ERINNERUNG AN ERNA
24 Bild-Seiten in einfacher Sprache zu ihrem kurzen Leben und ihrem langen Sterben
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EDWARD WIE<strong>AN</strong>D<br />
<strong>ERINNERUNG</strong><br />
<strong>AN</strong> <strong>ERNA</strong><br />
24 ILLUSTRIERTE SCHAUTAFELN<br />
MIT EINFACHER SPRACHE<br />
ZUM KURZEN LEBEN<br />
UND L<strong>AN</strong>GEN STERBEN
Erna wird 2 Wochen vor<br />
Weihnachten<br />
am 12. Dezember 1922<br />
in Senne II geboren.<br />
Das ist ein kleiner Ort<br />
bei Bielefeld –<br />
in der Landschaft Senne.<br />
Die Senne ist eine Gegend<br />
zwischen Bielefeld und<br />
Paderborn. Früher gab es<br />
dort meistens weit<br />
verstreut liegende Bauern-<br />
Höfe auf Sandboden mit<br />
Heideflächen durchsetzt.<br />
©©© eddywieand-sinedi.de – ab 2020 ff.
Erna ist das 11. und jüngste Kind der Familie<br />
Kronshage.<br />
Die Groß-Familie Kronshage lebt und<br />
arbeitet auf einem Bauern-Hof in der Senne.<br />
Der Vater arbeitet halbtags als Tischler in<br />
einer Fabrik.<br />
Der Hof grenzt direkt an Rangiergleise und<br />
Bahnsteige des kleinen Orts-Bahnhofs.
So sieht das Bauern-Haus<br />
damals aus.<br />
Das Haus heute:<br />
4
Auf diesem Familien-Foto<br />
von ca. 1930 ist Erna<br />
die 2. von links …<br />
Als Jüngste und Kleinste<br />
wird Erna hauptsächlich<br />
von ihren großen<br />
Geschwistern „erzogen“.<br />
Erna wird als „Nest-Häkchen“<br />
sicherlich entsprechend<br />
betüddelt und verwöhnt.<br />
Erna ist ca. 8 Jahre alt.<br />
Ausschnitt aus dem Familien-Foto.<br />
5
Erna ist eine gute<br />
Schülerin.<br />
Das Lernen macht ihr<br />
Spaß.<br />
Sie hat sehr gute<br />
Zeugnisse.<br />
So ähnlich wie hier<br />
auf dem Bild sieht<br />
1935 eine<br />
Schulklasse aus.<br />
6
Nach ihrer Schulzeit arbeitet Erna<br />
als „Haus-Tochter“ zu Hause auf<br />
dem Bauern-Hof.<br />
Die Tätigkeit als „Haus-Tochter“ ist<br />
damals ein Übergangs-Beruf junger<br />
Frauen für die Zeit bis zur eigenen<br />
Hochzeit.<br />
Jetzt im Krieg muss Erna allein mit<br />
ihren Eltern auf dem Bauern-Hof<br />
arbeiten:<br />
Die Brüder sind abkommandiert als<br />
Soldaten.<br />
Die älteren Schwestern haben<br />
inzwischen eigene Familien.<br />
Sie wohnen nicht mehr zu Hause.<br />
Es gibt viel Arbeit auf einem Bauern-<br />
Hof. Und manchmal muss Erna helfen<br />
bei der Kartoffelernte.<br />
Oder sie wäscht die Wäsche am<br />
Brunnen vor dem Haus.<br />
7
Im Frühjahr 1940 kommt<br />
der Krieg zum ersten Mal<br />
bis in die Gegend der Senne.<br />
Ein englisches Flugzeug wirft<br />
Bomben ab.<br />
Die Bomben treffen den Gutshof<br />
auf der anderen Straßenseite.<br />
Er liegt nur 100 Meter von Ernas<br />
Wohn-Haus entfernt.<br />
Erna ist geschockt, denn eine<br />
junge Nachbarin wird dabei<br />
getötet.<br />
8
Aus der Groß-Familie<br />
Kronshage ist inzwischen<br />
eine Klein-Familie<br />
geworden.<br />
Erna wohnt jetzt allein mit<br />
den Eltern im Bauern-<br />
Haus.<br />
Sie fühlt sich immer mehr<br />
alleingelassen und einsam.<br />
Als Gesprächspartner<br />
fehlen ihr besonders die<br />
Geschwister und auch<br />
gleichaltrige Freunde.<br />
Ihre Eltern sind schon über<br />
40 Jahre älter als sie.<br />
Die Arbeit auf dem<br />
Bauern-Hof wird für Erna<br />
immer schwerer.<br />
Sie muss endlich einmal<br />
ausspannen.
Erna fühlt sich schlapp und überfordert.<br />
Im Oktober 1942 verweigert sie deshalb ihre<br />
Mitarbeit auf dem Hof.<br />
Sie zankt mit den Eltern und hat keine Lust mehr zur Arbeit.<br />
Sie will sich ausruhen.<br />
Die Eltern müssen Ernas Bummeleien sogar der Gemeinde-<br />
Schwester weitermelden.<br />
Die Arbeit auf dem Bauern-Hof ist jetzt im Krieg für die<br />
Lebensmittel-Versorgung aller Menschen besonders wichtig.<br />
Alle Mitarbeitenden in der Landwirtschaft sind deshalb<br />
besonders verpflichtet.<br />
Niemand darf jetzt einfach „Blau-Machen“.<br />
10
Die Gemeinde-Schwester schickt Erna zu einer<br />
ärztlichen Untersuchung ins Gesundheits-Amt.<br />
Hier bittet Erna den Arzt darum, in die Heil-Anstalt<br />
nach Gütersloh zu kommen.<br />
Sie will dort wieder „fit“ gemacht werden.<br />
Bei einer Schwester Ernas hat das dort einige Zeit<br />
zuvor gut geklappt. Sie hatte sich nach einem<br />
nervlichen Zusammenbruch in 4 Wochen dort<br />
wieder gut erholt.<br />
Erna will das jetzt für sich auch so.<br />
Sie lässt sich deshalb in die Heil-Anstalt einweisen.<br />
Sogar gegen den Willen der Eltern.<br />
11
Die Heil-Anstalt Gütersloh ist damals wie eine<br />
„Gesundheits-Fabrik“.<br />
Sie besteht aus mehreren Kranken-Abteilungen für<br />
über 1000 Frauen und Männer mit seelischen<br />
Gesundheitsstörungen.<br />
12
Erna wird am 24. Oktober 1942 in die Heil-Anstalt nach<br />
Gütersloh gebracht.<br />
Dort haben aber jetzt Ärzte das Sagen, die die Patienten<br />
nach dem damaligen Nazi-Zeitgeist beurteilen und<br />
behandeln.<br />
Ein solcher Arzt führt mit Erna erste Untersuchungen und<br />
Gespräche durch.<br />
Er fragt nach Erkrankungen in der Verwandtschaft und<br />
machen sich Notizen.<br />
Erna ist aufgeregt und stottert herum. Die Situation<br />
macht ihr Angst. Damit hat sie nicht gerechnet.<br />
Der Arzt meint dann, Ernas Arbeitsverweigerungen<br />
und Verhaltensstörungen seien eine dauerhafte Geistesstörung.<br />
Und die wird als „Schizophrenie“ bezeichnet.<br />
Bei dieser Störung lassen sich Wirklichkeit, Traum und<br />
Fantasie nicht mehr unterscheiden – alles fließt<br />
ineinander. Es werden Trugbilder erzeugt.<br />
Das Erleben und Fühlen wird dabei in viele kleine<br />
Scherben zersplittert. Oft hören solche Patienten<br />
Stimmen oder sogar Befehle. Aber niemand spricht<br />
tatsächlich. Es sind meistens Einbildungen.
Das jeweilige Beschäftigungs-Angebot ist in<br />
Gütersloh fester Bestandteil der Kranken-<br />
Behandlung.<br />
Erna wird dazu zum Kartoffel-Schälen und zur<br />
Arbeits-Kolonne in die Gärtnerei abkommandiert.<br />
Das kennt sie ja schon von Zuhause.<br />
Bei Patienten mit „Schizophrenie“ werden<br />
außerdem zum „inneren Spannungsabbau“<br />
künstlich Krampfanfälle ausgelöst. Dazu wird<br />
eine chemische Lösung in die Armbeuge<br />
gespritzt.<br />
Bei Erna werden sogar mehrere Anfalls-Serien<br />
nacheinander verordnet.<br />
Hinterher fühlt sich Erna immer matt und<br />
verwirrt.<br />
14
Menschen mit bestimmten Erb-Krankheiten<br />
sollen nie mehr Kinder bekommen.<br />
Das bestimmt ein damals neues Gesetz.<br />
Bestimmte Erkrankungen könnten von<br />
Eltern auf die eigenen Kinder oder Enkel<br />
übertragen werden.<br />
Deshalb soll eine dauerhafte Verhinderung<br />
des Kinder-Bekommens solche<br />
Vererbungs-Möglichkeiten unterbinden.<br />
Das ist die Überlegung der damaligen<br />
Ärzte dabei.<br />
Auch Erna Kronshage soll deshalb<br />
wegen ihrer „Schizophrenie“ nie mehr<br />
Kinder bekommen. Der Direktor der<br />
Anstalt in Gütersloh stellt dafür den<br />
notwendigen Antrag für die Operation<br />
zur Unfruchtbarkeit.<br />
Ernas Vater legt gegen diese Operation<br />
mehrfach Einspruch ein. Aber das wird.<br />
abgelehnt.<br />
Nach Beschluss des „Erbgesundheits-<br />
Obergerichts“ in Hamm wird Erna schließlich<br />
am 4. August 1943 in einem Krankenhaus<br />
in Gütersloh mit einer Unterbauch-<br />
Operation unfruchtbar gemacht.<br />
15
Geistig und seelisch erkrankte Menschen sind für die Nazis<br />
„unnütze Esser“. Weil sie nur Geld kosten. Sie bringen aber<br />
nichts ein.<br />
Hitler will deshalb schon 1939 „kurzen Prozess“ machen. Diese Menschen<br />
sollen auf seinen Erlass hin getötet werden.<br />
Nach seiner Meinung ist der Tod eine „Erlösung“ von ihrem „Leiden“. Er nennt<br />
das einen „Gnaden-Tod“.<br />
Per Fragebogen werden ab dann die Menschen ausgewählt für einen<br />
solchen Kranken-Mord. Dabei geht es hauptsächlich um 3 Punkte:<br />
• Wer ist die oder der Kranke?<br />
• Wie stark ist die Krankheit oder Behinderung ausgeprägt?<br />
• Kann und will die oder der Kranke arbeiten?<br />
Diese Kranken-Morde nennen die Nazis „Euthanasie“.<br />
Das Wort kommt aus dem Griechischen. Es bedeutet zu deutsch<br />
„Schöner Tod“.<br />
Bilder: rechts oben = Hitlers „Euthanasie“-Erlass -<br />
rechts unten = „Euthanasie“-Fragebogen –<br />
ein rotes Plus + bedeutet den Tod
Ab Mitte 1943 sind in Gütersloh<br />
auf Anweisung aus Berlin Bettenplätze<br />
freizumachen. Kriegsverletzte<br />
aus den bombardierten<br />
Städten sollen einquartiert werden.<br />
Deshalb müssen jetzt überzählige<br />
Patienten in andere Anstalten<br />
verlegt werden.<br />
Erna Kronshage ist mit 99<br />
Patienten dabei.<br />
In der Nacht vom 12. auf<br />
13.11.1943 bringt ein Sonderzug<br />
diese Patientengruppe über<br />
Hannover und Berlin in die über<br />
650 Kilometer entfernte Anstalt<br />
„Tiegenhof“.<br />
Die ist nahe der Stadt Gnesen in<br />
Polen.<br />
Deutsche Soldaten haben im<br />
Krieg dort das Sagen.<br />
17
Heil-Anstalt Tiegenhof<br />
bei Gnesen im damals<br />
besetzten Polen<br />
Name vor der<br />
Deutschen Besetzung:<br />
Dziekanka/Gniezno<br />
• Luft-Aufnahme des<br />
Anstaltsgeländes<br />
• Bucheinband eines<br />
Jubiläumbandes von<br />
1994<br />
• Typischer Anstalts-<br />
Pavillon<br />
18
Die Patienten werden in Tiegenhof meist mit einem Tötungs-Rezept aus fettlosen Speisen mit beigemischten Schlafmitteln ermordet.<br />
19
Erna Kronshage wird am<br />
19. oder 20.Februar 1944<br />
in Tiegenhof/Gnesen<br />
getötet.<br />
Vom Tag der Verlegung<br />
aus Gütersloh bis zu<br />
ihrer Ermordung dauert<br />
es 100 Tage …<br />
20
Auf Antrag der Eltern wird der Leichnam Erna Kronshages im Sarg<br />
auf den Bauern-Hof in Senne II rücküberführt.<br />
In einem Pack-Waggon der Reichs-Bahn wird der Sarg befördert.<br />
Das geht mehrere Tage über 650 Bahnkilometer.<br />
Auf einem Rangiergleis direkt am Bauern-Hof der Familie Kronshage<br />
wird der Waggon dann abgestellt.<br />
Die Familie schleppt den Sarg aus dem Güterwaggon und öffnet ihn<br />
heimlich.<br />
Sie verschafft sich einen Eindruck vom äußerlichen Zustand des<br />
Leichnams.<br />
Am 5.Marz 1944 wird Erna Kronshage auf dem Alten Friedhof in Senne II<br />
im Familien-Grab beerdigt.<br />
Senne II heißt jetzt Bielefeld-Sennestadt.<br />
21
Die Todesanzeige für Erna in der Bielefelder Tageszeitung im März 1944 | Die Familien-Grabstätte Kronshage wurde inzwischen<br />
abgeräumt und eingeebnet. Dort soll ein Park entstehen.<br />
23
Am 6. Dezember 2012 wird in der<br />
Nähe des Geburtshauses von<br />
Erna Kronshage zum Gedenken<br />
ein „Stolperstein“ gelegt.<br />
Im „Raum der Namen"<br />
wird in der Klinik-Kapelle in<br />
Gütersloh mit einem<br />
leuchtenden Namens-Band<br />
den 1.017 ermordeten Patienten<br />
gedacht.<br />
Sie alle wurden von Gütersloh aus<br />
in Tötungs-Anstalten „verlegt“.<br />
22
Der "Sennestadtverein“ in Bielefeld-Sennestadt<br />
hat seit Dezember 2022 die<br />
letzte Ruhestätte Ernas mit einem Gedenkstein<br />
gekennzeichnet.