Scheidegger & Spiess Vorschau Frühjahr 2024
Das aktuelle Frühjahrsprogramm mit den Neuerscheinungen des Verlags Scheidegger & Spiess im Bereich Kunst, Fotografie und Architektur!
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Unterweisung Mariens, um 1430, Sandstein mit Resten<br />
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Unterweisung Mariens, um 1430, Sandstein mit Resten<br />
alter Fassung, 64.5 × 37 cm, Paderborn, Erzbischöfliches<br />
alter Fassung, 64.5 × 37 cm, Paderborn, Erzbischöfliches<br />
Diözesanmuseum und Domschatzkammer.<br />
Diözesanmuseum und Domschatzkammer.<br />
Anna lehrt Maria das Lesen und Schreiben. Dieses Motiv aus der Kindheitsgeschichte Marias war ein<br />
in spätmittelalterlichen Frauenklöstern beliebte Darstellung auf Gemälden oder als Skulpturen. Die<br />
einst vollständig bemalte Figurengruppe aus Sandstein hält diesen Moment in einer äussert lieblichen<br />
Manier fest. Anna zeigt im offenen Buch auf die Buchstaben, während die etwa sechsjährige Maria mit<br />
einem Stift den Buchstaben zu folgen scheint. Mädchen, die in diesem Alter einem Kloster übergeben<br />
worden sind, wurden von verwandten Nonnen oder Ersatzmüttern grossgezogen und unterrichtet. Mit<br />
solchen Darstellungen.<br />
Anna lehrt Maria das Lesen und Schreiben. Dieses Motiv aus der Kindheitsgeschichte Marias war ein<br />
in spätmittelalterlichen Frauenklöstern beliebte Darstellung auf Gemälden oder als Skulpturen. Die<br />
einst vollständig bemalte Figurengruppe aus Sandstein hält diesen Moment in einer äussert lieblichen<br />
Manier fest. Anna zeigt im offenen Buch auf die Buchstaben, während die etwa sechsjährige Maria mit<br />
einem Stift den Buchstaben zu folgen scheint. Ersatzmüttern Mädchen, die in diesem Alter einem Kloster<br />
übergeben worden sind, wurden von verwandten Nonnen oder Ersatzmüttern grossgezogen und unterrichtet.<br />
Ersatzmüttern Mit solchen Darstellungen konnten sich diese Mädchen.<br />
22<br />
23 ab dem frühen Mittelalter über Tausende<br />
dass die Bilder durch einen neuen Medienkörper<br />
von Kilometern gehandelt, um Kirchen zu<br />
authentifiziert werden mussten. Der übernahm<br />
bauen, religiöse Institutionen zu gründen und irdi-<br />
viele der überirdischen Fähigkeiten, die den klei-<br />
sche Herrschaft abzusichern. Reliquien wurden<br />
nen Stückchen der toten Heiligen zugeschrieben<br />
als lebendig definiert; ihre Wirkungen kamen aus<br />
worden waren. Im Gegensatz zu den Reliquien war<br />
der paradiesischen Zukunft. Daher bewiesen sie<br />
er aber standardisiert, in einem strikt kontrollier-<br />
in den Wunderberichten ihre Echtheit damit, dass<br />
ten Verfahren hergestellt und daher praktischer-<br />
sie überirdisch gut dufteten (im Gegensatz zu den<br />
weise in unbegrenzter Anzahl verfügbar. In der<br />
meisten lebendigen Körpern, dürfen wir vermu-<br />
geweihten Hoste – dem weissen Stück Teig, das<br />
ten) und kranke Körper heilen konnten. 3<br />
der Priester im Moment der Wandlung während<br />
Von den beiden wichtigsten Körpern der<br />
der Messe hochhielt – werde der Körper Christi<br />
christlichen Tradition, denen der Gottesmutter<br />
in Fleisch und Blut tatsächlich physisch gegen-<br />
und des Erlösers, konnte es allerdings keine sol-<br />
wärtig, lehrte das Dogma der Transsubstantiation<br />
chen Reste geben; sie waren vollständig in den<br />
ab dem 13. Jahrhundert. «Hoc est corpus meum»,<br />
Himmel transferiert worden. Deswegen standen<br />
das ist mein Leib, sagt der Priester in der Messe.<br />
die wenigen Gegenstände, die mit ihren Körpern<br />
(Unser Wort Hokuspokus ist davon abgeleitet.)<br />
in Berührung gekommen waren, im Zentrum der<br />
Und schwupps, dann ist die Hostie das auch. 5<br />
Verehrung – von der Dornenkrone über die Win-<br />
Dieser Körper konnte selbst neue Bilder<br />
deln Jesu bis zu angeblichen Tropfen der Milch<br />
erzeugen – echte Bilder vom gekreuzigten Chris-<br />
Marias. Sie waren knappe und daher unendlich<br />
tus, als sogenannte Gregorsmesse (Kat.##) eines<br />
kostbare Materialisationen des Heiligen, deswe-<br />
der populärsten und am häufigsten dargestellten<br />
gen wurden sie auch fleissig reproduziert.<br />
Bildmotive des ausgehenden Mittelalters über-<br />
Die expandierenden religiösen Institutio-<br />
haupt. Das Bild der angeblichen Vision Papst<br />
nen des 12., 13. und 14. Jahrhunderts setzten aber<br />
Gregors demonstriert seine eigene Verwandlung<br />
schliesslich auf zwei neue Medien, um die physi-<br />
aus einem kleinen Stück weissen Teig in den gefol-<br />
sche Präsenz der in den Himmel aufgefahrenen<br />
terten Körper des Erlösers – und damit gleich<br />
Körper zu organisieren. Die vorher als verdächtige<br />
seine eigene Echtheit, eben weil man im Normal-<br />
Schauplatz der Gegensätze: der<br />
menschliche Körper aus<br />
mittelalterlicher Perspektive<br />
simulacra angesehenen Bilder erhielten als nicht<br />
von menschlicher Hand gemachte, sondern durch<br />
Wunder erzeugte «echte Bilder» neue Legitimität.<br />
Die Legenden von der vera icon, dem wahren Bild<br />
Christi, künden davon ebenso wie das Auftauchen<br />
von Christus- und Marienbildern, die ihre Echtheit<br />
durch Weinen und Bluten bewiesen. 4 Als Bilder<br />
für die Theologen zu verlässlichen religiösen<br />
Medien wurden, bekamen sie auch dazugehörige<br />
Körper.<br />
Die mit ihnen verbundenen Illusionen wurden<br />
allerdings weiterhin als so riskant angesehen,<br />
1 Jan Rüdiger: Der König und seine Frauen.<br />
Polygynie und politische Kultur in Europa,<br />
Berlin/Boston 2015; Ruth Mazo Karras:<br />
Sexualität im Mittelalter, Düsseldorf 2006.<br />
2 Caroline Bynum: The Resurrection<br />
of the Body in Western Christianity, New<br />
York 1995.<br />
3 Arnold Angenendt: Die Gegenwart von Heiligen<br />
und Reliquien, Münster 2010.<br />
4 Michael Camille: The Gothic Idol, Oxford<br />
1989; Hans Belting: Das echte Bild, München<br />
2005.<br />
fall nicht sehen kann (wenn sich nicht gerade ein Abb.<br />
Wunder ereignet), dass sich die Hostie bis auf den 2<br />
letzten Krümel in lebendiges Menschenfleisch &<br />
verwandelt hat. Auf diesem erstaunlichen Stück Abb.<br />
visueller Dialektik beruht die Eucharistielehre 3<br />
der katholischen Kirche bis heute.<br />
Die geweihte Hostie wurde binnen weniger<br />
Jahrzehnte zum Überkörper schlechthin – besser<br />
als alle getrockneten Stückchen der Heiligen. Ein<br />
unzüchtiger Priester, so ein Lehrdialog um 1220,<br />
will eine Frau zum Sex überreden. Wenn er sie<br />
mit dem geweihten Leib Christi im Mund küsste,<br />
vermutete er, würde sie ihm sofort zu Willen sein.<br />
Als er aber mit der Hostie im Mund zum Rendezvous<br />
aufbricht, stellt er fest, dass er plötzlich<br />
so gewachsen ist, dass er nicht mehr durch die<br />
Tür passt und die Kirche nicht mehr verlassen<br />
kann. In seinem Schrecken spuckt der Priester die<br />
Hostie aus und versucht seine Tat zu vertuschen,<br />
indem er sie in einer Ecke des Kirchenfussbodens<br />
begräbt. Aus Angst, er würde noch von weiteren<br />
göttlichen Strafen ereilt, beichtet er (offenbar<br />
in der Zwischenzeit wieder auf originale Grösse<br />
geschrumpft) sein Vergehen seinem Kollegen.<br />
Beide Priester suchen die Stelle im Kirchenfussboden,<br />
wo er den Leib Christi vergraben hatte. Aber<br />
anstatt der Oblate finden sie, versichert der Wun-<br />
Abb.2: Künstler Name, Gregorsmesse, Jahr<br />
5 Miri Rubin, Corpus Christi. The Eucharist<br />
derbericht, eine Bildstatue eines Gekreuzigten:<br />
Abb.3: Hans Fries, Das lebende Kreuz, Jahr<br />
in Medieval Culture, Oxford 1988.<br />
zwar «klein von der Grösse her», wie die Geschichte