26.03.2024 Aufrufe

Ulrike Link-Wieczorek | Wolfgang Weiß | Christian Wetz (Hrsg.): Anthropologische Dimensionen des Dämonenglaubens (Leseprobe)

Dämonenglaube, Besessenheit und Exorzismen erscheinen uns exotisch und fremd. Und doch begegnen sie in nahezu allen Kulturen und zu allen historisch greifbaren Zeiten. Sie scheinen eng verbunden mit dem Menschsein. Es ist daher lohnend, die anthropologischen Dimensionen des Dämonenglaubens zu beleuchten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen daher stets nach der Bedeutung von Dämonenglaube und Besessenheit für den Menschen. Der Band bildet zusammen mit dem Themen-Heft »Dämonen« (4/2022) der »Ökumenischen Rundschau« den Ertrag einer Tagung ab, die im Oktober 2021 am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg stattfand. Die Beiträge wurden von Vertretern aller theologischen Disziplinen sowie der Religionswissenschaft und der Anglistik verfasst.

Dämonenglaube, Besessenheit und Exorzismen erscheinen uns exotisch und fremd. Und doch begegnen sie in nahezu allen Kulturen und zu allen historisch greifbaren Zeiten. Sie scheinen eng verbunden mit dem Menschsein. Es ist daher lohnend, die anthropologischen Dimensionen des Dämonenglaubens zu beleuchten. Die Beiträge des vorliegenden Bandes fragen daher stets nach der Bedeutung von Dämonenglaube und Besessenheit für den Menschen. Der Band bildet zusammen mit dem Themen-Heft »Dämonen« (4/2022) der »Ökumenischen Rundschau« den Ertrag einer Tagung ab, die im Oktober 2021 am Institut für Evangelische Theologie und Religionspädagogik der Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg stattfand. Die Beiträge wurden von Vertretern aller theologischen Disziplinen sowie der Religionswissenschaft und der Anglistik verfasst.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

gen Kräften war er allerdings in der Lage, diese immer wieder zu sprengen.<br />

Darüber hinaus gibt der Mann unablässig Schreie von sich und hat einen<br />

Drang zur Selbstzerstörung, indem er sich mit Steinen eigenhändig Verletzungen<br />

zufügt. Nach seiner Heilung herrscht furchtvolles Erstaunen darüber,<br />

dass er sich klaren Verstan<strong>des</strong> erfreut und normal angezogen ist<br />

(Mk 5,15). Offensichtlich hatte der Gerasener sich im Zustand der Besessenheit<br />

auch die Kleider zerrissen und war mehr oder weniger nackt<br />

herumgelaufen. Dass hier ein pathologisches Persönlichkeitsbild mit selbstzerstörerischen<br />

Zügen gezeichnet wird und nicht einfach eine schauspielerische<br />

Inszenierung vorliegt, dürfte außer Frage stehen. 10<br />

Ob es sich bei dem Gerasener um einen Heiden oder einen Juden<br />

handelt, ist umstritten. 11 Auf jeden Fall weist der Mann alle Symptome<br />

und Verhaltensweisen auf, die nach antikem Denken als untrügliche Zeichen<br />

einer schweren geistigen Störung galten. Der im 1. Jh. n. Chr. wirkende<br />

Arzt Aretaios von Kappadokien hält in seinen Ausführungen über<br />

die Manie fest, dass es neben harmlosen Formen <strong>des</strong> Wahnsinns, die sich<br />

in albernem Verhalten äußern und keine Gefahr für die Umwelt darstellen,<br />

auch gravierendere Krankheitsbilder gibt: »Andere haben im Wahnsinn<br />

Wutanfälle; solche haben schon Kleider zerrissen, ihre Sklaven getötet<br />

und Hand an sich selber gelegt. Diese Form ist für den Nächsten nicht ungefährlich.«<br />

12 Nach dem Talmud ist eine Person nicht mehr im Vollbesitz<br />

ihrer geistigen Kräfte, wenn sie nachts allein ausgeht, an einer Grabstätte<br />

schläft und ihre Kleidung zerreißt. 13 Der Exorzismusbericht zeichnet das<br />

10<br />

STRECKER, Jesus (s. Anm. 6), 58, geht dagegen von einer schauspielartigen Performance<br />

<strong>des</strong> Geraseners in der sozialen Arena aus, wobei er die Frage offenlässt, ob<br />

der Gerasener »nur« spielt oder ob sich »wirklich« ein Geistereignis zuträgt.<br />

11<br />

Nach JOACHIM GNILKA, Das Evangelium nach Markus Bd. I, EKK II/1, Zürich u. a.<br />

1978, 203, will die Erzählung das Wesen <strong>des</strong> in Verzweiflung und Zerrissenheit<br />

führenden heidnischen Lebens veranschaulichen, wobei die Darstellung <strong>des</strong> Geraseners<br />

durch Jes 65,1–7 geprägt sei. MARTIN EBNER, Wessen Medium willst du<br />

sein? (Die Heilung <strong>des</strong> Besessenen von Gerasa) Mk 5,1–20 (EpAp 5,9 f.), in: RUBEN<br />

ZIMMERMANN u. a. (<strong>Hrsg</strong>.), Kompendium der frühchristlichen Wundergeschichten<br />

Bd. 1. Die Wunder Jesu, Gütersloh 2013, 266–277, 272f., verweist hingegen darauf,<br />

dass es in Jes 65,1–7 um Juden geht, die ihrem Gott den Rücken gekehrt haben.<br />

Folglich lege diese alttestamentliche Lesefolie nahe, mit dem Gerasener eher<br />

einen assimilierten Juden als einen Heiden zu assoziieren.<br />

12<br />

Aretaios, De causis et signis morborum chronicorum I,6; WALTER MÜRI, Der Arzt<br />

im Altertum, Darmstadt 5 1986, 227.<br />

13<br />

Im Traktat Chagiga (Feier, Festlichkeit) <strong>des</strong> Babylonischen Talmuds heißt es: »Die<br />

Rabbanan lehrten: wer heißt blöd? Der nachts allein ausgeht, der auf einem Begräbnisplatze<br />

übernachtet und der sein Gewand zerreißt« (bChagiga 3b; LAZARUS<br />

46

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!