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Ulrike Link-Wieczorek | Wolfgang Weiß | Christian Wetz (Hrsg.): Anthropologische Dimensionen des Dämonenglaubens (Leseprobe)

Dämonenglaube, Besessenheit und Exorzismen erscheinen uns exotisch und fremd. Und doch begegnen sie in nahezu allen Kulturen und zu allen historisch greifbaren Zeiten. Sie scheinen eng verbunden mit dem Menschsein. Es ist daher lohnend, die anthropologischen Dimensionen des Dämonenglaubens zu beleuchten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen daher stets nach der Bedeutung von Dämonenglaube und Besessenheit für den Menschen. Der Band bildet zusammen mit dem Themen-Heft »Dämonen« (4/2022) der »Ökumenischen Rundschau« den Ertrag einer Tagung ab, die im Oktober 2021 am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg stattfand. Die Beiträge wurden von Vertretern aller theologischen Disziplinen sowie der Religionswissenschaft und der Anglistik verfasst.

Dämonenglaube, Besessenheit und Exorzismen erscheinen uns exotisch und fremd. Und doch begegnen sie in nahezu allen Kulturen und zu allen historisch greifbaren Zeiten. Sie scheinen eng verbunden mit dem Menschsein. Es ist daher lohnend, die anthropologischen Dimensionen des Dämonenglaubens zu beleuchten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen daher stets nach der Bedeutung von Dämonenglaube und Besessenheit für den Menschen. Der Band bildet zusammen mit dem Themen-Heft »Dämonen« (4/2022) der »Ökumenischen Rundschau« den Ertrag einer Tagung ab, die im Oktober 2021 am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg stattfand. Die Beiträge wurden von Vertretern aller theologischen Disziplinen sowie der Religionswissenschaft und der Anglistik verfasst.

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Beihefte<br />

zur Ökumenischen Rundschau 138<br />

<strong>Ulrike</strong> <strong>Link</strong>-<strong>Wieczorek</strong> | <strong>Wolfgang</strong> <strong>Weiß</strong> | <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong> (<strong>Hrsg</strong>.)<br />

<strong>Anthropologische</strong> <strong>Dimensionen</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Dämonenglaubens</strong>


Inhaltsverzeichnis<br />

Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7<br />

Zugleich eine kleine Intervention zur Hermeneutik <strong>des</strong><br />

<strong>Dämonenglaubens</strong> und seiner Relevanz für die Theologie<br />

<strong>Ulrike</strong> <strong>Link</strong>-<strong>Wieczorek</strong>, <strong>Wolfgang</strong> <strong>Weiß</strong>, <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong><br />

Heuler und Haarige, Lilith und Asasel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

Dämonen im Alten Testament<br />

Susanne Rudnig-Zelt<br />

Formen dämonischer Besessenheit und Strategien ihrer<br />

Bekämpfung in neutestamentlichen Exorzismusberichten. . . . . . . . . . 42<br />

Bernd Kollmann<br />

Dämonische »Ontologie«?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62<br />

Ethnologische und philosophische Impulse vor dem<br />

Hintergrund <strong>des</strong> neutestamentlichen Zeugnisses<br />

<strong>Christian</strong> Strecker<br />

»You give me Fever … Fever in the Morning,<br />

Fever all through the Night«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86<br />

Zur Dämonisierung von Fieber in magischen Texten<br />

Matthias R. Hoffmann<br />

Zwischen Ritualmagie und Psychotherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113<br />

Kontinuitäten und Wandel <strong>des</strong> <strong>Dämonenglaubens</strong> nach<br />

den beiden Weltkriegen<br />

Tilman Hannemann<br />

5


Von guten Geistern und von bösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148<br />

›Dämonen‹ und ›Holzwege‹ in der Seelsorge<br />

Patrick Fries<br />

Three Witches, a Pale Horse, and Gypsy’s Acre . . . . . . . . . . . . . . . . 173<br />

Die Dämonen in Agatha Christies Universum<br />

Vera M. Waschbüsch<br />

Stellenregister (in Auswahl) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200<br />

Autoren und Autorinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204<br />

6


Einleitung<br />

Zugleich eine kleine Intervention zur Hermeneutik <strong>des</strong> <strong>Dämonenglaubens</strong><br />

und seiner Relevanz für die Theologie<br />

<strong>Ulrike</strong> <strong>Link</strong>-<strong>Wieczorek</strong>, <strong>Wolfgang</strong> <strong>Weiß</strong>, <strong>Christian</strong> <strong>Wetz</strong><br />

Dämonen, Besessenheit und Exorzismen gehören zu denjenigen Themen<br />

von Theologie und Religionswissenschaft, die in doppelter Weise Opfer<br />

westlichen Denkens werden: Zum einen wird der Themenbereich als exotisch<br />

und völlig abständig wahrgenommen. An Dämonen glaubt man »bei<br />

uns« nicht mehr. Spiegel <strong>des</strong>sen ist nicht zuletzt Rudolf Bultmanns berühmtes<br />

Dictum, das Generationen von Theologinnen und Theologen geprägt<br />

hat:<br />

»Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen<br />

moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen<br />

und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt <strong>des</strong> Neuen Testaments glauben.<br />

Und wer meint, es für seine Person tun zu können, muß sich klar machen,<br />

daß er, wenn er das für die Haltung <strong>des</strong> christlichen Glaubens erklärt,<br />

damit die christliche Verkündigung in der Gegenwart unverständlich und unmöglich<br />

macht.« 1<br />

Zum anderen möchte man der Thematik im ersten Affekt gerne ihre Re -<br />

levanz, ja ihre Vermittelbarkeit für die Menschen der (westlichen) Ge -<br />

genwart absprechen. Dämonen sind Phänomene »anderer« Kulturen. Die<br />

eigene, westliche Kultur definiert sich bestenfalls in dezidierter Absetzung<br />

von diesem Exotismus der anderen, macht ihn sich aber unter keinen<br />

Umständen zu eigen.<br />

Bei der Vorbereitung der Tagung, 2 deren Beiträge diesen Sammelband<br />

und ein Themenheft der »Ökumenischen Rundschau« füllen, war es den<br />

1<br />

RUDOLF BULTMANN, Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung<br />

der neutestamentlichen Verkündigung, BEvT 96, München 1941 2 1985, 16.<br />

2<br />

Sie fand am 8. und 9. Oktober 2021 am Institut für Evangelische Theologie und<br />

7


Veranstaltern ein Anliegen, Vertreterinnen und Vertreter möglichst aller<br />

theologischer Disziplinen einzuladen. Dies ist auch gelungen – bis auf<br />

eine bemerkenswerte Ausnahme: Es konnte kein Religionspädagoge und<br />

keine Religionspädagogin eingeladen werden. Dieses erstaunliche Monitum<br />

lag weniger am notorischen Zeitmangel <strong>des</strong> Berufsstan<strong>des</strong> als vielmehr<br />

daran, dass Dämonen, Exorzismen und Besessenheitsphänomene gegenwärtig<br />

schlichtweg kein Thema der Religionspädagogik im deutschsprachigen<br />

Raum zu sein scheinen. Tatsächlich gibt es keine einzige einschlägige<br />

Veröffentlichung. Allein im »Lexikon der Religionspädagogik« aus<br />

dem Jahre 2001 wird vom artikellosen Stichwort »Dämon« auf das Lemma<br />

»Engel« verwiesen, in dem Dieter Heidtmann en passant auf Dämonen<br />

im Neuen Testament eingeht – die hermeneutische oder gar religionspädagogische<br />

Komponente aber kommt auch hier nicht zum Tragen. 3 Daneben<br />

gibt es im »Handbuch Bibeldidaktik« (bezeichnenderweise erst seit<br />

der zweiten Auflage!) den Beitrag »Engel, Teufel und Dämonen«, der aber<br />

eher einen bibelkundlichen Stundenentwurf darstellt denn eine eingehende<br />

hermeneutische Reflexion. 4 Dieser negative Befund, der selbst die<br />

Bibeldidaktik betrifft, ist ganz erstaunlich, zumal die synoptischen Evangelien<br />

und die Apostelgeschichte sehr zahlreich von Dämonen und Dämonenaustreibungen<br />

zu erzählen wissen, die Religionspädagogik somit einen<br />

wesentlichen, um nicht zu sagen integralen Bestandteil einer der Gründungsurkunden<br />

<strong>des</strong> Christentums und <strong>des</strong> Selbstverständnisses seiner Verfasser,<br />

ursprünglichen Rezipienten und Protagonisten außer Acht lässt.<br />

Und es ist wohl auch nicht falsch zu sagen, dass auch in den anderen<br />

theologischen nicht historisch fundierten Disziplinen die gegenwärtige<br />

Beschäftigung mit dem Terminus der Dämonen nicht gerade ausgeprägt<br />

ist. In der katholischen Theologie gibt es zwar noch eine Diskussion um<br />

die noch gegenwärtige Praktik der Dämonen- bzw. Teufelsaustreibung –<br />

das wurde in dem einschlägigen Themenheft der ÖR dokumentiert. 5 Aber<br />

Religionspädagogik der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg unter demselben<br />

Titel statt, der auch diesen Sammelband ziert: »<strong>Anthropologische</strong> <strong>Dimensionen</strong><br />

<strong>des</strong> <strong>Dämonenglaubens</strong>«. Veranstalter waren die drei Herausgeber dieses Ban<strong>des</strong>.<br />

3<br />

Vgl. DIETER HEIDTMANN, Art. Engel, in: LexRP Bd. 1, 2001, 403–406, 404–405.<br />

4<br />

Vgl. PETER BUSCH, Engel, Teufel und Dämonen, in: MIRJAM ZIMMERMANN /RUBEN<br />

ZIMMERMANN (<strong>Hrsg</strong>.), Handbuch Bibeldidaktik, Tübingen 2 2018, 254–260.<br />

5<br />

Vgl. ÖR 71 (2022); Heft 4: Dämonen. Skizzen zu einem herausfordernden Phänomen<br />

in Ökumene und Religionen. Vgl. hier: NICOLE MARIA BAUER, Dämonische Besessenheit<br />

und Exorzismus. Einblicke in die römisch-katholische Praxis, in: a. a. O.,<br />

480–495, sowie KLAUS BAUMANN, Engel und Dämonen heute? Sich bejahen lernen<br />

als bejaht!, in: a. a. O., 496–506.<br />

8


selbst hierzu ist die Publikationslage eher überschaubar. In den reforma -<br />

tionsgeschichtlich verankerten evangelischen Konfessionen gibt es eine<br />

solche Auseinandersetzung kaum, 6 und das, obwohl die wachsende Pfingstbewegung<br />

gegenwärtig gerade mit der Dämonenrhetorik ihr konfessionelles<br />

Profil zu schärfen scheint. 7 Fehlen die Dämonen in der Theologie, weil<br />

sie offenbar keinen Ort mehr haben in unserer Weltwirklichkeit, weil ihre<br />

Existenz scheinbar unwiederbringlich widerlegt wurde? Müssten Religionspädagogik,<br />

Praktische Theologie und Systematik nicht irgendwie auch<br />

von ihrer Austreibung reden? Exorzismen haben freilich spätestens seit<br />

dem Fall der Anneliese Michel 8 nicht nur mehr den Ruf <strong>des</strong> Exotischen,<br />

sondern auch den <strong>des</strong> Gefährlichen und Menschenverachtenden. Aber<br />

kann es so einfach sein? Ist die offensichtliche Nicht-Existenz von Wesen,<br />

die sich eines Menschen bemächtigen, Ausschlusskriterium für die theologische<br />

Reflexion? Greift eine solche Auffassung von Dämonen nicht zu<br />

kurz? Liegt der mit Bultmann »mythischen« Redeweise von Dämonen<br />

nicht ein Existential, eine anthropologische Grundbefindlichkeit, zugrunde,<br />

das es wert wäre, sogar gerade religionspädagogisch aufgearbeitet<br />

zu werden? 9<br />

Die Frage ist also, welche Relevanz die neutestamentliche Rede von<br />

Dämonen für die Menschen der Gegenwart hat. Finden wir im Glauben<br />

<strong>des</strong> antiken Menschen an Dämonen und daran, dass jemand von ihnen<br />

besessen sein könne, ein anthropologisches Selbstverständnis, das auch<br />

heutigen Menschen eigen sein kann? Interessanterweise gehören Dämonen<br />

ja durchaus zum »Personal« von Computerspielen oder TV-Serien wie<br />

»Buffy – im Bann der Dämonen«. 10 Lässt sich der neutestamentlich-antike<br />

Dämonenglaube etwa existential interpretieren – also in der Weise, dass<br />

6<br />

Vgl. MARTIN HAILER, Dämonen, Mächte, Gewalten. Systematische Theologie eines<br />

eigentümlichen Phänomens, in: ÖR 71 (2022), 466–479.<br />

7<br />

Vgl. dazu EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (<strong>Hrsg</strong>.), Pfingstbewegung und Charismatisierung.<br />

Zugänge – Impulse – Perspektiven. Eine Orientierungshilfe der<br />

Kammer der EKD für Weltweite Ökumene, hier: Kapitel 3.7, 96–103; auch publiziert<br />

in ÖR 71 (2022), 561–566.<br />

8<br />

Vgl. hierzu z. B. PETRY NEY-HELLMUTH, Der Fall Anneliese Michel. Kirche, Justiz,<br />

Presse, Würzburg 2014; vgl. ferner die ethnologische Perspektive von FELICITAS<br />

D. GOODMAN, Anneliese Michel und ihre Dämonen. Der Fall Klingenberg in wissenschaftlicher<br />

Sicht, Stein am Rhein 2006.<br />

9<br />

Vgl. immerhin ULRICH H. J. KÖRTNER, Dämonen und Dämonisierung in Gegenwartsdiskursen,<br />

in: ZNT 28 (2011), 56–65.<br />

10<br />

Hier informiert Wikipedia gut: https://de.wikipedia.org/wiki/Buffy_%E2%80%93_<br />

Im_Bann_der_D%C3%A4monen (Zugriff: 25. 03. 2023).<br />

9


unter der mythischen Selbstzuschreibung »ich bin besessen« oder der<br />

Fremdzuschreibung »er ist besessen« ein »vorgängiges Lebensverhältnis<br />

zur Sache« 11 verborgen ist und sich diese Sache auch beim Menschen <strong>des</strong><br />

21. Jahrhunderts findet?<br />

Es gilt zunächst die Beobachtung festzuhalten, dass der Glaube an Dämonen<br />

oder böse Geister, an Besessenheit und daran, dass ein kundiger<br />

Exorzist sie auszutreiben imstande sei, kein Spezifikum <strong>des</strong> Neuen Tes -<br />

taments 12 , <strong>des</strong> frühen Judentums oder <strong>des</strong> antiken Mittelmeerraumes im<br />

Allgemeinen, sondern wohl nahezu ubiquitär anzutreffen ist. Dämonenglaube<br />

gab und gibt es höchstwahrscheinlich zu allen Zeiten, in denen<br />

Homo sapiens existierte, und in allen Kulturen. 13 In der Regel gehört das<br />

Reden über Dämonen und Besessenheit auch nicht in die »Kuriositätenecke«<br />

14 einer Gesellschaft, sondern ist dort alltägliches Reden und alltägliche<br />

Beobachtung; die wirkmächtige Existenz dämonischer Wesen wird<br />

in solchen Gesellschaften als selbstverständlich vorausgesetzt. Solche kultur-<br />

und zeitenübergreifenden kulturellen Phänomene legen stets die Vermutung<br />

nahe, dass sie eng mit dem Menschsein verknüpft sind, dass sie<br />

anthropologische Konstanten sind. Damit wäre auch eine Perspektive für<br />

die ökumenische und interreligiöse Forschung formuliert – dafür soll dieser<br />

Band in Verbindung mit dem genannten Themenheft der »Ökumenischen<br />

Rundschau« Anregungen geben.<br />

Die Frage, wie wir wissen können, dass jemand von einem Dämon<br />

besessen ist, ist recht einfach zu beantworten: Wir können es überhaupt<br />

nicht wissen. Wir können nur anhand der Äußerungen und Handlungen<br />

eines Menschen eine Zuschreibung vornehmen, die mit der Aussage »er<br />

ist besessen« konform geht. Dabei läuft der westliche Diskurs über Dä -<br />

monen stets Gefahr, in die Falle der »drei fatale[n] Reduktionsmechanis-<br />

11<br />

RUDOLF BULTMANN, Das Problem der Hermeneutik, GuV 2, Tübingen 1950, 211–<br />

235, 218–219 u. ö., teilweise variierende Formulierungen.<br />

12<br />

Zum Alten Testament vgl. den Beitrag von SUSANNE RUDNIG-ZELT in diesem Band.<br />

13<br />

Vgl. allein die Beiträge von TILMAN HANNEMANN in diesem Band und u. a. den von<br />

Magnus Echtler im ÖR-Themenheft »Dämonen« (MAGNUS ECHTLER, Sozialistische<br />

Dämonen? Sansibarische Geister zwischen Islam, Magie und Identitätspolitik, in:<br />

ÖR 71 [2022], 535–548). Vgl. auch z. B. J. BRUCE LONG, Art. Demons. An Overview,<br />

in: EncRel(E) Bd. 4, 1987, 282–288; VINCENT CRAPANZANO, Art. Spirit Possession,<br />

in: EncRel(E) Bd. 14, 1987, 12–19.<br />

14<br />

BUSCH, Engel, 257, der dies zu Recht vom antiken Kulturraum konstatiert: »Die<br />

Beschäftigung mit ›Dämonen‹ wird zur Zeit <strong>des</strong> NT also nicht in der Kuriositätenecke<br />

betrieben, sondern ist Teil <strong>des</strong> philosophischen und religiösen Diskurses in<br />

breiten Schichten. Sie gilt als höchst seriös.«<br />

10


men« 15 zu tappen. <strong>Christian</strong> Strecker tut sehr richtig daran, wenn er unter<br />

Bezugnahme auf den Philosophen Bernhard Waldenfels der modernen<br />

Exegese vorhält, sie rationalisiere den antiken Dämonenglauben weg, indem<br />

sie drei westliche heuristische Konzepte (eben die »drei fatale[n] Reduktionsmechanismen«)<br />

auf die Wahrnehmung und Interpretation dämonischer<br />

Besessenheit anwende, ja ihnen aufoktroyiere: »die rigorose<br />

Vereinnahmung <strong>des</strong> Andersartigen auf der Basis unserer modernen Subjektkonstitution<br />

(Egozentrismus) 16 , unserer aufgeklärten Rationalität (Logozentrismus)<br />

und unserer vermeintlichen kulturellen Überlegenheit (Ethnozentrismus)«<br />

17 . Dämonische Besessenheit – so argumentiert Strecker<br />

performancetheoretisch – entsteht aus einem Wechselspiel zwischen demjenigen,<br />

der sich besessen verhält, und seinen Zuschauern, die ihm ihre<br />

Beobachtung »Da verhält sich jemand besessen« spiegeln und dadurch<br />

seine Besessenheitsselbstwahrnehmung verstärken. Dies führt wiederum<br />

nach Art einer positiven Feedbackschleife zu einem sich verstärkenden<br />

Besessenheitseindruck bei den Zuschauern. Das, was der Besessene aufführt,<br />

nennt Strecker das »Besessenheitsidiom« – ein gesellschaftlich als<br />

»besessen« interpretiertes Verhalten.<br />

15<br />

CHRISTIAN STRECKER, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität im Neuen<br />

Testament am Beispiel der Exorzismen Jesu, in: WOLFGANG STEGEMANN /BRUCE<br />

J. MALINA /GERD THEISSEN (<strong>Hrsg</strong>.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53–63,<br />

54.<br />

16<br />

Gemeint ist die Subjektkonstitution und Selbstwahrnehmung <strong>des</strong> modernen westlichen<br />

Menschen, <strong>des</strong>sen Ich sozusagen an seiner Hautoberfläche endet. Das nehmen<br />

wir als so selbstverständlich hin, dass wir gar nicht erst auf die Idee kommen,<br />

dass es auch anders sein könnte, dass nämlich »Ichs« sich überlagern, indem man<br />

sich als integraler Teil einer größeren Gemeinschaft weiß; man nennt dieses entgrenzte<br />

Ich »dyadische« oder »kollektive« Persönlichkeit, vgl. z. B. BRUCE J. MA-<br />

LINA /JEROME H. NEYREY, First-Century Personality. Dyadic, Not Individualistic, in:<br />

JEROME H. NEYREY (<strong>Hrsg</strong>.), The Social World of Luke Acts. Models for Interpretation,<br />

Peabody (Massachusetts) 1991, 67–96, 69–72; vgl. auch BRUCE J. MALINA, Die Welt<br />

<strong>des</strong> Neuen Testaments. Kulturanthropologische Einsichten, Stuttgart u. ö., 83–84.<br />

Als moderner Mensch lässt sich die Erfahrung der Ich-Entgrenzung mitunter in<br />

der Fankurve eines Fußballstadions machen, wenn man mit tausenden anderen in<br />

den Schlachtenbummlergesang einstimmt, oder bei ähnlichen Gelegenheiten.<br />

Émile Durkheim nennt dieses Phänomen im Französischen »effervescence collective«<br />

(englisch »collective effervescence«, deutsch zumeist »kollektive Er -<br />

regung«), vgl. ÉMILE DURKHEIM, Elementary Forms of Religious Life, London 1915,<br />

226 u. ö. Mirjam Lena Baumann sei gedankt für den Hinweis auf Durkheim.<br />

17<br />

STRECKER, Jesus, 55. Vgl. auch BERNHARD WALDENFELS, Der Stachel <strong>des</strong> Fremden,<br />

Frankfurt a. M. 1990, 57–71.<br />

11


Heuler und Haarige, Lilith und Asasel<br />

Dämonen im Alten Testament<br />

Susanne Rudnig-Zelt<br />

1. On magical creatures and how to find them: Wie definiert man<br />

Dämonen im Alten Testament?<br />

Der Titel der Oldenburger Tagung im Herbst 2020 lautete: »<strong>Anthropologische</strong><br />

<strong>Dimensionen</strong> <strong>des</strong> <strong>Dämonenglaubens</strong>«. Dieser Titel setzt voraus,<br />

dass »Dämonenglaube« eine einigermaßen klar definierbare geistig-see -<br />

lische Haltung ist. Diese Voraussetzung beruht ihrerseits auf einem Dämonenverständnis,<br />

wie es sich in heutigen Sprachen und Diskursen als<br />

mehr oder weniger selbstverständlich herausgebildet hat und diese do -<br />

miniert: 1 Dämonen sind übernatürliche, aber untergöttliche Gestalten, die<br />

den Menschen schaden. Man kann sich gegen Dämonen auf vielfältige<br />

Weise schützen, vor allem durch Amulette oder Talismane und durch<br />

Rituale. Zu diesen Ritualen gehören Exorzismen und Beschwörungen. 2<br />

1<br />

Ahn kann zeigen, dass sich dieses Verständnis bis in Sachbücher und in neureligiöse<br />

oder von christlicher Spiritualität geprägte Publikationen verbreitet hat, vgl. GREGOR<br />

AHN, Grenzgängerkonzepte in der Religionsgeschichte. Von Engeln, Dämonen,<br />

Götterboten und anderen Mittlerwesen, in: DERS./MANFRIED DIETRICH (<strong>Hrsg</strong>.),<br />

Engel und Dämonen. Theologische, anthropologische und religionsgeschichtliche<br />

Aspekte <strong>des</strong> Guten und Bösen, FARG 29, Münster 1997, 1–48, 20–22.<br />

2<br />

Vgl. HANS DUHM, Die bösen Geister im Alten Testament, Tübingen/Leipzig 1904,<br />

2f.; OTTO BÖCHER, Art. Dämonen (»böse Geister«) I. Religionsgeschichtlich, in:<br />

TRE Bd. 8, 1981, 270–274, 270–273; MANFRED HUTTER, Dämonen/Geister I. Religionsgeschichtlich<br />

(Alter Orient und Antike), in: RGG 4 Bd. 2, 1999, 533–535,<br />

533; KAREL VAN DER TOORN, The Theology of Demons in Mesopotamia and Israel.<br />

Popular Belief and Scholarly Speculation, in: ARMIN LANGE /HERMANN LICHTENBER-<br />

GER / K. F. DIETHARD RÖMHELT (<strong>Hrsg</strong>.), Die Dämonen. Die Dämonologie der israelitisch-jüdischen<br />

und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt/Demons.<br />

The Demonology of Israelite-Jewish and Early <strong>Christian</strong> Literature in Context of<br />

20


Tatsächlich finden sich im Neuen Testament zahlreiche Erzählungen<br />

von Dämonenaustreibungen Jesu, in denen die Dämonen und der Kampf<br />

gegen sie diesem modernen Verständnis sehr nahestehen (vgl. z. B. Mt<br />

8,16; 10,1 parallel Mk 6,7; Mk 1,23–28; 9,17–28; Lk 6,18). 3 Im Alten<br />

Testament gibt es dagegen keine Texte, in denen sich die Auseinandersetzung<br />

mit dämonischen Mächten so offensichtlich vollzieht. Anders als im<br />

Neuen Testament, aber auch in den Literaturen <strong>des</strong> Alten Orients, insbetheir<br />

Environment, Tübingen 2003, 61–83, 61; NILS HEESSEL, Mesopotamian Demons<br />

– Foreign and Yet Native Power?, in: THOMAS RÖMER /BERTRAND DUFOUR /FA-<br />

BIAN PFITZMANN /CHRISTOPH UEHLINGER (<strong>Hrsg</strong>.), Entre dieux et hommes: anges, démons<br />

et autres figures intermédiares. Actes Du colloque organisé par le Collège<br />

du France, Paris, les 19 et 20 mai 2014, OBO 286, Fribourg/Göttingen 2017,<br />

15–29, 15; GERRIT C. VREUGDENHIL, Psalm 91 and Demonic Menace, OTS 77, Leiden/Boston<br />

2020, 16–19, sowie zur Forschungsgeschichte HENRIKE FREY-ANTHES,<br />

Unheilsmächte und Schutzgenien, Antiwesen und Grenzgänger. Vorstellungen von<br />

»Dämonen« im alten Israel, OBO 227, Fribourg/Göttingen 2007, 2–31, v. a. 26f.<br />

ERICH EBELING stellt zwar heraus, dass die meisten mesopotamischen Dämonen<br />

böse seien, möchte sie aber nicht durch ihre Bosheit definieren, sondern durch<br />

ihre Stellung zwischen Göttern und Menschen (vgl. Art. Dämonen, in: RLA Bd. 2,<br />

107–115, 107; ähnlich AHN, Grenzgängerkonzepte, 40–43). Im Sinne Ebelings<br />

kann man sich an dem griechischen δαίµων orientieren und nach übernatürlichen<br />

Zwischenwesen suchen, ohne dass es eine Rolle spielt, ob diese Wesen gut oder<br />

böse sind. Insbesondere in der Altorientalistik hat sich dieser Ansatz bewährt (vgl.<br />

z. B. LIONEL MARTI, Anges ou démons? Les êtres divins vu par les savants assyriens,<br />

in: THOMAS RÖMER /BERTRAND DUFOUR /FABIAN PFITZMANN /CHRISTOPH UEHLINGER<br />

(<strong>Hrsg</strong>.), Entre dieux et hommes: anges, démons et autres figures intermédiares.<br />

Actes Du colloque organisé par le Collège du France, Paris, les 19 et 20 mai 2014,<br />

OBO 286, Fribourg/Göttingen 2017, 41–59, 59; BRIAN S. SCHMIDT, Was There an<br />

Early Israelite Pandemonium?, in: THOMAS RÖMER /BERTRAND DUFOUR /FABIAN PFITZ-<br />

MANN /CHRISTOPH UEHLINGER (<strong>Hrsg</strong>.), Entre dieux et hommes: anges, démons et autres<br />

figures intermédiares. Actes Du colloque organisé par le Collège du France,<br />

Paris, les 19 et 20 mai 2014, OBO 286, Fribourg/Göttingen 2017, 172–203,<br />

173), und die alttestamentliche Rede von רוח (»Geist«) zeigt seine Berechtigung<br />

(s. u., 36–40). Weiter setzt der Tagungstitel im Einklang mit einem Großteil der<br />

gegenwärtigen Forschung voraus, dass es Dämonenglauben in allen Zeiten und<br />

Kulturen gegeben habe, dass er gewissermaßen eine anthropologische Konstante<br />

ist (vgl. BÖCHER, Art. Dämonen I. Religionsgeschichtlich, 273; FREY-ANTHES, Unheilsmächte,<br />

1; zur Forschungsgeschichte s. AHN, Grenzgängerkonzepte, 13–19).<br />

3<br />

Genau an dieser Stelle setzt eine Kritik <strong>des</strong> etablierten Dämonenverständnisses<br />

an. Es ist klar vom Neuen Testament und vom Christentum beeinflusst, und <strong>des</strong>halb<br />

kann man anzweifeln, ob es auf andere Religionen und Kulturen übertragbar<br />

ist (vgl. AHN, Grenzgängerkonzepte, 19–43; FREY-ANTHES, Unheilsmächte, 29f.;<br />

ANNE MARIE KITZ, Demons in the Hebrew Bible and the Ancient Near East, in: JBL<br />

135 [2016], 447–464, 448).<br />

21


sondere in Ugarit und in Mesopotamien, fehlen im Alten Testament typische<br />

Textgattungen für den Umgang mit Dämonen wie Beschwörungen,<br />

also das Austreiben von Dämonen durch Rezitation von Texten, eventuell<br />

verbunden mit rituellen Handlungen. 4 Das heißt nicht, dass Dämonen im<br />

Alten Testament nicht vorkommen. 5 Aber man muss sie erst einmal finden,<br />

und das ist komplizierter, als es scheint.<br />

Denn es gibt im Hebräischen und übrigens auch im Akkadischen oder<br />

Ugaritischen kein Wort, 6 das mit dem deutschen »Dämon« vergleichbar<br />

wäre. Damit entfällt die Möglichkeit, alttestamentliche Dämonen mithilfe<br />

einer einfachen Konkordanzrecherche im hebräischen Text aufzuspüren.<br />

Man ist vielmehr auf Zugänge zu diesem Phänomen angewiesen, die nicht<br />

aus dem hebräischen Text selbst stammen. Das können Allgemeinbegriffe<br />

in anderen antiken Sprachen oder inhaltliche Definitionen aus anderen<br />

Kulturen sein. 7<br />

4<br />

Vgl. z. B. MARTI, Anges, 55–57, zu solchen Maßnahmen in Assyrien. Obwohl Texte<br />

und Anweisungen für solche Aktionen im AT nicht vorkommen, rechnet erstmals<br />

JIRKU damit, dass bestimmte Kultvorschriften ursprünglich der Abwehr von Dämonen<br />

gegolten hätten (vgl. FREY-ANTHES, Unheilsmächte, 14f.), und auch GUNTHER<br />

WANKE findet in etlichen Texten Spuren apotropäischer Riten. Doch seien diese<br />

Texte im Alten Testament so stark überarbeitet worden, dass nur der Vergleich<br />

mit anderen Religionen ihren ursprünglichen Charakter zeigen könne (vgl. Art.<br />

Dämonen [»böse Geister«] II. Altes Testament, in: TRE Bd. 8, 1981, 275–277,<br />

276). Ein solches Vorgehen bleibt methodisch problematisch, weil es nicht berücksichtigt,<br />

dass sich die Vorstellungen von Dämonen in benachbarten Kulturen<br />

unterscheiden können und weil man unbewusst Vorstellungen anderer Kulturen<br />

auf das Alte Testament projizieren kann. Deshalb soll es im Folgenden nur mit<br />

größter Vorsicht angewandt werden.<br />

5<br />

Man hat aus diesem Befund trotzdem den Schluss gezogen, Dämonen spielten in<br />

der alttestamentlichen Religion nur eine marginale Rolle, vor allem aufgrund <strong>des</strong><br />

Monotheismus (vgl. DUHM, Geister, 63–68; OTHMAR KEEL, Feinde und Gottesleugner.<br />

Studien zum Image der Widersacher in den Individualpsalmen, SBM 7, Stuttgart<br />

1969, 68; WANKE, Art. Dämonen II. Altes Testament, 275; s. zur Forschung<br />

FREY-ANTHES, Unheilsmächte, 13f.; dagegen BÖCHER, Art. Dämonen I. Religionsgeschichtlich,<br />

274). Zu beachten ist jedoch, dass auch in der Korrespondenz assyrischer<br />

Gelehrter mit ihrem König nur selten direkt von Dämonen die Rede ist (vgl.<br />

MARTI, Anges, 57), ohne dass man daraus den Schluss ziehen kann, Dämonen<br />

seien in Assyrien von untergeordneter Bedeutung. Vielmehr kommt es auf eine<br />

genaue Analyse <strong>des</strong> betreffenden Textcorpus an.<br />

6<br />

In Mesopotamien gibt es eine gewisse Tendenz, dass das sumerische udug mit der<br />

akkadischen Entsprechung utukku zu einem Allgemeinbegriff für Dämonen wird<br />

(vgl. EBELING, Art. Dämonen, 107; FREY-ANTHES, Unheilsmächte, 77f.; MARTI, Anges,<br />

43).<br />

7<br />

S. o., 20.<br />

22


In einer solchen Situation besteht immer die Gefahr, die alttestamentlichen<br />

Texte unbewusst umzuinterpretieren oder sogar misszuverstehen,<br />

indem man in ihnen Äquivalente für die Vorstellungen anderer Zeiten<br />

und Kulturen sucht. 8 Aus diesem Grund soll im Folgenden ein Zugang gewählt<br />

werden, der zeitlich und kulturell so nahe wie möglich am Alten<br />

Testament liegt. 9 Ein solcher Zugang ist die griechische Übersetzung <strong>des</strong><br />

Alten Testaments, die Septuaginta (im Folgenden LXX).<br />

Die LXX ist als Ausgangspunkt für die Suche nach alttestamentlichen<br />

Dämonen geeignet, weil sich hier – anders als im Hebräischen Masoretischen<br />

Text – der Gebrauch eines Allgemeinbegriffs für dämonische Wesen<br />

abzeichnet. Als solcher dient das nominalisierte Adjektiv δαιµόνιον. 10 Zwar<br />

lebten die Übersetzer der LXX im hellenistischen Alexandria und arbeiteten<br />

für eine jüdische Gemeinschaft, die mit ihrer hellenistischen Umwelt<br />

in einem lebendigen Austausch stand, aber dennoch zeigt sich in ihrer<br />

Arbeit immer wieder ein großes Bemühen, ihre hebräische Vorlage präzise<br />

8<br />

Vgl. JUDIT M. BLAIR, De-Demonising the Old Testament. An Investigation of Azazel,<br />

Lilith, Deber, Qeteb and Reshef in the Hebrew Bible, FAT II 37, Tübingen 2009,<br />

11–13. Überhaupt kann man für alle im Folgenden vorgestellten Wesen bestreiten,<br />

dass sie Dämonen sind (vgl. z. B. BLAIR, De-Demonising, 62–95).<br />

9<br />

Auf eine allgemeine, kulturübergreifende Definition von »Dämon« wird ganz bewusst<br />

verzichtet, weil das den Umfang dieses Beitrags sprengen würde – wenn es<br />

eine solche Definition überhaupt geben kann (vgl. FREY-ANTHES, Unheilsmächte,<br />

30f. und u., 39–41).<br />

10<br />

Vgl. CHRISTOPHE NIHAN, Les habitants <strong>des</strong> ruines dans la Bible hébraïque, in: THOMAS<br />

RÖMER /BERTRAND DUFOUR /FABIAN PFITZMANN /CHRISTOPH UEHLINGER (<strong>Hrsg</strong>.): Entre<br />

dieux et hommes: anges, démons et autres figures intermédiares. Actes Du colloque<br />

organisé par le Collège du France, Paris, les 19 et 20 mai 2014, OBO 286, Fribourg/Göttingen<br />

2017, 88–115, 104f. Die Wahl <strong>des</strong> nominalisierten Adjektivs<br />

als Äquivalent löst die Probleme nicht, die sich aus der Vieldeutigkeit <strong>des</strong> griechischen<br />

δαίµων ergeben, da dieses Adjektiv in seinem nominalisierten Gebrauch<br />

annähernd die gleichen Übersetzungsmöglichkeiten wie das Nomen δαίµων hat:<br />

Gottheit, niedere Gottheit, Schutzgeist, böser Geist, göttliche Fügung (vgl. LID-<br />

DELL/SCOTT, s.v.; MENGE, Großwörterbuch, s. v., anders TAKAMITSU MURAOKA, A<br />

Greek-English Lexicon of the Septuagint, Leuwen/Paris/Walpole 2009, s. v.). BLAIR<br />

beschränkt sich in ihrer Arbeit geradezu programmatisch auf den Hebräischen<br />

Text (vgl. De-Demonising, 13–15), was insbesondere der Bedeutung der LXX als<br />

Textzeugen nicht gerecht wird (s. z. B. NESINA GRÜTTER, Das Buch Nahum. Eine<br />

vergleichende Untersuchung <strong>des</strong> masoretischen Texts und der Septuagintaübersetzung,<br />

WMANT 148, Neu kirchen-Vluyn 2016, 264–267; EBERHARD BONS, Die<br />

Septuaginta in der neueren Exegese: Forschungsgeschichtlicher Hintergrund, theologische<br />

Akzente, gesamtbiblische Perspektiven, in: VuF 60 [2015], 29–42, 34f.,<br />

und u., 25f. 33–35).<br />

23


wiederzugeben. 11 Es kommt sogar zu Annäherungen an eine Interlinear-<br />

Übersetzung (vgl. z. B. Am 2,4LXX; Ps 90,6LXX). 12 Man darf den LXX-<br />

Übersetzern also zutrauen, das Adjektiv δαιµόνιον mit Bedacht einzusetzen<br />

und die Konzeptionen ihrer hebräischen Vorlage ernst zu nehmen. 13 Selbstverständlich<br />

sind die Texte, die man mithilfe der LXX ermittelt, weiter zu<br />

prüfen. Vergleicht man sie mit altorientalischen Zeugnissen über Dämonen,<br />

kann man verhindern, dass man griechisch-hellenistische Vorstellungen<br />

auf das hebräische Alte Testament überträgt. Außerdem muss man<br />

weitere Belege der hebräischen Lexeme, die die LXX jeweils mit δαιµόνιον<br />

übersetzt, untersuchen.<br />

11<br />

In der aktuellen LXX-Forschung gibt es Stimmen, die von engen Kontakten der<br />

Übersetzer aus der jüdischen Gemeinde von Alexandria mit Jerusalem ausgehen.<br />

So nimmt etwa ADRIAN SCHENKER an, die Grundlage der LXX sei eine autorisierte<br />

Textfassung aus Jerusalem oder zumin<strong>des</strong>t eine Textfassung von hohem Ansehen,<br />

vgl. Was heisst es, den hebräischen mit dem griechischen Bibeltext zu vergleichen?,<br />

in: REINHARD GREGOR KRATZ /BERNHARD NEUSCHÄFER (<strong>Hrsg</strong>.), Die Göttinger Septuaginta.<br />

Ein editorisches Jahrhundertprojekt, AAWG 22, Berlin 2013, 155–184, 158f.171.<br />

Die Gemeinde von Alexandria könnte schon durch ihr Interesse am Alten Testament<br />

Jerusalem sehr viel nähergestanden haben als etwa die Judäo-Aramäer aus Elephantine,<br />

in deren Texten sich keine eindeutigen Spuren <strong>des</strong> Alten Testaments<br />

finden (vgl. REINHARD GREGOR KRATZ, Historisches und biblisches Israel. Drei Überblicke<br />

zum Alten Testament, Tübingen 2013, 184–203.259–274).<br />

12<br />

In Am 2,4 übersetzt die LXX ein rückverweisen<strong>des</strong> אחריהם mit ὀπίσω αὐτῶν (jeweils<br />

»hinter ihnen«), das eigentlich ausgelassen werden müsste. Zu Ps 90,6LXX<br />

s. u., 33–35.<br />

13<br />

Dagegen rechnet FREY-ANTHES mit stärkeren späten Einflüssen auf die LXX und<br />

möchte sie <strong>des</strong>halb bei der Suche nach Dämonen nur eingeschränkt benutzen<br />

(vgl. Unheilsmächte, 32). Auch wenn δαιµόνιον zu einem Pool von Vokabeln gehört<br />

haben könnte, aus dem die LXX-Übersetzer recht frei wählen konnten, um unheimliche<br />

und fremdartige Ruinenbewohner zu beschreiben (vgl. ANNA ANGELINI,<br />

L’imaginaire comparé du démoniaque dans les traditions de l’Israël ancien: Le bestaire<br />

d’Esaïe dans la Septante, in: THOMAS RÖMER /BERTRAND DUFOUR /FABIAN PFITZ-<br />

MANN /CHRISTOPH UEHLINGER (<strong>Hrsg</strong>.), Entre dieux et hommes. Anges, démons et<br />

autres figures intermédiares. Actes du colloque organisé par le Collège du France,<br />

Paris, les 19 et 20 mai 2014, OBO 286, Fribourg/Göttingen 2017, 116–134,<br />

121f.), haben diese Übersetzer doch zentrale Aspekte der alttestamentlichen Vorstellung<br />

von Dämonen erfasst (s. u., 25f. 39–41). Gelegentlich könnte sich in der<br />

LXX jedoch eine Tendenz zeigen, übernatürliche Wesen auf Zwecke zu reduzieren,<br />

statt sie zu benennen. So wird Asasel mit ἀποποµπή (»Wegschickung« Lev<br />

16,10LXX), ἀποποµπαῖος (»weggeschickt, ausgestoßen« Lev 16,8.10LXX) und<br />

ἄφεσις (»Ent lassung« Lev 16,26LXX) umschrieben, und die שערים in Lev 17,7<br />

werden zu µάταιοι (»Nichtige«). MURAOKA, Lexicon, 81, bezieht sowohl ἀποποµπή<br />

als auch ἀποποµπαῖος auf das Wegschaffen <strong>des</strong> Bösen.<br />

24


Formen dämonischer Besessenheit und<br />

Strategien ihrer Bekämpfung in<br />

neutestamentlichen Exorzismusberichten<br />

Bernd Kollmann<br />

Böse Geister, die Menschen schädigen oder sogar von ihnen Besitz nehmen<br />

können, sind in der Lebenswelt <strong>des</strong> Neuen Testaments allgegenwärtig.<br />

Die hohe Kunst der antiken Magie bestand darin, solche Geister unter<br />

Kontrolle zu bringen. Dabei ging es einerseits um die Bekämpfung von<br />

krankheitsverursachenden Dämonen, andererseits um die Rekrutierung<br />

von Dämonen zu Liebeszauber und Schadenszauber. Magier fertigten<br />

Fluchtafeln aus Blei an, auf denen sie sich mit schriftlichen Anweisungen<br />

direkt an Totengeister wandten, damit diese für die Auftraggeber beispielsweise<br />

Prozessgegner vor Gericht, Mitbewerber im Wirtschaftsleben, Rivalen<br />

in der Rennbahn oder Konkurrenten im Liebeswerben aus dem Weg<br />

schafften. 1 Jesus und die nach seinem Vorbild wirkenden frühchristlichen<br />

Wundertäter fokussierten sich bei der Zwangsbeeinflussung der Dämonen<br />

auf das Feld <strong>des</strong> therapeutischen Exorzismus, indem sie als besessen geltende<br />

Menschen von bösen Geistern befreiten und ihnen damit Heilung<br />

brachten. Charakteristisch für den Exorzisten Jesus war, dass er über eine<br />

systematisierte Dämonologie verfügte, die von der Vorstellung eines vom<br />

Satan als Oberhaupt der bösen Geister regierten Dämonenreichs geprägt<br />

war, und seine Dämonenaustreibungen in einen eschatologischen Horizont<br />

stellte, indem er im Weichen der Dämonen die endzeitliche Gottesherrschaft<br />

anbrechen sah. Da Jesus in seiner Aussendungsrede den Aposteln<br />

Vollmacht über die unreinen Geister erteilte und sie mit der Durchführung<br />

1<br />

JOHN G. GAGER, Curse Tablets and Binding Spells from the Ancient World, Oxford<br />

1992, 3–264. Die Fluchtafeln (Defixiones) wurden an speziellen Orten wie Gräbern<br />

oder Arenen vergraben, wo man die besonders wirkkräftigen Totengeister<br />

vorzeitig verstorbener Menschen vermutete. Vgl. auch MICHAEL HÖLSCHER /MARKUS<br />

LAU /SUSANNE LUTHER (<strong>Hrsg</strong>.), Antike Fluchtafeln und das Neue Testament. Materialität<br />

– Ritualpraxis – Texte, WUNT 474, Tübingen 2022.<br />

42


von Exorzismen beauftragte 2 , setzte sich seine Wunderpraxis im frühen<br />

Christentum nahtlos fort. Im Folgenden sollen das Phänomen der dämonischen<br />

Besessenheit und die Strategien ihrer Überwindung an ausgewählten<br />

Beispielen der neutestamentlichen Wunderüberlieferung beleuchtet<br />

werden.<br />

1. Dämonische Besessenheit<br />

Geister und Dämonen sind ein fester Bestandteil <strong>des</strong> antiken Wirklichkeitsverständnisses.<br />

Sie lauern überall und können jederzeit in den<br />

menschlichen Körper eindringen. Nicht zuletzt bei Krankheiten oder Verhaltensweisen,<br />

durch die der Mensch nicht mehr Herr seiner selbst zu<br />

sein scheint, sieht man Dämonen am Werk. Dämonische Besessenheit<br />

stellt ein kulturspezifisches Grenzphänomen dar. 3 Sie kann in der mediterranen<br />

Welt der Antike und in nichtwestlichen Kulturkreisen der Gegenwart<br />

auch positiv konnotiert sein, indem Menschen dank eines in ihnen<br />

wohnenden Geistes über besondere Befähigungen wie etwa die Gabe<br />

der Wahrsagerei oder die dichterische Kreativität verfügen. Im Neuen Testament<br />

begegnet aber dämonische Besessenheit fast durchweg in pathologischer<br />

Form. Sie stellt kein erstrebenswertes spirituelles Erlebnis dar,<br />

sondern ist mit Leiden und Zwang verbunden, von dem die betroffenen<br />

Personen durch den Wundertäter befreit werden. Körperliche Krankheiten<br />

mit starker Außenwirkung, psychisch auffällige Verhaltensmuster oder<br />

auch unbezähmbare Begierden berauben den Menschen der Selbstkontrolle<br />

und erwecken den Eindruck, dass ein anderes Subjekt von ihm<br />

Besitz ergriffen hat. Die Vorstellung der Besessenheit stellt ein soziales<br />

Konstrukt dar, das in einem dämonengläubigen Milieu der Erklärung anormaler<br />

menschlicher Handlungsweisen dient und den Betroffenen zu einer<br />

Form verhilft, ihre Nöte zu artikulieren oder ihrer Identität Ausdruck zu<br />

2<br />

Mk 6,7.13; Mt 10,8; Lk 10,18–20. Vgl. ENNO EDZARD POPKES, Der Heilungsauftrag<br />

Jesu, BThS 96, Neukirchen-Vluyn 2014, bes. 26–33.51–67.<br />

3<br />

Vgl. zur Beschreibung und den möglichen Deutungen <strong>des</strong> Phänomens der Besessenheit<br />

DIETER TRUNK, Der messianische Heiler. Eine redaktions- und religions -<br />

wissenschaftliche Studie zu den Exorzismen im Matthäusevangelium, HBS 3, Freiburg<br />

1994, 10–21, sowie CRAIG S. KEENER, Miracles. The Credibility of the New<br />

Testament Accounts Vol. 1, Grand Rapids 2011, 776–779.788–809, der auch den<br />

Dämonenglauben in heutigen nichtwestlichen Kulturkreisen vergleichend einbezieht.<br />

43


verleihen. 4 Typische Symptome von Besessenheit sind ein andersartiger<br />

Gesichtsausdruck, eine veränderte Stimmlage, das Sprechen in fremden<br />

Sprachen und unkontrollierte oder aggressive Handlungen, die meist völlig<br />

unvermittelt auftreten. 5 Es entsteht der Eindruck, dass die davon betroffene<br />

Person vollständig einer dämonischen Macht ausgeliefert ist und jegliche<br />

Kontrolle über den eigenen Körper verloren hat. Die Benennung der hinter<br />

den auffälligen Verhaltensmustern stehenden Macht <strong>des</strong> Unheimlichen<br />

und Bösen stellt einen ersten Versuch zur Bewältigung der Probleme dar.<br />

Die Vorstellung der Besessenheit beinhaltet damit eine Rollenzuweisung<br />

oder ein Rollenangebot der Gesellschaft für Menschen, die ein von der<br />

Normalpersönlichkeit stark abweichen<strong>des</strong> Erscheinungsbild zeigen. Aus<br />

psychologischer Sicht hat der Dämonenglaube eine Entlastungs- und Erklärungsfunktion,<br />

da er die Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit<br />

<strong>des</strong> eigenen Auftretens verständlich macht. Bevorzugt Personen, die unter<br />

großen existenziellen Belastungen stehen, an schwerer innerer Zerrissenheit<br />

leiden oder von gravierenden Krankheiten heimgesucht werden, machen<br />

in einer vom Geisterglauben geprägten Gesellschaft von dämono -<br />

logischen Interpretationsmustern Gebrauch und klagen exorzistische Hilfe<br />

ein.<br />

Aus kulturanthropologischer Perspektive lässt sich Besessenheit als<br />

sozial erlernte Performance begreifen. 6 Personen, die vermeintlich von<br />

Dämonen in Besitz genommen wurden, aktivieren in dramatischer Form<br />

solche Rollenmuster, wie sie in einer vom mythischen Denken geprägten<br />

Gesellschaft als Indiz für Besessenheit gelten. Sie schaffen dadurch eine<br />

dämonische Wirklichkeit, die im Handeln <strong>des</strong> Exorzisten als öffentlicher<br />

Aufführung eine Aufsprengung erfährt, indem die Identität der Besessenen<br />

neu konstituiert und ihre soziale Stellung in der Gesellschaft neu bestimmt<br />

wird. Der kulturanthropologische Ansatz plädiert dabei für eine Entpathologisierung<br />

von Besessenheit, indem sie von Krankheit abgegrenzt wird,<br />

und kritisiert sämtliche Versuche, die neutestamentlichen Exorzismusberichte<br />

mithilfe psychologischer oder medizinischer Erklärungsmodelle zu<br />

erhellen. Dadurch werde das Phänomen der Besessenheit von der ursprünglichen<br />

Erfahrung abgekoppelt und seiner spezifischen Eigenheit be-<br />

4<br />

Vgl. GERD THEISSEN /ANNETTE MERZ, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen<br />

4<br />

2011, 280f.<br />

5<br />

Vgl. TRUNK, Heiler (s. Anm. 3), 10–12.<br />

6<br />

CHRISTIAN STRECKER, Jesus und die Besessenen. Zum Umgang mit Alterität am Beispiel<br />

der Exorzismen Jesu, in: WOLFGANG STEGEMANN /BRUCE J. MALINA /GERD THEIS-<br />

SEN (<strong>Hrsg</strong>.), Jesus in neuen Kontexten, Stuttgart 2002, 53–63, 54–59.<br />

44


aubt, »indem just ihr Proprium, die Interaktion bzw. Verschmelzung mit<br />

Geistern oder Dämonen, einer Rationalisierung anheimfällt, die dem fraglichen<br />

Phänomen den Stempel einer letztlich irrelevanten, überholten Vorstellung<br />

aufprägt«. 7 Auch wenn dämonische Besessenheit als dramatische<br />

Inszenierung nicht automatisch oder zwangsläufig eine Krankheit darstellt,<br />

wird es allerdings den Exorzismen im Neuen Testament nicht gerecht,<br />

dort bei den Besessenen lediglich von der spielerischen Inszenierung auffälliger<br />

Verhaltensmuster zur Erregung erhöhter Aufmerksamkeit auszugehen.<br />

Die Probleme sind vorgegeben und existent, während ihre Etikettierung,<br />

Erklärung und Symptombildung in hohem Maße gesellschaftlich<br />

bedingt sind. 8 Dabei kann es in einem dämonengläubigen Milieu für Personen,<br />

die unter physischer oder psychischer Krankheit leiden, von Vorteil<br />

sein, die Rolle <strong>des</strong> oder der Besessenen einzunehmen. 9 Nachfolgend werden<br />

drei neutestamentliche Texte unter die Lupe genommen, in denen<br />

sich besonders anschaulich zeigt, welche Leiden oder Verhaltensweisen<br />

von den Betroffenen oder ihrem Umfeld mit dem Label der dämonischen<br />

Besessenheit versehen werden konnten.<br />

2. Eine Legion von Dämonen – Erklärung schwerer psychischer<br />

Störungen als Besessenheit (Mk 5,1–20)<br />

Kein neutestamentlicher Wunderbericht malt die Qualen der dämonischen<br />

Besessenheit derart dramatisch aus, wie es die in der Dekapolis angesiedelte<br />

Erzählung von der Heilung eines Geraseners in Mk 5,1–20 tut. Der<br />

von einem unreinen Geist gepeinigte Mann lebt in einer Grabhöhle und<br />

hat damit die Zone <strong>des</strong> To<strong>des</strong> zu seinem dauerhaften Aufenthaltsort erhoben.<br />

Friedhöfe gelten in der antiken Welt als bevorzugter Wohnsitz furchterregender<br />

Totengeister. Da man den Gerasener mit seinem Aggressionspotenzial<br />

wohl als eine Gefahr für andere und sich selbst betrachtete,<br />

wurden ihm wiederholt Ketten und Fesseln angelegt. Mit seinen unbändi-<br />

7<br />

STRECKER, Jesus (s. Anm. 6), 55.<br />

8<br />

Vgl. THEISSEN/MERZ, Jesus (s. Anm. 4), 281.<br />

9<br />

TRUNK, Heiler (s. Anm. 3), 19: »Da der soziale Status eines Besessenen den eines<br />

Kranken in der Regel übertrifft und der Besessene durch sein Verhalten ein hohes<br />

Maß an Aufmerksamkeit erzielt, ist die Besessenheit das attraktivere Interpretationsmodell<br />

für das seelisch belastete Individuum, zumal innerhalb eines magischen<br />

Weltbil<strong>des</strong> der Besessene stärker in die Gesellschaft integriert bleibt als der Geisteskranke.«<br />

45


gen Kräften war er allerdings in der Lage, diese immer wieder zu sprengen.<br />

Darüber hinaus gibt der Mann unablässig Schreie von sich und hat einen<br />

Drang zur Selbstzerstörung, indem er sich mit Steinen eigenhändig Verletzungen<br />

zufügt. Nach seiner Heilung herrscht furchtvolles Erstaunen darüber,<br />

dass er sich klaren Verstan<strong>des</strong> erfreut und normal angezogen ist<br />

(Mk 5,15). Offensichtlich hatte der Gerasener sich im Zustand der Besessenheit<br />

auch die Kleider zerrissen und war mehr oder weniger nackt<br />

herumgelaufen. Dass hier ein pathologisches Persönlichkeitsbild mit selbstzerstörerischen<br />

Zügen gezeichnet wird und nicht einfach eine schauspielerische<br />

Inszenierung vorliegt, dürfte außer Frage stehen. 10<br />

Ob es sich bei dem Gerasener um einen Heiden oder einen Juden<br />

handelt, ist umstritten. 11 Auf jeden Fall weist der Mann alle Symptome<br />

und Verhaltensweisen auf, die nach antikem Denken als untrügliche Zeichen<br />

einer schweren geistigen Störung galten. Der im 1. Jh. n. Chr. wirkende<br />

Arzt Aretaios von Kappadokien hält in seinen Ausführungen über<br />

die Manie fest, dass es neben harmlosen Formen <strong>des</strong> Wahnsinns, die sich<br />

in albernem Verhalten äußern und keine Gefahr für die Umwelt darstellen,<br />

auch gravierendere Krankheitsbilder gibt: »Andere haben im Wahnsinn<br />

Wutanfälle; solche haben schon Kleider zerrissen, ihre Sklaven getötet<br />

und Hand an sich selber gelegt. Diese Form ist für den Nächsten nicht ungefährlich.«<br />

12 Nach dem Talmud ist eine Person nicht mehr im Vollbesitz<br />

ihrer geistigen Kräfte, wenn sie nachts allein ausgeht, an einer Grabstätte<br />

schläft und ihre Kleidung zerreißt. 13 Der Exorzismusbericht zeichnet das<br />

10<br />

STRECKER, Jesus (s. Anm. 6), 58, geht dagegen von einer schauspielartigen Performance<br />

<strong>des</strong> Geraseners in der sozialen Arena aus, wobei er die Frage offenlässt, ob<br />

der Gerasener »nur« spielt oder ob sich »wirklich« ein Geistereignis zuträgt.<br />

11<br />

Nach JOACHIM GNILKA, Das Evangelium nach Markus Bd. I, EKK II/1, Zürich u. a.<br />

1978, 203, will die Erzählung das Wesen <strong>des</strong> in Verzweiflung und Zerrissenheit<br />

führenden heidnischen Lebens veranschaulichen, wobei die Darstellung <strong>des</strong> Geraseners<br />

durch Jes 65,1–7 geprägt sei. MARTIN EBNER, Wessen Medium willst du<br />

sein? (Die Heilung <strong>des</strong> Besessenen von Gerasa) Mk 5,1–20 (EpAp 5,9 f.), in: RUBEN<br />

ZIMMERMANN u. a. (<strong>Hrsg</strong>.), Kompendium der frühchristlichen Wundergeschichten<br />

Bd. 1. Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 266–277, 272f., verweist hingegen darauf,<br />

dass es in Jes 65,1–7 um Juden geht, die ihrem Gott den Rücken gekehrt haben.<br />

Folglich lege diese alttestamentliche Lesefolie nahe, mit dem Gerasener eher<br />

einen assimilierten Juden als einen Heiden zu assoziieren.<br />

12<br />

Aretaios, De causis et signis morborum chronicorum I,6; WALTER MÜRI, Der Arzt<br />

im Altertum, Darmstadt 5 1986, 227.<br />

13<br />

Im Traktat Chagiga (Feier, Festlichkeit) <strong>des</strong> Babylonischen Talmuds heißt es: »Die<br />

Rabbanan lehrten: wer heißt blöd? Der nachts allein ausgeht, der auf einem Begräbnisplatze<br />

übernachtet und der sein Gewand zerreißt« (bChagiga 3b; LAZARUS<br />

46


Dämonische »Ontologie«?<br />

Ethnologische und philosophische Impulse vor dem Hintergrund<br />

<strong>des</strong> neutestamentlichen Zeugnisses<br />

<strong>Christian</strong> Strecker<br />

Am 20. Dezember 1963 war es angeblich so weit. Der Leibhaftige lud in<br />

Warschau zur metaphysischen Pressekonferenz ein. Ein Stenogramm dieser<br />

selbstverständlich fiktiven Konferenz <strong>des</strong> obersten Dämons legte der<br />

polnische Philosoph Leszek Kołakowski in seinem hierzulande im Jahr<br />

1968 erschienenen Buch »Gespräche mit dem Teufel« vor. 1<br />

»Sie haben aufgehört, an mich zu glauben, meine Herren, gewiß, ich<br />

weiß davon.« 2 Mit diesem Satz eröffnet der Teufel seine Ausführungen in<br />

der besagten Mitschrift. Die Ignoranz gegenüber seiner Existenz lasse ihn,<br />

so bekundet der Dämon, durchaus kalt. Sie tue auch seiner Eitelkeit keinen<br />

Abbruch. Doch die Unbedenklichkeit, mit der die Menschen ihren Glauben<br />

an ihn hätten fahren lassen, diese Unbedenklichkeit mache ihn schon<br />

ein wenig stutzig. Der Teufel sei schließlich immer das erste Opfer, sobald<br />

der Unglaube um sich greife, dann kämen die Engel dran, dann die Dreieinigkeit<br />

und am Ende Gott. Selbst auf den Kanzeln geschehe es immer<br />

seltener, dass irgendwo ein Prediger – und sei es auch nur ein armer Dorfpfarrer<br />

– ihn erwähnen würde. Die Pfarrerschaft würde sich seiner ganz<br />

offenbar schämen. Und die gelehrten Theologen? Die würden sich dem<br />

modernen Zeitgeist anbiedernd in Ausflüchte begeben. Aber, so gibt der<br />

Leibhaftige zu bedenken:<br />

»Ist der Satan wirklich nur eine rhetorische Figur, ein modus loquendi,<br />

eine façon de parler? Ist er ein Mittel, die träge Phantasie der Gläubigen<br />

anzuregen, ein Mittel, an <strong>des</strong>sen Stelle man jederzeit ein anderes nehmen<br />

1<br />

LESZEK KOŁAKOWSKI, Stenogramm einer metaphysischen Pressekonferenz, die der<br />

Dämon am 20. 12. 1963 in Warschau abgehalten hat, in: DERS., Gespräche mit<br />

dem Teufel. Acht Diskurse über das Böse, München 4 1986, 60–78.<br />

2<br />

A. a. O., 60.<br />

62


könnte? Oder ist er, meine Herren, vielmehr die volle, unleugbare Realität,<br />

fest in der Tradition verankert, in der Heiligen Schrift offenbart, eine Erscheinung,<br />

die die Kirche seit zweitausend Jahren beschreibt, etwas, was<br />

man berühren kann, was wehtut, was real vorhanden ist?« 3<br />

Doch das Fragen <strong>des</strong> Teufels hilft alles nichts. Er muss einräumen,<br />

dass er in einer Kirche, die im Bann <strong>des</strong> Götzen der Moderne steht und<br />

den peinlichen Vorwurf der Rückständigkeit abzuwehren sucht, nun einmal<br />

geopfert werde. Und so wendet er sich den Ungläubigen zu, bei denen<br />

es wenigstens kein »So-tun-als-ob«, keine Scham und keine Peinlichkeiten<br />

gebe. Mit folgenden Worten spricht er sie direkt an:<br />

»Sie haben den Teufel Ihren wissenschaftlichen Abhandlungen vorbehalten,<br />

haben ihn so gut wie möglich beschrieben, in Ihrer Geschichte,<br />

Ihrer Soziologie, in der Psychologie, der Religionskunde, sowohl in der<br />

Psychoanalyse wie im Roman und dem Hexendrama. Für Sie ist die Angelegenheit<br />

erledigt, stimmt’s? Erledigt und basta, nicht wahr? Nun? Ist sie<br />

wirklich erledigt?« 4<br />

Für Leszek Kołakowski ist die Frage ganz offenkundig nicht erledigt.<br />

Wie im weiteren Verlauf der metaphysischen Pressekonferenz deutlich<br />

wird, verkörpert der Teufel für ihn das abgrundtief Böse, das überall dort<br />

erscheint, wo Zerstörung kein anderes Ziel als sich selbst kennt, wo mithin<br />

Grausamkeit um der Grausamkeit willen vollzogen wird. 5 An der Leugnung<br />

der Figur <strong>des</strong> Teufels macht der Philosoph dementsprechend die in der<br />

Moderne allenthalben verbreitete, allzu naive Leugnung <strong>des</strong> unerklär -<br />

lichen, strukturell gegebenen zerstörerischen Bösen fest, die dem Bösen<br />

nur umso mehr Tür und Tor öffnet. Ganz unabhängig von der schwergewichtigen<br />

Frage nach dem Bösen werfen die Reflexionen <strong>des</strong> Teufels aber<br />

auch die etwas bizarr anmutende Frage auf, ob es so etwas wie Dämonen<br />

und den Teufel, den obersten Dämon, als nichtmenschliche Akteure in irgendeiner<br />

Weise überhaupt geben kann. Man mag diese Frage befremdet<br />

beiseiteschieben. Doch wie der Teufel auf Kołakowskis metaphysischer<br />

Pressekonferenz mit Recht anmerkt, ist es nicht zuletzt die Heilige Schrift<br />

bzw. die biblische Tradition, die eine Auseinandersetzung mit dieser Frage<br />

einfordert. So kann der eindrückliche Auftritt der bösen Dämonen in den<br />

neutestamentlichen Exorzismusberichten schwerlich einfach ignoriert werden,<br />

ist er doch keine zu vernachlässigende Marginalie im Porträt der Per-<br />

3<br />

A. a. O., 62.<br />

4<br />

A. a. O., 65.<br />

5<br />

Vgl. a. a. O., 68.<br />

63


son Jesu. Und auch sonst spielen dämonische Wesen eine nicht zu ignorierende<br />

Rolle in den biblischen und v. a. auch in den neutestamentlichen<br />

Schriften. Was ist davon zu halten? Zur Beantwortung dieser Frage soll<br />

zunächst in aller Kürze der Dämonendiskurs im Altertum und im Neuen<br />

Testament samt gängiger Deutungen gesichtet werden. Im Anschluss daran<br />

werden wichtige Positionen <strong>des</strong> sogenannten ontological turn in der philosophischen<br />

und ethnologischen Forschung vorgestellt, die der Beantwortung<br />

der besagten Frage grundsätzlich neue Impulse verleihen können.<br />

1. Dämonen im Altertum und im Neuen Testament.<br />

Befund und Deutungen<br />

In den Quellen <strong>des</strong> Altertums sind böse Geistwesen breit belegt. Dies gilt<br />

gleichermaßen für Zeugnisse aus der altägyptischen und altorientalischen,<br />

der alttestamentlich-jüdischen wie auch aus der antiken griechisch-römischen<br />

Welt. Die Fülle und Vielgestaltigkeit der bekundeten dämonischen<br />

Wesen ist jedoch derart groß, dass es nicht möglich erscheint, eine allseits<br />

befriedigende substanzielle Definition zu formulieren: 6 Als schillernde<br />

Zwischenwesen bewegen sich die Dämonen in vielfältigen Abstufungen<br />

auf der Schwelle zwischen Göttern und Menschen. Auch ihre Abgrenzung<br />

gegenüber wiederkehrenden Toten und Heroen, mythologischen Kreaturen,<br />

theriomorphen und animalischen Wesen, menschlichen Seelen und<br />

der Macht <strong>des</strong> Schicksals ist vielfach durchlässig. Zudem sind die mit all<br />

diesen dämonischen Wesen, Figuren, Mächten und Kräften verbundenen<br />

Vorstellungen alles andere als konsistent. Dies betrifft bisweilen auch die<br />

Unterscheidung zwischen Gut und Böse. In dieser kaum eingrenzbaren<br />

Mannigfaltigkeit waren dämonische Wesen aber offenbar ein fester Bestandteil<br />

der Lebenswelt der Menschen im Altertum. 7<br />

Die frühjüdische Literatur, die grundsätzlich als religionsgeschicht -<br />

licher Hintergrund der neutestamentlichen Schriften von erheblichem Ge-<br />

6<br />

Vgl. dazu ANDERS KLOSTERGAARD PETERSEN, The Notion of Demon. Open Questions<br />

to a Diffuse Concept, in: ARMIN LANGE u. a. (<strong>Hrsg</strong>.), Die Dämonen. Die Dämonologie<br />

der israelitisch-jüdischen und frühchristlichen Literatur im Kontext ihrer Umwelt,<br />

Tübingen 2003, 23–40.<br />

7<br />

Detaillierte Quellenbelege zu den vorstehenden Ausführungen finden sich bei<br />

CHRISTIAN STRECKER, Die Wirklichkeit der Dämonen. Böse Geister im Altertum und<br />

in den Exorzismen Jesu, in: JÖRG FREY /GABRIELE OBERHÄNSLI-WIDMER (<strong>Hrsg</strong>.), Das<br />

Böse, JBTh 26 (2011), Neukirchen-Vluyn 2012, 117–150, 120–135.<br />

64


wicht ist, zeichnet sich durch ein besonders gesteigertes Interesse an Engelwesen<br />

und bösen Dämonen aus. 8 Eine Schlüsselrolle kommt hierbei<br />

der sog. Engelfalltradition zu, deren früheste Belege sich in den Kapiteln<br />

6–11 und 12–16 <strong>des</strong> Wächterbuches (1 Hen 1–36) der Henochtradition<br />

finden. 9 Darin begegnen detaillierte Ausführungen über die Herkunft und<br />

Bedeutung der Dämonenwesen, die hier auch namentlich identifiziert<br />

werden. Azazael, Semyaza, Arakiba, Rameel, Kokabiel, Tamiel und Ramiel,<br />

so lauten die Namen. Der Engelfallmythos wurde in weiteren gewichtigen<br />

frühjüdischen Texten – u. a. im Jubiläenbuch, bei Philon sowie in den<br />

Qumrantexten – und später in frühchristlichen, rabbinischen, gnostischen<br />

und altkirchlichen Schriften rezipiert und weiter ausgeformt. 10 Im Zuge<br />

dieser Entwicklung etablierten sich im jüdischen und christlichen Diskurs<br />

– angereichert durch griechische Dämonenkonzepte – zahlreiche ausgefeilte<br />

Spekulationen über die Herkunft, die Funktion und die hierarchische<br />

Stellung böser Dämonenwesen. Ein beredtes Zeugnis hierfür liefert das<br />

christlich geprägte, ältere jüdische und griechische Dämonenvorstellungen<br />

aufnehmende Testamentum Salomonis, <strong>des</strong>sen Grundbestand auf das<br />

4. Jh. n. Chr. zurückgehen dürfte. 11<br />

Die neutestamentlichen Schriften bekunden in<strong>des</strong>, sieht man von der<br />

Offenbarung <strong>des</strong> Johannes einmal ab, kein sonderlich ausgeprägtes Interesse<br />

an detaillierten eigenständigen mythischen Spekulationen über die<br />

Dämonen. Dies gilt insbesondere für die Jesusüberlieferung in den Evangelien.<br />

Die Berichte über die Exorzismen Jesu schildern schließlich keine<br />

mythischen Ereignisse. Sie geben vielmehr eindrückliche Begegnungen<br />

Jesu mit »wirklichen« (s. dazu unten) Dämonen samt deren Austreibung<br />

aus den Menschen, die sie besetzt halten, als konkrete geschichtliche Begebenheiten<br />

wieder. Mit großer Selbstverständlichkeit werden die Dämo-<br />

8<br />

Vgl. dazu ANNETTE YOSHIKO REED, Demons, Angels, And Writing in Ancient Judaism,<br />

Cambridge 2020.<br />

9<br />

Vgl. dazu CHRISTOPH AUFFARTH /LOREN T. STUCKENBRUCK (<strong>Hrsg</strong>.), The Fall of the Angels,<br />

Themes in Biblical Narrative. Jewish and <strong>Christian</strong> Traditions 6, Leiden 2004;<br />

VERONIKA BACHMANN, Die Welt im Ausnahmezustand. Eine Untersuchung zu Aussagegehalt<br />

und Theologie <strong>des</strong> Wächterbuches (1 Hen 1–36), BZAW 409, Berlin/<br />

New York 2009.<br />

10<br />

Vgl. MONIKA ELISABETH GÖTTE, Von den Wächtern zu Adam. Frühjüdische Mythen<br />

über die Ursprünge <strong>des</strong> Bösen und ihre frühchristliche Rezeption, WUNT II/426,<br />

Tübingen 2016, 78–165; CLAUDIA LOSEKAM, Die Sünde der Engel. Die Engelfalltradition<br />

in frühjüdischen und gnostischen Texten, TANZ 41, Tübingen 2010.<br />

11<br />

Vgl. PETER BUSCH, Das Testament Salomos. Die älteste christliche Dämonologie,<br />

kommentiert und in deutscher Erstübersetzung, TU 153, Berlin/New York 2006.<br />

65


nen in den Exorzismuserzählungen als im öffentlichen Raum agierende<br />

nichtmenschliche Akteure vor Augen geführt, die vermittels <strong>des</strong> Sprachvermögens<br />

und zumal auch <strong>des</strong> körperlichen Verhaltens der jeweils besessenen<br />

Person in eine direkte Kommunikation bzw. Konfrontation mit<br />

Jesus treten. 12 Den Eindruck geschichtlicher Begegnungen unterstreichen<br />

auf ihre Weise auch die summarischen Notizen über Jesu Dämonenaustreibungen<br />

13 und ebenso die Berichte über die exorzistische Bevoll mächti -<br />

gung der Jünger durch Jesus. 14 Als geschichtliche Begebenheit wird schließlich<br />

auch die exorzistische Vollmacht und Praxis <strong>des</strong> Paulus in Apg<br />

16,16–22 präsentiert. 15<br />

Etwas anders gelagert ist der neutestamentliche Diskurs über die Figur<br />

<strong>des</strong> Teufels, <strong>des</strong> Anführers der Dämonen respektive der bösen Engelwesen<br />

(vgl. Mt 25,41; 2 Kor 12,7; Offb 9,11; 12,7.9). Sein Wirken wird im<br />

Neuen Testament theologisch tiefer reflektiert und alles in allem hintergründiger,<br />

verborgener und in einer stärker mythischen Färbung gezeichnet.<br />

Ähnlich wie die Dämonen kann aber auch der Teufel in Menschen<br />

einfahren und sie lenken. Dies ist bekanntlich bei dem Jesusjünger Judas<br />

der Fall (Lk 22,3; Joh 13,2.27; s. auch Apg 5,3; 10,38). Doch anders als in<br />

den Exorzismusberichten unterbleiben bei Judas somatische Besessenheitssymptome,<br />

ebenso die öffentliche Konfrontation Jesu mit dem in Judas<br />

wirkenden Teufel oder gar eine Austreibung. Einen nochmals anderen<br />

Charakter hat die Schilderung der direkten Begegnung Jesu mit Satan in<br />

der Versuchungsgeschichte. Sie vollzieht sich ausdrücklich außerhalb <strong>des</strong><br />

12<br />

Berichtet wird von der Exorzierung eines Besessenen in der Synagoge zu Ka -<br />

pernaum (Mk 1,21–28; Lk 4,31–37), der Dämonenaustreibung eines in Grabstätten<br />

hausenden Geraseners (Mk 5,1–20; Mt 8,28–34; Lk 8,26–39), der Fernexorzierung<br />

der Tochter einer syrophönizischen Frau (Mk 7,24–30; Mt 15,21–28) und<br />

der exorzistischen Behandlung eines unter Anfällen leidenden Knaben (Mk 9,14–<br />

29; Mt 17,14–21; Lk 9,37–42). Matthäus und Lukas erwähnen ferner die Austreibung<br />

bei einem stummen (und blinden) Besessenen (Mt 9,32; 12,22 f.; Lk 11,14).<br />

Hinzu kommt die Debatte über dämonische Besessenheit in der sog. Beelzebulkontroverse<br />

(Mk 3,22–30; Mt 12,24–30; Lk 11,14f.17–23) und der Perikope über<br />

die Rückkehr <strong>des</strong> unreinen Geistes (Mt 12,43–45; Lk 11,24–26).<br />

13<br />

Vgl. Mk 1,34/Mt 8,16/Lk 4,41; Mk 1,39; Mk 3,11f./Lk 6,18; Mt 4,24; Lk 7,21;<br />

13,32.<br />

14<br />

Vgl. Mk 3,15; 6,7.13; 16,17; Mt 10,1.8; Lk 9,1; 10,17.20. Möglicherweise spielt<br />

auch die etwas dunkel formulierte Notiz in Mt 12,27/Lk 11,19 auf die exorzistische<br />

Praxis der Jünger an; vgl. ROBERT SHIROCK, Whose Exorcists are They? The Referents<br />

of οἱ υἱοὶ ὑµῶν at Matthew 12.27/Luke 11.19, in: JSNT 46 (1992), 41–51.<br />

15<br />

Notizen über Exorzismen im Namen Jesu außerhalb der Jesusbewegung finden<br />

sich in Mk 9,38f./Lk 9,49f.; Mt 7,22.<br />

66


gesellschaftlichen Raums in der Wüste. Sowohl in der Kurzversion in Mk<br />

1,12f. als auch in der Langversion in Mt 4,1–11/Lk 4,1–13 weist sie<br />

letztlich mythisches Kolorit auf. Das gilt auch für die kurze, etwas dunkle<br />

Notiz über den Satanssturz in Lk 10,18, worauf damit auch immer angespielt<br />

sein mag. Darüber hinaus erscheint der Teufel in unterschiedlicher<br />

Benennung 16 an zahleichen weiteren Stellen <strong>des</strong> Neuen Testaments, die<br />

hier nicht in ihrer ganzen Breite gesichtet und besprochen werden können.<br />

17 Zusammenfassend lässt sich aber in aller Kürze sagen, dass der Teufel<br />

in narrativen und zumal auch in diskursiven Texten <strong>des</strong> Neuen Testaments<br />

als eine der Macht Gottes und seinen Plänen zwar grundsätzlich<br />

untergeordnete (vgl. 2 Kor 12,7; Jud 9; Offb 12,7f.; s. auch Joh 17,12),<br />

gleichwohl aber wesentlich widergöttlich agierende transzendente Machtfigur<br />

erscheint, die als Herrscher der gefallenen Welt Menschen versucht<br />

und zu sündhaftem und bösem Verhalten verführt, sie in ihre Gewalt<br />

bringt, sie beherrscht und auf vielfältige Weise schädigt.<br />

In der exegetischen Forschung werden nun die neutestamentlichen<br />

Aussagen über den Teufel in der Regel auf ihre religionsgeschichtlichen<br />

Hintergründe und ihre theologische Bedeutung hin befragt. Im Vordergrund<br />

steht mit anderen Worten die Analyse von religiösen Weltbildern<br />

und theologischen Vorstellungen. 18 Etwas anders verhält es sich bei den<br />

Exorzismuserzählungen. Hier besteht in der neutestamentlichen Wissenschaft<br />

weitgehend Einigkeit darüber, dass Jesus von Nazareth tatsächlich<br />

besessenen Menschen begegnet ist und sie exorziert hat. Dementsprechend<br />

liegt bei diesen Texten ein gewisser Forschungsschwerpunkt auf<br />

der Frage der ganz konkreten historischen Erklärung <strong>des</strong> Phänomens der<br />

Besessenheit und <strong>des</strong> Umgangs Jesu mit dieser. Dazu werden nicht selten<br />

Theorien aus anderen Forschungsbereichen herangezogen.<br />

16<br />

Neben den gängigen Bezeichnungen διάβολος (Mt 4,1; Lk 8,12; Joh 8,44; Apg<br />

13,10; Eph 6,11; Hebr 2,14; 1 Joh 3,8.10 u. ö.) und σατανᾶς (Mk 1,13; Lk 13,16;<br />

1 Kor 7,5; 1 Thess 2,18; 1 Tit 1,20 u. ö.) begegnet der Teufel auch als »Fürst<br />

der/dieser Welt« (ὁ ἄρχων τοῦ κοσµοῦ [τούτου]: Joh 12,31; 14,30; 16,11), als<br />

»der Böse« (ὁ πονηρός: Mt 13,19), als »Verderber« (ὀλοθρευτής: 1 Kor 10,10), als<br />

»Engel <strong>des</strong> Abgrunds« namens Ἀβαδδών bzw. Ἀπολλύων (Offb 9,11), als Herrscher<br />

der Macht der Luft, <strong>des</strong> Geistes (Eph 2,2) und als Βελιάρ (2 Kor 6,15). In Offb<br />

12,9; 20,2 wird der Teufel als Drache und Schlange (vgl. Gen 3,1–15) identifiziert.<br />

17<br />

Vgl. dazu den konzisen Überblick von OTTO BÖCHER, Art. Teufel. III. Neues Testament,<br />

in: TRE Bd. 33, 2002, 141–147.<br />

18<br />

Vgl. nur FLORIAN THEOBALD, Teufel, Tod und Trauer. Der Satan im Johannesevangelium<br />

und seine Vorgeschichte, NTOA 109, Göttingen 2015.<br />

67


Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek<br />

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Das Buch wurde auf alterungsbeständigem Papier gedruckt.<br />

Cover: Kai-Michael Gustmann, Leipzig<br />

Coverbild: Martin Schongauer, »Der Heilige Antonius, von Dämonen gepeinigt«,<br />

ca.1470<br />

Satz: Steffi Glauche, Leipzig<br />

Druck und Binden: BELTZ Grafische Betriebe GmbH, Bad Langensalza<br />

ISBN 978-3-374-07448-8 // eISBN (PDF) 978-3-374-07449-5<br />

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