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Plötzlich sahen wir eine riesige Wand

Vor 25 Jahren hielten unglaubliche Schneemassen die Schweiz in Atem. Der Lawinenwinter 1999 richtete in Obwalden längst nicht so viel Schaden an wie andernorts. Unvergessen bleibt er trotzdem.

Vor 25 Jahren hielten unglaubliche Schneemassen die Schweiz in Atem. Der Lawinenwinter 1999 richtete in Obwalden längst nicht
so viel Schaden an wie andernorts. Unvergessen bleibt er trotzdem.

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IM ARCHIV<br />

«<strong>Plötzlich</strong> <strong>sahen</strong> <strong>wir</strong> <strong>eine</strong> <strong>riesige</strong> <strong>Wand</strong>»<br />

Vor 25 Jahren hielten unglaubliche Schneemassen die Schweiz in<br />

Atem. Der Lawinenwinter 1999 richtete in Obwalden längst nicht<br />

so viel Schaden an wie andernorts. Unvergessen bleibt er trotzdem.<br />

Zwischen Ende Januar und Ende Februar<br />

1999 fielen in der Schweiz<br />

verbreitet mehr als 500 Zentimeter<br />

Neuschnee, vereinzelt betrug der Neuschneezuwachs<br />

in diesen vier Wochen gar<br />

15 Meter. In anderen Jahren kommt diese<br />

Menge nicht mal während <strong>eine</strong>s ganzen<br />

Winters zusammen. Die Messstation auf<br />

dem Titlis, die üblicherweise zuverlässig<br />

Auskunft gibt über die Schneemenge, lieferte<br />

ab 21. Februar k<strong>eine</strong> Daten mehr.<br />

Der Grund: Sie war eingeschneit. Begleitet<br />

wurden die Schneefälle von Wind, was zu<br />

Titelbild des deutschen «Spiegel» von 1999.<br />

gefürchteten Verwehungen und instabilen<br />

Schneeansammlungen führte. Was im<br />

Flachland höchstens für chaotische Strassenverhältnisse<br />

sorgte, brachte in den<br />

Alpenregionen Tod und Zerstörung. Insgesamt<br />

17 Todesopfer waren im Lawinenwinter<br />

1999 zu beklagen, 12 davon in Evolène.<br />

Das kl<strong>eine</strong> Dorf im Wallis beherrschte tagelang<br />

die Schlagzeilen im In- und Ausland. Die<br />

Sachschäden in der Schweiz betrugen mehr<br />

als 600 Millionen Franken. Meteorologen<br />

sprachen von <strong>eine</strong>m 80- bis 100-jährlichen<br />

Ereignis. Erinnerungen wurden wach an den<br />

Lawinenwinter 1951, als im Alpenraum 265<br />

Menschen starben. Auch damals sorgte<br />

<strong>eine</strong> Nordwest-Staulage mit starken Winden<br />

für kräftige und anhaltende Niederschläge<br />

und <strong>riesige</strong> Schneemengen in den Alpen.<br />

3,3 Millionen Franken Schäden in OW<br />

Mit Blick auf die schwer geprüften Alpentäler<br />

muss man festhalten, dass Obwalden<br />

mit <strong>eine</strong>m blauen Auge davongekommen ist.<br />

Menschen kamen nicht zu Schaden. Trotzdem<br />

haben die Schneemassen von 1999 den<br />

Kanton in Atem gehalten. In allen Gemeinden<br />

kam es zu Lawinenniedergängen und daraus<br />

resultierend zu Wald- und Flurschäden.<br />

Gesamthaft zählte man in Obwalden knapp<br />

60 Schadenlawinen. Hinzu kamen Dutzende<br />

kl<strong>eine</strong>re Lawinen und Schneerutsche. Die<br />

Schadensumme in Obwalden betrug rund<br />

3,3 Millionen Franken. Etwa die Hälfte davon<br />

Berichterstattung im Februar 1999 in den «Freiburger Nachrichten».<br />

120 Zentimeter Schnee in der Walchi in Lungern<br />

am 10. Februar 1999. (Staatsarchiv/Josef Imfeld)<br />

Eingeschneite Alphütten in Lungern auf 1433 m ü. M.<br />

am 26. Februar 1999. (Staatsarchiv/Josef Imfeld)<br />

Ein Land<strong>wir</strong>t evakuiert sein Vieh von Obturren ins<br />

Dorf am 24. Februar 1999. (Staatsarchiv/Josef Imfeld)<br />

Eine durch den Luftdruck der Staublawine zerstörte<br />

Scheune in Lungern. (Staatsarchiv/Pius Gasser)


Wilerhorn<br />

(«Gumme»)<br />

Brünig<br />

Lungern<br />

Konvoi mit Waren für Lungern: Berichterstattung in der «Neuen Obwaldner Zeitung» vom 27. Februar 1999.<br />

Die kräftigste Lawine ging am 23. Februar 1999 um 14.10 Uhr von der «Gumme» hinunter. (Bild: Google Earth)<br />

Auf dem oberen Bild rechts ist die Situation vor der Lawine zu sehen mit Bewaldungen (rot eingekreist).<br />

Das untere Bild zeigt den kahl «rasierten» Berghang nach dem Lawinenniedergang. (Staatsarchiv/J. Imfeld)<br />

fiel auf zerstörte oder beschädigte Gebäude.<br />

Von Wald- und Flurschäden betroffen waren<br />

insgesamt 204 Hektaren Land – das entspricht<br />

etwa der Fläche des Lungerersees.<br />

Am härtesten getroffen wurden die Gemeinden<br />

Lungern (54 Prozent der Schäden im<br />

Kanton) und Engelberg (24 Prozent).<br />

Die Wucht der «Gumme»-Staublawine<br />

Sorgen bereiteten den Behörden vor allem<br />

die Berghänge am Ostufer des Lungerersees<br />

(Husengraben, Schiessgraben, Marchgraben),<br />

weil hier die wichtigen Verkehrsadern<br />

Brünigstrasse und Brünigbahn betroffen waren.<br />

Wegen Lawinenniedergängen war die<br />

Brünigstrasse in der Nacht vom 9. auf den<br />

10. Februar gesperrt. Ab dieser Zeit bis Ende<br />

Februar stellte die Brünigbahn ihren Betrieb<br />

ab Giswil ein. Einschneidender war die Sperrung<br />

der Brünigstrasse zwischen Giswil und<br />

Lungern vom 23. bis 27. Februar. Lungern<br />

war während dieser Zeit vom Sarneraatal abgeschnitten.<br />

Den Entscheid zur vollständigen<br />

Sperrung herbeigeführt hatte der stärkste<br />

Lawinenniedergang in Obwalden: Am 23. Februar<br />

um 14.10 Uhr fegte <strong>eine</strong> <strong>riesige</strong> Staublawine<br />

von der «Gumme» (Wilerhorn) Richtung<br />

Tal. Experten hatten in den Tagen davor<br />

damit gerechnet, dass sich hier <strong>eine</strong> Lawine<br />

lösen könnte. Das Ausmass aber überraschte<br />

alle. Der Lungerer Revierförster Sepp Stalder,<br />

der bereits damals als Förster arbeitete<br />

und Mitglied des Krisenstabs war, sass im<br />

Büro des Forstgebäudes in Obsee, als die<br />

Staublawine niederging. «<strong>Plötzlich</strong> <strong>sahen</strong> <strong>wir</strong><br />

<strong>eine</strong> <strong>riesige</strong> <strong>Wand</strong> auf uns zukommen», erinnert<br />

er sich. Wenige Sekunden später konnte<br />

man die benachbarten Gebäude nicht mehr<br />

sehen. «Egal, aus welchem Fenster man<br />

blickte – alles war weiss.» Schäden trug das<br />

Forsthaus nicht davon; immerhin liegt es<br />

rund 1500 Meter entfernt vom damaligen<br />

Lawinenkegel. In den weniger besiedelten<br />

Gebieten im Bereich der Schwand-, Wichelund<br />

Walchistrasse dagegen wurden einige<br />

Häuser und Ställe teils stark beschädigt.<br />

Eine Scheune wurde regelrecht weggefegt.<br />

Im Talkessel der «Gumme» zeigte sich besonders<br />

deutlich, worin die zerstörerische<br />

Kraft von Staublawinen liegt: Es ist nicht die<br />

schwere Schneemasse, sondern der ungeheure<br />

Luftdruck, der durch aufge<strong>wir</strong>belten<br />

Schnee entsteht. Das Luft-Schnee-Gemisch<br />

von Staublawinen erreicht Geschwindigkeiten<br />

von bis zu 300 Stundenkilometern. Zum<br />

Vergleich: Ab Windstärken von 120 Stunden-


«Scheune vom Druck<br />

weggefegt worden»<br />

Aus dem Info-Bulletin des Gemeindeführungsstabs<br />

Lungern vom 24.2.1999<br />

«Die Notstandsorganisation der Gemeinde<br />

Lungern orientiert die Bevölkerung über<br />

die angespannte Lage des Dorfes infolge<br />

akuter Lawinengefahr wie folgt: Gestern<br />

nachmittags um ca. 14.30 Uhr löste sich an<br />

der Gumme <strong>eine</strong> grosse Staublawine. Davon<br />

betroffen wurde das Gebiet Schwand, Boden,<br />

Grundegg. Glücklicherweise kamen dabei<br />

k<strong>eine</strong> Menschen zu Schaden. Hingegen sind<br />

verschiedene Gebäude in unterschiedlichem<br />

Masse getroffen worden. Eine Scheune ist<br />

von der Staublawine bodeneben vom Druck<br />

weggefegt worden und andere Scheunen<br />

sind bis zur Baufälligkeit beschädigt. (...)<br />

Die Brünigstrasse musste im Bereich ab<br />

Giswil bis Tschorren für jeglichen Verkehr<br />

– Fussgängerverkehr und Fahrzeugverkehr –<br />

gesperrt werden. Im Marchgraben befinden<br />

sich noch grosse Schneemengen, die in sehr<br />

erheblichem Masse <strong>eine</strong> Gefahr für die Bahnlinie<br />

und die Brünigstrasse darstellen. (...)<br />

Was die ärztliche Versorgung betrifft, ist<br />

der Dorfarzt dahin orientiert, dass Notfälle<br />

in das Spital nach Meiringen eingewiesen<br />

werden. Notwendige Medikamente können<br />

bei Dr. Melk Durrer bezogen werden. Die Versorgung<br />

der Bevölkerung mit Lebensmitteln<br />

ist für die kommenden zwei Tage sichergestellt.<br />

Panik-Einkäufe sollen unterbleiben.<br />

Die Bevölkerung von Bürglen <strong>wir</strong>d auf dem<br />

Seeweg versorgt. Gegenwärtig <strong>wir</strong>d mit den<br />

zuständigen kantonalen Stellen geprüft, ob<br />

am Donnerstag oder allenfalls Freitag ein<br />

Lastwagenkonvoi mit Lebensmitteln usw.<br />

geführt werden darf. Die Milchtanks in den<br />

Sennhütten sind gegenwärtig voll und Milch-<br />

Annahmen sind nicht mehr möglich, bis die<br />

Tanks geleert und abgeführt werden können.<br />

Es <strong>wir</strong>d daher abgeklärt, ob die in den Sennhütten<br />

angelieferte Milch mit den entsprechenden<br />

Tankwagen über <strong>eine</strong>n Konvoi zur<br />

Verwertung abtransportiert werden darf.»<br />

kilometern spricht man von <strong>eine</strong>m Orkan.<br />

Experten schätzten damals, dass auch die<br />

«Gumme»-Lawine <strong>eine</strong> Geschwindigkeit<br />

von weit über 200 Stundenkilometern erreicht<br />

hatte. Wären die Bewohner vorgängig<br />

nicht instruiert worden, wie sie sich im Fall<br />

<strong>eine</strong>s Lawinenniedergangs zu verhalten haben,<br />

hätte es in Obsee Tote oder Verletzte<br />

geben können. Sepp Stalder erinnert sich<br />

noch genau, welches Bild sich ihm bot, als<br />

er kurz nach dem Lawinenniedergang das<br />

Schadensgebiet betrachtete. «Es sah aus,<br />

als hätte jemand mit Baumstämmen Mikado<br />

gespielt.» Die Bäume wurden nicht etwa entwurzelt,<br />

wie man es von starken Windböen<br />

kennt, sondern durch die schiere Wucht regelrecht<br />

abrasiert. «Wir sprechen hier von<br />

Stämmen mit bis zu <strong>eine</strong>m Meter Durchmesser<br />

– weggespickt wie Streichhölzer.»<br />

Ebenfalls überrascht war er, dass viele tote<br />

Vögel auf dem Boden lagen, die der mächtigen<br />

Staublawine nicht entkommen waren.<br />

Bürglen <strong>wir</strong>d per Schiff beliefert<br />

Die Wucht der Lawine war den Behörden<br />

derart in die Knochen gefahren, dass am<br />

selben Tag die Brünigstrasse gesperrt wurde.<br />

Denn auch in Kaiserstuhl war ein ähnliches<br />

Szenario nicht auszuschliessen. Die<br />

Lungerer trugen die folgenden Tage in Abgeschiedenheit<br />

mit Fassung. Die Versorgung<br />

mit Grundnahrungsmitteln war gesichert,<br />

für Notfälle konnten Helikopterflüge organisiert<br />

werden. Bürglen wurde via Schiff von<br />

Lungern aus mit Lebensmitteln versorgt.<br />

Dreh- und Angelpunkt dieser «Nachbarschaftshilfe»<br />

via Seeweg bildete übrigens<br />

der in Bürglen wohnhafte Jurist und spätere<br />

Nationalrat Karl Vogler.<br />

Vor allem die Bauern atmeten auf, als<br />

sie am 26. Februar während <strong>eine</strong>s Zeitfensters<br />

für <strong>eine</strong>n Lieferkonvoi endlich ihre Milch<br />

Richtung Sarneraatal abtransportieren konnten.<br />

Rund 15 000 Liter Milch wären sonst unbrauchbar<br />

geworden. Einen Tag später, am<br />

27. Februar, hatte sich die Lawinensituation<br />

Lawinenschäden im Gebiet Husengraben, Höhe Rotenhusen auf 930 m ü. M. (Staatsarchiv/Josef Imfeld)<br />

Wald- und Flurschäden im Louwi-Tal mit rund 3700 Kubikmeter Schadholz. (Staatsarchiv/Josef Imfeld)<br />

bereits wieder entspannt, sodass die Brünigstrasse<br />

für den Verkehr geöffnet werden<br />

konnte. Insgesamt wurden in den Gemeinden<br />

Engelberg, Lungern, Kerns und Sachseln<br />

zwischen dem 17. und 26. Februar 120 Personen<br />

evakuiert. Die meisten kamen bei Verwandten<br />

und Freunden unter. Laut <strong>eine</strong>m<br />

späteren Bericht des Krisenstabs wären es<br />

weit mehr gewesen, hätte man in den Jahrzehnten<br />

davor nicht Wert gelegt auf Schutzwälder<br />

und Lawinenverbauungen. Überregionalen<br />

Medien waren die Geschehnisse in<br />

Obwalden höchstens <strong>eine</strong> Randnotiz wert.<br />

Aus gutem Grund: Am selben Tag, als in<br />

Lungern die «Gumme»-Lawine niederging,<br />

kam es im österreichischen Wintersportort<br />

Galtür zur verhängnisvollen Lawinenkatastrophe<br />

mit 38 Toten. Das tragische Ereignis<br />

führte auch den Obwaldnern vor Augen,<br />

dass die Wald- und Flurschäden im eigenen<br />

Kanton zwar bedauernswert waren, aber in<br />

k<strong>eine</strong>r Relation standen zum Leid, das Menschen<br />

in anderen Alpenregionen widerfuhr.<br />

Interessanter Zufall: Im Fokus der Medien<br />

im In- und Ausland stand Lungern genau<br />

dann, als die Brünigstrasse wieder eröffnet<br />

wurde. Das Medieninteresse galt allerdings<br />

<strong>eine</strong>m ganz anderen Thema. Wer erinnert<br />

sich? Genau: Am 27. Februar 1999 wurden<br />

die Fassleichen im Lungerersee entdeckt. (ve)

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