Schiller - IDF
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Rösch: Tragödie vom 18. bis 20. Jh. Theorie und Beispiele – VL 6: <strong>Schiller</strong>s Tragödientheorie 1<br />
SCHILLERS TRAGÖDIENTHEORIE<br />
Die schmelzenden Affekte, die bloß zärtlichen Rührungen,<br />
gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem<br />
die schöne Kunst nichts zu tun hat. Sie ergötzen bloß<br />
den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung, und beziehen<br />
sich bloß auf den außern, nicht auf den innern<br />
Zustand des Menschen. Viele unsrer Romane und<br />
Trauerspiele, besonders der sogenannten Dramen<br />
(Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und<br />
der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse.<br />
Sie bewirken bloß Ausleerungen des Tränensacks<br />
und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße; aber der<br />
Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen<br />
wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt. [...]<br />
Auf der andern Seite sind aber auch alle diejenigen<br />
Grade des Affekts ausgeschlossen, die den Sinn bloß<br />
quälen, ohne zugleich den Geist dafür zu entschädigen.<br />
[...] Die Kunst muß den Geist ergötzen und der<br />
Freiheit gefallen. Der, welcher einem Schmerz zum<br />
Raube wird, ist bloß ein gequältes Tier, kein leidender<br />
Mensch mehr; denn von dem Menschen wird schlechterdings<br />
ein moralischer Widerstand gegen das Leiden<br />
gefodert, durch den allein sich das Prinzip der Freiheit<br />
in ihm, die Intelligenz, kenntlich machen kann.<br />
Friedrich <strong>Schiller</strong>, Über das Pathetische, hier 427f.<br />
I. Vom realistischem Anspruch zum Idealismus der ‚Weimarer Klassik‘<br />
1. Vorwort zu der Druckfassung von Die Räuber (1781)<br />
Drama als Abbild der Wirklichkeit:<br />
Jeder Menschenmaler ist in diese Notwendigkeit gesetzt, wenn er anders eine<br />
Kopie der wirklichen Welt und keine idealische Affektationen, keine Kompendienmenschen<br />
will geliefert haben.<br />
2. Prolog zu Wallenstein<br />
Ihr altes deutsches Recht, des Reimes Spiel,<br />
Bescheiden wieder fodert – tadelts nicht!<br />
Ja danket ihrs, daß sie das düstre Bild<br />
Der Wahrheit in das heitre Reich der Kunst<br />
Hinüberspielt, die Täuschung, die sie schafft,<br />
Aufrichtig selbst zerstört und ihren Schein<br />
Der Wahrheit nicht betrüglich unterschiebt,<br />
Ernst ist das Leben, heiter ist die Kunst.<br />
Oktober 1798, Wiedereröffnung der Schaubühne in Weimar; Arbeit am Wallenstein<br />
1797-1799.<br />
Reim wird im Wallenstein wieder eingeführt, war Form des französischen Klassizismus.<br />
Aussage: Kunst soll eigenständig sein, analog zur Wirklichkeit, aber nicht iden-
Rösch: Tragödie vom 18. bis 20. Jh. Theorie und Beispiele – VL 6: <strong>Schiller</strong>s Tragödientheorie 2<br />
tisch. Reim als Technik der Abgrenzung. Dann kann Kunst ein Kommentar zur Wirklichkeit<br />
werden, Ansatz für die ästhetische Erziehung: Der Mensch kann erzogen<br />
werden, weder Barbar (Sinnlichkeit ist zerstört, nur Verstandeskultur) noch ein Wilder<br />
zu sein (Mensch ohne Zivilisation). Die Wildheit erklärt die Greueltaten der Französischen<br />
Revolution.<br />
Kunst ist dem Prinzip der Nützlichkeit entzogen, vgl. Kant: zweckmäßig ohne Zweck,<br />
d.h. sinnvoll strukturiert (=zweckmäßig), aber ohne Absicht der Verwertung und des<br />
Geldverdienstes.<br />
3. Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie<br />
In der Vorrede zur Braut von Messina oder die feindlichen Brüder (1803) erklärte<br />
<strong>Schiller</strong>, warum er den Chor wieder eingeführt hatte, weil dies ein formal gewagter<br />
Schritt war:<br />
Die Einführung des Chors wäre der letzte, der entscheidende Schritt – und<br />
wenn derselbe auch nur dazu diente, dem Naturalism in der Kunst offen und<br />
ehrlich den Krieg zu erklären, so sollte er uns eine lebendige Mauer sein, die<br />
die Tragödie um sich herumzieht, um sich vor der wirklichen Welt rein abzuschließen,<br />
und sich ihren idealen Boden, ihre poetische Freiheit zu bewahren.<br />
<strong>Schiller</strong> an Goethe, 5. Januar 1798: das Reale zu idealisieren als Aufgabe.<br />
Das Stück korrespondiert mit anderen Bearbeitungen antiker Stoffe für das Weimarer<br />
Theater, z.B. Goethe, Iphigenie auf Tauris (1799/1802, wurde von <strong>Schiller</strong> für die<br />
Bühne bearbeitet), Friedrich Schlegel, Alarcos (1802). Es ist im Blankvers geschrieben<br />
und zeigt keine Einteilung in Akte.<br />
Die Rolle des Chors wird aus der Wirkung begründet: Er soll die von der Handlung<br />
ausgelösten Affekte brechen, dem Zuschauer die Freiheit der Reflexion zurückgeben,<br />
die ihm durch das Bühnengeschehen genommen wird. Intention wird im Drama<br />
aber nicht durchgehalten: Chor ist selten Zeuge und Richter der handelnden Personen<br />
oder äußert Vorausdeutungen, Skepsis, kritische Fragen; öfter tritt er als Gefolge<br />
auf, daher unfrei, affirmativ. – Zwiespalt der Dramentheorie (Pathos/ Erschütterung<br />
durch Leiden vs Reflexion) zeigt sich in der Rolle des Chors.<br />
Dank ihrer Handlung wird diese antikisch gedachte Tragödie ironischerweise ein Modell<br />
für das romantische Schicksalsdrama (Adolph Müllner, Die Schuld, 1816; Franz<br />
Grillparzer, Die Ahnfrau, 1817).<br />
II. Theoretische Positionen<br />
Über die tragische Kunst (entst. 1791)<br />
Erstlich muß der Gegenstand unsers Mitleids zu unsrer Gattung, im ganzen Sinn dieses<br />
Worts, gehören und die Handlung, an der wir Teil nehmen sollen, eine moralische,<br />
d.i. unter dem Gebiet der Freiheit begriffen sein. Zweitens muß uns das Leiden,<br />
seine Quellen und seine Grade, in einer Folge verknüpfter Begebenheiten vollständig<br />
mitgeteilt und zwar drittens sinnlich vergegenwärtigt, nicht mittelbar durch Beschreibung,<br />
sondern unmittelbar durch Handlung dargestellt werden. Alle diese Bedingungen<br />
vereinigt und erfüllt die Kunst in der Tragödie.
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Die Tragödie wäre demnach dichterische Nachahmung einer zusammenhängenden<br />
Reihe von Begebenheiten (einer vollständigen Handlung), welche uns Menschen in<br />
einem Zustand des Leidens zeigt und zur Absicht hat, unser Mitleid zu erregen. (269)<br />
Wirkungsabsicht und Kennzeichen der Tragödie<br />
(1) Poetische Nachahmung einer Handlung<br />
Die Komposition und Interpretation des Stoffes stehen dem Dichter frei, die Richtigkeit<br />
historischer Fakten bindet ihn nicht.<br />
Aber die Tragödie hat einen poetischen Zweck, d.i. sie stellt eine Handlung dar, um<br />
zu rühren und durch Rührung zu ergötzen. Behandelt sie also einen gegebenen Stoff<br />
nach diesem ihrem Zwecke, so wird sie eben dadurch in der Nachahmung frei; sie<br />
erhält Macht, ja Verbindlichkeit, die historische Wahrheit den Gesetzen der Dichtkunst<br />
unter zu ordnen und den gegebenen Stoff nach ihrem Bedürfnisse zu bearbeiten.<br />
(272)<br />
(2) Vollständigkeit und Wahrheit<br />
Diese Vollständigkeit der Schilderung ist nur durch Verknüpfung mehrerer einzelnen<br />
Vorstellungen und Empfindungen möglich, die sich gegen einander als Ursache und<br />
Wirkung verhalten, und in ihrem Zusammenhang ein Ganzes für unsre Erkenntnis<br />
ausmachen. (267)<br />
Mehrere als Ursache und Wirkung ineinander gegründete Begebenheiten müssen<br />
sich miteinander zweckmäßig zu einem Ganzen verbinden, [... ] (270)<br />
(3) Lebhaftigkeit<br />
Unmittelbare lebendige Gegenwart und Versinnlichung sind also nötig, unsern Vorstellungen<br />
vom Leiden diejenige Stärke zu geben, die zu einem hohen Grade von<br />
Rührung erfodert wird. (264)<br />
(4) Darstellung sinnlich-moralischer Wesen<br />
Verlangt wird der gemischte Charakter; die Bühnenfiguren müssen sich als sinnlichmoralische<br />
Wesen ausweisen:<br />
Die Möglichkeit des Mitleids beruht nehmlich auf der Wahrnehmung oder Voraussetzung<br />
einer Ähnlichkeit zwischen uns und dem leidenden Subjekt. [...] Wir müssen,<br />
ohne uns Zwang anzutun, die Person mit ihm zu wechseln, unser eigenes Ich seinem<br />
Zustande augenblicklich unterzuschieben fähig sein. (264f.)<br />
Die Tragödie ist [...] Nachahmung einer Handlung, welche uns Menschen im Zustand<br />
des Leidens zeigt.[...] Nur das Leiden sinnlichmoralischer Wesen, dergleichen<br />
wir selbst sind, kann unser Mitleid erwecken. [...] Der tragische Dichter gibt also mit<br />
Recht den gemischten Charakteren den Vorzug, und das Ideal seines Helden liegt in<br />
gleicher Entfernung zwischen dem ganz verwerflichen und dem vollkommenen. (273)<br />
(5) Dosierter Affekteinsatz<br />
Ein gezielter Affekteinsatz soll die Aufmerksamkeit gespannt halten; die Intensität<br />
des Leidens ist abzuwägen; die Täuschung/Illusion muß durch Sentenzen und Reflexionselemente<br />
durchbrochen werden.<br />
Wenn also das Gemüt, seiner widerstrebenden Selbsttätigkeit ungeachtet, an die<br />
Empfindungen des Leidens geheftet bleiben soll, so müssen diese periodenweise<br />
geschickt unterbrochen, ja von entgegengesetzten Empfindungen abgelöst werden –<br />
um alsdann mit zunehmender Stärke zurück zu kehren und die Lebhaftigkeit des ersten<br />
Eindrucks desto öfter zu erneuern. (268)
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Vom Erhabenen; Über das Pathetische (entst. 1793)<br />
(1) Der Mensch als sinnlich-sittliches Doppelwesen<br />
Der letzte Zweck der Kunst ist die Darstellung des Übersinnlichen und die tragische<br />
Kunst insbesondere bewerkstelligt dieses dadurch, daß sie uns die moralische Independenz<br />
von Naturgesetzen im Zustand des Affekts versinnlicht. ... Soll sich also die<br />
Intelligenz im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft offenbaren, so<br />
muß die Natur ihre ganze Macht erst vor unsern Augen bewiesen haben. Das Sinnenwesen<br />
muß tief und heftig leiden; Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen<br />
seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne. (423)<br />
(2) Das Pathetischerhabene<br />
Die Vorstellung eines fremden Leidens, verbunden mit Affekt und mit dem Bewußtsein<br />
unsrer innern moralischen Freiheit, ist Pathetischerhaben. (419)<br />
(3) Moralische und ästhetische Beurteilung einer Handlung<br />
Selbstaufopferung des Leonidas ... (529, auch 528)<br />
Daß Leonidas die heldenmütige Entschließung wirklich faßte, billigen wir; daß er sie<br />
fassen konnte, darüber frohlocken wir und sind entzückt. (531, auch 530)<br />
Die ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift,<br />
beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde,<br />
sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln möglich sei, d.h.<br />
daß keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken<br />
vermöge. (535)<br />
Die Vernunft bestimmt, daß moralisch richtiges Handeln erforderlich ist, eingeschränkt<br />
auf Pflicht, wir fühlen uns gebunden.<br />
Die Einbildungskraft zielt darauf, daß moralisch richtiges Handeln möglich ist, erheben<br />
uns vom Individuum zu den Möglichkeiten der ganzen Gattung, fühlen uns erweitert.<br />
(532)<br />
Ein erhabenes Objekt, bloß in der ästhetischen Schätzung, ist schon derjenige<br />
Mensch, der uns die Würde der menschlichen Bestimmung durch seinen Zustand<br />
vorstellig macht, gesetzt auch, daß wir diese Bestimmung in seiner Person nicht realisiert<br />
finden sollten. Erhaben in der moralischen Schätzung wird er nur alsdann,<br />
wenn er sich zugleich als Person jener Bestimmung gemäß verhält, wenn unsre Achtung<br />
nicht bloß seinem Vermögen, sondern dem Gebrauch dieses Vermögens gilt,<br />
wenn nicht bloß seiner Anlage sondern seinem wirklichen Betragen Würde zukommt.<br />
(441)<br />
Bei der ästhetischen Schätzung hingegen wird der Gegenstand auf das Bedürfnis der<br />
Einbildungskraft bezogen, welche nicht gebieten, bloß verlangen kann, daß das Zufällige<br />
mit ihrem Interesse übereinstimmen möge. Das Interesse der Einbildungskraft<br />
aber ist: sich frei von Gesetzen im Spiel zu erhalten. (443)<br />
Beurteilt also der moralische Sinn – die Vernunft – eine tugendhafte Handlung, so ist<br />
Billigung das Höchste, was erfolgen kann; weil die Vernunft nie mehr und selten nur<br />
soviel finden kann, als sie fodert. Beurteilt hingegen der ästhetische Sinn, die Einbildungskraft,<br />
die nämliche Handlung, so erfolgt eine positive Lust, weil die Einbildungskraft<br />
niemals Einstimmigkeit mit ihrem Bedürfnisse fodern kann und sich also<br />
von der wirklichen Befriedigung desselben, als von einem glücklichen Zufall, überrascht<br />
finden muß. Daß Leonidas die heldenmütige Entschließung wirklich faßte, billigen<br />
wir; daß er sie fassen konnte, darüber frohlocken wir und sind entzückt. (444)
Rösch: Tragödie vom 18. bis 20. Jh. Theorie und Beispiele – VL 6: <strong>Schiller</strong>s Tragödientheorie 5<br />
Die ästhetische Kraft, womit uns das Erhabene der Gesinnung und Handlung ergreift,<br />
beruht also keineswegs auf dem Interesse der Vernunft, daß recht gehandelt werde,<br />
sondern auf dem Interesse der Einbildungskraft, daß recht handeln möglich sei, d.h.<br />
daß keine Empfindung, wie mächtig sie auch sei, die Freiheit des Gemüts zu unterdrücken<br />
vermöge. (449)<br />
Literatur<br />
Quellen<br />
Friedrich <strong>Schiller</strong>, Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 5: Dramen IV. Hrsg. v. Matthias<br />
Luserke. Frankfurt 1996.<br />
Friedrich <strong>Schiller</strong>, Über die tragische Kunst; Vom Erhabenen; Über das Pathetische;.<br />
In: Friedrich <strong>Schiller</strong>, Werke und Briefe in 12 Bänden. Bd. 8: Theoretische<br />
Schriften. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz u.a. Frankfurt 1992, hier 251-275; 395-422;<br />
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Rösch: Tragödie vom 18. bis 20. Jh. Theorie und Beispiele – VL 6: <strong>Schiller</strong>s Tragödientheorie 6<br />
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