Lerche Nr. 24
Lerche Nr. 24
Lerche Nr. 24
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Wir haben der Welt etwas geschenkt<br />
Ein literarischer Streifzug durch Bulgarien<br />
Mit der EU-Osterweiterung wurden westund<br />
osteuropäische Länder zusammen<br />
geführt, deren gemeinsame Wurzeln sich<br />
bis weit in die Vergangenheit zurückverfolgen<br />
lassen. Die Auswirkungen dieses<br />
Zusammenschlusses sind nicht nur auf<br />
politischer und wirtschaftlicher Ebene<br />
spürbar: frischer Wind aus dem Osten beeinflusst<br />
modische und musikalische<br />
Trends westlicher Gesellschaften. Im<br />
Januar 2007 stehen zwei zusätzliche Beitritte<br />
an, sofern Bulgarien und Rumänien<br />
die Kopenhagener Kriterien weiter einhalten.<br />
Grund für uns, einmal genauer<br />
hinzusehen und eine kleine literarische<br />
Reise anzutreten.<br />
Bulgarische Geschichte, Kultur und Tradition löst<br />
wohl bei den meisten westeuropäischen Studenten<br />
ein Gefühl leichter Ahnungslosigkeit aus,<br />
Kenntnisse des Landes beschränken sich im<br />
Allgemeinen auf Oberflächlichkeiten: Sofia als<br />
Hauptstadt, die Donau Grenzfluss zu Rumänien,<br />
der Balkan im Innern Namensgeber für die Halbinsel<br />
sowie die geografische Lage am Schwarzen<br />
Meer. Beginnen wir daher unsere Expedition mit<br />
einem Blick auf vergangene Zeiten.<br />
Geschichtlicher Rückblick<br />
Bis zur Machtübernahme der Osmanen am Ende<br />
des 14. Jahrhunderts pflegte Bulgarien enge<br />
Kontakte innerhalb Europas und war in gesamteuropäische<br />
Entwicklungen involviert. Nachdem<br />
der Staat türkische Provinz geworden war, zerrissen<br />
diese Verbindungen. Die beinahe fünf<br />
Jahrhunderte andauernde Herrschaft der Osmanen<br />
(1396-1878) war, besonders in den<br />
Anfängen, durch erfolglose Aufstände zur<br />
Erlangung der Unabhängigkeit gekennzeichnet.<br />
Mit den Jahren entwickelte sich eine gut organisierte<br />
Befreiungsbewegung, sodass, beeinflusst<br />
durch die bulgarische Aufklärung, ein Nationalgefühl<br />
im Land entstand.<br />
Diese Zeit, die unter dem Stichwort »Nationale<br />
Wiedergeburt« in die Geschichtsbücher einging,<br />
ist durch die Entstehung einer unabhängigen<br />
Kirche und dem Aufkommen bulgarischer<br />
Bildung und Kultur gekennzeichnet. 1855 veröffentlichte<br />
der erste bulgarische Verlag in Plovdiv<br />
nationale Literatur.<br />
Im darauf folgenden Jahr entstanden Lesestuben,<br />
so genannte Tschitalischta, die noch heute als<br />
Bildungseinrichtungen betrieben werden. Militärische<br />
Unterstützung in seinem Freiheitskampf<br />
erhielt Bulgarien 1877 durch die offizielle<br />
Kriegserklärung Russlands an das Osmanische<br />
Reich, ein Jahr später erkannte die Türkei die<br />
Unabhängigkeit des bulgarischen Staates an. Die<br />
folgenden Jahrzehnte waren geprägt von immer<br />
wieder aufflammenden Konflikten und Kleinkriegen<br />
um Gebietszugehörigkeiten mit angrenzenden<br />
Nachbarländern.<br />
Literatur zwischen zwei Jahrhunderten<br />
Wer sich mit dieser Epoche bulgarischer<br />
Geschichte beschäftigt, stößt unweigerlich auf<br />
den Namen Ivan Vazov. Der Schriftsteller, der von<br />
1850 bis 1921 lebte, wird noch heute als<br />
Nationaldichter verehrt und gilt als Begründer<br />
der modernen Landesliteratur. Als Verfasser des<br />
ersten bulgarischen Romans nutzte er einen<br />
Wortschatz von rund 40 000 Wörtern und machte<br />
die Sprache literaturfähig. Seine bekannteste<br />
Erzählung »Unter dem Joch« beschreibt<br />
Situationen des Alltags zur Zeit der Osmanenherrschaft.<br />
Vazov, der selbst in der Bewegung der<br />
nationalen Wiedergeburt engagiert war, schilderte<br />
hier das Leiden der Bevölkerung und sensibilisierte<br />
damit die europäische Öffentlichkeit. In der<br />
Kurzgeschichte »Großvater Joco schaut« erhält<br />
der Leser Einblicke in das Leben eines blinden<br />
Bauern, der seine Tage als Knecht bei Türken ver-<br />
Bulgarische Dorfbewohner am Rande des Balkans<br />
bringt und im greisen Alter erste Vorboten der<br />
bulgarischen Unabhängigkeit erfährt.<br />
Neben Ivan Vazov verarbeiteten weitere<br />
Schriftsteller in ihren Werken die Zeit der türkischen<br />
Herrschaft sowie die anschließenden<br />
Anfänge eines freien Bulgariens. Die Loslösung<br />
vom osmanischen Reich gab der Literatur<br />
schließlich spürbare Impulse: das aufkommende<br />
Freiheitsgefühl war Triebfeder für die Entstehung<br />
neuer Genres.<br />
Die Gedichte Pentscho Slawejkows (1866-1912),<br />
der bisher als einziger Bulgare für den Literaturnobelpreis<br />
nominiert wurde, gelten als Meisterwerke<br />
bulgarischer Lyrik. Slawejkow, der sein<br />
Studium in Leipzig absolviert hatte, trug wie kein<br />
anderer zur Verbreitung deutscher Literatur in seinem<br />
Lande bei. Zu erwähnen wäre an dieser Stelle<br />
auch Jordan Jowkow (1880-1937), der auf einfühlsame<br />
Weise das Leben bulgarischer Bauern<br />
beschrieb. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie<br />
zwischen den beiden Weltkriegen entstand<br />
zudem Literatur, die den europäischen Zeitgeist<br />
aufgriff und sich mit revolutionären und antifaschistischen<br />
Themen auseinandersetzte.<br />
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert<br />
Im kommunistischen Bulgarien besaß Literatur,<br />
wie auch in anderen Ländern der Sowjetunion,<br />
einen hohen gesellschaftlichen Stellenwert.<br />
Schriftsteller genossen besonderes Ansehen, vermittelte<br />
doch das Lesen ein Gefühl von Freiheit.<br />
In diesem Zusammenhang ist die doppelte<br />
Wirkungsmacht der Bücher von Bedeutung: so<br />
wurden systemkonforme, anerkannte Autoren<br />
von Seiten des Staates mit Auszeichnungen und<br />
einer entsprechend hohen Auflage belohnt, während<br />
regimekritische, der Regierung verdächtig<br />
wirkende Dichter bei der Opposition einen<br />
besonderen moralischen Stellenwert hatten.<br />
Stellvertretend sei in diesem Zusammenhang<br />
Schelju Schelew erwähnt, der sich in seiner 1982<br />
erschienenen kontroversen Dokumentation »Der<br />
Faschismus« mit dem deutschen, italienischen<br />
und spanischen Faschismus auseinandersetzte<br />
und Parallelen zum sozialistischen Gesellschaftssystem<br />
aufzeigte. Das Buch wurde aufgrund seines<br />
brisanten Inhalts innerhalb weniger Tage verboten,<br />
Schelew selbst nach dem politischen<br />
Umbruch 1990 zum ersten nichtkommunistischen<br />
Staatsoberhaupt Bulgariens gewählt.<br />
Die Bedeutung anspruchsvoller Literatur hat sich<br />
seitdem gewandelt: Wie in allen kapitalistischen<br />
Staaten hat die Zahl der verlegten Trivialwerke<br />
zugenommen, auch in Bulgarien steht das Buch<br />
in ständiger Konkurrenz zu den elektronischen<br />
Massenmedien. Bulgarische Autoren haben nun<br />
zwar das Privileg der uneingeschränkten Themenwahl,<br />
müssen für diese Freiheit jedoch einen<br />
Ansehensverlust in Kauf nehmen.<br />
Geteilter Blick auf die Balkanhalbinsel<br />
Mit unterschiedlichen Vorstellungen gehen Leser,<br />
Verleger und Buchhändler heute auf das Land am<br />
Schwarzen Meer zu: während die einen das Gefühl<br />
haben, einem Exoten zu begegnen, ist einem<br />
anderen Teil literarisch interessierter Bürger die<br />
bulgarische Literatur stets bewusst gewesen. Auf<br />
der diesjährigen Frankfurter Buchmesse verleiht<br />
KulturKontaktAustria in Kooperation mit dem<br />
Klagenfurter Wieser Verlag zum ersten Mal den<br />
»Großen Preis für Osteuropäische Literatur«. Mit<br />
der Auszeichnung soll Schriftstellern aus dem<br />
europäischen Osten im deutschsprachigen Raum<br />
eine öffentliche Plattform geboten werden.<br />
Eine Anthologie »Bulgarische Prosa« mit einem<br />
Überblick über bulgarische Erzählungen des 20.<br />
Jahrhunderts wird auf Seite 12 vorgestellt.<br />
TEXT: STEFFI GRIMM<br />
FOTO: BALZ WEINGAND<br />
Leipziger <strong>Lerche</strong> <strong>Nr</strong>. <strong>24</strong> 9<br />
BRANCHE