gezielt durchorganisierten Morde wohl umstritten bleiben muss.

Hierzu eine differenzierende Phasen-Zuordnung der einzelnen NS-“Euthanasie“-

Mordschübe vorzunehmen – nach den verschiedenen Auswahl-Kriterien oder den

jeweiligen Opfergruppen – ist für eine allgemeine Einordnung und Übersicht völlig

ausreichend und plausibel.


Hitlers sogenannter

„Euthanasie-Befehl“

Parallel dazu liefen Vorbereitungen, um

auch kranke oder behinderte

Erwachsene gezielt zu töten. Bouhler

und Brandt baten Hitler um eine

schriftliche Ermächtigung, die er im

Oktober 1939 erteilte. Um den

Zusammenhang mit dem Krieg deutlich

zu machen, wurde dieser "Euthanasie-

/Krankenmord-Befehl" auf den 1.

September 1939, den Tag des

Kriegsbeginns, zurückdatiert.

Auch diese Ermordungen organisierte

die "Kanzlei des Führers", die

verschiedene Tarnorganisationen

gründete, um das Programm zu

verschleiern.

Aufgrund des offiziellen Sitzes der

verwaltungsintensiven Organisationszentrale

mit sechs Abteilungen in der

Berliner Tiergartenstraße 4 erhielt die

Aktion den Namen "T4".

Ab Herbst gehen die ersten

Meldebögen in den Anstalten ein, um

"unbrauchbare" und "nicht

arbeitsfähige" Patienten zu erfassen ...


NS-Euthanasie

>>> click zu Wikipedia:

„Krankenmorde“

Ein erstes zentrales Dokument für die "NS-

Euthanasie" war der „streng vertrauliche“

Runderlass des Reichsinnenministeriums vom

18. August 1939.

Er verpflichtete Ärzte und Hebammen,

Kleinkinder und Säuglinge mit bestimmten

"schweren, angeborenen Leiden" bei dem

Reichausschuss zu melden. Meldepflichtig

waren vorerst Kinder bis drei Jahre, später

wurde das Alter auf 16 Jahre hochgesetzt. In

sogenannten "Kinderfachabteilungen" in

Heilkliniken wurden die Kinder anschließend

für Experimente missbraucht und durch eine

Injektion oder Verhungern getötet. Die Zahl

der Opfer dieser "Kinder-Euthanasie" wird bis

1945 auf ca. 5.000 geschätzt.

Jedoch fielen auch bei den weiteren

"Euthanasie"-Morden im Deutschen Reich und

in den besetzten Gebieten weitere tausende

Kinder zum Opfer.

Original-Doku


Original-Doku

Massenhafte Krankenmorde

Per Meldebogen aus den Anstalten werden am Schreibtisch in

Berlin die Kandidaten für die Krankenmorde von Ärzten, den

sogenannten ‚Gut‘achtern der „Euthanasie“-Zentralbehörde in

der Tiergartenstraße 4 – „T4“ ausgewählt:

Dabei ging es in erster Linie um folgende Kriterien:

- Wer ist die kranke Person?

- Wie stark sind Krankheit/Behinderung ausgebildet?

- Kann und will die betroffene Person arbeiten?

1941 wird die erste zentral organisierte Mord-Phase nach

insgesamt weit über 70.000 Mord-Opfern (Aktion „T4“)

unterbrochen aufgrund von Interventionen durch vereinzelte

Kirchenleute und einer gewissen Unruhe durch Gerüchte in der

Bevölkerung.

Ab Ende 1942 setzen sich die „Euthanasie“-Morde weiter fort –

jetzt aber hinter vorgehaltener Hand: Jede Heilanstaltbestimmt

- mit Unterstützung der „T4“-Organisationen in Berlin - selbst -

aus unterschiedlichsten lokalen Beweggründen - welche

Patientenals Todeskandidaten per Deportation in eine der auch

neu in den besetzten Ostgebieten eingerichteten Tötungs-

Anstalten ‚verlegt' werden.

Es kommt dort zu Massenmorden mit Schlafmitteln und

Verhungernlassen. Es werden nur noch einfache Wassersuppen

gereicht, ohne Nährstoffe, oder auch Trockenbrot mit

zerdrückten Pellkartoffeln als Belag.

Auch aus der Heilanstalt Gütersloh werden mindestens 1.017

Patienten in Abschiebe-Transporten 1941 und 1943

deportiert.

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Welch unüberschaubar vielfältig

funktionierendes arbeitsteilig

organisiertes Heer

von verschwiegenen und verblendeten MittäterInnen,

HandlangerInnen und MitwisserInnen ist insgesamt in die

Durchführung jedes einzelnen der ca. 300.000 "Euthanasie"-

Verbrechen und den rund 400.000 Eugenik-Sterilisations-

Verfahren involviert: z.B. Ärzte, Richter, Amtsinhaber vor Ort,

Ortsfürsorgerinnen, Staatsanwälte, Polizisten - Beamte,

Bedienstete und Sachbearbeiter in einer Vielzahl von

zuständigen Ämtern und Verwaltungen der beteiligten

Institutionen - Krankenpflege- und Medizinalpersonal,

Fahrdienstleiter, Zugführer, Busfahrer - aber ebenso natürlich

auch ängstlich-schamhafte, schweigende, gleichgültige oder

abgelenkte und überforderte geplagte Angehörige, Nachbarn

und sonstige Bezugspersonen - Mitmenschen also wie du

und ich - aus der Mitte der Gesellschaft. Gefangen in jener

"Banalität des Bösen", wie Hannah Arendt diesen Zustand

apostrophiert hat - diese schockgefrorenen grausamen

zombiehaft funktionierenden Alltäglichkeiten inmitten eines

rundherum ablaufenden Traumas.

Am jeweiligen Verfahren zur Zwangssterilisation oder

zur "Euthanasie"-Ermordung waren bestimmt mindestens

10 bis 15 Personen arbeitsteilig eingebunden, beteiligt oder

davon betroffen. Und das rechnet sich hoch zu mehr als 3 bis

4 Mio Mitwissende aus den Reihen unserer Vorfahren in

jener Zeit, bei über 8 Mio eingetragenen NSDAP-Mitgliedern

von knapp 80 Mio damaligen Einwohnern insgesamt. Und

wie viele beteuerten und versichern, von "nichts gewusst"

und "nichts mitbekommen" zu haben.


Proteste der Kirchen durch Eingaben, Briefe und Predigten –

durch Intervention der Kirchen werden die zentral gesteuerten „T4“-Krankenmorde 1941 zunächst einmal gestoppt – aber dann ab 1942/43 dezentral regional

organisiert und mit Hilfe der zentralen Seilschaften aus der Tiergartenstraße 4 hinter vorgehaltener Hand in großem Umfang und in verschiedenen Ablauf-Phasen

fortgesetzt …

Hier sind zwei Kirchen-Geistliche stellvertretend genannt für leider nur eine Handvoll von aufrichtigen Vertretern der beiden großen Konfessionen, die sich trotz der

Gefahr für Leib und Leben für den mit „Euthanasie“-Maßnahmen bedrohten Personenkreis selbstlos eingesetzt haben.

Pastor Paul-Gerhard Braune,

Anstaltsleiter in Lobetal der v.

Bodelschwinghschen Anstalten -

Sein Kampf gegen die

"Euthanasie" gilt als

bedeutender Akt

protestantischen Widerstandes

im Nationalsozialismus. Ihm

gelang es den Abtransport von

Bewohnern der Hoffnungstaler

Anstalten zu verhindern. Aus

den ihm bekannten Informationen über planmäßige

Verlegungen und massenhafte Todesmeldungen aus dem

gesamten Reichsgebiet formulierte er eine an Hitler

gerichtete „Denkschrift zur Lage der nichtarischen

Christen“, die in der Reichskanzlei abgegeben wurde.

Braune weigerte sich, Kranke der Hoffnungstaler

Anstalten auszuliefern. Auch rassisch und politisch

Verfolgte sowie Deserteure fanden dort Unterstützung.

Dieser Kampf gegen die „Euthanasie“ und gegen die

Vereinnahmungder Inneren Mission führte am 12. August

1940 zu seiner Inhaftierung durch die Gestapo. Für drei

Monate wurde er im Gestapo-Gefängnis in der Prinz-

Albrecht-Straße inhaftiert.

1943 setzte sich Braune für verhaftete homosexuelle

Bewohner der HoffnungstalerAnstalten ein und schrieb,

erfolglos, Gnadengesuche für die zum Tode Verurteilten.

Bischof Graf von Galen, Münster –

predigte von der Kanzel, dass jetzt auch in

der Provinz Westfalen aus Heil- und

Pflegeanstalten Kranke abtransportiert

werden und die Angehörigen nach kurzer

Zeit die Mitteilung erhielten, der Kranke sei

verstorben und die Leiche bereits

eingeäschert. Er habe den „an Sicherheit

grenzende[n] Verdacht, dass man dabei

jener Lehre folgt, die behauptet,

„man dürfe sogenanntes lebensunwertes Leben‘ vernichten“. ...

„Arme Menschen, kranke Menschen, unproduktive Menschen

meinetwegen!Aber haben sie damit das Recht auf das Leben

verwirkt? Hast du, habe ich nur so lange das Recht zu leben,

solange wir produktiv sind, solange wir von den anderen als

produktiv anerkannt werden?“ Die Predigten wurden – zumeist

durch Abschreiben mit der Schreibmaschine – zunächst innerhalb

katholischer Kleingruppen in ganz Deutschland verbreitet,

erreichten aber sehr bald über Arbeitsstätten und Luftschutzkeller

eine breitere Öffentlichkeit. Insbesondere die vom Bischof

sprachlich lediglich im Konjunktiv als mögliche Konsequenz

dargestellte Tötung von Kriegsinvaliden wurde als

Tatsachenbehauptung aufgenommen und verschärfte die

Wirkung der Predigten beträchtlich.

Da die Machthaber zu der Einschätzung gelangten, dass eine

Geheimhaltung der Tötung von Kranken gescheitert war und die

„Euthanasie“ sich als in weiten Teilen der Bevölkerung nicht

konsensfähigerwies, wurde die Aktion T4 unterbrochen und erst

ein Jahr später aber in weniger auffälliger Form fortgesetzt.


Zentraler Gedenk und Informationsort für die

Opfer der Nationalsozialistischen „Euthanasie“-Morde

Tiergartenstraße 4 – in Berlin

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