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Konserviert auf dem Seegrund

Vor 75 Jahren begann die Migros, Fässer mit Speiseöl im Alpnachersee zu versenken. Was auf den ersten Blick wie eine völlig unsinnige Aktion erscheint, diente einem ganz bestimmten Zweck.

Vor 75 Jahren begann die Migros, Fässer mit Speiseöl im Alpnachersee
zu versenken. Was auf den ersten Blick wie eine völlig unsinnige
Aktion erscheint, diente einem ganz bestimmten Zweck.

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AKTUELL<br />

IM ARCHIV<br />

<strong>Konserviert</strong> <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Seegrund</strong><br />

Vor 75 Jahren begann die Migros, Fässer mit Speiseöl im Alpnachersee<br />

zu versenken. Was <strong>auf</strong> den ersten Blick wie eine völlig unsinnige<br />

Aktion erscheint, diente einem ganz bestimmten Zweck.<br />

Wo und wie kann man in Kriegszeiten<br />

grosse Mengen an Lebensmittelvorräten<br />

lagern, damit sie<br />

konstant kühl, luftdicht und vor Bombenangriffen<br />

geschützt sind? Der umtriebige<br />

Nationalrat und Migros-Gründer Gottlieb<br />

«Dutti» Duttweiler kam Ende der 1930er-<br />

Jahre <strong>auf</strong> eine aussergewöhnliche Idee:<br />

Man könnte grosse Fässer und Tanks – gefüllt<br />

mit Grundnahrungsmitteln wie Getreide<br />

und Speiseöl – ganz einfach in einem See<br />

versenken und bei Bedarf wieder rausholen.<br />

1939 erhielt der Migros-Genossenschafts-<br />

Bund von den Bundesbehörden tatsächlich<br />

grünes Licht für entsprechende Versuche.<br />

Im Thunersee wurde ein riesiger Stahltank<br />

versenkt, der mit 230 Tonnen Weizen gefüllt<br />

war. Nach knapp fünf Monaten holte man<br />

das Ungetüm aus 40 Metern Tiefe wieder an<br />

die Oberfläche und testete die Qualität des<br />

Getreides. Ergebnis: einwandfrei.<br />

Erste Versuche: 1939 wurde im Thunersee ein<br />

Getreidetank versenkt. (Bild: MGB)<br />

Auch wenn der Bund Interesse an dieser<br />

Methode gezeigt hatte, vermochte sich<br />

die Idee nie recht durchzusetzen. Aus damaligen<br />

Korrespondenzen und Medienberichten<br />

geht hervor, dass die Behörden die<br />

Unterwasserlagerung als interessantes<br />

Experiment ansahen, eine professionelle<br />

Umsetzung aber nie ernsthaft in Betracht<br />

zogen. In der Zeitung «Die Tat», herausgegeben<br />

von der Migros, wurde die Untätigkeit<br />

später bedauert: «Sämtliche bis heute bei<br />

den eidgenössischen Behörden unternommenen<br />

Vorstösse, um das Interesse für die<br />

Unterwasserlagerung zu wecken, sind erfolglos<br />

geblieben. Die Behörden verhalten<br />

sich passiv und unternehmen nichts, um die<br />

angefangenen Versuche zu fördern oder zu<br />

unterstützen, trotz<strong>dem</strong> die Sicherstellung<br />

der Landesversorgung mit lebenswichtigen<br />

Gütern nicht gelöst ist.»<br />

Versenken und nach einem Jahr prüfen<br />

Vorerst aber liess sich Duttweiler von seiner<br />

Vision nicht abbringen. Für weitere Versuche<br />

hatte er den Alpnachersee ins Visier<br />

genommen. Die Obwaldner Regierung erteilte<br />

<strong>dem</strong> Migros-Genossenschafts-Bund<br />

im Sommer 1949 erstmals die Bewilligung,<br />

80 bis 100 Tonnen Lebensmittel in Fässern<br />

zu versenken, dies während einer Dauer<br />

von fünf Jahren. Die Migros entschied sich,<br />

die Versuche mit rohem Kokosfett durchzuführen.<br />

Dazu wurden jeweils vier Fässer


Von einem Schiff aus wurden die Fässer im Alpnachersee versenkt. (Bilder: MGB. Nutzung des Bildmaterials mit<br />

freundlicher Genehmigung des Migros-Genossenschafts-Bundes/MGB. Alle Rechte vorbehalten.)<br />

zu einem «Paket» gebündelt, mit Betonelementen<br />

beschwert und in Ufernähe in einer<br />

Tiefe von etwa 10 bis 20 Metern versenkt.<br />

Ein Jahr später, am 30. August 1950, wurden<br />

acht Fässer an die Oberfläche geholt,<br />

um deren Zustand und die Qualität des Inhalts<br />

zu prüfen. Hierbei zeigten sich kaum<br />

Schäden, auch der Inhalt war grösstenteils<br />

einwandfrei. Wieder ein Jahr später wurden<br />

erneut einige Fässer gehoben, um Stichproben<br />

durchzuführen. Im Untersuchungsbericht<br />

hielten die Verantwortlichen fest:<br />

«Der Zustand der Fässer, die beim jetzigen<br />

hohen Wasserstand, der ca. 2 m über der<br />

Normalgrenze liegt, in einer Tiefe von 12-<br />

15 m lagern, kann als gut bezeichnet werden,<br />

obschon die vorgefundene Schlamm-,<br />

Sand- und Rostschicht sich gegenüber <strong>dem</strong><br />

Vorjahr erheblich vermehrt hat.» Allerdings<br />

hatte sich gezeigt, dass der Alpnachersee<br />

in warmen Sommermonaten in einer Tiefe<br />

von 15 Metern noch immer relativ warme<br />

18 Grad <strong>auf</strong>wies. «Es erhebt sich deshalb<br />

die Frage, ob der Alpnachersee für eine<br />

Grosslagerung geeignet ist», hiess es im<br />

Bericht. Im Mai 1952 wurden die Bedenken<br />

zerstreut. Die höheren Wassertemperaturen<br />

schienen sich kaum negativ auszuwirken:


Die Migros schildert 1949 in einem Brief an die Obwaldner Regierung ihre Pläne. (Staatsarchiv Obwalden)


«Der Zustand der Fässer zeigt, dass trotz<br />

der dreijährigen Lagerung die Gebinde nicht<br />

erheblich gelitten haben und keines ein<br />

Loch <strong>auf</strong>wies, obschon bedeutende Rostbildung<br />

vorhanden war.» Und weiter: «Obschon<br />

wir im vorhergehenden Bericht zuerst<br />

Bedenken äusserten, ob der Alpnachersee,<br />

weil er sich rasch erwärmt, sich zur Lagerung<br />

eignet, zeigen die vorliegenden Daten,<br />

dass die Befürchtungen grundlos sind.» In<br />

einem Bericht aus <strong>dem</strong> Jahr 1954 wurde<br />

geschätzt, dass im Alpnachersee bei geschickter<br />

Platzierung etwa 200 000 Fässer<br />

à 200 Kilogramm versenkt werden könnten,<br />

also insgesamt 40 000 Tonnen. Die erste<br />

Bewilligung der Obwaldner Regierung von<br />

1949 wurde im Frühjahr 1955 erneuert. Die<br />

maximale Menge wurde <strong>auf</strong> 500 Tonnen,<br />

später gar <strong>auf</strong> 2000 Tonnen her<strong>auf</strong>gesetzt.<br />

Statt in Vierer-Bündeln wie bei den ersten<br />

Versuchen von 1949 wurden die Fässer<br />

nun ähnlich einer Perlenkette an Drahtseilen<br />

festgemacht und von einem Boot aus versenkt<br />

(siehe Skizze nächste Seite). Diese<br />

Drahtseile wurden an Pfählen am Ufer festgebunden.<br />

Im Jahresrhythmus nahm die<br />

Migros Versuchshebungen vor, um den Zustand<br />

der Fässer und den Inhalt zu prüfen.<br />

Die Versuche zur Unterwasserlagerung im<br />

Alpnachersee dauerten insgesamt 15 Jahre.<br />

1965 mussten sämtliche Fässer herausgenommen<br />

werden. Grund waren die Bauarbeiten<br />

am Lopper und die Verbreiterung der<br />

Brünigstrasse. Im Zuge dieser Bauarbeiten<br />

mussten 150 000 Tonnen Geröll und Geschiebe<br />

weggeschafft werden. Nichts lag<br />

buchstäblich näher, als das Material im Alpnachersee<br />

abzulagern. Der Kanton liess die<br />

Bewilligung zur Unterwasserlagerung ausl<strong>auf</strong>en<br />

und be<strong>auf</strong>tragte die Migros, sämtliche<br />

Fässer aus <strong>dem</strong> See zu holen. Unklar ist, ob<br />

die Migros tatsächlich alle Fässer einsammelte.<br />

Den Akten im Staats- und Bundesarchiv<br />

ist zwar zu entnehmen, dass eine vollständige<br />

Räumung der Fässer angeordnet<br />

und laut Migros durchgeführt wurde. Das<br />

Schweizer Fernsehen berichtete 1984 – also<br />

rund 20 Jahre später – in der Sendung «DRS<br />

aktuell», dass die ersten 50 Tonnen Kokosfett<br />

aus <strong>dem</strong> Jahr 1949 gar nie aus <strong>dem</strong> See<br />

geholt worden seien. Ob es sich dabei um<br />

eine Falschinformation handelt oder ob die<br />

Fässer tatsächlich noch immer <strong>auf</strong> <strong>dem</strong> <strong>Seegrund</strong><br />

lagern, konnten wir nicht in Erfahrung<br />

bringen. Vielleicht weiss eine Leserin oder ein<br />

Leser mehr darüber? (ve)<br />

Beschluss der kantonalen Baukommission vom 11. August 1958. (Staatsarchiv Obwalden)


Von einem Boot aus wurden die Fässer wie an einer Perlenkette <strong>auf</strong>gereiht und im Alpnachersee versenkt.<br />

(Staatsarchiv Obwalden)<br />

An den Pfählen am Ufer sind die Drahtseile festgemacht. Von Pfahl 1 beispielsweise (rot markiert) führen<br />

sechs etwa 150 Meter lange Drahtseile (grün markiert) in den <strong>Seegrund</strong>. An je<strong>dem</strong> Drahtseil hängen rund<br />

100 Fässer. An Pfahl 1 waren insgesamt 587 Fässer Kokosöl festgemacht. (Staatsarchiv OW/Bearbeitung ve)


Skizze der Migros von 1955 zur Unterwasserlagerung im Alpnachersee. Rot markiert der Standort der<br />

Drahtseile für die Unterwasserlagerung von Fässern. (Schweizerisches Bundesarchiv)<br />

1965 mussten die Fässer im Zuge von Strassenbauarbeiten aus <strong>dem</strong> See geholt werden. (Bild: MGB)

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