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Christof Landmesser | Dorothee Schlenke (Hrsg.): Ewigkeit im Augenblick (Leseprobe)

Zeit ist eine basale Kategorie der Wahrnehmung und Deutung der menschlichen Existenz. Es ist eine zentrale Aufgabe der selbst zeitgebundenen Theologie, verschiedene Zeitvorstellungen und das damit jeweils verknüpfte Verständnis von Mensch, Welt und Geschichte in der biblischen, christlichen und philosophischen Tradition zu identifizieren. Gilt in christlicher Perspektive Gott als Grund der Zeit und im Christusgeschehen als Schöpfer selbst präsent in der Zeit, so stellt sich im Modus des Glaubens die erfüllte Ewigkeit im Augenblick ein. In interdisziplinärem Ausgriff erörtern die in diesem Band dokumentierten Vorträge der 25. Jahrestagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V. von A. Grund-Wittenberg, T. Kaufmann, T. Kleffmann, P.-G. Klumbies und H. Schwier grundlegende Fragen der Zeitdeutung, ergänzt durch eine akademische Gedenkrede für Otto Merk (1933–2021).

Zeit ist eine basale Kategorie der Wahrnehmung und Deutung der menschlichen Existenz. Es ist eine zentrale Aufgabe der selbst zeitgebundenen Theologie, verschiedene Zeitvorstellungen und das damit jeweils verknüpfte Verständnis von Mensch, Welt und Geschichte in der biblischen, christlichen und philosophischen Tradition zu identifizieren. Gilt in christlicher Perspektive Gott als Grund der Zeit und im Christusgeschehen als Schöpfer selbst präsent in der Zeit, so stellt sich im Modus des Glaubens die erfüllte Ewigkeit im Augenblick ein.
In interdisziplinärem Ausgriff erörtern die in diesem Band dokumentierten Vorträge der 25. Jahrestagung der Rudolf-Bultmann-Gesellschaft für Hermeneutische Theologie e.V. von A. Grund-Wittenberg, T. Kaufmann, T. Kleffmann, P.-G. Klumbies und H. Schwier grundlegende Fragen der Zeitdeutung, ergänzt durch eine akademische Gedenkrede für Otto Merk (1933–2021).

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16<br />

Alexandra Grund-Wittenberg<br />

der Nachbarkulturen verglichen werden, --- um nicht <strong>im</strong>mer wieder Ȁpfel mit<br />

Birnen zu vergleichen«. 15<br />

Fragt man hingegen nach dem Zeitverständnis in der Lebenswelt des alten<br />

Israel, so ist die Bindekraft der kanonischen Großerzählung für die Bevölkerung<br />

auch nach dem Exil fraglich. Die Vermittlung geschichtlicher Überlieferungen an<br />

größere Bevölkerungskreise wurde auch dann am ehesten <strong>im</strong> Rahmen wiederkehrender<br />

Feste vermittelt. Ursprünglich an natürlichen bzw. agrarischen<br />

Rhythmen orientierte Feste wurden zu Knotenpunkten der Erinnerungskultur,<br />

was gerne als »Historisierung der Feste« bezeichnet wurde --- ein nicht unproblematischer<br />

Begriff, blieb doch der Stellenwert der natürlichen Rhythmen in der<br />

weiterhin bäuerlich geprägten Gesellschaft erhalten. Wie Jan Assmann gezeigt<br />

hat, ist für die Entstehung und Aufrechterhaltung eines kulturellen Gedächtnisses<br />

beides notwendig: Sowohl die Wiederholung in Form festlicher Begehungen<br />

(»rituelle Kohärenz«) als auch die Vergegenwärtigung fundierender Vergangenheit<br />

in Form von Texten (»textuelle Kohärenz«). 16 Freilich wird die rituelle Kohärenz<br />

nicht, wie Assmann meint, von der textuellen Kohärenz abgelöst. Die Intensivierung<br />

von Israels Erinnerungsanstrengung lässt sich nicht nur in der<br />

anwachsenden Verschriftlichung von identitätsrelevanter Geschichte ablesen,<br />

sondern auch an der Indienstnahme von <strong>im</strong>mer mehr Festen für die Geschichtserinnerungen.<br />

Es ist also methodisch zu unterscheiden zwischen einer durch<br />

Tage, Monate, Jahre und Feste rhythmisierten Zeitstruktur des gemeinsamen<br />

Lebens und dem von der kanonischen Großerzählung dargebotenen Zeitkonzept.<br />

Dies bewahrt davor, das Zeitverständnis Israels übereilt als entweder linear oder<br />

zyklisch zu etikettieren. Ferner wird deutlich, dass eine Rhythmisierung der<br />

sozialen Zeit durch Wiederholungen, u.a. von Festen, und ein anwachsendes<br />

Reservoir von Geschichtserinnerung keineswegs <strong>im</strong> Widerspruch stehen, sondern<br />

einander wechselseitig stützen können.<br />

Gerade auch für einen interkulturellen Vergleich ist daher die Unterscheidung<br />

mehrerer Aspekte von Zeitkonzeptionen sinnvoll: 17<br />

(1) Soziale Zeit<br />

Im Blick auf die Zeit in der Gesellschaft ist zu fragen: Welche Tätigkeit übt man<br />

zu welcher Zeit aus? Welche Zeitstrukturierungen synchronisieren die Zeit einer<br />

15<br />

Vgl. zu Mesopotamien nun Elisabeth Cancik-Kirschbaum, Zeit und <strong>Ewigkeit</strong>. Ein<br />

Versuch zu altorientalischen Konzeptionen, in: Kratz/Spieckermann, Zeit (s. Anm. 3) 29---<br />

51 sowie Jean-Jacques Glassner, Historical T<strong>im</strong>es in Mesopotamia, in: Albert de Pury/<br />

Thomas Römer/Jean-Daniel Macchi (<strong>Hrsg</strong>.), Israel Constructs its History. Deuteronomistic<br />

Historiography in Recent Research, JSOT.S 306, Sheffield 2000, 189---211; Joach<strong>im</strong><br />

Krecher/Hans-Peter Müller, Vergangenheitsinteresse in Mesopotamien und Israel, in:<br />

Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 26 (1975), 13---44, 14ff.<br />

16<br />

Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Gedächtnis und politische Identität<br />

in frühen Hochkulturen, München 1992, 56ff.<br />

17<br />

S. hierzu Grund, Entstehung des Sabbats (s. Anm. 3), 133---145.

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