30.12.2012 Aufrufe

Lerche Nr. 24

Lerche Nr. 24

Lerche Nr. 24

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Wir haben der Welt etwas geschenkt<br />

Ein literarischer Streifzug durch Bulgarien<br />

Mit der EU-Osterweiterung wurden westund<br />

osteuropäische Länder zusammen<br />

geführt, deren gemeinsame Wurzeln sich<br />

bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen<br />

lassen. Die Auswirkungen dieses<br />

Zusammenschlusses sind nicht nur auf<br />

politischer und wirtschaftlicher Ebene<br />

spürbar: frischer Wind aus dem Osten beeinflusst<br />

modische und musikalische<br />

Trends westlicher Gesellschaften. Im<br />

Januar 2007 stehen zwei zusätzliche Beitritte<br />

an, sofern Bulgarien und Rumänien<br />

die Kopenhagener Kriterien weiter einhalten.<br />

Grund für uns, einmal genauer<br />

hinzusehen und eine kleine literarische<br />

Reise anzutreten.<br />

Bulgarische Geschichte, Kultur und Tradition löst<br />

wohl bei den meisten westeuropäischen Studenten<br />

ein Gefühl leichter Ahnungslosigkeit aus,<br />

Kenntnisse des Landes beschränken sich im<br />

Allgemeinen auf Oberflächlichkeiten: Sofia als<br />

Hauptstadt, die Donau Grenzfluss zu Rumänien,<br />

der Balkan im Innern Namensgeber für die Halbinsel<br />

sowie die geografische Lage am Schwarzen<br />

Meer. Beginnen wir daher unsere Expedition mit<br />

einem Blick auf vergangene Zeiten.<br />

Geschichtlicher Rückblick<br />

Bis zur Machtübernahme der Osmanen am Ende<br />

des 14. Jahrhunderts pflegte Bulgarien enge<br />

Kontakte innerhalb Europas und war in gesamteuropäische<br />

Entwicklungen involviert. Nachdem<br />

der Staat türkische Provinz geworden war, zerrissen<br />

diese Verbindungen. Die beinahe fünf<br />

Jahrhunderte andauernde Herrschaft der Osmanen<br />

(1396-1878) war, besonders in den<br />

Anfängen, durch erfolglose Aufstände zur<br />

Erlangung der Unabhängigkeit gekennzeichnet.<br />

Mit den Jahren entwickelte sich eine gut organisierte<br />

Befreiungsbewegung, sodass, beeinflusst<br />

durch die bulgarische Aufklärung, ein Nationalgefühl<br />

im Land entstand.<br />

Diese Zeit, die unter dem Stichwort »Nationale<br />

Wiedergeburt« in die Geschichtsbücher einging,<br />

ist durch die Entstehung einer unabhängigen<br />

Kirche und dem Aufkommen bulgarischer<br />

Bildung und Kultur gekennzeichnet. 1855 veröffentlichte<br />

der erste bulgarische Verlag in Plovdiv<br />

nationale Literatur.<br />

Im darauf folgenden Jahr entstanden Lesestuben,<br />

so genannte Tschitalischta, die noch heute als<br />

Bildungseinrichtungen betrieben werden. Militärische<br />

Unterstützung in seinem Freiheitskampf<br />

erhielt Bulgarien 1877 durch die offizielle<br />

Kriegserklärung Russlands an das Osmanische<br />

Reich, ein Jahr später erkannte die Türkei die<br />

Unabhängigkeit des bulgarischen Staates an. Die<br />

folgenden Jahrzehnte waren geprägt von immer<br />

wieder aufflammenden Konflikten und Kleinkriegen<br />

um Gebietszugehörigkeiten mit angrenzenden<br />

Nachbarländern.<br />

Literatur zwischen zwei Jahrhunderten<br />

Wer sich mit dieser Epoche bulgarischer<br />

Geschichte beschäftigt, stößt unweigerlich auf<br />

den Namen Ivan Vazov. Der Schriftsteller, der von<br />

1850 bis 1921 lebte, wird noch heute als<br />

Nationaldichter verehrt und gilt als Begründer<br />

der modernen Landesliteratur. Als Verfasser des<br />

ersten bulgarischen Romans nutzte er einen<br />

Wortschatz von rund 40 000 Wörtern und machte<br />

die Sprache literaturfähig. Seine bekannteste<br />

Erzählung »Unter dem Joch« beschreibt<br />

Situationen des Alltags zur Zeit der Osmanenherrschaft.<br />

Vazov, der selbst in der Bewegung der<br />

nationalen Wiedergeburt engagiert war, schilderte<br />

hier das Leiden der Bevölkerung und sensibilisierte<br />

damit die europäische Öffentlichkeit. In der<br />

Kurzgeschichte »Großvater Joco schaut« erhält<br />

der Leser Einblicke in das Leben eines blinden<br />

Bauern, der seine Tage als Knecht bei Türken ver-<br />

Bulgarische Dorfbewohner am Rande des Balkans<br />

bringt und im greisen Alter erste Vorboten der<br />

bulgarischen Unabhängigkeit erfährt.<br />

Neben Ivan Vazov verarbeiteten weitere<br />

Schriftsteller in ihren Werken die Zeit der türkischen<br />

Herrschaft sowie die anschließenden<br />

Anfänge eines freien Bulgariens. Die Loslösung<br />

vom osmanischen Reich gab der Literatur<br />

schließlich spürbare Impulse: das aufkommende<br />

Freiheitsgefühl war Triebfeder für die Entstehung<br />

neuer Genres.<br />

Die Gedichte Pentscho Slawejkows (1866-1912),<br />

der bisher als einziger Bulgare für den Literaturnobelpreis<br />

nominiert wurde, gelten als Meisterwerke<br />

bulgarischer Lyrik. Slawejkow, der sein<br />

Studium in Leipzig absolviert hatte, trug wie kein<br />

anderer zur Verbreitung deutscher Literatur in seinem<br />

Lande bei. Zu erwähnen wäre an dieser Stelle<br />

auch Jordan Jowkow (1880-1937), der auf einfühlsame<br />

Weise das Leben bulgarischer Bauern<br />

beschrieb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie<br />

zwischen den beiden Weltkriegen entstand<br />

zudem Literatur, die den europäischen Zeitgeist<br />

aufgriff und sich mit revolutionären und antifaschistischen<br />

Themen auseinandersetzte.<br />

Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert<br />

Im kommunistischen Bulgarien besaß Literatur,<br />

wie auch in anderen Ländern der Sowjetunion,<br />

einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert.<br />

Schriftsteller genossen besonderes Ansehen, vermittelte<br />

doch das Lesen ein Gefühl von Freiheit.<br />

In diesem Zusammenhang ist die doppelte<br />

Wirkungsmacht der Bücher von Bedeutung: so<br />

wurden systemkonforme, anerkannte Autoren<br />

von Seiten des Staates mit Auszeichnungen und<br />

einer entsprechend hohen Auflage belohnt, während<br />

regimekritische, der Regierung verdächtig<br />

wirkende Dichter bei der Opposition einen<br />

besonderen moralischen Stellenwert hatten.<br />

Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang<br />

Schelju Schelew erwähnt, der sich in seiner 1982<br />

erschienenen kontroversen Dokumentation »Der<br />

Faschismus« mit dem deutschen, italienischen<br />

und spanischen Faschismus auseinandersetzte<br />

und Parallelen zum sozialistischen Gesellschaftssystem<br />

aufzeigte. Das Buch wurde aufgrund seines<br />

brisanten Inhalts innerhalb weniger Tage verboten,<br />

Schelew selbst nach dem politischen<br />

Umbruch 1990 zum ersten nichtkommunistischen<br />

Staatsoberhaupt Bulgariens gewählt.<br />

Die Bedeutung anspruchsvoller Literatur hat sich<br />

seitdem gewandelt: Wie in allen kapitalistischen<br />

Staaten hat die Zahl der verlegten Trivialwerke<br />

zugenommen, auch in Bulgarien steht das Buch<br />

in ständiger Konkurrenz zu den elektronischen<br />

Massenmedien. Bulgarische Autoren haben nun<br />

zwar das Privileg der uneingeschränkten Themenwahl,<br />

müssen für diese Freiheit jedoch einen<br />

Ansehensverlust in Kauf nehmen.<br />

Geteilter Blick auf die Balkanhalbinsel<br />

Mit unterschiedlichen Vorstellungen gehen Leser,<br />

Verleger und Buchhändler heute auf das Land am<br />

Schwarzen Meer zu: während die einen das Gefühl<br />

haben, einem Exoten zu begegnen, ist einem<br />

anderen Teil literarisch interessierter Bürger die<br />

bulgarische Literatur stets bewusst gewesen. Auf<br />

der diesjährigen Frankfurter Buchmesse verleiht<br />

KulturKontaktAustria in Kooperation mit dem<br />

Klagenfurter Wieser Verlag zum ersten Mal den<br />

»Großen Preis für Osteuropäische Literatur«. Mit<br />

der Auszeichnung soll Schriftstellern aus dem<br />

europäischen Osten im deutschsprachigen Raum<br />

eine öffentliche Plattform geboten werden.<br />

Eine Anthologie »Bulgarische Prosa« mit einem<br />

Überblick über bulgarische Erzählungen des 20.<br />

Jahrhunderts wird auf Seite 12 vorgestellt.<br />

TEXT: STEFFI GRIMM<br />

FOTO: BALZ WEINGAND<br />

Leipziger <strong>Lerche</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>24</strong> 9<br />

BRANCHE

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!